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Siebenzehntes Kapitel

Ereignisse

Das Vertrauen, das Guerreville dem Doktor Jenneval geschenkt, hatte ihr Freundschaftsbündniß noch fester geknüpft; jetzt gab es zwischen diesen beiden Männern keinen geheimen Gedanken mehr, nun verstanden sie einander und begriffen sich so gut, daß der Eine oft die Absicht des Andern errieth. Herr Guerreville empfand die süßen Wirkungen dieses Vertrauens; er konnte alle Tage von seiner Tochter sprechen, und er war weniger unglücklich, seitdem er nicht mehr gezwungen war, seine Erinnerungen und seinen Kummer in der Tiefe seines Herzens zu verschließen.

Derjenige, welcher die Mittheilung eines großen Kummers empfangen, zeigt oft einen größeren Beweis von Freundschaft als der, welcher ihm das Vertrauen geschenkt hat; denn der Eine erleichtert seine Seele, die das Bedürfniß fühlt, sich auszusprechen, wahrend der Andere die Verbindlichkeit übernimmt, den ihm anvertrauten Kummer auch zu theilen.

Herr Guerreville und der Doktor gingen fast alle Tage zusammen aus, und während ihres Spaziergangs vernachlässigten sie nichts, was ihnen behülflich sein konnte, die Spuren derjenigen, die sie suchten, wiederzufinden. Wenn zufällig ein Tag verflossen war, ohne daß die beiden Freunde hatten zusammenkommen können, so fragten sie sich den Tag darauf, wenn sie sich wieder sahen, mit den Augen, und ihr erstes Wort war immer: Nichts Neues?

Eines Tages sagte Georg zu seinem Herrn: »Mein Herr, während Ihrer Abwesenheit hat eine Dame nach Ihnen gefragt; sie nannte sich Madame Grillon und ist die Mutter von Ihrer Fräulein Pathe. Sie beklagte sich, daß sie der Herr nicht mehr besuche; sie wünschte sehr mit dem Herrn zu sprechen ... sie habe, sagte sie, wichtige Dinge, über welche sie ihn um Rath fragen müsse und welche die Pathe des Herrn beträfen.«

Herr Guerreville hatte Georg gleichgültig angehört; er machte eine leichte Bewegung mit dem Kopfe, indem er erwiderte: »Es ist gut!« und einen Augenblick darnach hatte er vergessen, was sein Diener ihm gesagt.

Wenige Tage darauf berichtete Georg wiederum seinem Herrn: »Eine andere Dame hat nach dem Herrn gefragt; sie ist, wie sie mir sagte, die Mutter des Herrn Julius. Sie bittet den Herrn, die Güte zu haben, einen Augenblick bei ihr vorbei zu kommen.«

»Marie ... Marie war bei mir!« sagte Guerreville zu sich; »von ihrer Seite setzt mich dieser Schritt in Erstaunen; aber ohne Zweifel wird sie von ihrem Sohne mit mir sprechen wollen ... Ich werde zu ihr gehen.«

»Vielleicht ebenso, wie Sie zu Madame Grillon gegangen sind,« sagte lächelnd Jenneval, der eben gegenwärtig war.

»Ah, Sie haben Recht, Doktor, ich habe sie ganz vergessen!«

»Mein Freund, erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß das nicht wohlgethan ist ... Es gibt alte Bekanntschaften, gegen die man keine vollkommene Gleichgültigkeit an den Tag legen darf ... in diesem Falle sind Sie mit den Damen Grillon und Galtet.«

»Können Sie es glauben, Doktor, daß ich gerade gegen diese die meiste Abneigung empfinde? Aber es ist möglich, daß ich Unrecht habe. Ich werde zu Beiden gehen und hören, was sie von mir wollen.«

Acht Tage waren verflossen, ohne daß Herr Guerreville daran gedacht hatte, sein Versprechen zu halten, als eines Nachmittags, da er gerade aus dem Fenster blickte, ob er den Doktor nicht kommen sehe, Georg rasch die Thüre öffnete und meldete: »Die Mutter des Herrn Julius ;...«

Herr Guerreville machte eine Bewegung der Ungeduld, aber fast in demselben Augenblicke war Madame Gallet in das Zimmer getreten, und bei dem Anblick ihrer Blässe, der großen Veränderung in ihren Zügen, fühlte er sich bewegt, ging ihr entgegen und sagte: »Sie sind es, Marie? Mein Gott, wie aufgeregt Sie scheinen! Sie sind schon einmal bei mir gewesen, wie man mir gesagt hat; entschuldigen Sie mich, daß ich Sie noch nicht besucht habe, aber Geschäfte ;...«

»Ach, mein Herr! ich habe nicht das Recht, mich zu beklagen ... ich weiß sehr wohl, daß Sie gegenwärtig sehr geringen Antheil an mir nehmen; aber ich hoffte, daß für meinen Sohn ... kurz, wenn Sie gekommen wären, wenn Sie mit ihm gesprochen hätten ... dann würde vielleicht das, was mich heute hierherführt, nicht geschehen sein.«

»Fassen Sie sich ... nehmen Sie Platz und erzählen Sie mir, was Sie betrübt; wenn ich Ihren Kummer erleichtern und Ihr Glück wieder herstellen kann, so zweifeln Sie nicht an meiner Bereitwilligkeit.«

»Mein Glück ... Ach, ich hatte nur ein Glück auf Erden, und das war mein Sohn; er allein machte meine Freude aus und verlieh meinem Dasein einigen Reiz ... Und nun, was soll aus mir werden, wenn mein Sohn mich verläßt?«

»Was sagen Sie? Julius ;...«

»Will Schauspieler werden; er hat sich für die Provinz engagirt ... er will abreisen ... seine Mutter verlassen; er ist bereits von uns ausgezogen ... Ach, mein Herr, ich hatte so sehr auf Sie gerechnet ... auf die guten Rathschläge, die Sie ihm geben sollten ... auf die Freundschaft, die Sie für ihn haben würden. Ich hatte gehofft, Sie würden über meinen Sohn wachen ... Ach, ich habe mich sehr getäuscht! ;...«

Marie konnte nicht weiter sprechen, Thränen erstickten ihre Stimme; sie bedeckte ihr Gesicht mit ihrem Taschentuch und bemühte sich vergeblich, ihr Schluchzen zurückzuhalten. Herr Guerreville wußte ihr nichts zu erwidern, er wandte die Augen ab und heftete sie traurig auf die Erde, etwas im Innern seiner Seele sagte ihm, daß Mariens Vorwürfe gerecht seien und daß er für Julius zärtlichere Theilnahme hätte beweisen sollen.

Marie weinte noch, und da Herr Guerreville nichts fand, womit er sie trösten konnte, so blieb er in trauriges Schweigen versunken an ihrer Seite, als sich plötzlich eine Frauenstimme im Vorzimmer hören ließ.

Es war Madame Grillon, welche der treue Georg melden wollte, die sich aber dem widersetzte, indem sie ausrief: »Ich weiß, daß Ihr Herr zu Hause ist, ich weiß es ... und ich muß ihn sehen, ihn sprechen. Ich bin genau genug mit ihm bekannt, um nicht nöthig zu haben, daß man mich melde!«

Und ohne die Antwort des Dieners abzuwarten, stürzte die zärtliche Euphemie auf die Thüre zu und gelangte zu Herrn Guerreville mit dem Ausruf: »Schaffen Sie mir meine Tochter wieder!. ... Eduard, man entführt mir meine Tochter, meine Agathe, Ihre Pathe, Ihre ... Ach Gott! ich weiß gar nicht mehr, was ich spreche, ich bin trostlos ... aber ich will meine Tochter ... Ach! Sie werden sie wiederfinden, nicht wahr? ... und Sie werden ihren schändlichen Entführer züchtigen!«

Nachdem sie diese Worte mit einer außerordentlichen Geläufigkeit ausgesprochen hatte, ließ sich Madame Grillon in einen Lehnstuhl nieder, und erst jetzt bemerkte sie Marien, die noch immer ihr Tuch vor die Augen hielt. Madame Grillon schielte seitwärts, biß sich auf die Lippen und lächelte ironisch, indem sie vor sich hinmurmelte: »Ah, jetzt begreife ich, warum mich der Bediente nicht eintreten lassen wollte.«

Die Ankunft von Agathens Mutter störte Herrn Guerreville auf unangenehme Weise. Er ging indeß auf sie zu und sagte: »Was haben Sie, Madame? Warum diese Klagen, dieses Jammern?«

»Was ich habe, mein Herr? Haben Sie mich denn nicht verstanden? ... Es scheint mir, daß ich gerechte Ursache zu klagen habe ... ich sage Ihnen, daß man Agathen entführt hat, meine Tochter, Ihre Pathe ... Das muß Sie doch auch bewegen und interessiren!«

»Wie, Madame, man hätte es gewagt ;...«

»Ja, mein Herr, man hat es gewagt ... O, was wagen die Männer heutzutage nicht Alles! ... wir leben in einem so überfeinerten Jahrhundert! ... Wenn man sich erlaubt, in Gegenwart der Frauen zu rauchen und zu tanzen, wie man es jetzt thut, so legt man dadurch den klaren Beweis an den Tag, daß man sie sehr wenig achtet.«

»Aber kurz, Madame ;...«

»Kurz, dieser erbärmliche Mensch, der Adalgis, hat meine Tochter entführt.«

»Ein erbärmlicher Mensch ... Aber ich meine, daß Sie über diesen jungen Mann voll Lobs waren.«

»Ach ja, ich hatte geglaubt ... Was wollen Sie! der Schein trügt ... er benahm sich so gut. Als mir Agathe gestand, daß sie ihn anbete, wollte ich Sie sogleich dieser Heirath wegen um Rath fragen ... aber Sie sind nicht gekommen.«

»Madame, ich ;...«

»Das war sehr Unrecht, sie hätten kommen sollen; Agathe ist keine Fremde für Sie ... Kurz, ich hatte die Schwachheit, diesem Adalgis noch Besuche zu gestatten, und in dieser Nacht ... ja, in dieser Nacht ... nachdem er uns noch vorher in das Riesenconcert im Türkengarten geführt ... der Bösewicht ... Ich bin überzeugt, daß sie während der Quadrille aus den Hugenotten ihren Anschlag geschmiedet haben ... während ich durch das Geräusch der Glocken, Kanonenschläge und Trommeln betäubt war. Wie soll man seine Tochter überwachen, wenn einem das Trommelfell zerrissen wird. Seit Agathe jenen Schein von tausend Franken, den Sie ihr geschenkt haben, besaß, wich dieser Adalgis nicht mehr von ihr. Endlich ging sie diese Nacht durch ... und nahm ihre tausend Franken mit; sie gehören ihr, darüber ist nichts zu sagen; aber ich bin überzeugt, dieses Ungeheuer von Adalgis wird sie ihr auffressen und sie dann sitzen lassen ... denn ich bin gleich in seine Wohnung gelaufen, um Erkundigungen einzuziehen ... Er ist ein leichtsinniger Bursche, ein Windbeutel, der keinen Sou besitzt: er ist seinem Schneider achthundert Franken, und seiner Wäscherin fünfundfünzig Sous schuldig, das habe ich Alles diesen Morgen erfahren. Ach! Eduard! Eduard! ich bitte Sie, im Namen ... Ihrer alten Erinnerungen, schaffen Sie mir meine Tochter wieder.«

»Madame, ich werde Alles thun, was ich vermag. Aber ohne Zweifel wild Ihr Gemahl bereits die Spur des Räubers verfolgen.«

»Mein Mann? Ach! wenn ich auf den warten müßte, dann ginge es gut! ... der würde meine Tochter zurückbringen wie der Pfaffe ein Opfer. Eduard! auf Sie allein verlasse ich mich.«

Indem sie diese Worte sprach, hatte sie sich erhoben, und während sie sich Herrn Guerreville nahte, bemächtigte sie sich seiner Hände, welche sie mit einer Gewalt schüttelte, als hätte sie ihn elektrisiren wollen.

Seit dem Eintreten der fremden Dame hatte die arme Marie kein Wort gesprochen; sie hatte nicht einmal geseufzt; sie hörte Alles geduldig mit an und wartete vielleicht um zu sprechen, bis Madame Grillon aufhören würde; aber Madame Grillon hörte nicht auf. Als sie jedoch sah, daß diese Letztere sich der Hände Herrn Guerreville's bemächtigt hatte und ihn lebhaft drängte, Schritte zu thun, um ihr ihre Agathe wieder zu schaffen, schien auch Marie ihren Muth wieder gefunden zu haben, und indem sie sich ihrerseits auch erhob, rief sie: »Und ich, mein Herr, werden Sie nichts zu meinen Gunsten thun? werden Sie kein Mitleiden mit meinen Schmerzen haben? werden Sie es nicht der Mühe werth halten, an meinen Sohn zu denken, der seine Mutter verlassen will, um eine Laufbahn zu betreten, auf welcher ihm weder Erfolg noch Glück erblühen wird?«

Herr Guerreville wußte nicht, was er antworten sollte; gedrängt von den beiden Frauen, die ihn umstanden, ihn anflehten, flüchtete er sich ans Fenster, und um den auf ihn gerichteten Blicken zu entgehen, drehte er den Kopf um und sah auf die Straße.

Madame Grillon schien indeß erstaunt und fast verletzt, daß sich eine andere Frau erlaubte, eine Bitte an Herrn Guerreville zu richten; indem sie Marien einen Blick zuwarf, der durchaus nichts Sanftes hatte, schien sie diese fragen zu wollen, mit welchem Rechte sie ihre Bitten mit den ihrigen verbinde; trotz ihrer angeborenen Schüchternheit aber zeigte sich Julius Mutter von diesem Blicke nur sehr wenig ergriffen, und in ihren Augen lag immer etwas Ironisches, so oft dieselben auf Madame Grillon gerichtet waren.

Diese Scene währte ziemlich lange; die Damen maßen stillschweigend einander, und weder die eine, noch die andere hätte einen Schritt oder eine Bewegung rückwärts gemacht, die die Absicht hätte vermuthen lassen können, sie wolle auch nur auf eine Minute ihren Platz der andern überlassen; plötzlich aber stieß Herr Guerreville einen Ruf der Ueberraschung, der Freude aus, als er Jemand bemerkte, der auf der Straße vorbeiging. Darauf stieß er die beiden Frauen, die ihn gleichsam umlagerten, auseinander, stürzte nach der Thüre, und ohne sich Zeit zu lassen, nach seinem Hut zu greifen, ging er rasch fort.

»Eduard! Eduard! nun, wo gehen Sie denn hin?« rief Agathens Mutter, indem sie sich vergebens bemühte, Herrn Guerreville zurückzuhalten.

Marie begnügte sich, ihn weggehen zu sehen, und als er fort war, sank sie wieder auf einen Stuhl, indem sie murmelte: »So fort zu gehen! ... und er hat mir nicht einmal versprochen, mir meinen Sohn wiederzugeben!«

»O! er hätte sich nicht aus dem Staube gemacht, wenn ich allein bei ihm gewesen wäre,« sagte Madame Grillon, indem sie mit wüthender Miene im Zimmer auf und abging; »aber da es so zudringliche Personen gibt! ;...«

»Zudringliche!« erwiderte Marie, auf Madame Grillon einen Blick werfend, in welchem sich zugleich Verdruß und Verachtung ausdrückte; »es scheint mir, daß diejenige Person dieses Beiwort verdient, welche, allen Anstand bei Seite setzend und ohne sich von einem Bedienten abhalten zu lassen, sich erlaubt, bei Jemand einzudringen, der nicht allein ist.«

»O! ich habe den Herrn gewiß in einer sehr angenehmen Unterhaltung gestört. Armer Eduard! armer Freund! er gähnte wie ein Karpfe, als ich eintrat.«

»Ich weiß nicht, Madame, ob ich Herrn Guerreville gelangweilt habe, jedenfalls habe ich ihn aber nicht in die Flucht getrieben.«

»In hie Flucht getrieben! ... In die Flucht getrieben! ... Madame mäßigen Sie Ihre Ausdrücke, ich bitte Sie darum.«

Die Damen fingen an hitzig zu werden und schienen nicht geneigt, einander etwas nachzugeben, als das Erscheinen eines Fremden diesem Auftritt ein Ende machte.

Es war Jenneval, der seinen Freund besuchte, und den Georg mit wenigen Worten von Allem unterrichtet hatte; als er in den Saal eintrat, wußte er schon, daß er daselbst die Mütter von Agathen und Julius vorfinden würde. Er grüßte die Damen achtungsvoll, und indem er sich ihnen näherte, sagte er ihnen mit jenem Tone, der Vertrauen einstößt: »Sie sehen in mir, meine Damen, den Doktor Jenneval ... den vertrauten Freund des Herrn Guerreville. Georg, sein Diener, hat mir eben erzählt, daß er Sie etwas hastig verlassen habe, entschuldigen Sie gefälligst meinen Freund. Ohne Zweifel hat ihn irgend ein uns unbekannter Beweggrund genöthigt, sich auf diese Weise zu entfernen. Wenn aber ich Ihnen, meine Damen, in irgend einer Beziehung bei ihm behülflich sein kann, so stehe ich ganz zu Ihren Diensten.«

Es gibt Leute, welche auf der Stelle Vertrauen einflößen und Interesse für sich erwecken; Jenneval war von dieser Art; und am Ende verlangten die Damen auch weiter nichts, als zu sprechen. Jede beeilte sich, dem Doktor das zu wiederholen, was sie eben erst Herrn Guerreville erzählt hatte, indem sie auf die Theilnahme ein Gewicht legte, welche dieser für Agathen und Julius haben müsse.

Der Doktor, der sie vollkommen verstand, versprach ihnen, Herrn Guerreville zum Handeln zu bewegen, und falls sein Freund es nicht im Stande wäre, erbot er sich, selbst alle nöthigen Schritte zu thun, um Agathen in die Arme ihrer Mutter zurückzuführen und Julius der Bühne zu entreißen, für welche, wie er selbst wohl wußte, der junge Mann nicht die geringste Anlage hatte.

Jennevals Worte beruhigten die beiden Mütter, sie erschöpften sich in Dankesbezeigungen und entfernten sich etwas beruhigter, indem sie sich jedoch gegenseitig noch Blicke zuwarfen, in denen keine Spur von Wohlwollen zu entdecken war.

»Arme Frauen!« sagte Jenneval zu sich, als sich die Damen entfernt hatten, »wenn sie auf die Erinnerungen, die Gefühle rechnen, welche sie Herrn Guerreville einst eingeflößt hatten, so täuschen sie sich sehr! Er hat nur eine einzige Erinnerung, einen einzigen Gedanken. Aber ich werde handeln, als wenn ich er selbst wäre, ich werde dem Herrn Julius und dem Fräulein Agathe nachlaufen, ich werde die Mühe davon haben, ohne den Dank dafür einzuernten: das sind die Vorrechte der Freundschaft. Jetzt aber, muß ich ihm selbst nachlaufen. Wohin ist er gegangen? Warum ist er wie toll davon gerannt? Ich muß ihn wiederfinden, damit er mir sein Benehmen erkläre.«

Jenneval wollte fortgehen, als die Thüre des Salons rasch geöffnet ward. Herr Guerreville trat ein und hielt eine Frau fest, welche weniger durch die Jahre, als durch Elend und Leiden gealtert schien. Diese Frau, welche fünfzig Jahre alt sein konnte, war mit Lumpen bedeckt, ihr Gesicht war fürchterlich mager und blaß, und in dem gegenwärtigen Augenblicke war in ihren Augen ein Ausdruck von Schrecken und Unruhe zu lesen, der ihrer ganzen Gestalt noch einen weit elenderen Anschein gab.

Herr Guerreville, dessen Züge eine lebhafte Unruhe ausdrückten, in welche sich jedoch auch einige Hoffnung mischte, ließ diese Frau, welche Mühe zu haben schien, sich aufrecht zu erhalten, eintreten und niedersetzen. Als er Jenneval erblickte, sagte er nur die Worte zu ihm: »Madame Armand ... dieselbe, welche bei meiner Tochter war ... welche mit ihr entflohen ist.«

Jenneval war nun Alles klar, und indem er sich dieser Frau näherte, wartete er, eben so ängstlich als sein Freund, darauf, daß sie endlich im Stande sein würde, zu sprechen.

Als diejenige, welche eben hereingeführt worden war, sich allein zwischen dem Doktor und Herrn Guerreville sah, faltete sie die Hände zusammen und fiel auf die Kniee, indem sie rief: »Gnade, Gnade, ich flehe Sie darum!«

»Auf, Madame, fürchten Sie nichts!« antwortete Herr Guerreville lebhaft; »Sie haben mir viel Unheil zugefügt, aber glauben Sie, daß ich mich dafür rächen wolle, indem ich Sie mißhandle? ... Wohlan! erholen Sie sich, sammeln Sie Ihre Geisteskräfte wieder, die mein Anblick verwirrt zu haben scheint; aber vor Allem ein Wort, ein einziges Wort; meine Tochter ... was ist mit ihr geschehen? ;...«

»Ach! mein Herr, davon weiß ich ganz und gar nichts!«

»Davon wissen Sie gar nichts? O, mein Gott! und durch Sie hoffte ich wenigstens zu erfahren, was aus ihr geworden ist. Nun wohl, lassen Sie hören, sprechen Sie jetzt, sagen Sie mir Alles, was Sie gethan haben, verheimlichen Sie nichts, keinen Umstand, ich höre Sie.«

»Ich bin sehr schuldig, mein Herr!« erwiderte die arme Frau mit zitternder Stimme, »ach! ja ich weiß, daß ich Ihr Vertrauen auf die schändlichste Weise verrathen habe; aber der Himmel hat mich dafür gestraft, man hat kein Glück, wenn man eine schlechte Handlung begangen hat, und Sie sehen den Beweis davon in der traurigen Lage, in welcher Sie mich finden.«

»Zur Sache, Madame, zur Sache, von meiner Tochter, von diesem elenden Daubray sollen Sie mir erzählen.«

»Sie haben Recht, mein Herr, entschuldigen Sie mich ... ich sammle meine Erinnerungen ... Fräulein Pauline war ein Engel von Güte, von Gefühl ... und sie war so schön, so reich an Anmuth ... Dieser Herr Daubray wurde sterblich in sie verliebt und trotz meiner Wachsamkeit fand er Mittel, sich die Liebe Ihrer Fräulein Tochter zu erwerben ... Ach! mein Herr ... es bedarf oft nur eines Wortes, eines Blickes, um die Liebe zu erzeugen. Aber Fräulein Pauline glaubte kein Unrecht zu thun, wenn sie diesen jungen Mann liebte ... Ich selbst glaubte Anfangs, diese Heirath könnte zu Stande kommen, und Ihre Tochter stand schon mehrere Male im Begriff, Ihnen ihre geheimen Gefühle anzuvertrauen, aber Herr Daubray widersetzte sich diesem beständig. Eines Tages suchte er mich auf und sagte zu mir: »Herr Guerreville hat mir die Hand seiner Tochter verweigert, ich kenne nur ein Mittel, um ihr Gemahl zu werden, nämlich, sie zu entführen, dann wird uns Paulinens Vater jedenfalls verzeihen müssen.« Ich verwarf Anfangs diesen Vorschlag; aber er bot mir fünftausend Franken, wenn ich ihm dazu behülflich wäre. Ach, mein Herr, ich weiß wohl, daß ich bei Ihnen an nichts Mangel hatte; aber fünftausend Franken, ich hatte nie eine solche Summe besessen, und sie schien mir beträchtlich. Und dann hörte dieser Herr Daubray nicht auf, mir zu wiederholen: »Bin ich einmal Paulinens Gatte, so kehre ich mit ihr zurück, um mich ihrem Vater zu Füßen zu werfen, der uns seine Vergebung nicht versagen wird.« Was soll ich Ihnen sagen! ich willigte ein! es handelte sich nur noch darum, Ihre Fräulein Tochter dazu zu bewegen. Arme Kleine! sie wollte zuerst nicht; sie wiederholte unaufhörlich: »Wir wollen uns meinem Vater zu Füßen werfen, er liebt mich so sehr ... er wird in unsere Verbindung willigen!‹« Aber Herr Daubray antwortete ihr immer: »›;Vertrauen Sie meiner Zärtlichkeit, meiner Liebe ... das ist das einzige Mittel zu unserer Verbindung.‹« Endlich willigte sie ein. Da wurde, ohne ihr Zeit zur Ueberlegung zu lassen, unsere Flucht für die nächste Nacht beschlossen. Herr Daubray hatte Alles vorbereitet, für Alles gesorgt, ein Wagen mit Postpferden erwartete uns hinter der Mauer des Gartens. Ach! mein Herr, wenn Sie in diesem Augenblicke Zeuge des Schmerzes Ihrer Tochter gewesen wären ... sie rief nach Ihnen ... sie wollte nicht mehr abreisen ... man mußte sie wegtragen!«

Herr Guerreville gab Madame Armand ein Zeichen, einen Augenblick inne zu halten, und indem er sein Haupt an die Brust seines Freundes lehnte, ließ er den Seufzern, welche ihn zu ersticken drohten, freien Lauf. Nach einigen Minuten bedeutete er der Frau fortzufahren.

»Wir reisten ab. Nachdem wir mehrere Meilen zurückgelegt hatten, hielten wir, gegen Tagesanbruch, bei einem Gasthofe an, hier stellte mir Herr Daubray die Summe zu, welche er mir versprochen hatte, und sagte dabei: »›;Es ist unnöthig, daß Sie noch länger bei uns bleiben; Ihre Gegenwart in Paulinens Nähe ist nicht mehr erforderlich, da ich sie heirathe, auch denke ich nicht, daß Sie Lust haben werden, mit uns zu ihrem Vater zurückzukehren, der Sie übel empfangen würde.‹« Nachdem er diese Worte gesprochen, verließ er mich, ohne mir erlauben zu wollen, Fräulein Pauline noch einmal zu küssen ... Und seit diesem Tage habe ich das liebe Kind nicht wieder gesehen. Aber ich zog insgeheim Erkundigungen über Sie, mein Herr, ein, und es wurde mir nun klar, daß mein Vergehen noch weit größer war, als ich geglaubt hatte, da Ihre Tochter nicht zu Ihnen zurückgekehrt war. Was meine weiteren Schicksale betrifft, so fühle ich wohl, daß diese Sie wenig interessiren können; doch muß ich Ihnen gestehen, daß mir bald Gewissensbisse über meinen Fehler kamen. Ich ging nach Paris; mit der Summe, die ich besaß, wollte ich mich etabliren, einen kleinen Handel anfangen ... aber dieses Geld brachte mir kein Glück! ... nichts wollte mir gelingen. Nach Verfluß von drei Jahren blieb mir kein Sou von diesen unglückseligen fünftausend Franken mehr übrig; da wollte ich eine Stelle suchen, aber ich wurde krank ... ich mußte meine Effekten verkaufen ... ich nahm hierauf einige kleine Bedienungen an ... aber ich hatte fast nicht mehr die Kräfte dazu ... man entließ mich nach kurzer Zeit wieder. Endlich, in das schrecklichste Elend hinabgesunken, lebe ich seit mehreren Monaten nur von dem Almosen, das ich insgeheim erbettle ... und eben ... als ich in Ihrer Straße stehen blieb, stützte ich mich auf einen Eckstein, weil ich fühlte, daß ich schwach wurde. Sie sehen es, mein Herr, der Himmel hat Sie schrecklich an mir gerächt.«

»Ach! nicht seine Rache, meine Tochter fordere ich von ihm! ... da ich Sie erblickte, glaubte ich einen Augenblick, Sie würden mir helfen, meine Pauline wiederzufinden ... und auch diese Hoffnung hat mich wieder getäuscht ... Sie wissen also nichts weiter?«

»Ach! mein Herr ... könnte ich Ihnen heute mit Aufopferung meines Lebens Ihr Kind wieder schaffen! ... Ach! dann glaube ich, würde das Unglück aufhören, auf mir zu lasten! ;...«

In dem Augenblick, wo die Bettlerin ihre Erzählung beendet hatte, war Jenneval aus dem Zimmer gegangen; er kam bald mit einer Flasche und einem Glase zurück und schenkte dieser Frau Wein ein, indem er zu ihr sagte: »Trinken Sie ... dieser Wein wird Ihnen wieder Kraft geben ... er wird Ihnen gut thun.«

Die arme Frau wußte nicht, ob sie ihn annehmen sollte; sie betrachtete mit ängstlichen Blicken Herrn Guerreville; endlich siegte das Bedürfniß über die Furcht; sie nahm das Glas Wein an. Nachdem sie getrunken hatte, grüßte sie ehrerbietig und ging nach der Thüre, indem sie murmelte: »Ich glaube, der Herr hat mir nichts mehr zu sagen, und meine Gegenwart kann ihm nur unangenehm sein.«

»Einen Augenblick!« rief Guerreville.

Die Bettlerin hemmte ihren Schritt und blieb unbeweglich stehen. Jenneval sah seinen Freund an. Guerreville näherte sich Madame Armand.

»Sie haben mir viel Unheil zugefügt, Madame; aber ich will nicht, daß die Frau, welche die Gouvernante, die Gesellschafterin meiner Tochter war, genöthigt sei, zu ihrem Lebensunterhalt zu betteln. Nehmen Sie diese Börse; wenn sie leer sein wird, lassen Sie mich es wissen, ich werde es Ihnen niemals an Etwas fehlen lassen ... Doch jetzt gehen Sie.«

»Ach! mein Herr! ... so viel Güte ... obgleich ich so schuldig bin!«

Und die arme Frau wollte sich Herrn Guerreville zu Füßen werfen; er verhinderte sie aber daran und gab ihr ein Zeichen, sich zu entfernen; sie wollte aus der Thüre des Salons treten, als sie plötzlich umkehrte und ausrief: »Ach! mein Herr ... es fällt mir etwas ein ... vielleicht ist dieser Umstand von Interesse für Sie.«

»Was ist es? sprechen Sie, sprechen Sie, Madame.«

Herr Guerreville und der Doktor näherten sich Madame Armand, welche begann: »Vor sechs Monaten ... ja, es sind ungefähr sechs Monate, ging ich über die Boulevards und wollte gerade über den Fahrweg hinüber ... als ein eleganter Tilbury an mir vorüberfuhr ... ich blieb stehen und blickte auf. Ein Mann saß in dem Wagen ... Oh! ich habe ihn wohl erkannt, es war Herr Daubray.«

»Daubray! der Räuber meiner Tochter?«

»Ja, mein Herr, obgleich mehr als acht Jahre verflossen sind, seitdem ich ihn nicht wieder gesehen habe, so bin ich doch gewiß, daß ich mich nicht getäuscht habe.«

»Und meine Tochter ... war sie bei ihm?«

»Nein, mein Herr, er war allein.«

»Der Elende! er hat sie also verlassen!«

»Mein lieber Guerreville,« sagte der Doktor, »was wir eben gehört haben, ist sehr wichtig; die Erscheinung dieses Mannes in Paris, in einem Tilbury, scheint zu beweisen, daß er sich gewöhnlich in dieser Stadt aufhält.«

»Ja, mein Freund, ja ... Oh! Sie haben Recht, er ist hier, der Verräther! ... Jetzt keine Ruhe mehr, bis ich ihn entdeckt habe ... ihm begegnet bin ... denn ich werde ihn auch erkennen, ich! ... Gehen Sie, Madame, gehen Sie ... was Sie uns eben gesagt haben, wird uns von Nutzen sein, wie ich hoffe ... Wenn Sie noch etwas über diesen Menschen erfahren oder entdecken, so versäumen Sie nicht, mich alsbald davon zu unterrichten. Helfen Sie mir erforschen, was dieser Elende mit meiner Tochter gemacht hat; das wird die beste Art sein, Ihr Unrecht wieder gut zu machen.«

Die arme Frau betheuerte ihre Ergebenheit, ihre Reue; dann grüßte sie ehrfurchtsvoll und entfernte sich, indem sie wiederholte, daß sie Alles, was in ihren Kräften stehe, thun werde, um ihren Fehler wieder gut zu machen.

»Er ist in Paris!« rief Guerreville, indem er in heftiger Bewegung im Zimmer auf- und abging, »und noch immer reich ... noch immer glücklich, ohne Zweifel ... Und meine Tochter! meine arme Tochter! ... Niemand hat sie gesehen ... Niemand kann mir Nachricht von ihr geben. Aber, was hat denn dieser Schändliche mit ihr gemacht ... Hat er sie nur darum den Armen ihres Vaters entrissen, um sie dann zu verlassen? hat er sie getödtet, dieses Ungeheuer? ... O! ja ... sie muß todt sein ... sonst wäre sie schon längst zurückgekehrt, um an dem Busen ihres Vaters ihren Fehler zu beweinen ... Todt ... meine Tochter! ... und dieser Mensch lebt noch! ... und genießt in Frieden die Vergnügungen, welche der Reichthum darbietet! Oh! ... Oh! ... all sein Blut wird nicht hinreichen, meine Verzweiflung zu stillen!«

»Mein Freund, beruhigen Sie sich!« sagte Jenneval, Guerreville's Hand ergreifend, »dieser Daubray ist in Paris; wir werden ihn auffinden, davon bin ich nun fest überzeugt. Aber es ist durchaus noch kein Beweis vorhanden, daß Ihre Tochter nicht mehr am Leben sei; ... hoffen wir im Gegentheil, daß wir durch ihn erfahren werden, was aus ihr geworden.«

»Ach! Jenneval ... ich muß Ihnen wohl glauben, um mich nicht der Verzweiflung zu überlassen. Wohlan! dieser Mensch soll mir meine Tochter wiedergeben, dann will ich ihm das Leben lassen und ihn für immer fliehen ... Aber er gebe mir meine Pauline zurück. Ach! ich beweine sie schon so lange Zeit!«

Guerreville sank, übermannt von all den Empfindungen, die eben auf ihn eingedrungen, auf einen Sessel nieder. Der Doktor ließ ihm Zeit, sich zu fassen; als er seinen Freund ruhiger sah, näherte er sich ihm und sagte mit leiser Stimme: »Sie hatten zwei Damen bei sich zurückgelassen, die ich hier vorfand, Madame Grillon und Julius Mutter; sie waren gekommen, um Ihren Beistand, Ihre Hülfe in Anspruch zu nehmen ... Sie wissen, daß Ihre Pathe Agathe dem Herrn Adalgis gefolgt ist, ich weiß nicht wohin, und daß Herr Julius einen Contract, als erster Liebhaber bei irgend einer herumziehenden Truppe unterzeichnet hat. Die beiden Mütter sind trostlos, sie glauben, daß Sie einigen Antheil an ihren Kindern nehmen sollten.«

Guerreville, der seinem Freunde sehr aufmerksam zuzuhören schien, sprang plötzlich auf, nahm seinen Hut und rief: »Er hat einen Tilbury ... er wird auf die Promenaden fahren ... über die Boulevards ... nach dem Bois de Boulogne ... Oh! ich werde ihm begegnen ... Kommen Sie ... kommen Sie, Jenneval, gehen wir.«

»Unzweifelhaft,« sagte der Doktor zu sich, als er seinem Freunde folgte, »wird es nun meine Aufgabe sein, hinter Fräulein Agathe und Herrn Julius herzulaufen.«


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