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Vierzehntes Kapitel

Niedergebrannt und zerstört! In Trümmer gesunken im Verlauf einer einzigen Nacht, – ein Haus, das hoch und stattlich dagestanden hatte Jahrhunderte hindurch, das wechselnde Generationen hatte kommen und gehen sehen mit Glück und Leid, mit Hoffnung und Verzweiflung, mit Aufwärtssteigen und Sinken! An seiner Stelle nichts, als ein schwarzer, qualmender Haufen von Schutt und Asche, ein riesiger Grabhügel über drei verbrannten, menschlichen Leibern.

Das Haus der Schatten war nur noch ein Name und eine Erinnerung. Man hatte dem furchtbaren Brande nicht Einhalt zu thun vermocht, und die Feuerwehr hatte ihre ganze Kraft einsetzen müssen, um die Nachbarhäuser zu schützen. Daß eine Explosion die Ursache des Brandes gewesen war, zeigte sich – auch wenn keine Zeugen vorhanden gewesen wären – deutlich an den Zerstörungen rings umher. Die Gebäude standen da, als seien sie von einem mächtigen Feinde beschossen worden: mit zertrümmerten Fensterscheiben, beschädigten Dächern, eingestürzten Schornsteinen. Bald ging auch Neuerts Name, mit Haß und Abscheu genannt von Mund zu Mund, und Martha Wernickes Erzählung von jener unheimlichen Erscheinung an ihrem Verlobungsabend gewann jetzt erhöhte Bedeutung. Und noch eine zweite Zeugin war vorhanden, die wider Willen seine Thäterschaft bezeugte – seine Mutter. Wo sie sich während des Abends bis zum Ausbruch des Brandes aufgehalten hatte, wußte niemand zu sagen, in der Vorstellung des Festspiels war sie nicht gesehen worden. Dann hatte man sie plötzlich inmitten der Menschenmenge erblickt, während sie in wirren und unklaren Worten im Angesichte des Feuers ihre Angst und Verzweiflung hinausschrie in die Nacht. Ihre Reden hatten keinen bestimmten Anhalt gegeben, aber man reimte sich allmählich zusammen, was zusammen gehörte, und erkannte das furchtbare Schicksal dieser Frau. Das gräßliche Schauspiel, dessen Zeugin sie geworden war, das vor ihren Augen die Vergeltung über den Stifter des Unheils gebracht hatte, die ganze Summe des Schrecklichen an diesem vom Feuer durchleuchteten Abend hatten sie fast wahnsinnig gemacht; dann folgte eine kurze Zeit wortloser Apathie, in der ihre Sinne für alles um sie her verschlossen schienen. Wider Erwarten der Aerzte aber schüttelte sie diese Ermattung des Geistes von sich ab und erstarkte von neuem zu Gesundheit und Kraft der Seele. Nur eine Wahnvorstellung war ihr geblieben und verließ sie niemals mehr: der Gedanke, daß ihr Sohn noch am Leben sei. Offen und rückhaltlos erkannte sie jetzt Neuert als solchen an und erzählte, wie sie ihn nach seiner Flucht in den unterirdischen Gängen und Gewölben mit Speise und Kleidung versorgt habe. Auf diesen geheimen Wegen müsse er auch der Katastrophe entkommen sein, um eines Tages zu ihr zurückzukehren und ihr das Glück zu bringen für den Abend ihres Lebens. Sie wartete auf ihn geduldig Tag für Tag und widmete ihre Kräfte inzwischen der Pflege von Armen und Kranken, die ihren Namen segnen lernten. Oft ließ sie sich die Krypta unter der Michaeliskirche öffnen und betete dort für ihren Sohn. Als hätte der Himmel ihr Schicksal mildern wollen durch einen schönen, tröstlichen Traum, so beherrschte der Glaube an die dereinstige Wiederkehr des all' seiner Schuld zum Trotz über alles geliebten Menschen den Rest ihres zertrümmerten Daseins.

Der Eindruck der furchtbaren Katastrophe zitterte noch tage- und wochenlang nach in der Stadt. Auch Frau Henninger brach beinahe darunter zusammen, als sie zuerst davon erfuhr. Sie war mit Georg am anderen Ende der Stadt gewesen, als das Feuer begann, und das Gräßlichste war schon vorüber, als sie an der Stätte eintraf, wo ihr Leben sich abgesponnen hatte so manches Jahr hindurch. Aber obwohl sie das Sterben der beiden Männer nicht hatte mit ansehen müssen, gebrauchte sie doch lange Zeit, um die schreckliche Vorstellung zu besiegen und zu einem ruhigen, friedlichen Schmerz über Busenius' Scheiden zu kommen, in dem auch sie einen verehrten Freund verloren hatte. Georg litt gleich ihr; seine rege Phantasie erneuerte vor seinem Geist immer wieder den erschütternden Vorgang, aber das Gefühl, die Geliebte stärken und trösten zu müssen, verlieh ihm die Kraft, sich rascher wiederzufinden. Und während die Tage kamen und gingen, offenbarte sich auch an den beiden die rasche, mächtige Heilkraft des Glücks.

Frau Henninger hatte sich im Hotel eine Wohnung genommen; ihr materieller Verlust war gering, und sie hätte es leicht ertragen, wäre er größer gewesen. Aber ihr Vermögen lag unversehrt in der Bank, und das Haus mit seinem Inhalt war gut versichert gewesen. Auch Georgs Manuskript war nicht verloren; er besaß das Original, und eine neue Abschrift war leicht hergestellt.

Als der gewaltige Brand endlich wirklich erloschen war, und man mit den Aufräumungsarbeiten beginnen konnte, da fand man in den obersten Schichten der Trümmer die traurigen Reste zweier menschlichen Leiber. Von Neuerts Leichnam war keine Spur zu entdecken; wahrscheinlich hatte die Explosion seinen Körper in Atome zerrissen. Weinend standen Ina und Georg an Busenius' Grabe – ein Ring an seiner verkohlten rechten Hand hatte ihn erkennen lassen – und gedachten der stillen Größe des einsamen Mannes. Auch in die Gruft des anderen riefen sie ein Wort der Vergebung hinunter; schrecklich genug hatte er büßen müssen, was er gesündigt hatte.

Und noch einmal trat in diesen Tagen der Tod nahe zu Frau Ina heran. Ans Berlin kam ihr als Antwort auf jenen letzten Brief, den sie in ihrer zerstörten Behausung geschrieben hatte, die Nachricht vom friedlichen, schmerzlosen Sterben ihres Bruders. Aber ihre Botschaft hatte ihn noch lebend erreicht, und ihre freundlichen Worte hatten ihm das Scheiden erleichtert. Sie fühlte, daß ihm das irdische Dasein keine Freude mehr hätte geben können, und so war es ein milder Schmerz, mit dem sie ihn aus der Liste der Lebenden strich, – den längst schon Verlorenen, elend Heimgekehrten, endlich zur Ruhe Gelangten. Aber in Trauerkleidern ging sie in ihre neue Brautzeit hinein.

Und doch – es war Sommer, und in ihrem innersten Herzen war sie so glücklich, wie nie zuvor. Gab es denn einen Kummer, der diesem doppelten Sonnenschein von innen und außen widerstand? Nein, es war keine Sünde, fröhlich zu sein und wieder lachen zu lernen! Hatte der Himmel sie an jenem Abend des Schreckens so gnädig bewahrt, sie und den Geliebten, damit sie ihm nun mit Thränen und Seufzern dankten? »Der liebe Gott liebt ein fröhliches Herz,« hatte ihre Mutter immer gesagt, und an diesem Spruch hielt sie fest, wenn die Schrecken der letzten Vergangenheit sie bedrängten, während zugleich im geheimen ihre Seele sie trieb, einem vollen, seligen Glücksgefühl sich hinzugeben und sich von ihm tragen zu lassen, wie von einer sonnigen, ruhigen Flut.

Daß andere weniger zaghaft waren, am Bau ihres zukünftigen Lebens zu zimmern und aus dem Schlimmen das Gute zu schöpfen, das wurde ihr bald in derben Zügen vor Augen geführt. Karoline, ihre bisherige Köchin, erschien bei ihr im Zimmer des Hotels, feierlich angethan, ein unentfaltetes, lang zusammengelegtes Taschentuch wie einen Marschallstab in der Hand. Zuerst weinte sie ein wenig, dann begann sie zu reden. »Wenn es mich auch noch in alle Glieder zittert, so kann ich mich doch nich untersagen, Frau Regierungsrat mal wieder zu besuchen. Un was dem Gespenst anlangen thut, so is ja nu allens in Ordnung un is einem Mann von Fleisch und Bein geworden, wozu ich Frau Regierungsrat nur von ganze Seele gratulieren kann. Un weil es nu doch mal so gekommen is, wollte ich man bloß sagen, daß ich für meine Person auch in Sinne habe, mir zu verändern. Gebildet genug is er mich eigentlich noch nich, was Ferdinand Elster, der Kutscher, is, mit dem ich schon lange versprochen bin, aber wo wir doch nu gesehen haben, wie rasch das kommen kann mit das Auseinanderreißen von die menschlichen Organismen, so will ich mir mit ihm begnügen, wie er nu mal is. Un wenn ich mich überlege, ob der Himmel un der angeborene Anstandsgefühl von mich verlangen kann, daß ich dein ganzen heiligen Ehestand wegen die richtige deutsche Sprache am Nagel hänge, denn is mich das doch zweifelhaft. Un so will ich ihm nehmen, was Ferdinand Elster, der Kutscher, is, wenn es mit das mir und das mich bei ihn auch noch mangelhaft bestellt is, aber dem Engel auf Erden sucht man ja doch umsonsten, un zuweilen irre ich mir ja auch selber noch mal.«

Frau Henninger stimmte ihr lachend und freundlich zu; es war ihr ein angenehmes Gefühl, die gute Seele, die ihr so lange treu gedient hatte, versorgt zu wissen. Sie ließ sich erzählen, daß Ferdinand Elster eine gute Stelle als Aufseher in einer Fabrik gefunden habe, die ihm gestatte, eine Frau zu ernähren, – »un dem Ersparten braucht noch nich mal angegriffen zu werden,« fügte Karoline hinzu. Auch das bekam sie zu hören, daß ein anderer Liebesbund durch die Katastrophe gesprengt sei; Doktor Jakschs Diener habe sich einer neuen Stelle wegen nach Berlin zurückbegeben, und Johanne sei klug genug, einzusehen, daß ein in Hildesheim geleisteter Treueschwur dem Anstürmen der Berliner Stubenmädchen nicht standhalten werde. »Na, Berlin überhaupt!« sagte Karoline mit einem Schauder. Einen neuen Platz habe auch Johanne schon gefunden, aber sie sei schrecklich nervös, »was man auf deutsch auch unausstehlich schreiben könnte.« Bäsmanns hätten ihre Erbschaft erhoben und würden mit der Schwester in deren Heimat ziehen, vorher aber noch Abschied von Frau Regierungsrat nehmen. »Un was dem Schönsten is, die Hochzeit von Fritz Köhler und Martha Wernicke soll mit meine eigene auf einem un demselben Tage sein,« schloß Karoline ihren wortreichen Bericht.

Eine Einladung zu dem Doppelfest konnte Frau Henninger nicht annehmen, da sie beschlossen hatte, Hildesheim bald zu verlassen, aber sie versprach, der beiden Paare am Tage ihres Glückes freundlich zu gedenken, und schied von ihrer treuen Dienerin mit herzlichen Worten. Ihr selbst aber gab der Anblick dieses resoluten Ringens um eine neue Existenz erhöhte Kraft und erhöhte Freudigkeit. Sie hatte mit Georg verabredet, daß sie noch einige Zeit bei einer Verwandten zubringen sollte, um dann in aller Stille den Bund mit ihm zu schließen und ihm zu folgen in eine neue Heimat. Er wünschte, München zum Wohnsitz zu wählen, das er von seiner Studienzeit her kannte und liebte und das er eine menschenfreundliche Stadt zu nennen pflegte. Ina widerstrebte ihm nicht, obgleich ihr München noch fremd war. »Was dir gefällt, wird auch mir gefallen,« sagte sie einfach, »auch freue ich mich auf die bequeme Nähe einer großen Natur.«

So kam der Tag heran, der ihnen den Abschied von Hildesheim brachte; denn auch Georg wollte gleich reisen und am neuen Wohnsitz alles für ihre Zukunft bereiten. Der Morgen war mit Besorgungen und Besuchen hingegangen, den Nachmittag hatten sie sich zu friedlichem Scheiden von vertrauten Stätten vorbehalten. Lange verweilten sie vor der Stelle, wo das Haus der Schatten gestanden hatte, und wo noch häßliche Reste von dem Zerstörungswerk des Feuers erzählten. Langsam gingen sie dann durch die Stadt, Arm in Arm, hie und da von bekannten Gesichtern begrüßt. In der Durchfahrt von der Straße Am Stein zum großen Domhof blieb Ina einen Augenblick stehen; sie gedachte der regenerfüllten Dämmerstunde, in der ihr Bruder hier zu ihr getreten war. Auch von dem Briefe sprachen sie wieder, den Georg damals in dem Zimmer des Toten gefunden hatte, und der nun erklärt war.

Als sie den Domhof selbst betreten hatten, sagte Georg: »Nun mußt du noch mit mir von meinem Lieblingsplatz Abschied nehmen.«

»Komm',« gab Ina zur Antwort, und an seiner Seite schritt sie über den Platz, auf dem die Linden eben zu blühen begannen, und trat in die kühle Dämmerung des Domes hinein. Georg sprach ein paar Worte mit einem Manne, der ihnen entgegen kam, dann mit freundlicher Bereitwilligkeit eine Thür vor ihnen aufschloß und sie wieder hinter ihnen anlehnte, ohne selbst zu folgen.

»Ich habe mit dem Thürhüter Freundschaft geschlossen,« sagte Georg, »er hat mich schon oft allein hineingehen lassen. Solch' ein rasselnder Schlüsselbund hinter mir bringt mich um jede Stimmung! Es ist wie das Klirren der Kette, an der uns die Prosa festhält, wenn wir uns in die Poesie eines Ortes vertiefen wollen.«

Während er sprach, hatten sie den Kreuzgang betreten und waren, ihn verlassend, auf den kleinen Kirchhof hinausgelangt, der von der Rückwand des Domes und den drei Seiten des Kreuzganges eng umschlossen wird. Ina kannte den Platz, aber sie war niemals ohne Begleitung eines störenden Erklärers hierhergelangt, und nie zuvor hatten der feierliche Ernst, der erhabene und tröstliche Frieden des weltabgeschiedenen Erdenwinkels so eindringlich zu ihr gesprochen.

»Es ist ein ernster Ort,« sagte sie leise, indem sie vor einem der Gräber stehen blieb, »aber wir sind ja auch ein ernstes Paar, und unser Fuß ist über Gräber gegangen, ehe wir hierher kamen.«

Georg gab keine Antwort; er zog sie nur an sich und küßte sie auf die Stirn. Wie sie so da standen in ihren schwarzen Gewändern, hätten sie für Trauernde gelten können, die eines Toten Ruhestätte besuchten. Aber der Glanz in ihren Augen war nicht der Schimmer von Thränen, und ein Leuchten des Glücks flog über ihre Züge, während sie einander umschlungen hielten inmitten dieser Umwallung von altersgrauem Stein, die den Lärm des Lebens von ihnen schied. Ernst und feierlich war der Ort, und Gräber lagen zu ihren Füßen; aber auf den vier steinernen Wänden ruhte der blaue Sommerhimmel, auf den Hügeln der Toten blühten die Blumen, an den mächtigen Strebepfeilern trieben Epheu und wilder Wein ihre neuen Ranken, und an der Apsis des Domes breitete der Rosenstrauch, verwitternden Stein mit schlanken Armen seit mehr als tausend Jahren umschlingend, sich frisch ergrünt aus, mit Blüten und Knospen leuchtend geschmückt. Himmel und Licht, Ranken und Grün, Sonnenschein und Duft sprachen zu den beiden: »Glaubt an die Kraft des Lebens, die den Tod besiegt!«

Langsam gingen sie zwischen den Gräbern umher, lange Zeit schweigend. Dann begann Ina zu sprechen: »Weißt du, ich freue mich im Grunde, daß wir unser neues Leben nicht hier beginnen. Auch meinem alten Hause der Schatten trauere ich an sich nicht nach. Es hat mir in Wahrheit viel Schatten auf meinen Weg gebracht, und nun –«

»Nun wollen wir lauter Sonnenschein haben und keine Schatten mehr, nicht wahr?«

»Nein, keine Schatten,« entgegnete Ina, dann aber, nach einem kleinen Ueberlegen, sagte sie in einem leichteren Ton: »Doch, eine gewisse Sorte von Schatten muß ich ausnehmen.«

»Und welche?«

»Die du selbst herbeirufst mit deiner Phantasie und die du zu wirklichen, lebendigen Geschöpfen machst durch die Kraft deines Geistes. Die sollen bei uns bleiben und uns begleiten und sollen mithelfen an unserem Glück.«

Er lächelte in stiller Freude, legte seinen Arm um ihre Schultern und führte sie langsam zu dem blühenden, tausendjährigen Rosenstrauch. Hier hob er die Hand und brach eine Blüte von einem der zu ihnen herniedernickenden Zweige.

»Es ist eigentlich nicht erlaubt, aber heute dürfen wir schon einmal etwas Unerlaubtes thun,« sagte er. »Ich möchte dir diese Rose geben, laß' sie ein Zeichen unserer Liebe sein. Wie dieser Rosenstrauch immer frische Zweige und Blüten treibt, soll auch unsere Liebe es thun, und wenn der Winter sie einmal bedroht, wollen wir die Hoffnung auf einen neuen Frühling niemals verlieren.«

Sie sah ihm tief in die Augen und nickte ihm zu; dann steckte sie die Rose an ihre Brust. Und als sie nun den schweigenden Ort des Friedens verließen, da trugen sie den Duft dieser Blüte mit sich hinweg, der sie, gleich der Verheißung eines beständigen, aus gesunden Wurzeln immer neu wieder hervorsprießenden Glückes, freundlich umspielte.


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