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Als ich ungefähr sechs Jahre alt war, nahm mein Vater den Abschied und ließ sich auf unserem Familiengut Palibino im Gouvernement Witebsk nieder. Damals schon behauptete sich hartnäckig das Gerücht von der bevorstehenden Bauernbefreiung, und das veranlaßte meinen Vater, sich ernsthafter mit der Gutswirtschaft zu befassen, die bisher ein Verwalter geleitet hatte.
Bald nach unserer Übersiedlung aufs Land trug sich in unserem Hause etwas zu, was sich sehr lebhaft meinem Gedächtnis einprägte. Dieser Vorfall machte übrigens auf alle im Hause einen so mächtigen Eindruck, daß man sich später oft an ihn erinnerte, und meine eigenen Eindrücke vermischten sich daher so sehr mit den späteren Erzählungen, daß ich die einen von den anderen nicht zu unterscheiden vermag. Ich erzähle deshalb alles so, wie es mir heute vor Augen steht.
Plötzlich begannen allerhand Gegenstände aus unserem Kinderzimmer zu verschwinden. Die Njanja braucht nur eine Zeitlang an einen Gegenstand nicht zu denken, so findet sie ihn nicht mehr, wenn sie ihn sucht, obgleich die Njanja darauf schwören will, daß sie selbst ihn eigenhändig in den Schrank oder die Kommode gelegt hat. Anfangs kümmerte man sich wenig um diese Vorkommnisse, als sie sich aber immer häufiger wiederholten und wertvollere Gegenstände abhanden kamen – ein silbernes Löffelchen, ein goldener Fingerhut, ein Perlmutter-Federmesser –, wurde man unruhig. Offensichtlich befand sich ein Dieb unter uns. Die Njanja, die für die den Kindern gehörenden Sachen verantwortlich zu sein glaubte, war besorgter als alle anderen und nahm sich vor, den Dieb um jeden Preis ausfindig zu machen.
Der Verdacht mußte natürlich vor allem auf die arme Fekluscha, unser Mädchen, fallen. Zwar war sie bereits seit drei Jahren der Kinderstube zugeteilt, und die Njanja hatte an ihr während der ganzen Zeit nichts Verdächtiges bemerkt. Allein nach der Ansicht der Njanja bewies dies noch gar nichts. »Früher war sie eben noch klein, konnte den Wert der Gegenstände nicht ermessen«, argumentierte die Njanja, »jetzt aber ist sie erwachsen und ist klüger geworden. Dann lebt ja hier im Dorf ihre Familie – der trägt sie das herrschaftliche Eigentum zu!«
Auf Grund solcher Erwägungen ließ die Njanja immer mehr durchblicken, daß sie Fekluscha für die Schuldige hielt, so daß man diese immer strenger und unfreundlicher behandelte, und die Unglückliche, die instinktiv die Verdächtigung herausfühlte, sah von Tag zu Tag schuldbewußter aus.
Allein wie scharf auch die Njanja Fekluscha beobachtete, so konnte sie ihr lange nichts nachweisen. Die vermißten Gegenstände fanden sich nicht, und es kamen immer wieder neue abhanden. Eines Tages verschwand aus dem Schrank der Njanja Anjutas Sparbüchse, die mindestens vierzig Rubel enthielt. Die Kunde davon drang sogar bis zu meinem Vater; er rief die Njanja zu sich und gab ihr den strengen Auftrag, den Dieb unbedingt ausfindig zu machen. Nun, dies sahen alle ein, wurde die Sache ernst.
Die Njanja war verzweifelt. Einmal nachts erwachte sie und horchte: aus dem Winkel, wo Fekluscha schläft, hört man ein seltsames Schnalzen. Die Njanja streckt vorsichtig die Hand nach den Streichhölzern aus, macht rasch Licht. Was sieht sie? Fekluscha, im Winkel kauernd, hält zwischen den Knien einen großen Topf mit Eingemachtem, ißt daraus mit vollem Munde und wischt den Topf mit Brotrinde aus. Es sei bemerkt, daß die Beschließerin einige Tage vorher geklagt hatte, es fehlten Konfitüren aus der Vorratskammer.
Aus dem Bett springen und die Verbrecherin am Zopf packen, war für die Njanja natürlich das Werk einer einzigen Sekunde.
»Ah . . . erwischt, Nichtsnutzige! Sag, woher hast du das Eingemachte?« schrie sie mit Donnerstimme, das Mädchen erbarmungslos an den Haaren zerrend.
»Njanja, Täubchen! Ich bin unschuldig, wahrhaftig!« jammerte Fekluscha. »Die Nähterin Maria Wassiliewna schenkte mir gestern abend diesen Topf und befahl mir bloß, ihn vor Ihnen zu verbergen.«
Diese Rechtfertigung kam der Njanja nicht glaubwürdig vor.
»Nu, Mütterchen, du wirst auch noch lügen . . . wie es scheint, bist du darin nicht gerade Meisterin!« sagte sie verächtlich. »Nu, ist das möglich, daß Maria Wassiliewna dir mit Eingemachtem aufwartet?«
»Njanja, Täubchen, ich lüge nicht! Es ist wahr! Fragen Sie sie selbst. Ich habe ihr vorgestern die Plätteisen gewärmt, sie hat mir dafür Eingemachtes geschenkt und mir bloß befohlen: ›Zeig's nicht der Njanjuschka, sonst zankt sie, daß ich dich verwöhne‹«, behauptete Fekluscha.
»Nu, ist recht, morgen früh wollen wir die Sache untersuchen!« schloß die Njanja, und am nächsten Morgen sperrte sie Fekluscha in die finstere Kammer, aus der man noch lange das Schluchzen des Mädchens vernahm.
Am darauffolgenden Tage fand die Untersuchung statt. Maria Wassiliewna war Schneiderin und lebte bereits lange bei uns. Sie war keine Leibeigene, sondern eine Freigelassene, erfreute sich bei der übrigen Dienerschaft großer Achtung und hatte ihr eigenes Zimmer, in welchem ihr von der herrschaftlichen Tafel serviert wurde. Sie war sehr hochmütig und hielt sich von dem Gesinde fern. Man schätzte sie bei uns im Hause, weil sie sehr geschmackvoll arbeitete. »Einfach goldene Hände hat sie«, sagte man von ihr. Sie war, glaube ich, schon nahe an den Vierzigern, hatte große, schwarze Augen, ihr mageres Gesicht sah kränklich aus. Maria war nicht schön, ich erinnere mich aber, daß die Erwachsenen im Hause stets hervorhoben, ihr Aussehen sei sehr »distingué« . . . »man würde es gar nicht glauben, daß sie eine einfache Nähterin sei!« Ihre Kleidung war immer nett und rein, ihr Zimmer hielt sie in bester Ordnung, sogar mit einem gewissen Anstrich von Eleganz. Auf dem Fensterbrett standen immer einige Geranientöpfe, die Wände waren mit billigen, kleinen Bildern behängt, und auf dem Brett im Winkel waren allerlei Porzellan-Nippes aufgestellt – Schwäne mit vergoldeten Schnäbeln; Pantoffeln, mit rosa Blümchen verziert, an denen ich mich als Kind ungemein ergötzte.
Uns Kindern erschien Maria Wassiliewna vor allem deshalb interessant, weil über sie die folgende Geschichte in Umlauf war:
In der Jugend war sie ein schönes, gesundes Mädchen, Leibeigene einer Gutsbesitzerin. Letztere hatte einen erwachsenen Sohn, der Offizier war. Der kam einmal auf Urlaub nach Hause und schenkte Maria Wassiliewna ein paar Silbermünzen. Zum Unglück erblickte die alte Herrin, als sie in die Gesindestube kam, das Geld in der Hand des Mädchens. »Wie kommst du dazu?« fragte sie, und Maria Wassiliewna erschrak so sehr, daß sie die Münzen verschluckte. Es wurde ihr sofort übel, ihr Gesicht wurde gelb, und sie stürzte zu Boden. Man konnte sie nur mit Mühe ins Leben zurückrufen. Sie kränkelte lange und büßte damals für immer ihre Schönheit und Frische ein. Die alte Gutsbesitzerin starb bald darauf, und der junge Herr schenkte Maria Wassiliewna die Freiheit.
Diese Geschichte von dem verschluckten Gelde interessierte uns Kinder ungeheuer, und wir nötigten Maria Wassiliewna immer wieder, sie uns in allen Einzelheiten zu erzählen. Maria Wassiliewna kam häufig in die Kinderstube, obgleich sie mit der Njanja nicht auf bestem Fuße lebte. Wir Kinder liefen gern zu ihr ins Zimmer, zumal in der Dämmerung, wenn sie, ob sie wollte oder nicht, die Arbeit weglegen mußte. Dann setzte sie sich ans Fenster, stützte den Kopf in die Hand und sang mit schwermütiger Stimme alte, rührende Romanzen: »In den tiefen Tälern« oder »Schwarze Blume, düstere Blume«. Ihr Gesang war sehr wehmütig, und als Kind liebte ich ihn, obgleich er mich immer traurig stimmte. Es kam mitunter vor, daß sie den Gesang abbrach, weil sie ein Anfall jenes furchtbaren Hustens überkam, der sie schon seit vielen Jahren quälte und der ihre flache, eingefallene Brust zu sprengen drohte.
Als sich die Njanja am Morgen nach dem beschriebenen Vorfall mit Fekluscha an Maria Wassiliewna mit der Frage wandte: »Ist es wahr, daß Sie dem Mädchen Eingemachtes gaben?« zeigte sie, wie zu erwarten war, ein erstauntes Gesicht.
»Was haben Sie sich da ausgedacht, Njanjuschka? Ich werde das Mädchen so verwöhnen?! Ich selbst habe kein Eingemachtes!« sagte sie beleidigt.
Jetzt war die Sache klar. Allein Fekluschas Unverschämtheit ging so weit, daß sie ungeachtet dieser kategorischen Erklärung auch weiter auf ihrer Aussage beharrte.
»Maria Wassiliewna, in Christi Namen! Ist es denn möglich, daß Sie vergessen haben? Ja, noch gestern Abend riefen Sie mich selbst zu sich, lobten mich wegen der Plätteisen und gaben mir das Eingemachte«, sagte sie, mit verzweifelter, von Tränen unterbrochener Stimme und am ganzen Leibe zitternd.
»Du bist wohl krank und nicht recht bei Sinnen, Fekluscha«, erwiderte Maria Wassiliewna ruhig, und auf ihrem blassen, blutlosen Gesicht zeigte sich nicht die geringste Spur einer Erregung.
Nun bestand weder für die Njanja noch für die anderen Hausgenossen der geringste Zweifel an Fekluschas Schuld. Man führte die Verbrecherin ab und schloß sie in einer abseits liegenden Kammer ein.
»Hier wirst du bleiben, Nichtsnutzige, bekommst nichts zu essen und zu trinken, bis du deine Schuld gestanden hast!« sagte die Njanja und drehte den Schlüssel im mächtigen Schloß herum.
Dieser Vorfall machte selbstverständlich viel Aufsehen im Hause. Jeder von den Dienstleuten ersann einen Vorwand, um zur Njanja zu laufen und mit ihr diese interessante Angelegenheit zu besprechen. Unser Kinderzimmer glich tagsüber einem Klub.
Fekluscha hatte keinen Vater mehr, und ihre Mutter lebte im Dorf; diese kam aber öfter ins Haus, um der Wäscherin bei der Arbeit zu helfen. Sie erfuhr selbstverständlich bald von dem Vorfall, kam ins Kinderzimmer gelaufen, erging sich in lauten Klagen und versicherte, ihre Tochter sei unschuldig. Aber die Njanja brachte sie rasch zum Schweigen.
»Mach' du nur keinen solchen Lärm, Mütterchen! Wart' nur, wir werden schon herausfinden, wohin dein Töchterchen die gestohlenen Sachen geschleppt hat!« sagte sie mit so strengem und vielsagendem Blick, daß die arme Frau Angst bekam und fortging.
Die öffentliche Meinung sprach sich entschieden gegen Fekluscha aus. »Daß sie das Eingemachte entwendet hat, beweist, daß sie auch die anderen Sachen gestohlen hat«, sagten alle. Die Entrüstung gegen sie war nicht zuletzt deshalb so groß, weil diese wiederholten geheimnisvollen Diebstähle die gesamte Dienerschaft während vieler schwerer Wochen bedrückten. Jeder befürchtete insgeheim, selbst in Verdacht zu kommen; die Entdeckung des Diebes war daher für alle eine Erleichterung.
Allein Fekluscha gestand noch immer nicht. Die Njanja besuchte einige Male im Laufe des Tages ihre Gefangene, die eigensinnig wiederholte: »Ich habe nicht gestohlen. Gott wird Maria Wassiliewna dafür strafen, daß sie eine Waise beleidigt!«
Gegen Abend kam die Mutter ins Kinderzimmer.
»Njanja, sind Sie nicht zu streng gegen das unglückliche Mädchen? Wie kann man das Kind den ganzen Tag ohne Nahrung lassen!« sagte sie besorgt.
Aber die Njanja wollte von Gnade nichts hören. »Wo denken Sie hin, gnädige Frau? Eine solche noch bedauern! Diese Abscheuliche, die beinahe ehrliche Leute in Verdacht gebracht hätte!« Sie sagte dies mit solcher Überzeugung, daß die Mutter nicht weiter darauf bestehen wollte und fortging, ohne für die kleine Verbrecherin eine Erleichterung erlangt zu haben.
Der nächste Tag kam. Fekluscha hatte noch immer nicht gestanden. Ihre Richter wurden schon unruhig, als plötzlich um die Mittagszeit die Njanja mit triumphierender Miene bei unserer Mutter erschien.
»Unser Vögelchen hat bekannt!« sagte sie freudig.
»Und wo befinden sich die Gegenstände?« fragte die Mutter.
»Sie gesteht noch nicht ein, wohin sie sie gebracht hat, die Nichtsnutzige!« erwiderte die Njanja geschäftig. »Sie zögert noch . . . sagt, sie hätte vergessen. Aber warten Sie nur, sie wird noch ein, zwei Stündchen eingesperrt bleiben – dann wird sie sich auch erinnern können!«
Tatsächlich legte Fekluscha vor Abend ein vollständiges Geständnis ab und erzählte sehr umständlich, daß sie alle diese Sachen gestohlen habe in der Absicht, sie später einmal zu verkaufen; da sich jedoch keine bequeme Gelegenheit dazu geboten, bewahrte sie dieselben lange unter der Filzdecke im Winkel ihrer Kammer auf; als sie aber sah, daß man nach den Dingen suchte und ernstlich nach dem Diebe fahndete, erschrak sie und dachte anfangs daran, die Sachen zurückzulegen, dann aber fürchtete sie, das zu tun, und band stattdessen alles in ihre Schürze und warf sie in den tiefen Teich hinter unserem Hause.
Alle waren so sehr an irgendeiner Lösung dieser schwierigen und unangenehmen Angelegenheit interessiert, daß sie Fekluschas Aussagen keiner strengen Kritik unterzogen. Man ärgerte sich ein wenig wegen der verlorengegangenen Gegenstände, war aber zufrieden, daß sich endlich alles aufgeklärt hatte. Man befreite die Verbrecherin aus der Haft und sprach ein gerechtes Urteil über sie. Es wurde beschlossen, sie gehörig durchzuprügeln und sodann ins Dorf zu ihrer Mutter zurückzuschicken. Ungeachtet der Tränen Fekluschas und des Protestes ihrer Mutter wurde dieses Urteil auch sofort vollzogen. Dann nahm man ein anderes Dienstmädchen zu unserer Bedienung.
Einige Wochen verstrichen. Nach und nach kehrte die Ordnung im Hause wieder ein, und der Vorfall geriet in Vergessenheit.
Eines Abends, als im Hause schon alles still war und sich die Njanja, nachdem sie uns zu Bette gebracht hatte, selbst zur Ruhe begeben wollte, ging leise die Tür auf und die Wäscherin Alexandra, Fekluschas Mutter, erschien. Sie allein bestritt immer noch hartnäckig das längst Bewiesene, konnte sich nicht beruhigen und fuhr fort zu behaupten, man habe »ihre Tochter grundlos gekränkt«. Einige Male hatte es bereits zwischen ihr und der Njanja heftige Streitigkeiten gegeben, bis die Njanja ihr endlich mit einer Handbewegung den Eintritt ins Kinderzimmer verbot, da sie zu der Ansicht kam, man werde das dumme Weib ohnehin nicht zur Vernunft bringen.
Heute aber hat Alexandra eine so seltsame und vielsagende Miene, daß die Njanja beim ersten Blick erkennt, jene ist nicht gekommen, um ihre gewöhnlichen leeren Klagen zu wiederholen, sondern es dürfte sich etwas Neues und Wichtiges ereignet haben.
»Sehen Sie einmal, Njanjuschka, was ich Ihnen zeigen will!« sagte geheimnisvoll Alexandra; sie blickte forschend im Zimmer umher, und als sie sich davon überzeugt hatte, daß niemand sie beobachtete, zog sie unter der Schürze ein Perlmutter-Federmesser hervor und überreichte es der Njanja – es war unser Lieblingsmesserchen, dasselbe, welches zu den gestohlenen und angeblich von Fekluscha in den Teich geworfenen Gegenständen gehörte.
Als die Njanja das Messer erblickte, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen.
»Wo haben Sie denn das gefunden?« fragte sie neugierig.
»Das ist ja eben die Sache – wo ich es fand –«, erwiderte Alexandra gedehnt.
Sie schwieg einige Sekunden und weidete sich an der Verlegenheit der Njanja.
»Unser Gärtner, Philipp Matwiewitsch, gab mir seine Hosen zum Flicken, und in einer der Taschen fand sich das Messerchen –«, brachte sie endlich bedeutungsvoll hervor.
Dieser Philipp Matwiewitsch war ein Deutscher und nahm eine der ersten Stellen unter dem Gesinde ein. Er erhielt ein recht hohes Gehalt, war Junggeselle und galt, obschon er jedem gleichgültigen Auge nur als ein dicker, nicht mehr junger, recht widerlicher Deutscher mit typischem roten, viereckigem Backenbart vorkommen mußte, unter unseren weiblichen Dienstleuten als ein schöner Mann.
Nachdem die Njanja diesen seltsamen Bericht vernommen hatte, wußte sie im ersten Augenblick nichts zu sagen.
»Wie konnte sich das Messerchen bei Philipp Matwiewitsch finden?« fragte sie kleinmütig. »Er kommt doch, soviel ich weiß, niemals ins Kinderzimmer! Ja, ist es denn möglich, daß ein Mensch wie Philipp Matwiewitsch Sachen der Kinder stehlen wird?«
Alexandra sah die Njanja schweigend und mit einem langen, spöttischen Blick an. Dann neigte sie sich bis zu ihrem Ohr und flüsterte ihr einiges zu, wobei sich der Name Maria Wassiliewna oft wiederholte.
»Te, te, te . . . so ist das also!« sagte sie, die Hände zusammenschlagend. »Ach, du Heuchlerin! Ach, du Nichtsnutzige! . . . Nu, warte nur, wir werden mit dir schon ins Reine kommen!« rief sie voller Empörung.
Wie man mir später erzählte, zeigte es sich, daß Alexandra schon längst gegen Maria Wassiliewna einen Verdacht hatte. Sie hatte bemerkt, daß jene zu dem Gärtner in heimlichen Beziehungen stand.
»Nu, bedenken Sie«, sagte sie zu der Njanja, »wird ein so hübscher Bursche wie Philipp Matwiewitsch für nichts und wieder nichts ein so altes Weib lieben? Sicherlich besticht sie ihn mit Geschenken!«
Und sie hatte sich auch bald davon überzeugt, daß Maria Wassiliewna dem Gärtner Geschenke und Geld zusteckte. Wo nimmt sie das nur her? Und Alexandra ersann ein ausgeklügeltes Spioniersystem gegen die arglose Maria Wassiliewna. Dieses Messerchen war bloß das letzte Glied in einer langen Kette von Beweisen.
Die Sache wurde so interessant und unterhaltend, wie man es gar nicht hatte erwarten können. In der Njanja erwachte plötzlich jener starke Detektiv-Instinkt, der so oft in der Seele alter Frauen schlummert und sie veranlaßt, sich voll Eifer auf die Entwirrung jeder verwickelten Angelegenheit zu stürzen, auch wenn diese sie gar nichts angeht. In dem vorliegenden Falle wurde der Eifer der Njanja noch dadurch erhöht, daß sie sich Fekluscha gegenüber schuldig fühlte und vor Verlangen glühte, alles schleunigst wiedergutzumachen. Deshalb wurde zwischen ihr und Alexandra sofort ein Offensiv- und Defensiv-Bündnis gegen Maria Wassiliewna geschlossen.
Da die beiden Frauen von der Schuld Maria Wassiliewnas völlig überzeugt waren, beschlossen sie, sich ihrer Schlüssel zu bemächtigen und den Augenblick abzuwarten, wo sie das Haus verläßt, um dann ihre Koffer zu öffnen.
Gedacht, getan! O weh! Ihr Verdacht zeigte sich nur zu begründet. Der Inhalt des Koffers bestätigte alle ihre Vermutungen und erwies in unzweifelhafter Weise, daß Maria Wassiliewna alle jenen kleinen Diebstähle begangen hatte, die so viel Aufregung hervorgerufen hatten.
»O diese Niederträchtige! Das beweist, daß sie das Eingemachte der armen Fekluscha gab, um ihr Sand in die Augen zu streuen und den Verdacht auf sie zu lenken! Die Gottlose! Mit dem Kind kein Erbarmen zu haben!« sagte die Njanja voll Entsetzen und Abscheu und vergaß, welche Rolle sie selbst in der ganzen Sache gespielt und wie sie in ihrer Grausamkeit die arme Fekluscha so weit gebracht hatte, daß sie gegen sich selbst, der Wahrheit zum Trotz, aussagte.
Man kann sich die Empörung aller Dienstleute und Hausbewohner vorstellen, als die reine Wahrheit aufgedeckt und allen bekannt wurde.
Im ersten Zorn hatte der Vater nicht übel Lust, die Polizei zu holen und Maria Wassiliewna verhaften zu lassen; allein da sie eine bereits bejahrte, kränkliche Frau war und so lange bei uns gewohnt hatte, wurde er bald weich und beschloß, sie bloß zu entlassen und nach Petersburg zurückzuschicken.
Man sollte glauben, daß Maria Wassiliewna mit diesem Urteil hätte zufrieden sein müssen. Sie war eine so geschickte Nähterin, daß sie gar nicht zu befürchten brauchte, in Petersburg erwerbslos zu sein. Und welche Situation hatte sie nach solchen Vorfällen in unserem Hause zu erwarten? Die anderen Dienstleute hatten sie alle früher beneidet und konnten sie ihres Stolzes und Hochmutes wegen nie leiden. Das wußte sie und wußte auch, wie bitter sie jetzt dafür würde büßen müssen. So seltsam es scheinen mag – sie freute sich trotzdem nicht über die nachsichtsvolle Entscheidung meines Vaters. Es trat bei ihr eine Art Katzentreue zu unserem Hause, zu dem erbgesessenen Winkelchen bei uns zutage.
»Ich habe nicht mehr lange zu leben; ich fühle, daß ich bald sterben werde. Was soll ich mich vor dem Tode unter Fremden umhertreiben?« sagte sie.
»Das war gar nicht der wahre Grund!« erklärte mir freilich die Njanja, als sie sich viele Jahre später, ich war schon erwachsen, der Geschichte erinnerte. »Sie konnte einfach nicht weg, weil Philipp Matwiewitsch zurückblieb und sie wußte, daß sie ihn nie wieder sehen würde, wenn sie wegzog. Es war klar, sie hatte ihn außerordentlich lieb, wenn sie sich nach einem langen, ehrenhaften Leben in ihren alten Tagen so vergessen konnte.«
Philipp Matwiewitsch gelang es, ungeschoren aus der ganzen Affaire herauszukommen. Er mag am Ende auch wirklich die Wahrheit gesagt haben mit seiner Behauptung, er hätte die Herkunft der Geschenke Maria Wassiliewnas nicht gekannt. Da es schwer war, einen tüchtigen Gärtner zu finden, und man den Garten und Hof nicht ihrem Schicksal überlassen wollte, wurde beschlossen, ihn zum mindesten noch eine Zeitlang zu behalten.
Ich weiß nicht, ob die Njanja recht hatte, daß die Liebe zu Philipp Matwiewitsch die Maria Wassiliewna bestimmte, sich so hartnäckig an ihre Stellung zu klammern; wie dem auch sei, an dem für ihre Abreise festgesetzten Tag kam sie zum Vater und warf sich ihm zu Füßen.
»Zahlen Sie mir keinen Lohn, bestrafen Sie mich wie eine Leibeigene, jagen Sie mich nur nicht fort!« flehte sie schluchzend.
Den Vater rührte eine solche Anhänglichkeit an unser Haus, andererseits befürchtete er, es könnte auf die anderen Dienstleute demoralisierend wirken, wenn er Maria Wassiliewna verzeihen würde. Er war in großer Verlegenheit, wußte nicht, wie hier vorzugehen. Plötzlich fiel ihm aber folgende Lösung ein.
»Hören Sie einmal!« sagte er zu ihr. »Obgleich Stehlen eine große Sünde ist, könnte ich Ihnen doch verzeihen, wenn Ihre Schuld bloß darin bestünde, daß Sie gestohlen haben. Allein Ihretwegen hat ja das Mädchen unschuldig gelitten. Bedenken Sie, welche Schmach Fekluscha durch Ihre Schuld ausstehen mußte . . . öffentlich bestraft zu werden! Um jener willen kann ich Ihnen nicht verzeihen. Wenn Sie durchaus bei uns bleiben wollen, kann ich's nur unter der Bedingung bewilligen, daß Sie Fekluscha in Gegenwart aller Dienstleute um Verzeihung bitten und ihr die Hand küssen. Wollen Sie darauf eingehen, dann bleiben Sie in Gottes Namen hier!«
Alle erwarteten, Maria Wassiliewna werde auf eine solche Bedingung niemals eingehen. Wie sollte sie, die Stolze, auch sich öffentlich vor einem leibeigenen Mädchen entschuldigen und ihm die Hand küssen! Zum allgemeinen Erstaunen erklärte sich Maria Wassiliewna jedoch damit einverstanden.
Schon eine Stunde nach dieser Entscheidung versammelte sich das ganze Gesinde im Hausflur, um dem denkwürdigen Schauspiele beizuwohnen: wie Maria Wassiliewna der Fekluscha die Hand küssen wird. Mein Vater hatte darauf bestanden, daß dies feierlich und öffentlich vor sich gehe. Es versammelten sich viele Leute; jeder wollte zusehen. Auch die Herrschaften waren anwesend, sogar wir Kinder erbaten die Erlaubnis, dabei sein zu dürfen.
Niemals werde ich die Szene vergessen, die sich nun abspielte. Fekluscha, von der Ehre, die ihr das Schicksal so unerwartet zuteil werden ließ, verwirrt und voller Angst, daß sich Maria Wassiliewna später an ihr für die auferlegte Erniedrigung rächen werde, ging zum Herrn und bat, er möge sie und Maria Wassiliewna vom Handkuß entbinden.
»Ich verzeihe ihr auch!« sagte sie, fast weinend.
Aber der Vater hatte sich so in eine den Umständen entsprechende Stimmung hineingesteigert und war davon überzeugt, daß er in Übereinstimmung mit den Forderungen der strengen Gerechtigkeit handelte, daß er das Mädchen anschrie:
»Marsch fort, Närrin, und menge dich nicht in Sachen, die dich nichts angehen! Nicht um deinetwillen geschieht es. Wenn ich mich bei dir zu entschuldigen hätte – verstehst du, ich selbst, dein Herr –, so müßte auch ich dir die Hand küssen! Begreifst du das nicht? Na also, schweig und red nicht!«
Die erschrockene Fekluscha wagte kein Wort der Erwiderung und ging vor Furcht zitternd an ihren Platz, wo sie wie eine Verbrecherin ihr Schicksal erwartete.
Maria Wassiliewna, bleich wie Leinwand, schritt durch die vor ihr zurücktretende Menge. Sie ging mechanisch, wie im Traum, aber ihr Gesicht sah entschlossen und böse aus, daß es einen schauerte. Ihre Lippen waren krampfhaft geschlossen und blutleer. Sie trat ganz nahe an Fekluscha heran. »Verzeih mir!« kam es wie mit einem krankhaften Schrei aus Maria Wassiliewnas Munde; sie ergriff Fekluschas Hand und führte sie so rasch und mit so haßerfülltem Ausdruck an die Lippen, als hätte sie sich vorgenommen, dieselbe zu beißen. Plötzlich lief ein krampfhaftes Zucken über ihr Gesicht, und Schaum trat ihr vor den Mund. Sie fiel nieder, ihr ganzer Körper zuckte konvulsivisch, sie stieß durchdringende, unnatürliche Rufe aus.
Es stellte sich heraus, daß sie auch vorher an nervösen Anfällen, einer Art Epilepsie, litt, die sie jedoch sorgsam vor den Herrschaften verheimlicht hatte aus Furcht, man werde sie nicht im Dienst behalten, wenn man davon erführe. Diejenigen von den Dienstleuten, die davon wußten, verrieten nichts – aus kameradschaftlichen Gefühlen. Ich kann den Eindruck nicht schildern, den diese Szene hervorrief! Uns Kinder brachte man natürlich rasch fort, und ich war so erschrocken, daß ich beinahe selbst einen hysterischen Anfall bekam.
Am lebhaftesten blieb mir die Erinnerung an den plötzlichen Stimmungsumschwung unter unserem Gesinde. Bisher hatten sie alle Maria Wassiliewna Bosheit und Haß entgegengebracht. Ihre Handlungsweise erschien so niedrig und gemein, daß es einem jeden ein gewisses Vergnügen bereitete, ihr Verachtung zu zeigen und sie auf alle mögliche Weise zu kränken. All dies änderte sich nun mit einem Male. Maria Wassiliewna spielte die Rolle eines leidenden Opfers, und das allgemeine Mitgefühl schlug sich auf ihre Seite. Unter dem Gesinde regte sich sogar im Geheimen ein Protest gegen meinen Vater – wegen der übertriebenen Härte seines Urteils.
»Natürlich war sie schuldig!« sagten halblaut die Stubenmädchen, die sich bei uns im Kinderzimmer zur Beratung mit der Njanja versammelten, wie das nach jedem wichtigen Ereignis im Hause der Fall war. »Nun, es wäre recht gewesen, wenn sie der General selbst ausgescholten und die Gnädige sie eigenhändig gestraft hätte, wie es in anderen Häusern geschieht . . . Das wäre nicht so verletzend gewesen, man könnte es ertragen. Aber hier – was sie sich ausgedacht haben! So einem Maulwurf, einer solchen Rotznase wie dieser Fekluscha in Gegenwart aller die Hände küssen! Wer kann solche Kränkung aushalten?«
Maria Wassiliewna konnte sich lange nicht erholen. Die Anfälle wiederholten sich innerhalb weniger Stunden. Kam sie zu sich und wurde es ihr besser, so fing sie plötzlich wieder an sich herumzuwerfen und zu schreien. Man mußte rasch den Arzt aus der Stadt holen.
Immer größer wurde das Mitleid für die Kranke, und der Unwille gegen die Herrschaft wuchs. Ich erinnere mich, daß meine Mutter während des Tages in die Kinderstube kam, und als sie sah, daß die Njanja geschäftig umherging und zu dieser ungewohnten Stunde Tee bereitete, sie ganz harmlos fragte: »Für wen ist der Tee, Njanja?«
»Selbstverständlich für Maria Wassiliewna! Ihrer Meinung nach sollte man der Kranken wohl nicht einmal Tee reichen? Wir Dienstleute besitzen auch eine Christenseele!« erwiderte die Njanja so grob und zornig, daß Mama ganz verwirrt wurde und rasch hinausging.
Und dieselbe Njanja wäre einige Stunden vorher imstande gewesen, Maria Wassiliewna halb tot zu schlagen, wenn man es gestattet hätte.
Nach einigen Tagen erholte sich Maria Wassiliewna zur Freude meiner Eltern und lebte wie früher still und zurückgezogen in unserem Hause. Das Vorgefallene berührte man nicht mehr; ich glaube, daß selbst von dem Gesinde keiner sich an das Vergangene erinnerte.
Ich empfand seither ein seltsames Mitgefühl mit Maria Wassiliewna, dem auch etwas von instinktiver Furcht beigemischt war. Ich lief nicht mehr wie ehedem in ihr Zimmer. Begegnete ich ihr auf dem Korridor, so drückte ich mich unwillkürlich an die Wand und vermied es, sie anzusehen: immer dachte ich, jetzt fällt sie gleich hin und beginnt wieder sich herumzuwerfen und zu schreien. Sie bemerkte wahrscheinlich meine Entfremdung und suchte in verschiedener Weise sich meine frühere Sympathie wieder zu erringen.
Fast täglich ersann sie für mich eine neue Überraschung: bald brachte sie mir bunte Läppchen, bald nähte sie meiner Puppe neue Kleider. Aber all das fruchtete nichts: das Gefühl einer geheimen Furcht vor ihr verging nicht, und ich lief davon, sowie man mich allein mit ihr ließ.
Übrigens kam ich bald unter die Obhut meiner Gouvernante, die allen meinen Vertraulichkeiten mit dem Gesinde ein Ende setzte.
Allein ich erinnere mich noch lebhaft folgender Szene: eines Abends – ich war damals schon sieben oder acht Jahre alt – am Vorabend irgendeines Feiertages, ich glaube: Mariae Verkündigung, lief ich im Korridor an Maria Wassiliewnas Zimmer vorbei. Sie sah zufällig durch die Tür heraus und rief mir zu:
»Fräulein, aber Fräulein? Kommen Sie doch zu mir herein, sehen Sie doch die junge Lerche, die ich für Sie aus Teig gebacken habe!«
Im langen Korridor war es bereits dunkel, und außer mir und Maria Wassiliewna war niemand da. Als ich ihr bleiches Gesicht mit den großen schwarzen Augen erblickte, wurde mir plötzlich so unheimlich zumute, daß ich statt aller Antwort Hals über Kopf davonlief.
»Was, Fräulein, Sie haben mich wohl gar nicht mehr lieb, bin ich Ihnen denn zuwider?« rief sie mir nach.
Es waren nicht so sehr die Worte, als vielmehr der Ton, in dem sie dieselben aussprach, der mich bestürzte; allein ich blieb nicht stehen und lief weiter. Als ich ins Unterrichtszimmer zurückkam und mich von meiner Angst erholt hatte, konnte ich noch immer nicht ihre tonlose und traurige Stimme vergessen. Den ganzen Abend über fühlte ich mich unbehaglich. Wie sehr ich mich auch bemühte, durch mutwilliges Umhertollen das unangenehme, nagende Gefühl zu betäuben, das sich in meinem Herzen regte – es ließ sich nicht beschwichtigen. Maria Wassiliewna ging mir nicht aus dem Kopf, und wie es immer der Fall ist, wenn man jemandem Unrecht getan hat, erschien sie mir mit einem Male außerordentlich liebenswert, und es zog mich unwiderstehlich zu ihr hin.
Ich konnte mich nicht dazu entschließen, der Erzieherin den Vorfall zu erzählen. Kinder werden stets verlegen, wenn sie von ihren Gefühlen sprechen sollen. Ich wußte, daß die Gouvernante mich vielleicht wegen meiner Reue loben würde, obgleich uns jeder Umgang mit dem Gesinde untersagt war. Ich fühlte aber instinktiv, daß kein Grund vorlag, mich zu loben.
Nach dem Abendtee, als es Zeit für mich war, ins Bett zu gehen, beschloß ich, statt mich unmittelbar ins Schlafzimmer zu begeben, Maria Wassiliewna aufzusuchen. Das war in gewissem Sinne ein Opfer von mir, da ich deswegen durch den langen, öden, jetzt bereits völlig dunklen Korridor gehen mußte, den ich stets fürchtete und abends mied. Jetzt aber stellte sich bei mir eine verzweifelte Tapferkeit ein. Ich lief mit verhaltenem Atem und stürzte wie ein Sturm in ihr Zimmer.
Maria Wassiliewna hatte bereits zu Abend gegessen; wegen des Festes am nächsten Tage arbeitete sie nicht; sie saß an dem mit einem weißen Tuch bedeckten Tisch und las in einem Andachtsbuch. Vor den Heiligenbildern brannten die Lämpchen; nach der schrecklichen Dunkelheit des Korridors erschien mir ihr Zimmer ungewöhnlich hell und gemütlich und sie selbst so sanft und schön.
»Ich bin zu Ihnen gekommen, um mich zu entschuldigen, liebe Maria Wassiliewna!« sagte ich rasch.
Ich hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da ergriff sie mich und begann mein Gesicht mit Küssen zu bedecken. Sie küßte mich so leidenschaftlich und lange, daß sie mir neuerdings unheimlich schien, und ich begann bereits darüber nachzusinnen, wie ich mich aus ihrer Umarmung befreien könnte, ohne sie wieder zu verletzen, als ein Anfall des grausamen Hustens sie zwang, mich loszulassen.
Dieser heftige Husten verfolgte sie immer stärker. »Heute habe ich die ganze Nacht wie ein Hund gebellt!« pflegte sie von sich selbst mit einer gewissen trüben Ironie zu sagen. Täglich wurde sie bleicher und verschlossener, lehnte jedoch das Anerbieten meiner Mutter, ärztlichen Rat einzuholen, hartnäckig ab; es kam bei ihr sogar eine gewisse Gereiztheit zum Vorschein, sobald jemand von ihrem Befinden sprach.
So schleppte sie sich zwei oder drei Jahre hin und hielt sich noch bis zu ihrem Ende auf den Beinen; bloß zwei, drei Tage vor dem Tode legte sie sich nieder, ihre Agonie, sagt man, war sehr qualvoll.
Auf Geheiß meines Vaters ließ man ihr ein nach ländlichen Begriffen sehr schönes Leichenbegängnis richten. Nicht allein das gesamte Dienstpersonal, sondern auch unsere ganze Familie, ja der Herr selbst, nahmen daran teil. Fekluscha ging auch hinter dem Sarg her und schluchzte jämmerlich.
Bloß Philipp Matwiewitsch fehlte bei ihrem Begräbnis. Er hatte schon einige Monate vorher einen anderen, einträglicheren Posten, in der Nähe von Dünaburg, angenommen.