Ernst Kratzmann
Die neue Erde
Ernst Kratzmann

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Am Morgen führte ich die Gäste aufs Feld, wie ich es vor einem halben Jahr mit Hans Wießbach gemacht. Als wir draußen standen im prangenden Morgen, als die Nebel stiegen und sich hoch oben im Blau zu ziehenden weißen Wolken wandelten, als der Wind über die Ähren hinstrich und sie wie Wellen auf und nieder wogten –; und der Tau glänzte auf der Weide, auf der das Vieh graste; die unendliche Weite flutete um uns und breitete die ewigen Schwingen: da blieb ich stehen und sagte zu Wolf:

»Das wollt ihr lassen, ihr Jungen? Das Land? Wollt wie elende Fahnenflüchtlinge davonrennen, nach Amerika, euch in einem Fieberland als Menschendünger unterpflügen lassen von irgendeinem Mestizen und Seelenverkäufer? Wollt wiederum euer deutsches Blut und eure deutsche Kraft für Fremde hingeben und vergeuden, sie der Muttererde entwenden für immer, wie es schon so tausendoft geschehen ist? Land wollt ihr urbar machen? Da ist Land, da, in der Heimat! Heiraten wollt ihr? Da drüben ist ein Fleck Erde, der verlangt nach einem Haus für junge Menschen! Wenn euch ernst ist mit eurem Entschluß zur Arbeit – da ist Arbeit für Menschenalter, daheim! Die Heimat braucht euch! Gerade euch Junge! Wohin sollen wir kommen, wenn nur Lumpen und arbeitsscheues Gesindel daheimbleiben und die ehrlichen, anständigen Kerle davongehen! Und jetzt überlegt es euch, ihr Jungen, und laßt sehen, ob ihr ganze Menschen seid!«

Die Hanne sah mit leuchtenden Augen, wie verklärt, in den Himmel, hinaus über Wiesen und Weideland, und endlich auf mich und den Geliebten. Und der streckte mir die Hand hin: »Wenn Sie mir helfen wollen – ich bleibe da!«

Ich faßte seine Hand und die des Mädchens und fügte sie ineinander. Und Mertens legte die Rechte darüber. Der Hanne gingen die Augen über, in überströmendem Weinen warf sie sich dem Vater an die Brust und dann mir.

Ich machte der Rührung ein Ende. »Kommen Sie jetzt – ich habe da einen Plan der ganzen Gegend, wir wollen das Land begehen und uns aussuchen, wo ihr siedeln sollt!« 62

 

Nun, es wurde ähnlich wie mit Wießbach. Der zeigte sich übrigens von seiner besten Seite: er lieh dem alten Mertens so viel Geld, daß er das Land kaufen und den Hausbau beginnen kann, ohne überstürzt seine ganze Habe verschleudern zu müssen. Und den Verkauf hat Hansens Schwiegervater in die Hand genommen; dabei schaut mehr heraus als bei Matthiesen.

Einstweilen aber hausen Wolfgang und Herbert bei Wießbach und stechen alltäglich im Schweiß ihres Angesichts Torf aus, graben Abzugsrinnen für das Grundwasser und helfen beim Hausbau, so gut es gehen will. Die Arbeit tut Herbert sichtlich wohl. Er bekommt Farbe in das blasse Gesicht.

Ich aber schreibe dies auf dem alten Sekretär, der nun in meiner Stube steht und sich wundergut zu dem Gebälk an der Decke und dem alten Kamin fügt; und auf dem Ehrenplatz in der Ecke steht das Meisterwerk des unbekannten Bildschnitzers aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Der Sommer prangt hoch in der Fülle seiner Kraft, und Hinrichs dengelt die Sense, denn es wird Zeit, das Korn zu schneiden. Ernte! Meine erste Ernte aus eigenem Land!

 

Hinrichs hat mir gezeigt, wie man die Sense handhaben muß, und ich habe mit ihm die gelben Halme geschnitten. Und immer wieder stehe ich in dankbarem Wundern über die Güte der Erde! Diese wenigen Morgen Landes, kaum aus Sumpfboden halbenwegs urbar gemacht, haben uns soviel Korn gegeben, daß wir vier Menschen davon ein Jahr lang unser Brot backen können, soviel Hafer, daß die Pferde ein Jahr lang und mehr davon genug haben werden. Ich kann noch etliche Säcke von beidem an Wießbach verkaufen. Wie muttergut ist die Erde!

Die letzten Kornähren ließen wir auf dem Feld ungemäht stehen, den »Wolf . . .«

Vor dem Krieg wohnte ich im Sommer einmal bei einem alten Mann am Bodensee, der noch mit fünfundachtzig Jahren 63 seinen großen Garten ganz allein bestellte. Als wir die Kirschen ernteten und seine Urenkel auch die letzten, obersten, kletternd herabholen wollten, ließ er das nicht zu: »Man muß den Vögelen auch was übrig lasse – sie singe ja im Frühling so schön dafür«, sagte er . . .

 

Drüben, gegen Westen, bauen sie an dem neuen Haus. Mertens hat selber die Risse gezeichnet, ganz nach heimischer Art, mit Stuben und Kammern und Flett und Stall. Und es wird ein eigenartiger Anblick sein, wenn in den Wohnräumen seine uralten Schränke und Tische stehen werden, seine gotischen Schnitzwerke und barocken Pendeluhren, wenn an den weißgetünchten Wänden die Kupferstiche und Ölbilder aus dem sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert prangen werden. Zur Mahlzeit werden die Mertens auf gotischen, hochlehnigen Sesseln sitzen. Und an Festtagen werden die Kartoffeln in Meißener Geschirr auf den Tisch kommen. Seltsame Heidebauern werden sie sein.

Ich habe Mertens inzwischen noch einmal in der Stadt besucht. Der Mann ist wie verwandelt. Er hat alles verkauft, was vor dem strengen Auge des Kunstkenners nicht unbedingt bestehen kann, und hat mit Hilfe von Wießbachs Schwiegervater eine hübsche Summe dafür gelöst. Die Familie Neureich hat alles gerne übernommen und teuer bezahlt, besonders die Ritterrüstung aus der Zeit Kaiser Maximilians, die Mertens einst als echt gekauft und später als üblen Schwindel erkannt. Sie hat nun als Rüstung des Ahnherrn der Neureichs den Ehrenplatz in ihrem Haus . . .

Mertens aber ist voll Geschäftigkeit dabei, den Umzug aufs Land vorzubereiten, er studiert landwirtschaftliche Schriften und ist um zwanzig Jahre jünger geworden. Er beginnt ein neues Leben der Tat und der Arbeit. »Bisher saß ich wie im Schauspielhaus«, sagte er, »behaglich im gepolsterten Sessel zurückgelehnt, ließ die bunten Bilder der Vergangenheit an mir vorüberziehen und musterte sie kritisch – ich war bloß ein Betrachter 64 und Kenner. Ein Zuschauer im Theater der Weltgeschichte. Nun, mit meinen fünfzig Jahren, soll ich noch einmal, nein, soll ich überhaupt erst anfangen, zu leben, zu schaffen. Darauf freue ich mich! Ich will ordentlich zugreifen, ich will graben und pflügen und pflanzen, daß es seine Art hat!«

»Verachten Sie mir nur jetzt nicht mit einmal Ihre bisherige Weise! Auch sie muß sein. Das Schönste aber wäre es, wenn es Ihnen gelänge, beide zu verbinden: wenn Sie, vor dem geistigen Auge Ihren Dürer und Riemenschneider, Ihren Grasser und Rembrandt, hinter dem Pflug hergehen könnten, wenn Sie die gewaltige Weise der großen Alten hineinführen und hineinleben könnten in unser heutiges Leben. Ihnen brauche ich es ja nicht zu sagen, welch unendliche Schätze, welch unerschöpflicher Born seelischer Kraft in unserer alten, eigenartigen Kunst liegt, in unsern Domen, in den Plastiken aus Holz und Stein! Wie haben diese Menschen einmal ins Leben hineingepackt, haben es gefaßt und geformt nach ihrem Geist und Gesetz! Wie haben sie innerlichstes, tiefeigenstes Gotterleben in den Steinwölbungen der Dome, im Antlitz ihrer Heiligen sichtbar werden lassen! Und dies alles ist den Menschen von heute eine tote Welt, ein verschlossenes, verlorenes Land. Das wieder lebendig machen, jedem von uns wieder zu eigen werden lassen – welch ungeheure Aufgabe der Kommenden! Und sie muß erfüllt werden, sollen wir nicht, wie das wurzel- und geschichtslose Volk der Amerikaner, völlig . . . industrialisiert werden . . . Ich meine es wörtlich: Industrieprodukte werden wie unsere Autos und sonstigen Maschinen.«

»Sie halten es noch für möglich, den Menschen von heute die Sinne und – den Sinn für die alte Welt zu erschließen? Diesen Schiebern und Geschäftemachern, diesen aller Geistigkeit und alles Seelentums baren Mechanismen?«

»Nein – das halte ich nicht für möglich. Mein Knecht Hinrichs, der tiefer sieht als wir beide und übrigens auch manche Viertelstunde vor Ihrem gotischen Heiligenkopf sitzt und ihn schweigend betrachtet, Zug um Zug – der hat es einmal gesagt: 65 Über unsere Zeit hat Gott den Stab gebrochen . . . Nein, das, was ich ersehne, muß ein neues Geschlecht heraufführen und vollenden. Wir Alten aber – alt, weil wir noch ums Alte, Große wissen – wir haben die Pflicht, die Jungen auf den Weg zu leiten, den sie einmal allein gehen müssen. Und ich denke immer, wenn einmal in Ihrem Haus Kinder heranwachsen werden –: die können es in sich haben! Ihre ersten Blicke werden die Liniengewalt Dürers in sich aufnehmen, werden in die Lichtfluten und Schattenabgründe Rembrandts tauchen und mit den selben Augen werden sie die Welt draußen, die Heide und das Meer, Gebirge und Wald, formend ergreifen und zu Eigenem wandeln . . . Sie erst einmal werden ganze, eigene Menschen sein.«

Auf der Heimfahrt kam ich in die Nacht. Es war stockdunkel. Klarer Himmel, die zuckenden Sterne gaben das einzige Licht. Die Pferde trabten gemächlich den gewohnten Weg.

Als ich wieder einmal zum Himmel aufsah, schien er mir durchhellt von einem unbestimmten, zerfließenden Schein, der von nirgendwo herkam und überall war. Zusehends wurde es auch unten lichter, ich konnte Gebüsch und einzelne Bäume erkennen. Und jetzt zuckte ein fahl rotgelber Schein vom Norden her über das Gewölbe, schoß Feuergarben ins Dunkel des Nachthimmels – Nordlicht . . .

Die Pferde wurden unruhig. Auch mir begann das Herz fühlbar zu schlagen. Es ist Unsägliches um dies Licht . . . Überirdisch geisthaft . . .

In solchem Licht reitet der tote Helgi noch einmal von Walholl nieder zu seinem Grabhügel, zur klagenden Sigrun; sein Haar ist mit Reif bedeckt, seine Hände sind wie Eis. Eine Nacht liegt er bei Sigrun, der Lebenden, im Hügel, dann besteigt er das falbe Roß und kehrt zurück in Odhins Saal, ehe der Hahn in Walholl kräht . . . Dies Licht hat den Alten, die vor uns waren, die Ahnung der Gottheit erschlossen, hat ihre Götter werden und in windwehenden Gestalten über die Erde reiten lassen. Es ist die Brücke . . . hinüber . . . 66

Ich fuhr an dem kleinen Erlen- und Birkengehölz hin, in dessen Grund es schwarz und dunkel blieb trotz der durchhellten Nacht. In der Ferne tauchte das Fachwerkgerüst von Mertens' Haus auf. Das Dach war schon gedeckt. Vom First ragte der Pferdekopf. Zur linken Hand, wo die kleine Einzelgruppe der schönen alten Birken aufsteigt, kaum hundert Schritte vom Haus entfernt, stand ein Mann. Schon wollte ich ihn anrufen – es mochte der junge Mertens sein oder Wolf Janssen –: aber da stutzte ich. Das Flackerlicht am Himmel zuckte weitaus und hellte rings den Grund mit fahlem Gelb. In seinem Glimmschein sah ich einen wildfremden Menschen. Er trug ein Gewand, wie es der Bauer im Schwäbisch-Fränkischen trägt und seit Jahrhunderten getragen hat, die Füße steckten in Schuhen, die mit langen Riemen bis fast hinauf ans Knie gebunden waren. Bundschuh . . . fuhr mir's durch den Kopf . . . Und da gewahrte ich im Gürtel des Mannes das kurze Bauernschwert, und jetzt – jetzt sah ich das Gesicht, jene Züge, die niemand vergessen kann, der einmal die Bildnisse der Dürerzeit gesehen, einmal einen Riemenschneider vor Augen gehabt. Die selben Falten und Furchen und der gleiche, tiefe Blick, wie bei meinem Heiligen daheim in der Stubenecke.

Ich bin der Gäste schon gewohnt, die aus dem Zeitlosen bisweilen in meine Zeitlichkeit wehen; ich weiß, daß es nicht Wahnsinn und Sinnestäuschung ist – eher ein Sinn mehr . . . Aber diesmal packte mich das Grauen so eisig, daß ich fühlte, wie mir das Haar sich sträubte. War es der Nordlichtschein? War es, daß ich eben des toten Helgi im Eddalied gedacht?

Ich mußte an ihm vorüber – vorüber an seinem Blick, der starr vor mir über den Weg ging wie ein ausgestreckt Halt gebietender Arm. Ich mußte hinein in das Grauen dieses Blicks, hinein und hindurch. Rechts war unsicherer Grund, links vor mir stand der Mann. Und die Pferde, unruhig, wollten nicht weiter . . .

Die Hände krampfen sich um Zügel und Peitsche. Ich starre 67 dem Mann ins Gesicht – er hat Blut an der Stirn – ich schreie auf, heiser, gepreßt: »He du – gib frei Weg!«

Die Pferde wiehern auf, voll Angst, und werfen sich ins Geschirr, rasen davon – ich reiße mit aller Kraft nach links – rechts ist der Sumpf! – fest den Blick auf den Mann – ich habe das Gesicht schon einmal gesehen – einmal schon, irgendwo – – irgendwann – –

Und jetzt, jetzt geht's vorüber an ihm . . . er hebt die Hand hoch zum Gruß und ein Lächeln spielt um den Mund – eiskalt, höhnisch, verächtlich fast, als spotte er meiner Furcht . . .

Vorüber, drei Schritt neben ihm . . . Ich sehe jede Linie in seinem Gesicht, sehe die Bartstoppeln an Kinn und Wangen, das Blut an der Wunde schimmert feucht . . . und er lächelt . . .

Es geht davon, daß der Wagen holpert und springt. Ich ducke mich auf den Sitz, ziehe den Kopf zwischen die Schultern. Hinter mir . . . kommt er nach, lautlos, ohne Schritt . . .

Ich zwinge den Kopf herum, wie einen fremden Klotz aus Blei, langsam, mühsam und schwer . . . und sehe zurück: er steht noch bei den Birken und sieht mir nach . . .

Ich kam zum Hof, ich weiß es nicht, wie. Hinrichs trat heraus und der Gruß blieb ihm stecken im Hals. Er starrte mich an wie einen fremden Mann. Dann reichte er mir wortlos die Hand und half mir vom Wagen. Ich konnte kaum auf den Beinen stehen. Langsam torkelte ich ins Haus, indes der Knecht mit Klas die Pferde ausschirrte und in den Stall führte.

Hasso stand unter dem Tor und wedelte mir entgegen, aber er bellte nicht, wie er sonst tat, sprang nicht an mir hinauf. Ich faßte ihn am Nackenfell und ging in die finstere Stube, sank auf den nächsten Sitz.

Hinrichs kam mit einem Licht. »Bas – soll ich bei Euch wachen?« Ganz einfach und selbstverständlich sagte er es. Ich packte ihn am Arm.

»Hinrichs – hast du schon einmal . . . Menschen gesehen . . . die . . .« 68

Ich brach ab, ich wußte kein Wort dafür. Er nickte ruhig, gelassen. »Ihr doch auch schon, Bas!«

»Ja, Hinrichs . . . Aber heute . . .«

»Sie wollen uns nichts Böses, Herr. Es ist ein gutes Bedeuten . . . Einer von ihnen will etwas, das noch nicht getan ist. Das sollt Ihr zum Ende bringen. Darum kommt er . . . Er wird noch einmal kommen. Bis Ihr es getan habt . . .«

Ich starrte in Hinrichs grauweiße Augen, die mich anblickten wie Tieraugen – ohne Blick, durch mich hindurchschauten wie durch Glas. Langsam sank ich in mich zusammen, die Spannung wich aus den Gliedern. Hinrichs entzündete die Lampe, goß das Wasser in die Teekanne und stellte sie auf den Tisch, der zum Abendessen gedeckt war.

Ich versuchte zu essen und zu trinken. Der heiße Tee tat mir wohl. Ich zündete mir die Pfeife an. Hinrichs hatte sich mir gegenübergesetzt. Schweigend rauchte auch er. Hasso, neben mir, wartete auf den gewohnten Bissen. Ich streichelte ihm über den Kopf, den er mir aufs Knie gelegt.

»Hinrichs – glaubst du an . . . Geister . . . oder wie man das nennen soll . . .«

»Dat is snakisches Tüg, Bas . . . Ick glöv man, mit dat Starben is dat noch nich tau Enn . . . Für unsere Augen sind das Gespenster, weil wirs anders nicht sehen können. Ich kann Euch das nicht erklären, Herr, ich bin ein unkluger Mann . . .«

»Die Klugsnakers, Hinrichs, wissen einen Dreck um diese Sachen, sie lachen bloß darüber. Du magst recht haben, Hinrichs . . .«

Wir saßen wieder schweigend und rauchten. Langsam wurde es ruhig und still in mir. Das Grauen war vorbei.

»Ich werde jetzt schlafen gehen. Gute Nacht, Hinrichs . . .« Ich gab ihm die Hand und drückte sie.

Hinrichs stand auf. »Man muß nachdenken, wer der gewesen ist, den man gesehen hat . . . Und wenn Ihr mich braucht, Herr . . .«

Damit ging er aus der Stube und ließ mich allein. 69

An der Wand, mir gegenüber, hängt das Bild aus der geheimen Offenbarung: die vier Reiter über die Erde hin. Und darunter steht die Holzbüste des unbekannten Meisters, der vor vierhundert Jahren gelitten und geschaffen hat.

Wie war es doch einmal in den Tiefen der Zeit . . .?

Die große Stille lag über der Heide. Der Hund hatte den Kopf noch immer auf meinem Knie.

Auf Dürers »Melancholie« zuckt das gleiche fahle Licht über den Himmel, wie ich es eben gesehen.

Ich stand noch einmal auf und trat vors Tor, ging an die hundert Schritte hinaus ins Dunkel. Nun war das Nordlicht erloschen, der Himmel lag rein im Glanz unendlicher Sternfluten. Und da – in steilem Bogen stürzte ein Funke vom nächtigen Gewölbe, strahlte hell auf und schwand berstend in Nichts. Und jetzt wieder und wieder . . .

Irgendwo geht jetzt der Mann, den ich gesehen, durch die Einsamkeit. Nun wäre ich ihm gern nochmals begegnet und hätte ihn nach seinem Willen gefragt. Nach der blutigen Wunde auf seiner Stirn. Ich habe keine Furcht mehr vor ihm, ja, im tiefsten Grund der Seele fühle ich etwas für ihn, etwas wie Liebe und Neigung, als sei ich einmal sein Freund gewesen . . . Er kommt von weither zu mir, aus wildbewegter Zeit, die ebenso voll des Ringens, Suchens und Kämpfens war. Vierhundert Jahre müssen es sein. Er hat Bundschuhe getragen . . .

Auch damals stürzten Sterne vom Himmel, uralte Lichter, die Jahrhunderte gegolten hatten, und neue zogen herauf. Heute stürzen hinwieder sie in jähem Fall und wir stehen in banger Furcht vor den Sternbildern, die noch unter der Erde säumen . . .

 

Wir haben das Korn gedroschen und nach uralter Weise geworfelt, an einem windigen Tag, in der Diele. Dann bin ich mit den Säcken zur Mühle gefahren, die auf halbem Weg zur Stadt auf einer kleinen Anhöhe steht. Ich mußte viermal den Weg machen und bin glücklich darüber, daß mir die Erde so viel 70 gegeben hat! Ich kann Wießbach und Mertens mit meinem Mehl versorgen . . . Dieser Winter wird leichter sein als der vorige. Da hatten wir oft wochenlang nichts als Kartoffeln, Salz und trockenes, bisweilen ganz hartes Brot. Heuer wird die Kuh Milch geben, wir werden Eier und etwas Butter haben, Kartoffeln und Kraut, wir werden ein Schwein schlachten. Die Obstbäume haben Frucht getragen, bald werden wir sie ernten. Friedgert wird aus unserem eigenen Mehl Brot backen.

Das alles hat uns die Erde für die Arbeit von zwei Jahren gegeben.

Ich bin in diesen Tagen viel umhergewandert in der Heide, durch Moor und Bruch und Gehölz. Ganz allein, nur mit dem Hund. Seit jener Nacht, in der ich den fremden Mann unter den Birken stehen sah, ist eine seltsame Unruhe in mir.

Nun spannt sich der Herbsthimmel in strahlendem Weit über die endlose Ebene. Es sind Tage, an denen kein einziges weißes Wölkchen das helle Blau des Gewölbes fleckt. Das Heidekraut hat abgeblüht, verbräunt stehen die ehemals roten Stauden, dazwischen ragen in flammendem Schwarz die Machandeln hoch. Die ferne Windmühle schaufelt geruhig mit ihrem mächtigen Flügelrad durchs glänzende Himmelblau. Als ich dort im klappernden Mahlwerk saß und mein goldenes Korn in die Trichter schütten sah, unten das liebe Mehl hervorströmen, wie Wasser aus einer kleinen Quelle fließt, fiel mir der schöne Spruch ein, den ich in Hameln über dem Tor zum Marktplatz gelesen:

Aus Gottes reicher Gnade hat
der Bäcker Brot, und Brot die Stadt . . .

Es liegt eine satte Fülle über dem Wort. Immer, wenn ich die Windmühlflügel steigen und sinken und kreisen sehe, muß ich des Spruches gedenken und dankbar die Hände falten.

 

Mertens ist in sein Haus eingezogen. Wir haben es, ehe sie kamen, mit frischem Grün geschmückt, das Tor war ganz von Birkenzweigen umrahmt. 71

Ein seltsames Haus. Da sind diese weltfremden Menschen herausgezogen in die Heide und Einsamkeit, diese Menschen, die ihr ganzes Leben zwischen den Schätzen alter Kunst verbracht, und wollen der Erde dienen, den Acker bauen. In ihren Stuben stehen wundervoll geschnitzte Truhen und gotische Schränke neben barocken, hochlehnige, steife, gotische Sessel und alte Klappstühle mit gepreßtem, buntbemaltem Leder, an den weißgetünchten Wänden hängen Bildteppiche und verblaßte Seidenstoffe, Radierungen und Holzschnitte, auf den Bordbrettern prangt Zinn und Kupfergeschirr aus Augsburg und Nürnberg, in den Ecken stehen gotische Holzfiguren, von der Decke hängen Ampeln und schmiedeeiserne Laternen. Ich glaube, es ist in dem ganzen Haus kein Stück, das nicht wenigstens zweihundert Jahre alt ist.

Aber das Schönste sind die Menschen selber: sie sind alle wie verwandelt, voll Hoffnung und Zuversicht, aus dem Gesicht strahlt ihnen innige, heimliche Freude. Sie werden, mögen sie auch noch so unerfahren sein, zu guten Dienern der Erde werden.

Dr. Mertens führte mich im Haus umher und schließlich nahm er mich beiseite: es solle heute . . . Ja, wie sollte er es nur gleich sagen! Es ginge doch nicht an, daß seine Hanne und der junge Wolf Janssen einen ganzen Winter und vielleicht länger noch so einfach nebeneinander lebten, nicht wahr? Und da ich die beiden damals auf dem Feld, unter freiem Himmel, sozusagen bereits verlobt –

»– so sollen sie heute Hochzeit machen, Doktor, jawohl!«

»Ja, Sie haben es erraten, lieber Freund! Nur, eben, eigentlich – die äußere Form – die Trauung –«

Ich lachte ihm ins Gesicht. »Die Hauptsache ist, daß die Jungen einander mögen und die Hände vor uns ineinanderlegen. Dem Staat geben wir in ein paar Tagen sein Recht und sonst geht das Ganze niemand etwas an!«

»Sie meinen also auch, daß das genügt?«

»Selbstverständlich! Was braucht es denn noch? Ein gotisches Ehebett höchstens –« 72

Er schmunzelte. »Das steht bereits in der Stube, die ich den Kindern bestimmt habe . . .«

Damit schloß er die letzte Tür auf und ich stand in dem Raum, der die junge Liebe der Zwei behüten sollte. Ich sah mich darin um, dann ging ich hinaus, zu den Birken hinüber, wo damals der Fremde gestanden, in der Nacht, und brach von einem der weißen Bäume einen schlanken Zweig. Kehrte zurück und stellte ihn in einem Zinnkrug mitten auf den alten Tisch. Zu Mertens, der mir verdutzt nachgesehen, sagte ich bloß: »Das Lebensreis . . .«

Er drückte mir dankbar die Hand.

Unser Mahl war ein Fest. Mit letzten Heideblumen war der Tisch geschmückt und einen Kranz letzter Blumen trug Hanne im Haar. Bevor wir uns aber zur Tafel setzten, traten wir alle vor dem Haus, unter der mächtigen Hasel, zusammen. Hanne und Wolf standen beieinander.

»Liebe Freunde«, sagte ich, »im Jahr meiner Wanderung, das für unser Vaterland das Jahr seiner furchtbarsten Not war, habe ich in einer kleinen Stadt über einem Tor den Spruch gelesen:

Aus Gottes reicher Gnade hat
der Bäcker Brot, und Brot die Stadt.

Die Erde ist gut wie eine Mutter und gibt allen, die guten Willens sind, wes sie bedürfen. Aus den unergründlichen und unerschöpflichen Kräften der Tiefe gibt sie uns heiliges Wasser, gibt sie uns Brot und alle Frucht. Sie hat euch die Bäume gegeben, aus denen ihr euch ein Haus gebaut habt. Und dies Haus, das nun ein Paar junger, hoffender Menschen aufnehmen soll, sei uns ein Sinnbild und Zeichen. Ihr habt es gebaut in einer Zeit, die ringsum Untergang, Zusammenbruch sieht. Das Alte, Morsche, das Verderbte, stürzt mit Donnerkrachen zur Tiefe, Deutschland liegt in den Staub getreten, hohnlachende Feinde sehen unser letztes Ende gekommen und jubeln über unserem Fall. Nirgends ein Zeichen der Hoffnung, des Aufstiegs.

Aber nein! Seht – dies Haus und das Haus drüben, der 73 Eichhof, und auch mein altes Haus – die drei sind Zeichen des Neuen, Werdenden. Sie bedeuten mehr, als daß etliche Leute aus einer Welt, die sie nicht mehr verstehen, sich heraus in Einsamkeit und Menschenferne geflüchtet haben. Sie sind ein Zeichen, daß diese Menschen gewillt sind, ein neues Leben zu beginnen, von Grund auf, von der Erde aus. Denn es ist Neues, was wir hier suchen und leben wollen. Neu ist es schon, daß wir da unter freiem, flutendem Himmel stehen und Zeugen sein werden, daß zwei junge Menschen einander die Hände fürs Leben geben. Und neu ist der Glaube, aus dem heraus sie dies tun, neu der Glaube, aus dem wir alle in den kommenden Jahren hier leben wollen, gegenseitig uns beistehen, einer des andern Helfer und Freund, eine wahre Gemeinschaft – klein noch zur Zeit, aber vielleicht, vielleicht dereinst der Keim einer Volksgemeinde, deren Art und Gefüge wir jetzt noch nicht einmal ahnen können.

So legt denn eure Hände zusammen, Wolf Janssen und Hanne Mertens! Und was immer euch im Leben widerfahren mag – es wird nicht allzeit Freude und Glück sein! – das eine vergeßt nie: das Leben an sich ist ohne Wert und Sinn. Bedeutung und Sinn empfängt es nur aus dem Glauben. Aus dem Glauben an ein Ziel – das über dem Leben steht, ihm Wert und Weihe gibt; an einen Gott, den jeder für sich suchen und finden muß, der für jeden ein anderes Antlitz trägt; an ein ewiges Gesetz, das für jeden anders lautet und doch immer das nämliche bleibt. Dieser Glaube sei in euch, gebe euch Kraft und Adel. Er sei über eurem Leben, eurer Liebe, über euren Kindern!«

Damit faßte ich die Hände der beiden, die sich ineinandergelegt hatten, und reichte ihnen die Ringe. In diesem Augenblick sah ich – war es ein Zufall? – hinüber zu den Birken: da stand er wieder, der Gast von damals, aber nun lachte er mir zu und grüßte mich – oder galt es den Jungen? – mit hochgehobenem Schwert . . . Und ich – ich hob gleichfalls die Hand und winkte ihm zu . . . Mit hellem Lachen schritt er davon, zwischen den Birken hindann . . . 74

Die andern sahen etwas erstaunt auf mich – aber nun hoben auch sie die Hände zum Gruß, ich schritt aufs Haus zu, Mertens und seine Frau mit mir. An der Schwelle wandten wir uns, und der Hausvater reichte den Kindern die Hände und führte sie unters Dach.

Dort aber warf mir Hanne die Arme um den Hals und küßte mich, dann erst tat sie auch Vater und Mutter und dem Gatten das gleiche.

Bei Tisch waren wir froh und in festlicher Laune. Wir aßen unser einfaches Mahl von köstlichem alten Porzellan, wir tranken aus alten Silberbechern, und es war eine richtige hohe Zeit, eine Hochzeit . . .

Lautes Lachen erscholl, als wir den jungen Eheleuten unsere Gaben überreichten. Wießbachs Knecht kam mit einem Sack daher, in dem es quiekte und zappelte, und ließ zwei Ferkel heraus, die er mit launigem Spruch der Obhut der Frau empfahl, Hinrichs brachte einen kleinen Sack Mehl und Friedgert etwas Wolle, die sie auf das alte Spinnrad in Hannes Stube geflochten, wobei sie versprach, der jungen Frau das Spinnen zu lehren. Mertens – konnte er anders? – überreichte ihnen ein Blatt von Baldung Grien, einen Landsknecht mit wehender Fahne. Ich aber schenkte ihnen ein Säckchen Kartoffeln und ein paar Handvoll Sämereien von Rüben, Kraut und Blumen, und ich glaube, daß das nicht die schlechteste Gabe gewesen ist.

Dann brachen wir auf und verließen das neue Haus. Mertens und seine Frau begleiteten uns. Auch Herbert ging mit und blieb dann noch eine Weile bei mir in meiner Stube sitzen. Ich glaube, er wollte ein wenig mit mir reden, sich vielleicht entschuldigen, daß er im Anfang ziemlich ruppig gegen mich gewesen und mir meine derbe Predigt so lange nicht verziehen; oder er wollte etwas sagen über das heutige Fest –; aber er war zu verlegen und ist ein zu verschlossener Mensch, um ein paar Worte herauszubringen. So blieb er ziemlich schweigsam in dem großen, behaglichen Lehnstuhl sitzen, den ich mit Hinrichs im Winter gezimmert habe, redete ein 75 wenig von der Feldwirtschaft und empfahl sich endlich mit linkischem Gruß. Aber ich verstand auch ohne lange Worte, was er sagen wollte.

Ich sah ihm nach, bis er hinter der schwachen Bodenwelle verschwunden war, dann pfiff ich Hasso und wanderte in den Abend hinaus, der nun schon früh einfällt. Es geht in den Herbst hinein . . .

Nun wohnen schon über ein Dutzend Menschen in der Heide, haben sich Häuser gebaut und ihr Leben und Gedeihen auf die Erde gegründet, der sie bisher fremd und gleichgültig gegenübergestanden, von der sie nichts wußten. Sie haben es getan, einzig auf mein Raten und Drängen hin. Ich bin stillschweigend zu ihrem Führer geworden. Ich, der selbst ein Neuling auf seiner Erde ist. Ich trage die Verantwortung für sie alle, für ihr Ergehen in dem neuen Leben. Freilich – ohne mich hätten sie wohl alle längst Schiffbruch gelitten. Aber trotzdem – ich trage die Verantwortung vor ihnen, vor mir.

Aber der Fremde unter den Birken hat mich froh lachend mit dem erhobenen Schwert gegrüßt, als ich die Zwei zusammengab wie ein Priester. Ich bin auf dem rechten Weg.

Ich sah mich um, rings im Kreis, in der schweigenden Dämmerung: war er nicht unterwegs? Ich will ihn sehen, will ihn zur Rede zwingen: wer bist du, was willst du von mir?

Aber ich blieb allein. Über den erdunkelnden Feldern stieg Nebel auf. Es wurde schon kühl. Ich fand im Torfstich eine vergessene Holztrage, mit Torfziegeln gefüllt, lud sie mir auf den Rücken und ging heim.

 

Selbst nach unserer einsam abseitigen, selbst nach der noch unfruchtbar liegenden Sumpferde streckt der Wucher die verfluchte Krallenhand.

Wießbach und ich haben in den letzten Tagen mit Mühe die größte Gefahr von unserer kleinen Siedlung gewendet. Das junge Ehepaar Janssen, die alten Mertens und wir beide waren in die 76 Stadt gefahren, um die Trauung auf dem Standesamt zu vollziehen. Wießbach und ich waren Zeugen. Dann hatte ich zufällig auf dem Amt zu tun. Der Landrat, ein feiner alter Herr mit dem Lebensstil der Vorkriegszeit, sagte mir bei der Gelegenheit, daß ein großer Spekulant, der einfach alles kaufe, was ihm unterkomme – Lebensmittel, Maschinen, Chemikalien, Kohlen, Schiffe, Kleiderstoffe – sich brennend für die Gegend interessiere, in der wir hausten. Er habe »Konjunktur« gewittert, wie es jetzt heißt, und wolle allen Boden aufkaufen, der noch dem Land gehöre. Was dann komme, könnten wir uns denken: wer künftig dort siedeln wolle, müsse den zehnfachen, vielleicht bald den hundertfachen Preis bezahlen . . .

Ich starrte den alten Herrn entsetzt an. Dann rannte ich weg, um Wießbach zu suchen. Die Leute, denen ich begegnete, mögen mich für verrückt gehalten haben, denn ich führte laute Selbstgespräche und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.

Da war er wieder, dieser gottverfluchte Wucher! Dem elenden Wicht geht es beileibe nicht ums Geld, nicht um Gewinn, nicht um schamlosen Gewinn allein – es steckt noch ganz anderes dahinter: quälen, peinigen will er seine machtlosen, armen Mitmenschen, den Herrn will er ihnen zeigen, rücksichtslos und grausam! Die Peitsche will er über ihnen schwingen. Ich sehe die von Hohn und wilder Grausamkeit erfüllte, brutale Teufelsfratze des Lumpen vor mir, wie er den Kaufvertrag unterschreibt und für eine lächerliche Summe das Land an sich reißt. Und dann – wenn die Leute zu ihm kommen, junge, unerfahrene Menschen, die noch an Zukunft und Aufbau glauben, die auf neuer Erde ein neues Leben gründen wollen, Menschen, die noch meinen, daß man mit Fleiß und Arbeit in dieser Welt etwas erreichen müsse – dann ist seine Stunde gekommen: dann ist er nicht zu sprechen, zuckt höhnisch die Achseln, zieht und zögert hinaus, treibt die Preise hinauf, läßt die Leute warten und warten, bis sie endlich als seine Schuldner und Sklaven das Land von ihm pachten – nicht als Herren der Scholle, sondern als Leibeigene des Wucherers siedeln, 77 niemals zu Wohlstand kommen. Und was die Erde als Frucht ihrer Mühen gibt – wandert in die unersättlichen Magazine des Wucherers, um endlich, halbverdorben, zu schamlosen Preisen den Hungernden wie ein Gnadengeschenk hingeworfen zu werden . . . Das sind jene Schurken, die seit Urzeiten die Schuld daran tragen, daß die Menschheit ewig auf dem gleichen Fleck verharren muß. Daß wir in sittlicher Hinsicht seit Jahrtausenden keinen Schritt weitergekommen sind. Die Unterdrücker und Sklavenhalter! Die immerdar den Großteil ihrer Mitmenschen in der Fron halten, Haß und Neid und Mißgunst in der Brust der Gequälten züchten, die dann immer wieder in wilden Ausbrüchen sinnloser Wut sich Lust schaffen, in ihrer hilflosen, kurzsichtigen Raserei nur zerstören und vernichten können, in blutigen Aufständen Unschuldige hinschlachten, indes die wahrhaft Schuldigen bereits wieder am Werk sind, den Ungebärdigen eine neue, festere Schlinge um den Hals zu werfen und wieder zu herrschen. Es sind die wahrhaft Bösen unter uns.

Für drei Verbrechen gebührt die Todesstrafe: für Hochverrat, für Mord und für Wucher.

Wießbach erschrak wie ich über die böse Nachricht. »Das darf nicht geschehen!« sagte er bloß und lief sofort mit mir zu seinem Schwiegervater, denn er allein hat nicht genug Geld, das ganze Land im Umkreis zu kaufen.

Zu meinem Staunen hörte der Alte uns ruhig an, dann stand er auf: »Ich gehe mit, aufs Landamt!«

Zu dritt kamen wir zu meinem Rat. Und nach ein paar Stunden war der Kauf abgeschlossen. Wießbach und sein Schwiegervater sind nun die Eigentümer des Landes in weitem Umkreis unserer Siedlung. Sie haben sich ehrenwörtlich verpflichtet, das Land nicht teurer zu verkaufen, als sie es erworben haben, nur mit Zuschlag der bankmäßigen, ehrlichen Zinsen des angelegten Kapitals. Zu meinem Staunen aber setzte der alte Kröling den Preis nicht nur in Mark, sondern auch in Dollars fest. Wir sahen ihn fragend an. Er lächelte mit eigentümlich ernstem Gesicht. 78

»Merken Sie denn noch immer nichts, meine Herren? Deutschland muß an die Entente zahlen – irrsinnige Summen. Wir zahlen mehr, als wir haben. Und – wir haben Geld! Die Preise steigen mit jedem Tag, aber – wir haben Geld! Es fehlt uns nie daran . . . 1918 zahlte ich meinem Buchhalter dreihundertfünfzig Mark, heute hat er bereits achthundert Mark. Im nächsten Jahr wird er über tausend haben. Woher kommt das Geld? Was meinen Sie wohl, Herr Landrat?«

Der saß schweigend und setzte die undurchdringliche Amtsmiene auf.

»Du glaubst, Vater –?« stotterte Wießbach.

»Nein, mein Junge, ich glaube nicht, ich weiß! Wieviel Überstunden müssen Sie den Druckern in der Banknotenpresse täglich zahlen, Herr Landrat?«

»Das ist nicht mein Ressort . . .«

Der Alte nickte. »Ich gebe Ihnen allen einen guten Rat, besonders euch Landwirten: wenn ihr Ware habt – verkauft sie nicht um Geld! Nehmt nur wieder Ware dafür! Kein Geld aufspeichern! Es ist – Papier . . .«

Schweigend verließen wir das Amtshaus. Als wir uns von dem Alten verabschiedeten und ihm danken wollten, wehrte er ab. »Ich bin froh, daß ich mein Geld los bin . . . Zwar, keine prima Anlage – aber selbst das Sumpfland da draußen ist noch besser als die bunten Lappen in meiner Brieftasche . . .« Und schon im Davongehen, über die Achsel noch: »In einem Jahr sind wir bankerott!«

Es war schon zu spät geworden, um noch nach Hause zurückzukehren. Die Mertensleute waren in Wießbachs Wagen schon weggefahren. Ich ging mit Hans nachdenklich durch die alten Gassen zu meinem Gasthof. Wir schwiegen uns aus. Jeder dachte in seiner Art über das Erlebnis nach. In mir kochte die Wut über das grauenhafte Elend, dem wir mit tödlicher Sicherheit entgegentrieben. So verdammenswert jene elenden Wucherer sind, deren einem wir eben einen Strich durch eine kleine seiner 79 Teufeleien gemacht – ihr Treiben ist ja nur die notwendige Folge der furchtbaren Not des Volkes. Wir werden von unsern Todfeinden ausgeplündert, ausgesaugt bis auf den letzten Tropfen Bluts. Die hilflose Bande, die sich Reichsregierung nennt, kann, wie es nun einmal steht, nichts anderes dagegen tun, als Banknoten zu drucken, soviel eben nötig sind – für alle dunklen Elemente das Zeichen zum Beginn einer rücksichtslosen Preistreiberei. Auch Wießbach und Kröling müssen, wenn in einem Jahr das Geld nur mehr den hundertsten Teil seines heutigen Wertes haben sollte, für ihren Boden eben das hundertfache verlangen – und niemand kann sie darum Wucherer schelten . . .

Wießbachs Gedanken drehten sich mehr ums Praktische. Denn plötzlich blieb er stehen und sagte: »Höre – so geht das nicht weiter. Wir brauchen noch ein Paar Pferde! Wenigstens!«

Ich sah ihn verdutzt an. »Wieso?«

»Sehr einfach! Wir müssen damit rechnen, daß bis zum Frühjahr nichts mehr zu kaufen ist – zumindest für unsere Brieftasche nicht. Wie sollen die Mertens ohne Pferde auskommen, einen Acker pflügen, und was sonst noch alles nötig ist? Und wenn noch einer zu uns hinauskommt? Wir müssen ein größeres Stück Land umbrechen, Weide für das Vieh schaffen! Wir brauchen Kühe! Milchkühe! Das können wir mit unseren zwei Gespannen nicht mehr leisten . . .«

Da hatte er recht. Aber woher das Geld nehmen und, wenn wir sie hatten, das Futter für die neuen Pferde, die uns fürs erste ein halbes Jahr nutzlos im Stall stehen würden?

»Wir müssen unsere Taschen umkehren, Diether, ob noch eine Mark herausfällt . . .«

Wir setzten uns in ein Kaffeehaus und begannen zu rechnen. Das Ergebnis war, daß wir am nächsten Morgen wirklich ein Paar Pferde erhandelten, mit denen wir zum Erstaunen aller am späten Abend vor meinem Hof anlangten, wo sie zunächst bleiben sollen. Und während der nächsten Tage fuhren wir mit drei Wagen noch einmal in die Stadt und kauften Hafer und Preßheu. 80

Und jetzt sind auf dem ganzen Stück Land, das zwischen meinem Hof und Mertens liegt, drei Pflüge an der Arbeit. Wießbachs Knechte und Mägde, Hinrichs und ich, alle, die sich regen können, heben einen Graben aus, quer durch das Land, der zum Bach hinabführen soll. Dann werden wir das Heidekraut und das saure Gras niederbrennen. Es muß Weide und Ackerland aus dem Boden werden, um jeden Preis. Not kommt übers Land!

Mach Land! Mach Land!

Der Würgengel geht durch Deutschland, er reckt die Eisenfaust nach Mann und Weib, er reckt sie nach den Kindern aus: Hunger reitet herauf übers Volk, Krankheit und Tod reiten mit ihm, sie stürmen über den Himmel hin, die Gewaltigen – ich habe sie gesehen! In meiner Stube hängt das Blatt des Meisters Albrecht, gegenüber meinem Bett. Am Morgen fällt mein erster Blick auf das Bild, es sieht mich an mit Grauen und Not, die Menschen fallen unter dem Sturm der Gewaltigen, es mahnt mich am Morgen und Abend: mach Land! Bau Korn, schaff Brot!

Ich will mein Haus den Neulandhof nennen. Drüben steht Wießbachs Eichhof. Die zwei sollen beisammen stehen, sollen bestehen! Das Land ist unser – danach soll sich die Wucherfaust nicht recken, der Würger nicht greifen.

Wir schuften von früh bis spät. Vor Tagesgrauen gehen wir aus, im sinkenden Zwielicht kehren wir heim. Dem einen von Wießbachs Knechten ist es zuviel geworden, er ist davongerannt – in die Stadt. Als Arbeitsloser ohne Mühe das Geld einsacken ist leichter, als ehrliche Arbeit tun. Da hat Janssen uns aus der Not geholfen. Er hat seinen Burschen gefunden, der zwei Jahre mit ihm im Schützengraben gelegen ist, Fritz Petergen, einen fünften Bauernsohn, dem daheim nicht mehr wohl ist. Der ist jetzt zu Wießbach gezogen und schafft für zwei. Er weiß: da bei uns kann er einmal zu eigenem Boden kommen, zu eigenem Hof.

Denn das haben wir uns gelobt, wir drei Siedler: wir wollen keiner für die eigene Tasche allein schaffen. Vielmehr: einer für den andern stehen. Wir sind keine Kommunisten; aber statt unser 81 mühsam erworbenes Geld in die Bank zu tragen, der es nur zu Wucher und Versklavung dient, soll es einem neuen Bauern das Anfangen auf unfruchtbarer Scholle erleichtern. Es können nicht lauter wohlhabende Leute zu uns kommen, wie Wießbach und wie es schließlich auch Mertens war. Es sollen auch solche bei uns wohnen und bauen, die nichts haben als ihre zwei Arme und den Glauben an die Zukunft.

Wir arbeiten im Bruch wie die Seeleute an den Pumpen, wenn das Schiff leck ist und zu sinken droht. Und ich stehe voll banger Furcht und spähe voraus nach dem rettenden Land . . .

Gestern abends blieb ich allein bei meinem Graben zurück. Weiter gegen Westen ist das Stück, das Wießbach und Mertens schon beinahe fertig haben. Ich bin mit meinem Teil noch zurück, ich werke fast ganz allein. Hinrichs und Friedgert pflügen den Acker für die Wintersaat. Nur Klas kann mir helfen. Aber so wacker der Junge auch schafft, er ist doch nur halbe Kraft.

In der Dämmerung schickte ich ihn heim. Er muß die Pferde füttern, wenn sie vom Feld kommen, muß nach der Kuh und der Kalbin sehen, die Hühner füttern. So blieb ich allein draußen. Ich grub und grub in verbissener Hast. Das letzte Stück muß werden, und wenn ich bis Mitternacht schuften soll. Im Graben stand fußhoch das Wasser. Ich hatte die Hosen aufgestülpt bis übers Knie und stak mit nackten Beinen in der eisigen Kälte. Und ich grub und schaufelte, schmiß die zähe, von Wurzeln durchwachsene Erde hinauf in patschenden, klatschenden Schollen. So finster schon war es, daß ich kaum mehr die Pfähle sah, mit denen wir die Richtung gesteckt.

Nur noch ein paar Schritte, dann war ich durch, dann konnte das Wasser hinüber, abfließen zum Bach . . .

Da stutzte ich und hob den Blick: drüben, im andern Grabenteil, stand einer und schaufelte wie ich, arbeitete mir entgegen . . . Jetzt sah ich ihn, deutlich vor dem Abendhimmel, der noch einen Schimmer von Helligkeit trug. Und bei Gott – trogen mich die Augen im Zwielicht? –: hinter ihm, die ganze Rinne entlang, 82 standen Leute, einer hinter dem andern, alle grabend, schaufelnd, hackend . . . Die letzten verloren sich in Dunkel und steigendem Nebelgrau. Es war ganz so, wie wenn wir im Feld einen Notunterstand aushoben und die ganze Kompagnie in lang aufgelöster Reihe stand . . .

Hat Wießbach in der Lotterie gewonnen und ein paar hundert Männer gemietet? Aber das ist ja verrücktes Zeug!

Da wurde das Gesicht des Vordersten, der mir zunächststand, plötzlich hell, wie von einem fahlen Licht überstrahlt: denn hinter mir stieg groß und rotgelb der Mond empor, fahl schimmerte der Nebeldunst auf.

Und da erkannte ich den Mann . . . Jetzt muß er mir Rede stehen!

»He du – gib mir Bescheid! Wer bist du?«

Er sah her zu mir und lachte mich an. »Kennst mich nicht mehr, Urs Brandt?! – Not über uns! Schaff Land!«

Mir stockte der Atem. Was rief er mich an mit fremdem Namen?! Ich heiße nicht Urs Brandt. Seine Stimme klang hart, befehlsgewohnt. Aber die meine heiser und rauh:

»Wer sind die Männer hinter dir?«

»Weißt von unsern Bauern nicht mehr, die mit uns stritten und fielen? Mach Land!«

Und da brach vor mir das Erdreich durch, unter dem Wasser, in dem ich stand. Gurgelnd schoß es hinüber, in den andern Grabenteil, fast riß mich der Schwall mit sich. Ich mußte taumelnd am Grabenrand mich halten.

Stimmen schrien auf, frohlockend: »Durch!« Und die Männer drüben sprangen aus der Erde, auch er, der mich Urs Brandt gerufen. »Schaff Land!« rief er mir zu durchs hohle Brodeln der Flut, warf den Spaten über die Schulter und schritt davon mit den Seinen – im Nebel tauchten sie unter, als sänken sie ein in einem silbrig glänzenden See . . .

Ich stand und starrt' ihnen nach. Aber dann schrie ich auf und hieb mit der Haue in die Erde, die über dem Durchbruch noch 83 übrig war, hieb und schrie dazu verworrenes Zeug, und der kalte Schweiß rann mir übers Gesicht. Und da brach auch das letzte Stück ein, spritzend stürzten die Schollen in die ziehende Flut.

Durch!

Ich kroch aus dem Graben, mühselig auf allen Vieren, und brach zu Boden. Mir war eiskalt, die Zähne klapperten mir im Frost. Und dazu glühte mir der Kopf wie im Fieber.

Der rotglosende Mond schien mir voll ins Gesicht, stieg höher über die Nebelflut. Ich muß heim . . . Ich bin krank . . . In mir ist so viel Sorge und Angst und Not . . .

Ich raffte mich auf und taumelte davon, in den Nebel hinein. Gebell kam mir entgegen – ich schrie laut: »Hasso!« – ich verlangte nach einem lebenden Geschöpf, das warm ist. Das ich greifen und halten konnte . . .

Der Hund gab Antwort – aus dem weißen Gewese vor mir tauchte er auf, keuchend, und sprang an mir herauf, daß ich fast umfiel, so müde und kraftlos war ich . . .

Zusammen kamen wir heim. Hinrichs und Friedgert erschraken über meinen Anblick. Aber die Magd goß einen Kessel heißes Wasser in den Holzbottich, daß ich mich waschen und die Füße von Morast und Lehm reinbaden konnte. Dann trank ich eine Unmenge Tee und legte mich zu Bett.

Mir gegenüber, an der Wand, reiten die Gewaltigen über die taumelnde Erde hin, die Menschen fallen unter den Hufen ihrer Pferde wie Gras unter der Sense . . .

Warum hat er mich Urs Brandt genannt?

In die verworrene Traumflut der Gedanken klang das Wort nach. Ich sah ihn ziehen, den Fremden mit dem harten Gesicht, das Schwert im Gurt. Neben ihm der Fahnenträger – auf dem flatternden Tuch ist der Bundschuh gemalt, der Bauernschuh. Und hinter den beiden stumm die Gefolgsschar, über den Schultern die Streitkolben, die Sensen, die sie zu Spießen geschmiedet, die Spitzen nach vor . . .

Ins letzte Erlöschen des Denkens ein Wort, herklingend von 84 irgendwoher, wie Nachhall fallenden Tropfens aus tiefem Brunnenschacht:

»Giers Hammer . . .«

Hat es der Fahnenträger gerufen?

 

Aber am Morgen war ich doch wieder heil und gesund und lief hinaus zum Graben. Wießbach stand da und sah mir kopfschüttelnd entgegen: »Mensch – hast du aber geschuftet! Das ganz Stück allein – heute Nacht . . .«

Ja, der Graben war fertig . . . Es blieb nur übrig, den Schlamm etwas herauszuschöpfen und ihn dadurch zu vertiefen. Dann pflügten wir das Land um, zogen quer auf seinen Lauf etliche seichte Rinnen und ließen Winter und Schnee das Werk vollenden . . .

Wießbach fuhr in die Stadt, er nahm mit, was ich an Eiern und Geflügel abgeben kann, dafür will er sofort wieder Kunstdünger, Gerste und sonstigen Bedarf einhandeln.

 

Nun ist es leichtere Zeit für uns. Wir streuen die Düngersalze über die Erde. Ein Sachverständiger der landwirtschaftlichen Schule war bei uns, Mertens hat darum ersucht, besah sich den Boden und gab uns Ratschläge, schrieb uns ganz genau vor, womit wir düngen sollten. Er war voll der Bewunderung für unser Werk.

»Wenn wir ein paar tausend solcher Menschen hätten in Deutschland, wäre es besser um uns bestellt«, meinte er. Und beim Abschied: »Soll ich Ihnen ein paar Siedler schicken, Absolventen unserer Anstalt?«

»Ja«, sagte ich, »wir können sie brauchen; junge Leute, die arbeiten wollen. Aber nur solche, denen die Raffgier nicht schon im Blut sitzt! Die nicht – ›Gutsbesitzer‹ werden wollen! . . . Wir leben hier wie eine einzige, große Familie: dies schöne Verhältnis wollen wir nicht gestört sehen. Da hinein muß sich fügen, wer bei uns hausen will.« 85

Der Mann wiegte nachdenklich den Kopf. »Es wird schwer sein, solche Leute zu finden . . . Sie verlangen viel! Die Jugend von heute kennt Arbeit nur als Mittel und Weg zum Genuß. Die Tanzdiele und Negermusik sind ihr Lebensinhalt. Dort wird dann das rasch erworbene Geld noch schneller wieder verludert . . . Aber ich will sehen, was ich tun kann . . .«

Du lieber Himmel, das hatte ich ganz vergessen, daß es so etwas ja auch noch gibt! Wäre es nicht so furchtbar, man müßte laut darüber lachen. Daß unsere Jugend heute noch, in dieser Zeit, da die Heimat alle Kraft all ihrer Kinder bitterer nötig hat als je – daß die Jungen da noch kein anderes Vergnügen, keine andere Entspannung kennen als Trunk, Tanz und Hurerei! Ich dachte an unsere Arbeit hier draußen auf unseren Feldern, dachte daran, wie ich neulich den Wassergraben vollendet – und diese Buben und Mädel schritten mit blasierten, müden Gesichtern über das Tanzparkett und verseuchten sich an Seele und Leib . . . Stünde der Mann noch im Leben, der die blutende Wunde an der Stirn trägt, den sein Fahnenträger Giers Hammer gerufen – es müßte ingrimmige Wonne sein, mit seiner Bauernschar einmal in so ein feines Lokal einzubrechen und die Lausebengel samt ihren Püppchen beim Kragen zu packen und hinauszustoßen in die eiskalte Wirklichkeit und steinharte Arbeit unserer Not!

 

Wir haben die Kartoffeln geerntet; es ist mehr geworden, als ich gehofft. Welches Wunder haben doch die paar Schaufeln des weißen Salzmehles gewirkt, die ich auch über ihr Feld gestreut. Nun füllt sich Sack um Sack mit den faustgroßen Knollen, und hätten wir nichts anderes als sie – wir müßten nicht verhungern.

Das Kartoffelgraben ist lustige Arbeit. Es ist schon recht kühl geworden, der Wind blies tüchtig über die Ebene her, wir hatten ein kleines Feuer gemacht, in dessen Glutasche wir gleich ein paar Kartoffeln brieten. Hanne Janssen ist herübergekommen und half tüchtig mit beim Auslesen der Knollen, die Hinrichs mit dem Pflug aus der Erde geworfen. Aber während man beim 86 Kornschneiden noch nicht so unmittelbar die Frucht erntet – denn man muß erst dreschen, worfeln, mahlen, backen – ist so eine Kartoffel, wie ich sie aus dem Boden grabe, gleich Frucht; ein bißchen Feuer, und ich kann sie schon essen.

Die Hanne ist in den paar Monaten, die sie nun bei uns in der Heide lebt, ein rotwangiges, schönes Ding geworden, das ich nur fröhlich und lachend sehe. Die bleiche Hungerfarbe der Not ist sie gründlich losgeworden. Sie hat mit dem Vater den Boden rings um ihr Haus umgestochen und mich fleißig um Rat für Blumen und Gemüse gefragt. Im nächsten Jahr wird schon ein stattlicher Garten um ihren Hof blühen. Der alte Mertens geht sogar damit um, ein kleines Mistbeet mit Glasdach anzulegen.

Am Abend sitze ich manchmal bei den Mertensleuten in ihrer Wohnstube. Ich glaube dann immer, ein paar Jahrhunderte zurückgewandert zu sein, wenn ich zwischen den schönen alten Kunstdingen weile. Und wenn Dr. Mertens dann seine Sammelmappen öffnet, so tut sich eine Welt unendlicher Herrlichkeit auf. Es strömt unsägliche Kraft aus diesen Blättern der teuern alten Meister. Für sie war das Schaffen noch Gottesdienst. Wie haben sie sich gemüht, die Tausendfalt der Dinge und Menschen zu meistern! Ich fühle aus ihren Bildern immer die große Not und das Ringen ihrer Zeit, die große Angst vor den furchtbaren Rätseln des Seins. Sie haben immer mit Gott und dem Teufel gerungen, am schwersten vielleicht in ihrer Kunst.

Wenn ich dann aus dem freundlichen Haus weggehe, an der kleinen Bodenerhebung entlang, auf der der Eichhof steht, wenn über mir der klare Himmel von blitzenden Sternen funkelt, während über den Sümpfen die Nebel liegen, dann gehen mancherlei Gedanken mit mir den Weg. Es ist eine seltsame, unbegreifliche Erregung in mir. Als stünde ein großes Erleben vor mir, von dem ich nicht ahne, was es sein könnte. Es ist mir immer wie einem Fluß, kurz ehe er einmündet in den großen Strom. Sein Wasser drängt stürmisch nach vor, will weiter hindann, wird durch den Widerstand der fremden Stromkraft wie von unsichtbarer Hand 87 zurückgedrängt. Bis es endlich doch mit gewaltsamem Durchbrechen sich den Strom erzwingt und aufgeht in ihm.

Was soll mir werden? In welches höhere Dasein soll das meine münden wie der Fluß in den Strom? Ich bin freudig erregt und bang vor jedem neuen Tag, als hörte ich aus der Tiefe herauf die Roßhufe herandonnern, die mich irgendwohin tragen sollen, in ein Leben, davor mir bangt und das ich doch heimlich ersehne.

Dann mache ich oft weite Umwege durch die Nacht, die drängenden Gedanken zu klären. Gerate in den Torfstich, wo damals Hein Lünemann aus dem Graben stieg. Es wäre mir nicht unlieb, wenn er seine Versprechen wahrmachte und mich zu den Kameraden der Tiefe mitnähme . . .

Manchmal gehe ich auch wieder die Wege aus dem Jahr meiner großen Wanderung durch ganz Deutschland. Jeder Mensch sollte einmal so durch seine Heimat wandern, wie ich es getan habe. Nur so kann er es lernen, mit allen zu fühlen, in allen zu leben. Daß er um die Not und das Bedürfen aller nicht nur weiß, daß er es auch fühlt wie am eigenen Leib. Ein wirkliches Volk muß wie ein Baum sein. Die Blätter wissen ums Leben der Wurzel so gut wie ums Entfalten und Duften der Blüten, um das Reifen der Frucht, und die Wurzeln wieder ums Sein und Bedürfen der andern Teile oben im Licht. Eins wirkt fürs andere, sorgt fürs andere, leidet mit ihm, heilt es, wenn es Schaden genommen. Nur so kann einer in Wahrheit von »seinem Volk« reden, nur dann ein wirkliches Glied seines Volkes sein, das nie etwas gegen die Gemeinschaft tun wird. Er soll eintauchen in das große Meer, das man Volk nennt. Volk – das heißt nicht nur die Menschen von heute; das Volk ist uralt, ist jahrhundertealt. Der Strom ist nicht nur das Wasser, das gerade unsern kleinen Nachen trägt. Ein jeder muß es aufnehmen in sich, was die vor uns geschaffen und gelitten haben, muß sehen lernen durch ihre Augen und Seelen. Unsere Not von heute war früher schon einmal, schwerer, blutiger noch, härter vielleicht. Nur, wer so in den 88 Jahrhunderten lebte, wer in die Tiefen blickte, in die Tiefen der Zeit wie durchs klare Wasser des Sees, bis auf den Grund, nur der könnte von sich sagen. ich bin ein Teil meines Volks, gehöre zu ihm, ich wurzle in ihm.

 

Nun liegt über den Feldern der schwelende Rauch, der vom verbrannten Kartoffelkraut kommt, von den verbrannten Stoppeln des Korns und des Hafers. Wir haben Schilf geschnitten und lassen es nun ebenso zu Asche brennen, die Erde damit fruchtbar zu machen. Tag und Nacht glosen die Feuer, und die Schwaden mischen sich am Abend mit dem Nebel, der aus Bruch und Tümpeln steigt. Es ist eine unheimliche, geisthaft unwirkliche Welt, wenn ich spät nachts übers Feld wandere, nach den Feuerstellen zu sehen, damit kein Unheil durch Funkenflug entstehe.

Es ist jetzt Neumond. Die Nacht ganz dunkel. Und doch ist irgendein Licht um mich, die Nebelschwaden schimmern weiß herüber. Im Gehölz rührt sich verworrenes Rauschen, dazwischen ein Eulenruf.

Das sind die Stunden, die uns loslösen aus der Menschengemeinschaft des Tages, in der es Straßen und Städte, Geschäft und Politik, in der es Häuser und Bücher, Zeitungen und Automobile gibt, es sind die Stunden, die uns ganz auf uns allein verweisen, jeden in sein innerstes Ich – und doch: dies Ich weitet sich über das ganze Land, fühlt mit einmal das Leben der Millionen in sich, die in Städten und Dörfern, auf einsamen Höfen hausen. Es ist, als wäre die Vielfalt von Raum und Zeit ausgelöscht und die Seele hinabgetaucht in den Urgrund Meister Eckeharts, in dem Alles Eines ist . . . Alles, was ist und alles, was war – vielleicht auch alles, was sein wird . . .

Die Zeit ist heiß und wild. Wir kämpfen ums Höchste: ums Leben. Ums Leben des Eigenen. Die Sterne der Vergangenheit wanken und weichen unwillig zögernd vom Himmel. Wir spähen in angstvoller Begier nach dem neuen Licht, das unter der Erde säumt. Urgestalten der Vorzeit schreiten durch die bebende Nacht 89 und blicken uns an, mahnend und drohend mit dem Recht derer, die vor uns kämpften und fielen, mit dem Recht der Alten, der Väter.

Gestern abend in der Dämmerung, als ich vom Feld heimging, sah ich ihn im steigenden Nebel stehen, im Moor . . . Bleich sah er zu mir her, mahnend und ernst, mit den großen Augen des Toten, die keine Hand der Nachlebenden geschlossen hat.

Etwas Furchtbares lag in seinem Anblick. Die Stirnwunde brannte rot. Sein Antlitz war voll eines großen Leides. Ich fühlte kein Verlangen, ihn anzurufen, zu fragen; ich verstand ihn, sein stummes Mahnen: über dir ist die Pflicht! Über euch allen die Pflicht – die ihr nicht sehen wollt!

Ich hielt den Blick fest auf ihn gebannt. Er schwand im steigenden Nebel, der über ihm zusammenschlug wie Meerflut über einem Ertrinkenden.

Wo ist die Grenze zwischen Wahn und Erinnerung, zwischen Traum und Tag?

Oder ists, daß ich all dies gelebt habe – nein, nicht ich, sondern mein Blut, vielmehr: das Blut meiner Vorväter und Urväter, das Blut meines Volks? Daß es die Erde gelebt und gesehen hat, aus der ich komme, der ich eigen bin? Daß Blut und Erde in mir reden, aus mir sprechen, ich nur die Stimme der Erde, die im Fieber liegt, über die wiederum das Wort von oben gesprochen ward wie damals, als er noch lebte? Vor . . . weiß Gott, vor wieviel hundert Jahr und Tag? Ich weiß es nicht . . . Aber ich bin alles. Erde, Land, das ganze deutsch' Land, das Volk, das ganze Volk, das War, das Jetzt, die werdende Zeit. Alles in mir, ich in allem. Ich habe alles gesehen, alles gelebt, denn ich bin alles. Die Erde weiß alles. Das Blut weiß alles, denn es kommt aus den Tiefen der Zeit und geht durch mich hinein in neue Tiefen kommender Zeit. Ich habe die Dome gewölbt und die Steinbilder an ihnen gemeißelt, die Holzbilder in ihnen geschnitten, ich habe die Mauern und Türme der Städte gebaut, die Ratshäuser, habe 90 in den Domen die Orgeln gespielt; ich habe die Schlachten geschlagen, bin tausendmal gestorben und habe tausendmal als Sieger über den Leichen der Gegner gejubelt, habe tausendmal Fahnen in die flammende Blauglut des Himmels erhoben und tausendmal die zerfetzten Zeichen mit meinem Blut getränkt. Ich habe die Hanseschiffe auf den Werften gezimmert, mühsam ungefüg mit schwerer Axt, voll Trotz gegen Sturm und See, bin auf den Koggen gefahren nach Samland, Livland und Kurland, ich bin angstvoll spähend am Steuer gestanden in den ersten Morgenstunden, wenn der Meerdunst zu Nebel wird und die Führersterne verblassen – angstvoll, daß ich den Weg nicht verfehle in der Weite der See. Ich habe die selben Sterne durch trübe Gläser beobachtet und habe die Gesetze des Himmels erkannt. Ich habe die Materie im Tiegel und in der Retorte zerlegt und die Geheimnisse des Stoffes erforscht. All das habe ich getan, aus all dem komme ich her, aus Leid und Glück, die um diese Taten geschlungen sind, all das ist in mir, denn es ist Werk meines Blutes, des Volksblutes, des deutschen Blutes, das in mir rollt.

Ich bin reich. So unendlich, daß ich mich aufschreiend an die Erde werfen möchte, die mir dies alles gegeben hat. So reich, daß es mich überwuchtet und übermannt. Mein Reichtum überströmt mich voll Glut und Prachten wie Mittagssonne das Feld.

Ich habe keine Furcht mehr vor dir, der aus dem Nebel aufsteigt und mit den starren Totenaugen zu mir herblickt. Sie sind nicht mehr tot, deine Augen. Ich will ihnen Leben und Glut geben. Dein Mund, den der Todesschmerz verzerrt hat, soll reden. Mit der tönenden Gewalt von ehdem.

Das hat mich damals nach dem Krieg durch ganz Deutschland getrieben, das Suchen nach dem Boden meiner Kraft, der Wurzelerde meiner Seele und Sehnsucht. Darum war mein ruhloses Wandern, überall, in Nord und Süd, wie ein Heimkommen in die Heimat: die alten Gassen der Städte, die Dome und Rathäuser, die verwitterten Mauern und Tore – ein großes Daheim. Aber die Menschen fand ich nicht mehr. Ich ging umher 91 wie im Traum, suchend, immerzu suchend nach ihnen, mit denen ich einmal hier lebte und redete, mit denen ich stritt und fiel. Darum waren all diese Wege und Fahrten so voll einer unendlichen Wehmut, süß und verloren.

Aber – ich habe sie ja doch, die Alten, die Freunde von einst, sie sind ja noch immer um mich – ich mitten unter ihnen: ich habe ja doch ihre Bilder behalten, die sie selbst gemacht haben – sie blicken mich an, die Gefährten von einst, aus den harten, gramvollen Zügen der Holzschnitte, der Holz- und Steinbildnisse . . . Mit ihren scharfen Rinnen und Falten, mit den Augen, aus denen so viel Schwere, so viel Fragen in die Welt blicken. So viel Müh und Beschwer, so viel Kummer und so unendlich viel Leid. So viel Wissen um jenes nie zu stillende Leid, das mit dem Leben zugleich gegeben ist . . . Sie blicken mich an aus dem Werk ihrer Hände, aus den Wölbungen der Dome und Kreuzgänge, die ich mit den Augen fühle und taste, die ich ohne Augen noch sehe und fühle, eine unsägliche Musik. Sie sehen mich an aus dem Ragen der Türme, aus den Mauern und Torburgen, sie blicken mich an – es blickt mich an, das deutsche Gesicht. So hat das deutsche Auge die Welt gesehen, die deutsche Seele sie empfunden und in sich gespiegelt, der äußeren Welt eine neue, eigene entgegengestellt.

 

Es will Neues in die Welt – über unsere Zeit ist wiederum das Wort von oben gesprochen, das Wort, das eine neue Gestalt des Daseins heraufführt. Es kommt herauf aus den Abgründen der Zukunft. Mir ist, ich müsse helfen, ihm den Weg zu bereiten.

 

Wie war es doch einmal in den Tiefen der Zeit?

Ich sehe ihn immerzu, wie er durch die wirre Flucht meiner Traumgesichte stürmt, die lohende Fackel in der erhobenen Hand – selbst ein flammender Brand. Ich sehe sein stürzendes Bild vor mir: vornübergeneigt, hochgereckt die Hand, als wollte er ins Dunkel leuchten, das vor ihm lag. Er taumelte und fiel, die 92 Nacht vor ihm blieb schwarz. Sein sterbendes Aug' sah das Licht nicht mehr, das aus ihr kommen sollt'.

Nun fällt der Glutschein der verschwelenden Fackel voll auf sein Gesicht und ich erkenne es. Und weiß, warum er jetzt wieder durch meine Träume jagt, sich in meine Seele drängt. Er fühlt seine Zeit wieder kommen, die abermals ist wie jene, als er in Fleisch und Blut ging. Der ewige Wanderer. Fühlt die neue Zeit aufwittern über die Kimme des Morgenrots – und er schauert ihr entgegen. Wie war es doch einmal in den Tiefen der Zeit?

Ich gehe tastend den Weg zurück durch die Geschlechter der Väter und Urväter, bis ich dich wieder sehe, wie du damals warst. Durch zwölf Geschlechter muß ich gehen, bis ich bei dir bin, bis du wieder Giers Hammer heißest, das ist: Gerhard Hademar. Und der, in dem damals das Blut meines Geschlechts ging, schwer und bedachtsam, durch dessen Seele ich dein Leben sehe, als ob ich es selber wäre, den – oder mich! – nannten sie Urs Brandt . . .

Ich neige mich tief über den grundlosen Brunnen der Zeit und schaue . . .

 


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