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»Guten Morgen, Thomas. Guten Morgen!« – Thomas war auf der Burg. Er ging wie im Rausch und dennoch zugleich in einer seltsamen Gebundenheit. »Amey, Amey, Amey!«
Sie zeigte ihm alles, womit sie verwachsen und verwebt war, das Lebendige und die toten Dinge, die hier so seltsam wesenhaft waren und lebendiger als das Leben. Die königlich breite und prachtvoll geschwungene Stiege schritten sie hinauf. Schmale, herrische Gesichter mit Spitzbärten über spanischen Tellerkrausen befahlen aus prunkenden Goldrahmen florentinischer Arbeit und grenzenlos hochmütige Frauen in starrendem Brokat hielten in den unwirklich schmalen, weißen Stuarthänden das Geheimnis einer roten und verführerischen Rose. Gewaltige Geweihe und ausgestopfte, mächtige Auerhähne, das Spiel stolz gebreitet, wußten von Wäldern, in denen der wilde Jäger mit seinem Gejaid in den heiligen zwölf Nächten die Kreuzwege überraste. Und sprühende Felle königlicher Tiere erzählten von den Fahrten der Hellbergs in Länder, wo die Steine bei Sonnenaufgang Stimme erhalten. Der Mond hing groß und kühl wie ein blausilberner Schild neben der Libanonzeder, als Thomas von Amey in die Säle und Kammern geführt wurde, in denen seit dem großen Brand nach der Göhrdeschlacht die jahrhundertealten und preislosen Schätze der Burg beheimatet waren: rostige Kürasse, Schilde mit kostbarer, erhabener Arbeit, Hellebarden und Morgensterne, funkelnde Schwerter, die Blutrinne von Edelrost zugeblüht, silberne Pokale mit goldnen Girlanden verziert, ellenhohe Leuchter aus Lapis Lazuli, Rosenquarz, Chrysoprasen oder Elfenbein, von züngelnden Drachen getragen. – Draußen von der Terrasse her kam ein zarter, elfischer Ton. Ameys Harfe war stehen geblieben. Jetzt war der Wind ihrer froh zum Abendlied. Die Frösche vom Burggraben übernahmen die Unterstimmen im Konzert und die Käuzchen von der Ruine lachten und wimmerten wie Kinder. –Thomas sah die Pracht. Ihm war wie im Traum und fern. Dies alles war wie in Legenden geschrieben, und Amey selber schien ihm zu entgleiten und sich in eines jener kostbaren Bücher hinein zu verzaubern, die in Leder gebunden unten in der Bibliothek standen, mit goldnen Majuskeln und Bildern, glühend, wie sie sehnsuchtskranken Mönchen vor hunderten von Jahren in ihren schweigenden Zellen erschienen. »Welcher Nachen vermöchte Amey in meine Welt herüberzutragen?« dachte Thomas. Er sah Amey wie von einem andern Ufer.
Amey war warm und aufgeschlossen. Sie dachte: »Dies alles muß ihn erfreuen. Erst wenn Thomas dies alles kennt, kennt er auch mich. Ich selber bringe mich ihm mit diesen Dingen.« Sie öffnete Truhen voll seidener Kleider, die aus eigner Pracht standen. Sie legte sie an und lächelte, sie bewegte einen Fächer und nahm zwischen spitze Finger ein paar Falten, und Jahrhunderte versanken. – Zu andern Zeiten öffnete Amey kostbare Geschiebe und schmückte sich für Thomas mit mondblassen Perlen und Steinen, wie die Hellbergschen Frauen sie vor Kaisern und Königen getragen. »Verführerin! Bist du aus Perlmutter gemacht?« flüsterte Thomas. Aber während seine fiebernden Lippen sich an ihrer Haut kühlten, hafteten seine Augen plötzlich an dem Bilde, vor dem Amey stand: Auf einem roten, funkelnden Roß sprengte ein roter, funkelnder Ritter mit dem Zeichen der Kreuzfahrer und der Feldherrnbinde um den Arm. Reisigen Scharen sprengte er voran, das rote Pferd steilte und schnob Feuer. Aber der Ritter war gewaltiger. Seine Schenkel preßten wie Eisenklammern. Denn er sah den Sieg, und er sah die Kuppeln und die Halbmonde von Aleppo. Dieses war Godehard Rhabanus Ernst Ludwig Ehrenfried Hellberg, der Ahnherr Ameys, der um seiner Heldentaten willen bei der Befreiung des Heiligen Grabes von Kaiser Ludwig dem Frommen mit der Herrschaft Arwinde belehnt worden war. »Onkel Rhaban in all seiner Anmut und Feinheit, er glich dennoch diesem Urahn von uns aufs Haar«, sagte Amey.
»Onkel Rhaban?« dachte Thomas Vernow. »Es gibt nicht viel Lebendes hier und nichts Totes, das nicht mit diesem Namen verhaftet wäre!« Sein Blick umwölkte sich. – »Aber sie selbst,« dachte er, – »aber Amey! Auch sie ist der Kaste der Krieger und Helden entsprossen. Wie ist es möglich, daß sie einem Mann der Feder, einem blassen Gelehrten und Bücherwurm ihr flammendes Herz zu schenken vermöchte?« Er sah Amey an, wie sie im Mondglanz ihrer Perlen auf und nieder ging und ein verschollenes Lied leise vor sich hin sang. Hatte er nicht den Fußboden gestampft in Verzweiflung und Zorn? Ach nein, nur die Zähne setzte er hart aufeinander. Aber wiewohl er sich mit keinem Laut und keiner Bewegung verriet, kam Amey dennoch zu ihm herüber wie gerufen. »Mein ungläubiger Thomas! Eben hattest du blaue Schwerter in deinen Augen, wie meine Ahnen sie schwangen. Jetzt sind sie stumpf und überhaucht. Rittersmann, Rittersmann, willst du keine Lindwürmer um mich erschlagen?« Da tat Thomas Vernow einen wunderlichen Laut. Er faßte Amey um die Taille, die biegsam war wie der Stengel einer Blume und hob sie auf einen jener schmalen, hohen und kühlen gotischen Stühle. »Herzogin,« sagte er, »Königin! Tausend Lindwürmer muß ich erschlagen um dich. Aber sie hausen alle in meiner Brust.« Er brach hin an ihren Knien.
Da glitten Ameys Finger über die steile Stirn, die plötzlich wie mit Spinnweb überzogen erschien. Draußen sang sich die Harfe in Schlaf, aber an ihren Knien fühlte Amey hohe und heiße Blutwellen branden. »Wird es so bleiben?« dachte Amey. »Werden wir immer so schreiten jeder in seinem Rhythmus und auf einer andern und fremden Daseinsebene? Oder wird er vor mir knien, daß ich ihn erlöse? – Ach,« dachte sie, »hatte ich nicht einmal einen Traum? Liebe sollte mich auf goldene Flügel nehmen. So wollte ich hoch über diese Flügel emporwachsen!« Ihre Augen sahen zu dem blauen Mondschild, den eine Hand von der Libanonzeder fort, ein gut Stück westlicher an den Himmel gehängt hatte, so daß er sich im See spiegelte, der heimlich an dem Grabtempel der Hellbergs nagte. »Immer habe ich mich ein wenig vor dem Monde geängstigt«, dachte Amey. »Immer habe ich so unbändig die Sonne geliebt!« – –
Am folgenden Tage staunte Amey: »Unsern Grabtempel habe ich Thomas noch nicht gezeigt, nicht das Zimmer im Westflügel und nicht die schöne Abgeschiedenheit.« Aber sie beruhigte sich. Auf dem Wunschberg waren sie ja auch noch nicht gewesen. Sie gingen durch den Park. Amey wollte Thomas in den Wald nehmen. Er kannte ihn erst von ein paar Fahrten her.
Die alte Ariane sah Thomas und Amey hinterdrein, wie sie die Terrasse hinunterstiegen, vorbei an den steinernen Göttern und den glühenden Zierbeeten, von Buchsbaum umschnörkelt. Durch das Tor, in das düstre Leben der Taxuswand geschnitten, traten sie aus den strengen Gebundenheiten des Stils von Le Nôtre in die freie Weite des Parks. Die alte Ariane schlug drei Kreuze hinter ihnen. »Sein Gang gefällt mir nicht«, murmelte sie. »Die Heiligen mögen es mir nicht anrechnen, er geht nicht, wie wir hier gehen. Er geht nicht wie ein Mensch, dem Gottes Erde wie seine Mutter ist.« Sie schüttelte den Kopf und scheuchte mit der Hand zu der Ruine hinüber. Die Krähen waren wie wahnsinnig die letzten Tage.
Der Gärtnerbursche kam vorüber an Thomas und Amey, mit Körben voll Nelkensetzlingen. »Dies ist unser Gartenwilhelm! Wir wüßten nicht aus noch ein, wenn wir ihn nicht hätten!« Der junge Mensch zeigte alle seine breiten, gesunden Zähne vor Vergnügen. »Das böse Blaurot ist nicht dazwischen?« Amey hatte die Nelken im Sinn. Eine freie Frohheit war um den Burschen, wie er über das böse Blaurot beruhigte. Seine Augen hingen an der Herrin. – Amey wußte längst Bescheid über alles. Aber sie zögerte das Gespräch hinaus, als erwarte sie etwas. Schließlich brach sie ab, mitten im Satz. In ihr war der Hauch einer Enttäuschung. Thomas hatte dem netten Jungen kein Wort gesagt. Die Kutscher fielen ihr ein, Giacomo und der Verwalter, wie sie den schweigenden, steilen und fremden Doktor mit einem fremden, kurzen und eindringlichen Seitenblick musterten.
»Es wird alles noch kommen«, beruhigte sich Amey, wie sie sich Thomas in den Arm hängte. »Er versteht ihre Redeweise nicht und – immer hat er in seinen Büchern gelebt. Er muß erst hier einwurzeln. Wie ein fremdes Pflänzlein muß ich ihn eingraben und begießen.« Daß Thomas hier herauskam, erschien ihr selbstverständlich. Der Gedanke kam ihr nicht, daß sie in das Haus ihres Mannes übersiedeln würde.
Der Wald nahm sie auf. Es war diese schönste Art von Wald: Laub- und Nadelholz durcheinander gemischt. Zwischen dem schweren dunklen Sammet der Tannen, die ihre Zweige mit zartem Maigrün verbrämt und wie schwere Renaissanceärmel herunterhängten, bebten junge durchsichtige Lindenherzen. Die Kirschbäume waren ganz umbrandet von überschwenglichem und schaumigem Weiß. Aber zwischen weichen seidnen Buchenblättern und den purpurnen Kleinoden der Lärchenzweige standen die Kastanienkerzen selig entzündet, und das goldne Glück der Bienen durchbrauste den Wald. Überall waren Lustbarkeiten, Hochzeitslieder oder Kinderstuben. Kleine Mausemütter, hurtig wie rotbraune Wollbälle, raschelten durch das Fallaub. Eichhörnchen verschwendeten Tannensamen. Das Kuckucksweibchen kicherte. Der Pirol versteckte sein Gold wie ein Geizhals, aber sein Lockruf war süß wie Honig. Wenn der Eichelhäher durch die Zweige schiffte, sah es aus, als verschüttete jemand einen Beutel voll Türkisen, und die rote Spechtshaube züngelte wie ein Flämmchen an den Stämmen hinauf.
»Sieh,« rief Amey, »sieh! Hörst du nicht? – Höre doch!« Sie nahm das Gesicht von Thomas zwischen die Hände und bog es vor und zurück. Sie faßte seine Ohren an, die wohlgebildet und fest am Kopf anlagen, und zog sie ein wenig nach vorn. Ja, ihre Augen waren grün wie Moosachat! Oder glichen sie dennoch sommerlichen Wäldern, wenn tausend Sonnenfunken zwischen den Zweigen scherzen, und die schönen und schlimmen Hexen auf und nieder wandeln?
»Ja, Amey, ja.« Zwischen Daumen und Zeigefinger und vorsichtig, als könne man eine Hand gar leicht abbrechen, umfaßte Thomas die Gelenke Ameys. Aber er sah nicht, was sie sah, und er hörte nicht, was sie hörte. Er tauchte auf den Grund ihrer Augen, und ihre Stimme war in seinem Ohr. Plötzlich ließ er die Handgelenke los und fing sie sich selber ein, die ganze Amey. Amey bog den Kopf ein wenig hintenüber. Sie ließ Thomas seinen Willen. Aber bald gab sie sich einen Ruck zur Seite. »Du paßt gar nicht auf, was ich dir zeige!« rief sie zürnend wie ein Lieblingskind. Sie lief zu der Kastanie hin und umarmte den Stamm und drängte sich ihm an. »Jetzt werde ich Baum,« rief sie, »jetzt weiß ich alle Geheimnisse. Alles, was die alte Erde seinen Wurzeln mitgibt, schmecke ich, und ich bin seine höchste Kerze. Sieh mich brennen!« Sie sah aus, als schmeckte sie uraltes Erdwissen, und wie eine selige Kerze loderte sie!
Thomas' Augen verschatteten sich, wie sie an ihr hingen, obwohl sein Mund lächelte. Wie jemand lächelt, der einem Kinde zusieht, das noch in Gärten zu Hause ist, zu deren Türen die andern längst den Schlüssel verloren. Amey lief zu Thomas hinüber. »Du wirst auch noch das Harz kochen hören«, sagte sie zärtlich und tröstend. »Morgen wollen wir wilde Bienen sein und ein andermal Holztauben oder Hirsche!« Zugleich staunte etwas in ihr. Sie dachte: »Vorigen Frühling, als ich in dem violetten Baumschatten lag, ach, ich war doch auch allem so innig nah und dennoch ängstigte ich mich?« Wer hatte die Angst von ihr genommen? Hatte irgendein freundlicher Naturdämon ihr eine letzte Pforte aufgeschlossen? – »Ob wir blühen oder welken,« sagte sie plötzlich sanft, »sind wir nicht unsterblich in beidem?« Sie öffnete weit die Augen. Sie stand still und wie versteint von staunendem Glück. Sie empfand Thomas nicht anders als eine Blume vor ihrem Fuße oder das Lüftchen um ihre Wange.
Sie näherten sich einer bestimmten Stelle am Waldrande, wo der Sonnenschein wie blanke Louisdore auf Laub und Moos verschüttet lag. Das Bruch breitete sich vor ihnen meilenweit, Ödland, den Hellbergs gehörig. Aber Ameys spitzer Finger wies nach oben. Hoch über den höchsten trunknen Blättern der Pappel stand unbeweglich ein winziger schwarzer Punkt. Ein anderer hätte ihn kaum erspäht. Auch Thomas erkannte ihn erst, als Ameys Finger ihn wies. Aber Ameys Ahnfrauen waren zu oft, den Falken mit der Haube auf dem Handschuh, zur Reiherbeize geritten. Amey sollte es wohl erspüren, wenn ein einziger, schwarzer Punkt hoch oben am hellen Himmel stand! – Jetzt – jetzt stürzte er jäh, der Punkt, wuchs zusehends, wurde groß wie ein Eindecker, verfing sich, stand wieder. »Oh,« rief Amey, »der Räuber! Er hat es im Blut. Er kann nicht los von den Jagdfiebern seiner Vorfahren!« In diesem Augenblick stieß der Falke jäh auf ein Häschen. »Er hat es im Blut«, wiederholte Thomas Vernow langsam. Er bog zart und herrisch zugleich den Kopf Ameys zu sich herum. »Laß sehen, deine Augen! Funkeln sie nicht? Auch deine Ahnen in den ewigen Jagdgründen waren Jäger und Krieger und Helden auf Erden.«
Amey sah Thomas an. Die Dullerchen im Schilf piepsten wild erregt. Sie sahen ihren guten Bekannten, den kleinen Hasen, eine für ihn befremdliche hohe und ferne Reise antreten.
»Denke an Onkel Rhaban!« Amey machte eine Handbewegung zum Schilf hin, als beschwichtige sie geängstigte Kinder. Über die blauen stählernen Augen von Thomas deckte es sich wie der Hauch eines Mundes. Aber im Grunde zuckte der Funke, der im Stahl schläft. Gab es keinen Weg und kein Gemach, kein Buch und kein Gespräch hier, mit dem dieser Name nicht verflochten war?
»Wird es so bleiben?« dachte Thomas Vernow. Seine gesunde Hand schloß sich zusammen. Wird dieser stumme Gast uns niemals verlassen?« Etwas in ihm war Frevel. – Aber er riß sich zusammen. Er schmähte sich. Er hob die Hand Ameys an die Lippen. »Vergib mir!« –
»Wieso? Vergib?« Amey war bei dem Falken. »Ich entsetze mich vor der Gewalt. Aber ich liebe die Helden!« Ihre Stimme und ihr Lächeln fragten und staunten. »Gibt es nicht Heldentum ohne Befleckung?« sagte sie plötzlich.
Thomas sah in ihre Augen. »Nicht auf diesem Planeten.« Und während Amey suchte und von einer Kühnheit träumte, die dem Leben diente und nicht der Vernichtung des Lebens, sagte Thomas plötzlich: »Arme Amey!«
»Wieso,« rief Amey, »was meinst du?« Dies war nicht, wie wenn Onkel Rhaban gesagt hätte: »Arme Amey!« Ihre biegsame Gestalt herrschte plötzlich wie ein schlank stählerner Lanzenschaft. »Was wäre an mir zu bemitleiden?«
»Wer die Kaste der Krieger und Helden verläßt . . .«
»Aber ich werde die Kaste der Helden nicht verlassen«, zornfunkelte Amey. »Habe ich mir nicht einen Ketzer erwählt? Wer das Blecken der Flamme mißachtet, sollte er kein Held sein?« Die Hand von Thomas glitt schwer und zart über das weiche bauschige Haar, das braun war wie Waldwege. »Du hast Savonarola im Sinn oder den Scheiterhaufen von Kostnitz. Unsere Zeiten wurden farblos, Amey. Wir tragen keine goldnen Halsketten und Tellerkrausen. Auch die große Gebärde ging uns verloren. Wir denken nicht mehr daran, um einer Idee willen zu sterben nötigenfalls. Auch das Ketzertum wurde ein wenig mesquin. Es bedeutet nicht so sehr viel.« –
»Ich will es nicht haben, daß du mir meinen Glauben zerpflückst. Wie eine schöne Blume zerpflückst du ihn!« Ameys Augen funkelten von Tränen. Thomas antwortete nicht. Nur ihr Haar liebkoste er leise und verloren. – »Ja, wenn du den Vergleich mit dem Ketzer nicht willst, der Held ist,« flüsterte Amey, »nun – sind wir nicht über die Barbarei des Blutvergießens endlich hinausgewachsen? Sollten wir nicht endlich so weit gekommen sein in der Kultur, wo die Inder vor Tausenden von Jahren waren, als sie die Brahminen über die Kaste der Krieger erhöhten?«
»Vielleicht sind wir noch nicht soweit,« dachte Thomas Vernow, »vielleicht sind wir sogar sehr viel weiter zurück.« Aber er konnte seine Gedanken nicht sagen. Vor Ameys Augen konnte er dieses nicht aussprechen. »So soll ein Weiser mein Liebster sein.« Amey legte Thomas die Hand um den Hals, wie sie weiterschritten. Und wie sie dem Bruch zu nahe kamen und das Leben des Moors unter den Füßen spürten: »Leben«, dachte Amey plötzlich. »Werden! Tat!« Jener Tag fiel ihr ein, als der Frühling unter dem blühenden Kirschbaum stand. »Sollten wir dennoch in der großen Spirale wieder einmal eine Drehung nach aufwärts machen wollen?« Wie der Falke stieß diese Erkenntnis jäh vor ihr nieder. »Sollten bei dem Helden von morgen Erkenntnis und Tat nicht mehr zu trennen sein? Die liebende Seele würde sie ineinander binden diese zwei, verschwiegen und unlöslich?« Ameys Gesicht verklärte sich. Sie gingen weiter.
»Ödland!« rief Amey plötzlich wie jemand, der lange nach Fernen schaute, und zu seinen Füßen lacht selig und plötzlich das gelobte Land. Sie sah mit einemmal diese gedehnten Strecken, deren Decke wankte, wenn man sie ungewarnt beschritt, unter dem metallischen Gewoge von Ährenfeldern, die vor dem Winde in Wellen liefen. Rote niedrige Backsteinhäuser unter den hohen Hauben der Reeddächer erblickte sie, da wo die gekröpften Weiden den festeren Grund andeuteten. Den kurzen durstigen Blick von Augen, die von Verdammnis wußten und dunklen Pforten, sah sie, lange verlernte Gebärden der Zärtlichkeit und entblößte Häupter, die den Wind und die neue Sonne der Freiheit schmeckten. Sie hörte Kinderjubel, und sah die geschäftige Frohheit von Müttern. – – »Vorbestraft?« . . . War es das? Würde das kleine und höhnende Lächeln sich nicht zur Ruhe geben, vielleicht?.. »Thomas!« Amey blieb stehen. Sie warf Thomas die Arme um den Hals. Wäre das nicht denkbar? Könnte man nicht Eingaben machen? Könnte nicht in Vorträgen und Schriften darauf hingearbeitet werden? Hatte der Staat nicht auch Ödländereien? Könnte man nicht solche, denen vielleicht erst das Gefängnis Verbrecherblut einimpfte, könnte man sie nicht während ihrer Haftzeit draußen werken lassen? Abringen der Erde Saatland fußbreit um fußbreit? Und wenn sie dann ihre Zeit abgebüßt hatten, und sie waren erstarkt und gesundet, wie der Mensch gesund wird und stark, wenn er der Erde so nahe lebt. »Sieh, Thomas – dann käme an uns die Reihe. Wir alle, die wir Ödland besitzen, wenn wir davon hergäben?! Und gleich ein Stück Wald dazu für den Hausbau und Weideland. – Und dann kämen sie, und keiner wüßte, nur wir, woher sie kamen. Und sie glaubten, auch wir wüßten nicht! Ja, wenn sie dann, Thomas –« . . . ihr Atem flog, in ihren Augen blühte Zukunft und Glück. Sie fing an zu stottern, so überstürzten sich ihre Gedanken und Pläne. Thomas sah auf sie herunter, wie sie gingen. In seinen Augen war die matte und wehmütige Kühle der Entzauberten. Seine spanischen Schlösser hatten zu hoch geragt, unter ihrem Schutt konnte auch die kleinste Illusion nicht mehr keimen. »Du wirst die Enttäuschungen kaum überstehn, Amey«, sagte Thomas Vernow. »Diese Menschen, die du beglücken willst, werden zum Dank der Ruin dieser Gegend werden. Glaube mir! Ich kenne unser Volk.«
»Aber mein Gott«, – Amey blieb stehen, »ich denke, das ist dein Ziel und dein Schaffen? Bin ich denn ganz von Sinnen?« – Sie drückte ihre Hände flach an die Schläfen. Ihre Haut wurde wie ein welkes Jasminblatt. Sie verstand nicht: Nationalökonomie, Bodenreform . . . Sie las doch Damaschke, und sie las täglich wie einen Katechismus das Buch vom Freiherrn von Stein. Thomas hatte ihr alles mitbringen müssen. Er schrieb doch selber an einem Buch und hielt Vorträge, die diese Dinge behandelten. Ja, wozu tat man dies alles, wenn es kein »Wozu« gab?
Sie waren auf die Lichtung hinausgetreten vor der letzten Steigung zur Höhe des Wunschbergs. Wenn jemand auf dem schmiedeeisernen Balkon mit den verschlungenen W's stünde, so hätte man ihn von hier aus errufen können. Aber die Wipfel der Bäume hielten noch Wache vor dem Haus.
»Ich könnte Thomas nicht hinaufbringen jetzt«, dachte Amey. »O Gott, nein! Auf den Wunschberg könnte ich ihn heute nicht bringen.« Ihre Schultern zogen sich leicht und frierend zusammen. Sie sah sich um. In ihren großen, geängstigten Augen spiegelte sich eine schwere Wolke.
Das Land lag wie ein Fächer zu Füßen des sanften Hügels gebreitet: Äcker, Wälder, Viehtriften und die Unerlöstheit des Ödlandes, und wieder Äcker, Wiesen und Wälder, bis sie im Dunstblau der Ferne wie Wasser ineinanderwogten. »Dies ist alles Hellbergscher Besitz«, sagte Amey. Sie machte eine Armbewegung. Aber nur die Worte waren stolz. Die Stimme und die Bewegung waren beschwert.
»Die halbe Provinz habt ihr eingezäunt!« Thomas lächelte. Aber Amey war nicht zu betrügen. Sie gab ihm einen schnellen Blick. »Ist er kleiner geworden?« dachte sie. »In Berlin, wie hoch er dort war!«
»Du mußt es verstehen können, Amey.« Die Stimme von Thomas hatte etwas Bedecktes. »In Berlin, siehst du, – ich brauchte niemals zu sorgen. – Ich hatte nicht sehr viel, aber ich hatte genug zu leben. Es spielte kein Opfer und keine Existenzfrage hinein, als ich den Pfarrerberuf aufgab. Mit Vorträgen hier und da und meiner Journalistik . . . ich brauchte mir nicht Gedanken zu machen, ob ich eine Frau ernähren könnte. Aber dies hier, dies alles« – er machte dieselbe beschwerte Handbewegung wie eben Amey. Er schwieg. Sein Lächeln hatte etwas Künstliches und Trauriges. Amey hängte sich in seinen Arm. Sie nahm seine kalte, leblose Hand in ihre warme. Ihr Herz schwoll über von Mitleid. Zugleich dachte sie: »Mein Besitz bedrückt ihn. Er ist nicht stark genug für ein großes Geschenk. Er scheidet zwischen mein und dein. Er sieht keinen Weg, und er glaubt keinen, und er läßt mich allein suchen, wie all dies Eingezäunte um uns her sich in ein Glück und eine Erlösung verwandeln könnte.«
Sie stiegen die Höhe herunter. Thomas wußte nicht, daß er nur einen Steinwurf weit vom Haus auf dem Wunschberg gestanden hatte, wo alle Hellbergschen Frauen ihr Glück ersehnt oder gefeiert hatten oder beweint.
Sie nahmen den nächsten Weg, vorüber am Dorfanger. Lieder schwollen zu ihnen hin. Lieder, die so überrinnend voll von Süßigkeit und Trauer sind. Sie zogen auf dem Rausch der Lindenblüte. Uralte Gebetsarme reichte die Linde aus. Sie wurden gestützt wie die Arme Mose. Zweimal zwölf steinerne Säulen trugen sie auf den Häuptern. Denn die Linde war heilig. Sie wußte alles von der Liebe seit Hunderten von Jahren.
Amey begriff noch nicht. Aber als sie aus dem Walde heraustraten, stand sie still. Etwas in ihrem Herzen flatterte. Ihre Augen wurden wieder ganz groß. Aber jetzt war der Himmel goldumwirkt, den sie spiegelten. »Sie tanzen um die Linde?« staunte Amey. »Wie dürfen sie um die Linde tanzen in dem Jahre, wo es eine Hellbergsche Braut gibt?« Sie stand noch immer mit Thomas und begriff nicht und sah zu ihnen hinüber. Ihr Gesicht bekam einen kindlichen Ausdruck, weich und sorglos und wundergläubig.
Alle Zimmer in der Burg hatte Thomas nun gesehen, bis auf zwei: Das Zimmer im Westflügel und das – andre. Amey hatte es einmal »die schöne Abgeschiedenheit« genannt.
Amey ging mit Thomas durch den langen hallenden Gang. – »Diese Tür?« . . Amey zuckte leicht zusammen. »Oh« . . . Ihr Schritt wollte eilen. Im nächsten Augenblick hielt sie sich fest. Sie sah Thomas an. Ihre Augen waren dunkler als sonst. »Es ist Onkel Rhabans Schlafzimmer. Ich war nie mehr darin.« –
Ging Thomas nicht weiter? Warum blieb er doch stehen? Etwas in Amey staunte und wartete und wurde seltsam kühl. – Ja, vielleicht . . . Vielleicht war es gar nicht seine Absicht. – Sie wußte nicht. Aber sie hatte die Tür schon aufgeschlossen. – Gewiß. Einmal mußte es doch sein, und Thomas mit ihr. – Es war wohl am besten so. Thomas trat langsam nach Amey in das verdunkelte Zimmer. Aber auch als Amey die schweren Vorhänge aus taubengrauer Seide von den Fenstern zurückzog, sah er noch nicht. Er hörte ihrer Stimme nach. – Ja – diesmal – wenn der Tod . . .
Aber es war noch ein anderes. Die Nasenflügel von Thomas witterten leicht. Seine Brauen zogen sich zusammen.
»Er will mir helfen«, dachte Amey, die ihn nicht ansah. »Er will mir helfen, die Erinnerung zu ertragen.« – »Hier Thomas!« Ihre Stimme bebte. Sie stand neben dem Schreibtisch. Sie fühlte wieder die fremde Kühle dieses elfenbeinblassen Gesichts an ihrer Brust. Sie sah diesen Ausdruck des Erhöhtseins. – Sie sah das Briefblatt . . . Sie brach in Tränen aus.
»Amey!« – Thomas nahm sie in die Arme. Sein Mund war an ihrem Haar. Aber wie er diesen feinen, zarten Duft einsog, – wieder witterten seine Nasenflügel. In diesem Zimmer war ein anderer Geruch der Herr, zurückhaltend, vornehm, aber lebendig wie eine Gegenwart.
»Nein!« Thomas Vernow biß die Zähne aufeinander. Etwas in ihm war rot und wund. Er hatte zu viele Nächte mit einem Schatten gerungen.
Amey hielt den Kopf an seiner Brust. Sie weinte still. Sie war ganz untergetaucht im Strom der Vergangenheit. Thomas streichelte verloren ihr Haar. Seine Hände zitterten. Er ging wie in Sonnenbrand, verdurstet und verflucht. Er hätte hinbrechen mögen an den Knien Ameys. Aber während sein Blut nach Heiligung verlangte und einzumünden in den Hafen ihrer Wesenheit, wanderten seine Augen über die Dinge dieses Zimmers und nahmen seine Gedanken mit sich. Diese Elfenbeine, diese Bücher, die ägyptischen Polychromköpfe – dieses ästhetische und schmerzlich verfeinte Empfinden einer welkenden Epoche, die alle Reize dieses Welkens hier ausschöpfte . . . Thomas' Mundwinkel zogen sich herunter. Auch er, wohl, auch er war ein an den Rand Gedrängter, aber in anderer Weise. Hier in dieser Umgebung blieb er der Fremdling und der Barbar. Und während seine Gedanken noch an dem elfenbeinernen Christuskopf hafteten, mit diesem seltsam kühnen Ausdruck der Leidverklärung, wanderten seine Augen weiter.
Etwas in ihm wurde eiskalt. Träumte er? – Dort an der Wand, in gleich günstigem Sehfelde vom Schreibtisch wie vom Bett –diesem fußlosen Empirebett aus einem kostbaren roten Holz mit Verzierungen aus Bronze und der üppigen Seidendecke . . . Gott im Himmel – Amey! Dies war Amey! In einem Anzug wie der schöne müde Stuartprinz . . .
Amey schiffte immer noch auf fernen Strömen. Aber sie raffte sich zusammen. Sie wollte ganz wieder bei Thomas sein. Sie hob den Kopf. Sein Gesicht war abgewendet. Sie folgte der Richtung seines Blickes. Noch in Tränen errötete sie zart und lieblich.
»Man sagte, es sei sehr ähnlich!« Der Gedanke, daß Thomas an diesem Bilde und an seinem Ort einen Anstoß nehmen könnte, kam ihr nicht. – Thomas sah Amey an. »Nein!« knirschte wieder etwas in ihm. »Nein!« – War er Sakramentsschänder? Und zugleich sah er sich wieder gehen, zwischen Häusern und Menschen, in Fremden und Einöden, ausgesondert, allein. Geschieden von der Erlösung durch einen Zweifel, den zu hegen er sich verdammte. Ein Bild – er hatte es vor Jahren auf einer Ausstellung gesehen – stand vor seinen Augen, während Amey die toten Dinge dieses Raumes für ihn lebendig machte. Er konnte dieses Bildes nicht Herr werden. »Werde ich dazu kommen,« dachte er, »wie Iwan der Schreckliche? Werde ich die Träume meines Weibes belauschen müssen dereinst?« – – –
An diesem Abend fand Thomas unter den Briefschaften auf seinem Zimmer ein riesiges Kuvert von einem stumpfen, brandigen Rot und mit dem Geruch von Haremsfrauen. Die Adresse zeigte die spitze, eigensinnige Kinderschrift Lydias. Erst nachdem er Amey zu Gute Nacht geküßt hatte, öffnete Thomas den Umschlag. »Amey war die Geliebte ihres Onkels Rhaban«, stand in dem Brief. – – – – – – –
Der Morgen zögerte. Es war eine seltsame Nacht gewesen. Das Zimmer Ameys war voll von Lindenduft und vom Heu, das in Hocken stand und von roten Rosen. »Singen sie noch immer?« dachte Amey. Sie saß auf in ihrem Bett. Schwebten nicht immer die gleichen Melodien, weit, weit dahinten über den Chören der Frösche? Die Nacht war weiß wie Milch vom jungen Monde, und sie war lebendig von der Sonne, die nicht sterben kann in diesen lauen und süßen Nächten. Als die ersten Vogelstimmen sich regten, hielt es Amey nicht länger im Bett. Hatte nicht eben jemand zu ihr gesagt: »Onkel Rhabans Brief?« Sie stand auf und kleidete sich an. Wie ein Dieb schlich sie durch den langen, hallenden Gang. Als sie die kühn und leidenschaftlich geschwungene Stiege erreichte, die versteinte Gebärde einer kühnen und leidenschaftlich erregten Zeit, blieb sie plötzlich stehn. Sie warf die Arme auseinander wie lodernde Flügel. Sie mußte sich zurückhalten, daß sie diese berauschende Stiege nicht in Sprüngen nahm. »Ich werde mir einen Nachschlüssel zu meinem eignen Hause verschaffen müssen«, dachte Amey, als sie nachher vor der großen Pforte stand. Wie sollte sie heraus? Lagen nicht die Schlüssel jede Nacht zu Häupten des alten Joseph? Man hätte ihn im Schlaf ermorden müssen, um ihrer habhaft zu werden. Gottlob, Amey fiel die Terrasse ein, auf der die Harfe so manchen Abend sich in Schlaf gesungen. Die Terrassentür würde sie öffnen können. Als Amey draußen war, atmete sie auf, wie ein Deserteur, der den letzten Vorposten täuschte. Noch niemals war sie um diese Zeit im Park oder im Wald allein gewesen. –
Das Haus auf dem Wunschberg stand wie ein Traum. Wie aus Nebel gebaut.
Wie gelangte sie hinein in die tiefe Verwunschenheit? Im Jägerhäuschen war noch alles still. Dann dachte Amey an das kleine Treibhaus, wo die Cyklamen gezogen wurden. Vorausgesetzt, eine Blumentreppe war zur Hand, konnte man von der festen Mittelmauer aus das ovale Fenster der Galerie erklimmen. Es war fast niemals geschlossen. Nun wohl, die Blumentreppe war bereit. Geranien überflammten sie. Solchen Flammen gegenüber bedurfte es geringer Kühnheit. Und dann war Amey mit der Geschmeidigkeit eines Körpers, dem der silbergraue Pagenanzug noch immer paßte, durch das œil de bœuf hineingeglitten in die Galerie. Sie lachte leise. »Wie ein Einbrecher!« Als sie aufblickte und ihre Kleider glatt strich, zuckte sie zusammen. Die Frau im krokusblauen Mantel, beängstigend plastisch, stand in ihrem goldnen Rahmen wie im Geheimnis einer goldnen Tür. »Wie sie lächelt!« Amey wußte nicht, daß das gleiche Giocondalächeln ihren Mund mit Geheimnis und unsäglichem Reiz umspielte. »Ihr Wappen wurde zerschnitten«, sagte Amey plötzlich. Ihre Augen drückten sich ein wenig zusammen. Sie empfand wie immer vor diesem Bild Abwehr und Vertrautsein. Spukhaft und selbstverständlich zugleich. Ihr Blick wurde gespannt. Dann ging sie in das Zimmer, in welchem von allen Hellbergschen Frauen in irgendeinem Möbelstück ein Stück Seele zurückgeblieben war. Ekstasen von Wunsch und Erfüllungen waren noch immer lebendig in diesem Raum. Amey setzte sich vor den Schreibtisch. Sie öffnete das verborgene Geschiebe. »Du,« sagte Amey, »du!« Sie legte den Brief Onkel Rhabans auf ihre Handfläche. Auf dem blauen W ruhte er. Dann schmiegte sie ihn an ihre Wange. »Du!« sagte sie noch einmal. Unendliche Zärtlichkeit war in dem Wort. Sie lauschte. Ihre Augen wurden groß und strahlend. Täuschte sie sich nicht? Sie öffnete behutsam eines der Fenster. Nein, es war so: eine Nachtigall. Hatte sie im Frühling das letzte Ausmaß ihres Glücks nicht gefunden, daß sie so inbrünstig verlangte? Auf Strömen von Jasmingeruch zog ihre Stimme. »Jetzt muß ich es wagen«, dachte Amey. Sie hatte die Empfindung, als nähme sie das Tuch fort von einem verschwiegenen und zuckenden Herzen.
»Goldne Amey!«
Amey setzte sich mit dem Brief auf den niedrigen Empirestuhl. Sie stützte die Stirn in die Hand. Sie war ahnungslos, daß der Rhythmus dieser Linie Onkel Rhaban zuweilen bis zu Tränen entzückt hatte.
»Ich bin auf Reisen, goldne Amey, wenn Du dieses liest. Ich reiste fern genug, daß Du es lesen darfst, und dennoch bin ich so nahe bei Dir, daß Du Dich nicht ängstigen mußt in der Einsamkeit dieser Stunde.« Ja, sie empfand ihn, diesen Teuersten. Fern genug, und dennoch wie nah! – »Was für Freunde wir doch waren, Amey! Wir erbrachten das Beispiel, daß Freundschaft zwischen den Geschlechtern kein Undenkbares ist. Allerdings, der springende Punkt darf nicht außer acht gelassen werden! Resignation auf der einen Seite ist der springende Punkt. Amey, heut darfst Du ja alles hören. Wer ein Leben lang schwieg, darf sich den Luxus des Wortes wohl einmal gestatten, wenn aller Worte Sinn ihm offenbar wurde. Aber denke nur nicht, daß ich litt, Amey! Trauerten wir jemals, wenn wir zu zweit im Herbst die goldne Gasse zwischen den Lärchen des Wunschbergs hinaufstiegen? So ein Schreiten zu zweit, durch goldne Gassen, den letzten Wünschen zu, die bereits Verklärungen wurden: dies war mein Leben, Amey. Und vergiß doch ja nicht, wieviel Drolerien uns über den Weg liefen. Denkst Du noch an den Fuchs, der sich geirrt hatte und sauersüß und wie ein Pharisäer uns vorüberließ? Und der Dammhirsch, Amey, der Herold und Held! Weißt Du noch, wenn die Hirsche bellten, und wenn die Schatten der reisigen Hellberge über den Kreuzweg stürmten? Und wie Du außer Dir geraten konntest, wenn im Dohnenstieg eine Drossel verzuckte! – Aber immer war Gold und Verklärung um diesen Weg. Und Du und ich, kein Wort konnte uns trennen und kein Schweigen. Amey, Deine Mutter habe ich geliebt, das ist das erste Geheimnis. – Aber vielleicht liebte ich in ihr mehr eine Vollendung. ›Les avertis‹, erinnerst Du Dich, als wir ›les avertis‹ von Maeterlinck zusammen lasen? So war Deine Mutter. Das Jenseitige hatte sein Stigma auf ihre Stirn gedrückt. Vielleicht war ich, der letzte Hellberg, dem au-delà bereits selber zu eng verschwistert. Die große Passion meines Lebens konnte nur eine Frau werden, die zugleich auch ganz diesseitig war. Als junger Mensch träumte ich zuweilen, ich wäre ein Künstler. – Nun – wer träumte nicht einmal über die Wirklichkeit hinaus! – Aber später habe ich gewußt: Du – die ich bildete, Du warst das Kunstwerk meines Lebens. Aber, ganz abgesehen davon, daß der Bruder Deines Vaters niemals um Deine Hand geworben hätte – es ist oft so, daß bei einem erschöpften Geschlecht in den letzten Frauen das Blut noch einmal aufblüht. Denn die Frau steht der Erde näher und den letzten Mysterien. Und Blut und Erde und Wachsen und Leben und Tat ist das gleiche. So kann Blut nur durch Blut erlöst werden zum Aufstrom und zur Vollendung hin. Ich aber, Amey, der große Ermüdete, war ohne Erlöserkraft. Vielleicht lag darin die Tapferkeit des letzten Hellberg: daß er schweigend seine Liebe ein Leben lang auf Händen trug. Nun, Amey, und wenn es einmal so weit ist, daran sollst Du denken: Ein verdorrter Brunnen tränkt keinen Durstenden, und die Gärten der Seele werden veröden ohne den brausenden Strom. Goldne Amey, die alte Welt ist morsch, aber die Ströme des Lebens rinnen fort und fort. Und weil ein Weg an sein Ende gelangte, so sind deswegen die Pforten zu neuen Wegen zum Ziel hin nicht verschlossen. Amey, die Art Wege, wie die Menschen zur Zeit sie gehen wollen, kann ich nicht mitgehn. Aber wenn sie auch vielleicht noch in die Irre führen: daß die Menschheit so schmerzhaft dem Ziel nachsucht, ist Beweis. Es werden noch viele Schlösser und Kathedralen zertrümmert werden, ehe die neue Burg und der neue Tempel ragen. Es wird noch dauern, bis die Führer kommen, die den Weg wissen und die Kraft haben, die Scharen zu sammeln zu diesem Wege hin. Und vielleicht wird der Himmel mit einem Ungeheuren, das aussieht wie ein Fluch, der Menschheit, die in die Irre geht, zu Hilfe kommen müssen. Vielleicht – wir wagen so kühne Träume kaum – vielleicht wird aus tausend Qualen einmal der neue Mensch geboren. Unbefleckt, frei und ganz müßte er emportauchen aus dem strengen, süßen morgen, mit der Unschuld der Kinder Gottes. –
Aber bis dahin, Amey! Und Deine Liebe! Sieh – wir brauchen zuvor die Schöpfer des neuen Menschen. Die neue Elite brauchen wir. Der Mann, dem Du Dich schenkst – er darf kein Verneiner sein und kein Entsager, sondern ein Jasager. Er darf kein Zerstörer sein, sondern ein Erbauer. Ein Rufer muß er sein, ein Sieger und ein Herr. Aus Weisheit und Güte muß ihm lachender Wille wachsen. So tief verankert im Diesseitigen muß er sein, daß jeder Sturm seine Krone nur höher ins Jenseitige reckt. Blut und Wesen und Himmel und Erde müssen bei ihm das untrennbare Eine sein. Nur dieser Mann kann Dich erlösen, goldne Amey, zur Vollendung Deiner selbst hin. Diesem Mann allein wollte ich mein Kleinod in die Hände geben und frohlocken. Und Amey – Euer Kind, vielleicht wird Euer Kind der neuen Menschheit Anbeginn.« –
Das Briefblatt mit der feinen, schwingenden Künstlerschrift, die am Ende der Zeilen in die Höhe lief wie bei allen Idealisten, knisterte, wie ein Lebendiges. Amey schlang die Hände um ihre Knie. Ihre Augen sahen Fernen und Weiten. Ihre feinen Nüstern blähten sich, als witterten sie Meerwind. »Die neue Elite«, sagte etwas in ihr. »Leben!« sagte etwas. »Werden! Tat!« Ein kühnes Gesicht stand vor ihr, braun, wie das Fell edler Tiere, zwei Augen, die als Beute fremder Fahrten und Wege ein tiefes Wissen mitgebracht hatten und eine große Kraft, und die geadelt waren von einer letzten und feinsten Güte. »Blutzauber«, sagte eine ferne Stimme. »Blutzauber und Blutopfer. Waren sie nicht heilig von Urbeginn? Das Erdhafte war das Mittel, aber die Seele war das Ziel. Das Menschliche und der Trieb war die Wurzel, aber die Vergöttlichung war der kühnste Wipfelsproß. »Du!« sagte Amey wieder. Sie hob das Briefblatt zu ihren Lippen. Sie küßte diesen geliebten Namenszug. »Du kanntest mich wohl! Hab Dank«, flüsterte sie. Sie verbarg den Brief in dem Kleid über ihrer Brust. Dann ging sie in einer seltsam gebundenen Weise, und als folge sie einem fremden Ruf, zu dem Bild der Yolanthe.
»Du hast unser Geschlecht verlassen«, sagte sie träumerisch. »Dein Geheimnis war süß. Aber mein Geheimnis?« . . . Ihr Blick fragte. Noch einmal fing die Nachtigall an. »Ja«, sagte Amey leise. Sie faltete die Hände über ihrem Herzen. »Hier ist der Ausgang! Für die Frau ist dies zu allem der Anbeginn.« – Sie träumte hoch, und der erste Strahl der Morgensonne traf ihr aufgehobenes Gesicht.
Aber wie sie hingegeben stand und alle Vergangenheiten dieses Hauses mit ihrer Zukunft ineinander verströmten, fielen ihr jäh die Arme herunter. Der blaue Stahlschild des Mondes stand vor ihren Augen, der neben der Libanonzeder gehangen hatte an jenem Abend. »Thomas!« stammelte Amey. Sie tastete nach der Wand, wie nach einer Stütze suchend, gegenüber der Frau im krokusblauen Mantel mit dem Giocondalächeln. Sie schloß die Augen. Wie sie den Kopf senkte, knisterte der Brief in den Falten über ihrer Brust. »Du wolltest das Schönste für mich«, flüsterte Amey. »Du träumtest allzu kühn. Aber hab Dank, daß du so kühn träumtest!« – Amey machte eine Bewegung, als nähme sie Abschied. In weite Ferne hin, wo die Sonne aufging, schickte sie diesen Gruß.
Nachher ging sie in das Zimmer zurück. Draußen auf dem Kies knirschten Schritte. »Thomas.« Etwas in Amey wurde still und warm und abgründig voll von Barmherzigkeit. Sie trat an das Fenster und wartete. Der Weiser der alten Sonnenuhr, die mitten in blühendem Rund stand, geschützt vor Wettern und Zeiten, daß dieser lichte Frieden die Ewigkeit genannt wurde, zielte wie ein Pfeil Amey aufs Herz. Amey zuckte zusammen. – Nun hatte Thomas den Jäger gefunden. Sie redeten erregt und kamen zum Hause. »Wie zu meinem eignen Gespenst starrt er zu mir herauf.« Amey mußte fast lachen, als sie den Jäger ansah. –
Aber was war mit Thomas geschehn? »Thomas!« – Sie rief ihn wie aus einem bösen Traum. Er kam ohne Gruß und Wort. Er legte das Briefblatt Lydias vor sie hin. Amey las. Sie begriff nicht. Plötzlich duckte sich ihre Gestalt zur Seite, als wiche sie einer Hand aus, die Schmutz gegen sie aufhob. – Aber im nächsten Augenblick schon war sie aufgeschnellt. Sie warf ihre schmalen Schultern zurück. Sie schlang ihre Arme vor der Brust ineinander. Sie setzte den Fuß auf das Briefblatt, das brutal wie ein Blutfleck auf dem weißen, gescheuerten Holz des Fußbodens lag.
»Nun?« Amey sah Thomas an.
»Was sagst du darauf?« Die Adern an Thomas Vernows Händen traten heraus. Seine Stimme war heiser.
Kühler Hochmut stellte eine gläserne Helligkeit um Amey. »Du glaubst es, oder du glaubst es nicht. Eine Hellberg wird nicht Beweise für ihre Unschuld erbringen.« – »Eine Hellberg!« Die Stimme von Thomas Vernow höhnte. Aber sie meinte Verzweiflung. »Eine Hellberg steht über dem Gesetz.« – »Ja,« sagte Amey, »für den, der sie liebt. – So wie die Liebe über dem Gesetz des alten Bundes stand.«
Amey schwieg. Sie wußte, ein Wort konnte diesen ganzen greulichen Spuk zerstreuen. Aber keine Tortur hätte es ihr entreißen können. »Die Art von Frauen, denen ich zugehöre, braucht Wundergläubige«, dachte Amey. »Wir wollen euch folgen aufs hohe Meer und bis in die letzte Vernichtung. Aber wenn ihr nicht glaubt, daß die weiße Taube als Wimpel eure Masten umflattert . . . Glaube nur!« dachte sie. »Welch ewige Weisheit!«
Der Ausdruck ihres Mundes wurde betörend. Sie vergaß. Jahrtausende um sie her versanken. Sie war die erste Frau der Erde und die letzte. Sie tauchte hinab in die Urgründe ihres Geschlechts, wo die Liebe und die Reinheit und das Blut das gleiche sind.
»Unter all diesen bist du aufgewachsen«, sagte Thomas Vernow. Er deutete hinaus auf die nebelhaften Götter, die ihre Nacktheit seit Jahrhunderten dem Regen und der Sonne dargeboten hatten. »Hier bist du aufgewachsen, zwischen all diesen Frivolen. Der Geist des Rokoko ist in dir. Wie diese übersteigerte Epoche bist du. Die Grazie, die hohl ist und die Verführung saßen an deiner Wiege!« Aber Amey schwieg noch immer. Der Ausdruck um ihren Mund wurde betörender und rätselhafter. Und dann – Thomas wußte nicht, was er tat – er sah Blut. Irgendein Urahn in ihm, der sich mit der Keule und mit den Zähnen auf seinen Nebenbuhler gestürzt hatte, fieberte auf. Er ballte die gesunde Hand zur Faust. Er hob die geballte Faust . . . Aber ehe das Unsühnbare geschehen konnte, hatte Amey sich zusammengerissen. Als stürze sie sich in das Wasser oder in das Feuer, um ein Kostbarstes zu retten, warf sie sich gegen Thomas. Sie riß seine erhobene Hand herunter. »Thomas, oh Thomas, wie wolltest du das jemals verwinden?« rief Amey. Ihre Stimme brach in Mitleid. Sie preßte seine Hand an ihr Herz.
Thomas Vernow wurde fahl. Er stetigte mit Mühe seine Knie, die ihm den Dienst versagten. »Du weißt, was ich tun wollte?« Seine Stimme war ganz ohne Metall. Sie kam wie aus weiten und trostlosen Gegenden. »Ich weiß«, flüsterte Amey. »Ich glaube, ich weiß. Vergib mir, Thomas!«
Thomas Vernow trat einen Schritt zurück. Was ging vor? Hatte er den Verstand verloren? »Dir?« fragte er.
»Thomas,« sagte Amey, »sieh, ich bin schuld.« Seine Hand, die er ihr fortgenommen hatte, hastig mit scheuen Augen, wie man etwas Widerwärtiges entfernt, ergriff sie wieder. »Ich habe immer nur verlangt, geliebt zu werden,« sagte Amey mit zitternder Stimme, »und nun weiß ich es: zu nichts als Liebe zu schenken sind wir Frauen in der Welt. Du hast recht, Thomas. Nicht, wie du es einen Augenblick glauben konntest« – die rote See überflutete langsam vom Nacken her, »aber doch bin ich schuldig, in einem viel tieferen Sinne.« Sie schloß die Augen, sekundenlang. Ihr Kopf krümmte sich rückwärts, ihre Lippen sprangen vonsammen ohne Laut. Wie wenn ein Schmerz über die Erlösung der Worte weit hinausgegangen ist. Sie sah ein Gesicht. Sie sah eine Kette von Gesichtern: den Puppenfranz, wie er auf seinem ärmlichen Bett nach ihr fieberte, Onkel Rhaban, der um sie ein Lebenlang allein blieb, Guntram Walmoden, der in ein Buddhistenkloster eintrat. – Alle die andern sah sie, die vielen, in deren Leben sie stand wie ein Merkstein. Aber Thomas Vernow wußte nicht, was sie erblickte. Er sah nur Amey. Er wußte, er hatte sie verloren.
Und dann tat Thomas Vernow dieses: Er kniete auf die Erde. Nicht dicht vor Amey. Dieser Raum, den er zwischen sie und ihn legte, konnte nie wieder überschritten werden. Er beugte seinen Oberkörper mit nach rückwärts gespreizten Armen, als dürften auch diese Arme Amey nicht berühren. »Sendschu Kwanon!« murmelte er. Und so in der Stellung der Büßer vor dem Tabernakel, immer noch mit diesen nach rückwärts gespreizten Armen, küßte er Ameys Füße.
Sie sah ihm zu, ohne Bewegung. Etwas war machtlos in ihr. Thomas Vernow stand langsam auf. Seine Augen waren zurückgesunken in ihre Höhlen. Sie standen wie zwei Becher voll Gram. »Es ist zu Ende, Amey«, sagte er still. –
Und dann war es wie vorhin: Schritte knirschten draußen auf dem Kies. »Thomas,« dachte Amey, »Thomas!« Wieder fiel ihr Blick auf die Sonnenuhr, die in der Ewigkeit stand. Der Weiser zuckte nicht länger Amey aufs Herz. Aber sein Schatten war kaum eine Spannenbreite vorwärts gerückt. In dieser schmalen Spanne Zeit war zwischen Amey und Thomas Vernow alles entschieden worden. – – –
Die nächsten Tage waren eigentümlich. Sie waren licht und waren unendlich beschwert. Amey ging, als müsse sie ein Gewicht einen Berg hinauftragen. Aber jemand schien zu verheißen: Wenn sie oben angelangt war, würde gerade die Schwere der Last und die Not des Weges die Brücke zu dem Unerhörten bedeutet haben.
»Thomas,« dachte Amey, »Armer, Ärmster. Ich habe gewollt, oh, wie sehr ich gewollt habe.« Die Tränen stürzten ihr aus den Augen. »Werde ich nicht wissen, wohin dein Weg dich führte?« Ihr Blut war still, aber etwas in ihr war wund und konnte sich nicht zur Ruhe geben. Daß sie Thomas Vernow nicht trösten sollte, als Schwester, darüber kam sie nicht hinweg.
Sie war ruhelos und doch mochte sie nicht wandern in diesen Tagen. Es ging ihr nicht schnell genug. Aber Fallada, der schlanke Grauschimmel, den Amey früher geritten war, überkam die Not der Eifersucht. Nach Grane, dem Goldfuchs, der mit gesenktem Kopf Onkel Rhabans Sarg hinterdrein geführt wurde – nach Grane verlangte Amey. Grane war nervös wie sein einstiger Herr, und er hatte das Temperament seiner neuen Herrin. Amey aber pflegte den Reitknecht, der ihr in einiger Entfernung folgte, nach kurzer Zeit unter einem nichtigen Vorwand zurückzuschicken. Wenn sie dann allein war, so gab sie dem Fuchs, der auf die leiseste Schenkelhilfe reagierte, die Sporen. Dann ritt sie, wie jemand reitet, dem es gleichgültig ist, wie er sein Ziel erreicht. Aber Amey dachte nicht daran, daß sie ihr Leben gefährdete. In ihr war ein Zwang, über den sie sich nicht Rechenschaft gab. Ein Aufgestörtes brauchte das Wagnis und die halsbrecherische Tollheit, damit es sich selber nicht hörte und vergaß.
Aber es wollte sich nicht geben, trotzdem. Da ließ Amey eines Morgens das freudig wiehernde und mutig bereite Pferd wieder in den Stall führen. Sie flog die Treppe hinauf, als käme sie zu spät für unwiederbringliche Dinge. Sie schleuderte die Peitsche in die Ecke. Den kleinen steifen Hut noch auf dem Kopf, setzte sie sich an Onkel Rhabans Schreibtisch, und als gelte es, Todesurteile zu verhindern, schrieb sie drei Briefe. Der erste war an die Bronklava, sie möchte aufpacken, so bald sie könne, samt ihren jungen Künstlern, so viel sie von denen zusammenbrächte. Der zweite bat Fräulein Winkler, daß sie ihr die Käthchen bringen möchte und sich selber dabei ein wenig erholen. Der dritte Brief ging an Elisabeth Ewald. Denn nun waren ja doch die Sommerferien in Aussicht, und die armen müden Lungen durften endlich einmal aufhören mit »eins und, zwei und«. Ja, jetzt durfte die kleine Klavierlehrerin noch etliche andere Vögel singen hören als die einzige ferne Amsel im Ahornbaum.
Als diese drei Briefe geschrieben waren: »Nelli«, dachte Amey. Irgend etwas in ihr, ein feinster Punkt, fing an und schmerzte wie von einem Dolchstich. Aber zugleich wurde ein andres ganz warm und weit und voll tiefer Zärtlichkeit. »Nelli muß herauskommen!« dachte Amey. »Ich muß ihre arme Brust gesund pflegen hier draußen.« Da schrieb Amey mit fliegender Feder. Alle diese Briefe wurden mit einem reitenden Boten in die Stadt geschickt. Sie waren mit doppelten Marken beklebt und mit Eilig bezeichnet. Aber auch in dieser Nacht war Ameys Schlaf so kurz und so schreckhaft, daß ein tropfendes Rosenblatt sie aufstörte. – – –
»Dieser Brief hier,« sagte am andern Morgen Ariane, wie sie Amey den Tee zum Frühstück einschenkte, »dieser Brief, Amey, ist abgegeben worden. Jemand wartet auf Antwort.«
»Was kann es sein?« – dachte Amey. Ein Zittern überfiel sie. Dann nahm sie das kleine silberne Messer mit dem Elchkopf. Als sie den Umschlag in einer langsamen und feierlichen Art aufgeschnitten hatte, riß sie den Brief heraus. »Warte, Ariane!« Sie sprang auf und lief von ihr fort, ein paar Schritte die Terrasse hinunter. »Ein Freund von Thomas Vernow bittet mit Ihnen sprechen zu dürfen«, stand auf dem Briefblatt. Unterzeichnet war: »Don Lund.« – – –
Nachher standen sie sich gegenüber im Gartensaal. Eine Erinnerung kam Amey: Jener letzte Abend Onkel Rhabans, als sie hier gespeist hatten. Damals war Don Lunds Name zum erstenmal hier genannt worden.
»Thomas Vernow grüßt Sie«, Don Lund sah Amey an.
»Er ist tot«, sagte Amey. Sie deckte sekundenlang ihre Hand über die Augen. Sie fuhr wieder herauf aus einem Morgentraum mit einem Schrei. Irgendein dumpfer Ton war in ihrem Ohr.
Fern am See schrie eine Rohrdommel. Plötzlich wimmerte Amey. »Durch die Schläfen?« –
»Nein, durch das Herz.« – – –
Kein fremder Laut hatte die Lust oder die Qual der Hellbergs jemals unterbrechen dürfen. Alles war still um Amey. Nur die Rohrdommel schrie.
»Er litt?«
»Nicht lange«, sagte Don Lund. »Nur, daß ihm Zeit bliebe für ein Wort: Senschu Kwa-non! – Thomas Vernow sagte, so sollte ich Sie grüßen.«
Amey faltete die Hände um ihre Knie. Ihr Gesicht war aufgerichtet. Sie sah hinaus in die Sonne, in das Blühen und Wachsen und Werden. »Leben!« sagte irgend etwas in ihr. – »Tod! Der Gipfelpunkt und der Abgrund.« Aber welches war Gipfel und welches war Abgrund?
Amey sprang auf. Sie tat ein paar Schritte auf die blühende Terrasse. »Liebe!« sagte etwas in ihr. Sie wußte nicht, daß sie ihre Arme in die Höhe hob. Vielleicht hatte der erste Bildner der Senschu Kwa-non eine Frau erblickt, in deren Brust Leben und Tod sich umstritten, und deren aufgehobene Gebetsarme wie lodernde Flammen sich vertausendfältigten. –
Amey wendete sich plötzlich zurück. Sie ließ langsam die Arme sinken. Sie sah Don Lund an. Vom Nacken her überfloß ihr Gesicht eine feine rote Welle. Hatte sie ihn ganz vergessen? Oder war er ihr so unsäglich vertraut?
Ein Abglanz jenes Giocondalächelns fing an, ihre Lippen zu umspielen. Aber gleich danach tat Don Lund einen Schritt zu ihr hin, und als ob Onkel Rhaban es wäre, so führte er sie zu einem niedrigen Stuhl. Er ließ sie sanft niedergleiten und legte seine Hand auf ihre Stirn. So stand er bei ihr und hielt ihren Blick fest mit seinen Augen.
»Ich bleibe im Dorf für ein paar Tage«, sagte Don Lund. »Ich bin immer für Sie zu erreichen.« Aber dies alles geschah an Amey wie auf einem fernen und flimmernden Stern.
»Thomas!« Wie ein Kind vor dem Einschlafen, lallte sie einen entgleitenden Namen. Sie schlief in der Sonne. Tief und traumlos. Als sie erwachte, weinte sie lange und hingegeben. – – –