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Nachher hatten wir nur noch zwei Tage. Zwei kleine Tage. Es wurde nun wohl Zeit. daß ich etwas über Eberhard erfuhr.
Lil erzählte mir, wie sie ihn kennen gelernt hatte, als junges, kaum siebzehnjähriges Kind. Die Tradition ihrer väterlichen Familie verlangte einen Gelehrten für sie zur Heirat. Jemand anders kam kaum in Betracht. Eberhard kam viel in die Familie als Freund der Brüder. Er war Archäologe. Und in diesem kulturgesättigten Elternhause Lils bedeutete er keine andere und neue Seiten der gegenüber man hätte Stellung nehmen müssen, sondern er fügte sich ein wie etwas Dazugehöriges, und als er um Lil anhielt, erschien es das Gemäße.
»Ich hatte damals freilich immer gedacht, irgend etwas ganz Besonderes müßte sich ereignen«, sagte Lil. »Das Wunder müßte zu mir kommen. Ich grübelte oft, warum die Zeiten vorüber waren, in denen es unter die Menschen trat. Früher, schien mir, war das Leben so unendlich viel farbiger und kostbarer. Aber wenn ich zu Mama so ein Wort äußerte, erschrak sie. Sie ängstigte sich vor allem, was jenseits einer bestimmten Linie lag. Jetzt weiß ich warum!« Lil seufzte. »Arme Mama!«
»Ja, das glaube ich jetzt«, sagte sie nach einer Weile. »Weil Mama meine frühe Heirat mit Eberhard eine solche Beruhigung zu bereiten schien, darum in der Hauptsache wohl ließ ich mich dazu bestimmen. Es war immer etwas in mir wie eine kleine heimliche Revolution. Irgendein geheimnisvoller Tropfen Blut, der eine Empörung verbarg. Ich hätte es nie erklären können. Und dieses Unerklärliche, das manchmal heraussprang in einem Wort, einem Urteil, einer Gebärde, die mich in irgendeiner Weise erlöste, für länger oder auch nur für den Augenblick, gerade das entsetzte die arme Mama immer so sehr. So ging ich natürlich von Mal zu Mal vorsichtiger damit um.«
»War es der Tropfen Blut, Lil, dessen Urahn hier in den ewigen Wäldern zu Hause war? Ein Tropfen Schwertritterblut? Wikingblut? Wage und Wunschblut?«
»Ich glaube wohl, Ask«, sagte Lil. »Und ich glaube, Mama wußte das auch. Sie dachte an ihre Jugend und Benjamin Rottmann. Sie ängstigte sich so sehr, daß ich dieselben Qualen durchkosten sollte, wie sie einmal. Ja, so war es gewiß. Nur daß Schicksale nicht aufzuhalten sind. Und daß kein Erfahren eines liebenden und angstvollen Mutterherzens dem Kinde den Opfergang abzunehmen vermag. Nur daß zuletzt Blut sich nicht zwingen läßt.«
Nun, ich sah Eberhard an diesem Abend so deutlich in seiner ganzen formgefesselten Art, auswendig und inwendig. Der schmale, schlanke, elegante Kavalier. Der Liebling der Damen. Der Gelehrte von Ruf, der mit unendlichem Fleiß zusammengetragen hatte Wissen über Wissen, ganze Berge voll Kultur aufgehäuft und als liebender und ordnender Verwalter sie rubriziert hatte. Ich sah ihn so deutlich in seiner heiteren beherrschten Güte, in seinem Glück, zu sammeln und zu bewahren. Das Unbequeme und Ungemäße mit demselben Pflichtgefühl wenigstens, derselben sachlichen Gerechtigkeit betreuen, auch wenn Verständnis und Liebe andere Wege gingen. Ich sah ihn bemüht, aus seinem persönlichen Leben wie aus seiner Ehe alles Befremdende, Problematische auszuschalten. Aufkommenden Konflikten nicht begegnend, um sie zu lösen, sondern mit freundlich unbeteiligten Worten über sie hinweggehend, als seien sie nicht. Nicht dogmatisch umschränkt, aber überhaupt nicht religiös gerichtet, und dennoch von einem Gefühl in seinem Leben bestimmt, dessen Strahl in eine überweltliche Heimat hinüberleuchtete: von dem Gefühl einer bedingungslosen Treue.
So erklärte sich mir auch das seltsame Widerspiel einer Persönlichkeit, die auf breiter sozialer Grundlage viele feine Züge menschlicher Güte offenbarte und dennoch im letzten Grunde unbeteiligt blieb. Im letzten Grunde weder Gesinnungsgenossen noch Freund, kaum seine Familie liebend, sondern allein seine Frau.
Ein Mann, der noch nie einen Gewissenskonflikt erlebt hatte, niemals in einem Exzeß sich verloren, in einer Verzweiflung oder einer Passion. Ein Mensch, gleich fremd der Ekstase des Guten wie des Bösen, gleich fremd dem Dionysos, der Madonna oder Lilith.
So erkannte ich Eberhard an diesem Abend, den Mann von Lil, aus allem, was sie mir von ihm erzählte. Es war bezeichnend für ihn, daß er aus einer Familie stammte, die seit Generationen nur Juristen und Altphilologen gekannt hatte. Und daß seine Archäologie bereits als Abwendung von der Linie aufgefaßt wurde. Aber da er sich schließlich nur mit der Klassik befaßte, mochte es ihm hingehen.
Kinder entstammten dieser Ehe nicht. Seit zwölf Jahren lebte Lil an seiner Seite als sein Arbeitsgenosse und Freund. Ihr Leben war reich und ausgefüllt, umgeben von seiner ständigen Zartheit und Güte. Und es wäre vollendet gewesen, wenn sie selber nicht, ohne es zu ahnen, in jenen Grenzgebieten der Seele zu Hause gewesen wäre, von denen Eberhard nur aus gewissen Kunstepochen begriff, daß sie irgendwo vorhanden waren, und an denen man, wie er meinte, am besten vorüberging, als an etwas Unnormalem, das am sichersten mit einem mitleidig freundlichen Lächeln nicht beachtet wurde.
Dies war Eberhard. Lil weinte an diesem Abend in meinen Armen. Sie weinte schwer und bitterlich und als ob sie nie aufhören könnte. Weil sie diesen gütigen, getreuen Mann nun bald für immer verlassen mußte.
* * *
Zuletzt kam unsere letzte Nacht auf der Wiese. Sie blühte noch leuchtender als die Nächte vorher. Sie war wie ein einziges Meer voll Rosen.
Lil hatte sich nicht auf ihr Mooslager gestreckt. Sie saß auf meinen Knien. Wie sie sich an mich festklammerte, war es, als solle ich sie behüten vor sich selber.
Ich hütete uns beide, allerdings, allerdings. Brüderlein und Schwesterlein?? Oh Lil –. Aber ich wußte, du würdest es nie überwunden haben, wenn deine Erinnerungen nicht schuldlos blieben. Und durften wir Raub am »Letzten« begehen, wenn das Letzte sich uns schenken würde, frei aus Gnade?
Bald. Lil! Bald, mein Liebling! Bald dürfen unsere heißen, dunklen Ströme in ihre Meere münden. Bald wird alles Aufgeteilte sich breiten wie ein Baum voll Segen und Frucht.
Die ganze Nacht hielt ich Lil auf meinen Knien. Zuerst redeten wir noch. Dann kannten unsere Lippen nur noch die süßere und tiefere Sprache. Und nachdem wir alles letzte Wissen um uns selber jeder dem anderen eingebrannt hatten mit flammenden Siegeln, viel tausendmal, dann schlief Lil ein, in meinen Armen, und Gott allein wußte um den Streit, den ich auskämpfte – dieses hingegebne, geliebte Leben auf meinem Schoß. – Aber ich hielt sie ganz still und sanft, bis das strahlend weißblaue Licht des Sirius das ermattende himmlische Rosenrot ganz durchflimmerte.
»Lil,« sagte ich, wie sie die Augen öffnete, und zeigte ihr den Stern, denn eine Erkenntnis jäh und wundervoll hatte mich getroffen, »o Lil, ist auch dort oben die letzte Deutung, nach der wir am Moorteich vergeblich suchten? Sieh, den Sirius, er hat es möglich gemacht, die rosige Helle dennoch zu überstrahlen! Weil er so jung ist, Lil! Die meisten andern, die wir so lieben, könnten wir ohne die geschwärzte Glasplatte kaum erkennen. Die Nacht ist zu hell für sie. Ihre Mäßigung überflammt sie nicht mehr.
Aber der Sirius, Lil, er bedeutet die strahlende Jugend an unserm nördlichen Himmelsgewölbe. Eben erst, ich meine nur vor ein paar Jahrmillionen, hat sich aus Gaswolken ein rundlicher Ball entwickelt, und dieser Gasball zog sich zusammen, und seine gesteigerte Wärme ließ ihn eines Tages als Sonne aufgehen, als strahlenden Stern.
Willst du mir noch zuhören, Lil? Ich wußte es früher selber nicht sehr deutlich. In den Großstädten! Wer schaut über fünf Stockwerke hinweg! Wir kennen so viel besser die Lichtreklamen von Zigarren und anderen Firmen, oder den wilden Glanz der Bogenlampen über dem glitschigen Asphalt. Aber ich habe fleißig in Benjamin Rottmanns Büchern gelesen. Ich übte mit seinem Sextanten, dem kleinen Fernrohr und der Sternkarte, als wir noch wirkliche Nächte hatten.
Soll ich das Fernrohr herausbringen, Lil? Der Himmel, er liest sich wie der Roman unserer Liebe.«
Dann holte ich das Fernrohr und das geschwärzte Glas. Lil war in dem Götterhimmel Homers noch immer so viel besser zu Hause als an dem Firmament über uns.
Diese kindjunge Sonne, dieser funkelnde Sirius ließ uns nicht los. »Er ist noch ganz Weißglut. Eine einzige scharfe Gasflamme gewissermaßen. Erst wie sie sich abzukühlen beginnt, dunkelt sie herab in Gelb, Orange, und immer düsterer, wie der Algol z. B. Du siehst ihn nicht, Lil, so dunstig glimmt er bereits, wie ein ermattendes und verlöschendes Feuer.«
»Und nun wird der Algol eine neue Erde werden?«
»Ja, Lil. Sehr bald. In einigen oder vielleicht auch in mehreren Jahrmillionen. Es wird ihm ergehen, wie es unserm Erdstern erging, damals. Wenn seine Temperatur auf einen bestimmten Grad gesunken ist, wird sich eine Dunsthülle um ihn bilden. Er kreist dann nicht mehr so arm und nackt und bloß, sondern umgeben von seiner eigenen Atmosphäre. Und nun wird er erst geheimnisvoll.«
»Ach ja,« sagte Lil, »es ist immer das gleiche: die Atmosphäre um Dinge und Menschen. Darauf kommt es an. Aber dann ahnt er wohl zunächst nicht viel von dem, was los ist um ihn her?«
»Allerdings nicht, Lil. Nein. Gewissermaßen über seine eigene Nase kann er noch nicht hinaussehen, vermöge der Dichtigkeit seiner Dunsthülle. Aber gib ihm nur Zeit, nur wieder ein paar Jahrmillionen! Es kommt alles in Ordnung. Sobald der erste große Liebesakt vollzogen, da seine getrennten Wasser- und Sauerstoffe sich zusammengegeben und das Wasser bildeten. Sieh, jetzt beginnen die Epochen der Regengüsse. Lil, jahrtausendelang muß es jetzt regnen!«
»Oh«, sagte Lil. »Oh weh!« Ihre Augen sahen aus, als hörten sie die unermeßlichen Wasserfluten herniederdonnern und von der noch immer glühenden Erdkruste zischend zurückfahren, verdampfen, sich wieder zusammenraffend, trotzend, aufs neue herniederstürzend, sich einfressend tief in den großen glühenden Erdbauch, daß er zuckend unter Qualen seine Eingeweide als Gebirge herausstößt, und es dulden muß, wenn zwischen seinem brennenden und bebenden Fleisch die Wasser sich breit machen, die feindlich verruchten, und die Urmeere bilden.
»Ja«, sagte Lil eilig, und als müsse sie gleich rennen und mithelfen: »Und nun kommt der Kleinkampf, nicht wahr? – Das Waschen und Nagen am erkaltenden Gestein, das Abschwemmen hier und Aufhäufen dort, und die geschichteten Gebirge entstehen, die Grauwacken, oder wie sie heißen, und die arme junge Erdhaut reißt immer wieder an tausend Stellen, und die feurige Seele bricht heraus in Lavaströmen. Die Porphyre schießen herauf. Die Basaltkegel türmen, und die Luft wird durchsichtiger. Die Wasser sammeln sich an bestimmten Orten!«
»Oh Ask,« unterbrach sie sich staunend im Glück, »wie wörtlich die Schöpfungsgeschichte! Wie wörtlich die sieben Tage!«
Lils Augen wurden geheimnisvoll. Ihr Achatgrün wurde völlig golden. »Unsere sieben Tage!« murmelte sie. »Aber – das Leben!« rief sie plötzlich. »Ask, Jetzt kommt eine Lücke. Jetzt weißt du auch nicht weiter. Dies war alles schicksalhaft, scheint mir, ich kann es nicht ausdrücken, elementar. Gase, Dünste, Krustenbildungen, aber nun Leben – Leben?
Die Reife ist da, Pflanzen könnten entstehen, Tieren der Mensch, Wasser ist da, Erde, aber wo ist die Brücke zwischen Anorganischem und Organischem?«
»Lil, das ist es ja eben, das ist die Erkenntnis, die mir kam, als du erwachtest, als mein Blick den Sirius traf. Diese Erkenntnis erstarrte mich fast in Glück. Sieh, all dieses hat Menschengeist erforscht. Er kam selbst so weit, zu wissen, daß Leben auf einem erloschenen Erdstern dann entsteht, wenn eine andere noch glühende Sonne ihm nah genug ist. Wenn Wärme und Licht ihn bestrahlt, wenn – Liebe – ihn bestrahlt, Lil. Aber das Wunder des allerersten Lebens, das Geheimnis der Befruchtung, das Geheimnis des Keimlings in der winzigen Zelle – löst es sich dadurch? Begreift es sich? Ist die Antwort auf das große Woher, Wohin und Warum damit gefunden? Ach, Lil, das durchzuckte mich vorhin wie ein Glück, das fast schmerzte. Es wird ewig heißen müssen: und Gott sprach . . . Es ist kein Bindeglied vorhanden. Ewig wird der Abgrund klaffen zwischen den zwei großen Provinzen der Natur. Nie wird der Mensch lernen, Leben aus Leblosem zu erzeugen, wie die Sehnsucht der Jahrtausende sich darum zerrungen hat. Ewig würde die Fremde und Starre bestehen ohne das: und Gott sprach . . . Aber nun hat Gott gesprochen: sein ›Werde‹ gesprochen. Und aus geheimnisvollen Urgründen quillt eine Kraft. Die Materie belebt sich. Die Erde kann blühen und reifen.«
Wir schwiegen beide mit glänzenden Augen.
»Lil, und der Mensch? Sieh, der kreatürliche Mensch, ist sein Leben viel besser als Tod? Wie er in dunkeler Gebundenheit hinlebt, in Eigensüchten befangen, in der Erde verankert, im Fleisch verankert, und ohne jenseitiges Ziel? Er trägt den Funken in sich, aber wie der Stein ihn trägt, wie die Materie ihn trug: schlafend, tot. Und dann eines Tages, jäh bei dem einen, bei einem andern vielleicht langsam und in mühevoller Arbeit, schlägt der Stahl Gottes den Stein, und der Funke wird lebendig, der Geist lebt! Das ist das Damaskus der Seele, Lil. Wenn aus dem kreatürlichen Menschen der geistige wird. Er muß in der Erde wurzeln, so will es das ewige Gesetz der Natur, und anders kann er sich nicht offenbaren; aber nun kann er sein Erdhaftes hineinbeziehen in die höhere Forderung, das Ungemäße wird ihm das Natürliche. Alle Begrenzungen haben sich gelöst. Leib und Seele sind das neue Eine und Ganze und Vollkommene geworden.«
»Oh Lil« – ich hatte sie sanft auf ihre Füße gestellt; denn ich mußte neben ihr knien. Ich mußte ihre schmalen Knie mit meinen Armen umfassen und meinen Kopf an ihrem Schoß verbergen. Ich umfaßte in ihr zugleich alle letzten Dinge. Ich gab mich hin an den Urschoß alles Werdenden. Ich empfand meine Seele berührt vom Atem Gottes, daß mein schlummernder Funke selige Flamme wurde. Ich wußte plötzlich: Kunst und Anbetung und Liebe ist das gleiche. Nicht Tempelkunst in der gültigen Auffassung, oder daß ein Kunstwerk einer Kultstätte sich einfüge, ist seine letzte Bedingnis, aber daß es empfangen werde in den Schauern der Seele um Gott, im Kampf der Seele um Menschentum, und ausgetragen in Arbeitszeiten, zähe wie Fron und unerbittlich.
Gott! dachte ich. Gott! Werk! Liebe! Lil, Lil . . .
Dies war unsere letzte Nacht auf unserer Wiese im Walde.
* * *
Am Morgen nahm Lil Abschied von der Behausung, von jedem Stück. Ja, dies war Abschluß. Wenn unser »Zusammen« wieder begann, dachte Lil, so lag für sie etwas so Schmerzhaftes zwischen heut und dann, daß ich ihr wohl wie über einen Abgrund hinweg die Seile meiner Liebe würde zuwerfen müssen. Darum grub sie sich alles ein, auch die kleinsten äußerlichen Handhaben unseres innerlichen Erlebens.
»Und nun, Lil, nimm dieses Herz mit dir. Es kann nun nicht mehr hier bleiben ohne dich.«
Ich nahm das kleine silberne Herz, von meiner Mutter her, das an der Roßhaarschlinge unter dem Föhrenzweig hing, herunter. »Eigentlich müßte ich mir ein Fetzchen Linnen von meinem Hemd reißen, Lil, und müßte mich in den Finger stechen und dir drei Blutstropfen mitgeben, als Blutzauber. Aber du bist ja nicht die Prinzessin, die so weite Wege zu ihrem Prinzen geschickt wird auf der treuen Fallada und mit der ungetreuen Magd. Ich will wohl meine Prinzessin erkennen, wenn sie wiederkommt.«
Aber dies tat Lil: Sie schnitt eine kurze Strähne aus meinem Haar, da, wo es sich etwas lockt, über dem linken Auge, die band sie zusammen mit einem Seidenfaden und tat sie in das Herz. Nun bin ich mit dir, Lil, Seele und Leib. Bis du wiederkehrst. –
* * *
Sikras stand auf der Schwelle der Hütte, als wir uns auf den Weg machten. Ich hatte ihm Nahrung für drei Tage hingestellt. Dieser Abschied war schwer.
Aber als wir eben in den Wald einbiegen wollten, nach St. Olai zu, was war das? Kam es nicht aus der Ferne wie ein hoher und ein tiefer Ton? Der Gesang der Glocken am Kummet eines Pferdes? Auch in die trauervolle Ruhe von Sikras kam Erregung. Mein Gott, es fiel mir plötzlich ein: Heut war doch der Tag für Upsau und Milda. Jeden letzten Mittwoch im Monat kamen sie einmal heraus.
Da waren sie auch schon. Ja, da waren sie wirklich, alle beide.
Ich hieß Upsau, alles, was er mitbrachte, im Ziegenstall verstauen. Wir hatten nicht zu viel Zeit, wenn wir zur Post zurechtkommen wollten. Übrigens – er mochte uns ein Stück fahren. Dann war der Weg nicht so anstrengend für Lil. Ich schloß auf für Milda. Sie wollte indessen die Hütte reinigen. Wiewohl es mir schmerzlich war. Als ob die Gegenwart Lils dadurch erst völlig vernichtet würde. Lil gab Milda die Hand. Sie sagte ihr ein paar liebe Worte. Sie hatte sie sogleich erkannt.
Milda machte eine Verbeugung fast bis zur Erde und küßte den Rocksaum von Lil. Lil erschrak. Schmerz ging über ihr Gesicht. Mir war elend zumut. »Nicht, Milda. Nicht.« Wir bückten uns beide, sie aus ihrer Erniedrigung aufzurichten. Mildas Gesicht hatte einen eigentümlichen Ausdruck, wie sie von Lil zu mir sah. Plötzlich schien sie zu erstarren. Ihr Blick hatte den Föhrenzweig getroffen, von dem nicht länger das silberne Herz herunterhing.
* * *
Nun, jetzt eile ich besser in meinen Aufzeichnungen. Auch heut, nach zwanzig Jahren, scheint es mir besser zu eilen.
In Riga brachte ich Lil in das Hotel de Petersbourg. Ich bat sie, zu ruhen, während ich mir ein paar Dinge besorgte, die mir fehlten, um als städtisch und sommerlich gekleideter Mitteleuropäer eine Dame begleiten zu können.
Als ich nach einer Stunde etwa zurückkam, fand ich Lil nicht mehr auf der Couchette, wo ich sie verfassen hatte, sondern mitten im Zimmer stehend, mit dieser Blässe bis in die Lippen und in einer wunderlich gezerrten und zugleich versteinten Haltung.
»Was ist, Lil? Liebling, was ist?«
Ich wagte nicht, sie anzurühren. Irgend etwas verbat es mir.
»Eberhard ist hier«, sagte Lil mit einer Stimme von weit her. »Er ist seit gestern abend hier im Hotel. Er konnte es nicht mehr aushalten vor Sehnsucht nach mir. Eben als er von hier fortgehen wollte und sich auf die Fahrt nach Mitau begeben, wurde mein Koffer vom Hausdiener die Treppe hinaufgebracht. Eberhard erkannte ihn.«
»Ja, Lil«, sagte ich mit derselben fernen Stimme. »Also, er erkannte ihn. Weiß er, daß ich hier bin? Weiß er von mir? Weiß er von uns, Lil?«
»Nein!« rief Lil. Sie zitterte so, daß ich sie aufhob und zur Couchette trug. »Er weiß noch nichts.« Sie schlug die Hände vor das Gesicht.
»So will ich es ihm sagen.«
Aber Lil geriet außer sich. »Nein! Nein! Niemand kann es ihm sagen. Nur ich! Oh, Ask, er kommt gleich zurück!«
»So soll ich gehen, Lil?« Ich stand auf von den Knien.
In diesem Augenblick erschütterte ein ferner Geschützdonner die Fensterscheiben. Ah, so. Es war der Kanonenschuß, der den Krautabend einleitete, den Beginn der Mittsommerfeier. In diesem Augenblick würden wie feurige Lohe ungezählte farbige Wimpel, Flaggen und Fähnchen die Schiffsmasten hinaufzüngeln. Kein stolzestes Schiff und kein kleinstes Boot würden ungeschmückt bleiben. Jedes Laufseil unter den Rahen, jede kühnste Mastspitze würde in dem gleichen leidenschaftlichen Feuer aufbrennen und den eigenen Rausch und die eigene Schönheit dem flammenden Himmel entgegenheben.
Wie in langen stoßenden Wellen durchlief das Zittern fortwährend Lils Körper vom Kopf bis zu den Fußspitzen. Erblickten ihre geschlossenen Augen die inbrünstigen Farben der Lust, die wir zusammen erleben wollten? Hörte sie die Musik der Hunderte mit Laub und Blumen geschmückten Barken und Gondeln? Die wir zusammen hören wollten? Träumte sie von Sonnenbränden und Feuerbränden, die Ufer der Düna entlang, wenn aus dem verklärten Rosenrot und dem Perlblaß der Ferne es herüberwehen würde, süß und trauervoll wie Träume von Hochpunkten eines untergegangenen Zeitalters, Erinnerungen an eine große verblaßte Seligkeit? Ja, hörte sie über das Lachen und Brausen und Lallen der Trunkenheit hinweg die schmerzhaft schönen Sonnengesänge der Letten: Jan Ligho – Jan Ligho!
Plötzlich schlug Lil die Augen auf. Sie sprang herunter von dem Ruhebett mit beiden Füßen zugleich. Sie warf sich gegen mich mit ihrem ganzen Körper und umklammerte meinen Hals, als ob sie mit mir verwachsen müßte. »Ask und Embla!« sagte sie. »Ask und Embla!« Ihr Mund brannte als sie ihn mir gab, wie aufgebrochene Frucht
»Geh' jetzt!« Lil drängte mich plötzlich von sich. »Fahr' heim. Es wäre unerträglich. Du heut und morgen in Riga allein. Nein, ich könnte es nicht ertragen.«
Sie fing wieder an zu zittern wie im Frost.
»Du mußt jetzt gehen«. flüsterte sie eilig. »Eberhard kommt. Er will Mittsommer hier mit mir verleben! Da er mich nun einmal hier traf! Aber ich spreche zu ihm. Heute abend noch. Ich schreibe dir. In Sankt Olai . . . in drei Tagen holst da dir den Brief. In Sankt Olai . . .«
Ihre Stimme brach.
»Soll ich nicht hier auf die Antwort warten?«
»Nein, nein!« Sie weinte laut und schmerzhaft. »Geh' nach Hause«, bettelte sie wie ein Kind. »Du sollst nach Hause gehen!« – Plötzlich schien sie jeder Tropfen Blut zu verlassen. Sie strauchelte. Ich hob sie auf und trug sie in meinen Armen hin und her: »Lil, ach Lil!«
Nach einer Weile kam sie wieder zu sich. Als sie mein Gesicht über dem ihren erblickte, lächelte sie glücklich. Plötzlich fuhr sie zusammen: »Ask!« Sie schrie. Nachher glitt sie aus meinen Armen. Ihre Augen waren fast schwarz. Sie faßte meinen Kopf in beide Hände. »Ask und Embla«, sagte sie wie Schwur. Wir küßten uns zum letztenmal. Ich ging.
Auf der untersten Treppe begegnete ich einem Herrn. Sehr groß, sehr schmal, vornehm zusammengerafft. Der zwiespältige Ausdruck seines Gesichts, halb Erwartung, halb Beunruhigung, von Form gehalten und wie verschnürt. Lils Mann!
* * *
Dann war ich wieder in der Buschwächterhütte. »Zu Hause«, wie Lil gesagt hatte. Die Tage brachte ich so hin. Ich weiß es nicht mehr, wie. Die Nächte saß ich auf unserer Wiese, da, wo ich Lil auf den Knien hielt, als sie in meinen Armen schlief, und als wir über die Sterne sprachen. Und mir war jetzt, als sei ein allerletztes Geheimnis selbst an jenem Abend noch nicht gelöst worden. Und als stünde fern in perlmutternem Rosenglanz eine erhabene Gestalt in Flügel eingeschlagen; wie in die Sammetflügel eines Trauermantels. Aber ich kehrte mich ab. Ich wollte es nicht sehen. Ich wollte es nicht erkennen. Ich wollte es nicht annehmen, das allmächtige Leid!
Ja, dunkel und vielfältig sind die Wege des Eros. Die Süßigkeit der Liebe allein erschließt nicht die letzte Pforte. Alle Marter des Bluts muß angenommen und dargebracht und überwunden werden, bis das Leid als letzter Adel erkoren wird, bis Himmel und Erde und das Ich in die untrennbare Einheit verschmolzen.
Zwei Stunden vor Eintreffen der Post war ich bereits in St. Olai. Dann war auch dieses Warten überwunden. Ich erhielt den Brief. Es war ein lilagefütterter Umschlag. Er hatte einen schwachen Duft von Lil.
Ich ging in den Wald zurück. Ich lief. Sikras sprang nicht wie sonst in lautem Jubel um mich herum. Er lief schweigend ganz dicht an meiner Seite. Als meinte er, wir müßten fliehen. Ja, wußte ich nicht bereits alles und war auf der Flucht?
Nachdem ich wohl eine Stunde so gerannt war, mit dem uneröffneten Brief, riß ich plötzlich den Umschlag so heftig auf, daß ich auch das Briefblatt quer durchriß. Im Stehen las ich. An einen Föhrenstamm gedrückt. Und ich dachte, er spürte es, wie unsinnig meine Glieder schlugen. Es waren nur ein paar Zeilen. Lil schrieb, sie habe Eberhard alles gesagt, und er sei vollkommen vernichtet gewesen über der Idee, daß sie ihn verlassen wollte. Sie hätte nie gewußt, wie er sie liebte, und sie könne nicht von ihm gehen, wenn ihr auch selber darüber das Herz zerbräche. Ich möge ihr vergeben. Gott wolle uns helfen. Und das Herz, das silberne Herz, möge ich ihr lassen bis zum Tode.
* * *
Eigentlich könnte ich ja nun die kleine Reliquie öffnen und nachsehen, ob sie ein Geheimnis verbirgt. Es kam erst spät, das Herz. Lils Mann entschuldigte sich deswegen in einem beigefügten Brief. Er habe sich nicht entschließen können, es früher abzusenden. Seine Frau habe es in ihren letzten Tagen immer in der Hand gehalten.
Lil starb schon vor einem Jahr. Ihre Todesanzeige stand in einer der Zeitungen, die Aufsätze über mein Lebenswerk brachten nach der Münchener Ausstellung vorigen Sommer, die Kunstfreunde und Händler gewissermaßen hinter meinem Rücken veranstalteten. Hätte ich denken können, daß Lil sich daran freute, an dem Ruhm, der zuletzt einmal kam, und der mich selber so wenig berührte, um ihretwillen hätte er mich vielleicht fröhlich gemacht.
Nun, ich müßte aber doch noch die Zwischenstufen erwähnen, ganz kurz. Ehe es so weit war.
Die ersten Tage nach dem Brief ging ich wie ein Mensch, der einen Axthieb über den Kopf bekommen hat und dem sich alles verwirrte. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles war entwurzelt. Es gab keinen Halt.
Ich lief Tag und Nacht im Walde herum, am Moor, an all den Stellen, wo ich mit Lil gewesen, wo ich sie in meinen Armen gehalten hatte. Wo wir in unseren sieben Tagen unsern Himmel und unsre Erde erschufen, als in mystischer Vereinigung Leib und Seele einander durchdrangen und genossen, ohne das körperliche Allerletzte. Wo wir eins gewesen waren und die Vollkommenheit. Und immer war dieses Dumpfe über mir wie ein eiserner Helm.
Ob ich etwas zu mir genommen habe in diesen Tagen, erinnere ich mich nicht. Wenn es geschah, so war es, wie ein Urmensch ein Stück rauchendes Fleisch hereinschlang, sein bares Leben zu fristen, wild, gierig, böse.
Sikras war immer bei mir. Auch er sah wild und struppig aus. Böse nicht.
Einmal, als das Dumpfe, der eiserne Helm, Miene machte, sich in meine Gehirnschale einzudrücken, als ich sie schon ganz weich fühlte und den Druck spürte bis in die Herzgrube herunter, hieb ich mir den Flintenkolben über die linke Hand. Als sie blutig und klumpig vor mir lag, der Mittelfingerknochen zerknickt, konnte ich wieder atmen. Ich schiente den Finger ganz ordentlich, daß er nur steif blieb in Zukunft. Aber was weiter werden sollte, wußte ich noch immer nicht.
Am siebenten Tage stand Milda vor dem Buschwächterhause mit ängstlichem Gesicht.
»Was willst du schon wieder, Milda? Wo ist Upsau? Was wollt ihr?« Ich schrie sie an.
Ihre stumpfen Augen, die eine schwermütige Schönheit bekommen hatten in diesen Monaten, füllten sich mit Tränen. Sie deckte die Hand darüber. Upsau sei nirgend. Sie sei allein. Warum sie gekommen sei, wisse sie nicht.
Ich stand ihr gegenüber, wie sie die Hände noch immer vor das Gesicht geschlagen hielt. Ihr Körper zuckte wie in unerträglichem Schmerz. Nun, in mir, auch in mir zuckte etwas wild und unerträglich. Da nahm ich sie.
* * *
Dann kam die allertiefste Zeit. Es kam eine Art kühle, grausame und kritische Ruhe über mich. Ich vergaß zuerst vollkommen, was ich Milda angetan hatte. Ich vergaß die erschütternde Demut ihrer Hingabe, die Schmerz und Beseligung zugleich war. Denn erst später erfuhr ich die Zartheit des Seelengespinstes in diesem groben Körper. Ganz tief und unterbewußt hatte Milda alle Zusammenhänge empfunden. Aber ich erinnerte mich nicht mehr an sie. Durch die Erlösung des Blutes war die Seele nicht frei geworden. Es hilft nichts. Sie gehören zusammen, die beiden. Gott weiß, wo sie war, meine Seele! Bei Lil? Ich weiß es nicht. Meine Hände aber, meine rechte allein, die linke war noch unbrauchbar, meine rechte bildete in diesen Tagen wie außerhalb meiner einen Kopf. Einen Frauenkopf. Es war Lil. Aber es war nicht Lil, die ich geliebt hatte. Es war eine fremde Lil. Alles Geheimnis, alle Lockung und alle Grausamkeit war in ihr. Alle Süße und die Sünde wider den Geist: es war Lilith.
Als ich den Kopf vollendet hatte, kam Trauer über mich. Wie der Tod. Ja, es war wie der Tod.
Sikras verließ mich nicht einen Augenblick. Ich glaube, er wußte. Sikras war mein Freund. Vielleicht, daß ich ohne ihn der Lockung des Drillings nicht widerstanden hätte.
Auch aus dieser Zeit weiß ich nicht sehr viel zu erinnern. Aber damals schoß ich den Wolf kalten Blutes. Und später ebenso den Damhirsch. In einer nadelscharfen und weißverwolkten Nacht hatte ich sein Röhren gehört und den Kampf mit dem Nebenbuhler. Alle die Urschreie waren mir ins Blut getreten. Das wilde Keuchen, das Prasseln und Dröhnen und die Wut der Leidenschaft. Als der feiste Platzhirsch den andern abkämpfte und seines älteren Rechtes am Tier zornig und sieghaft genießen wollte, da legte ich an auf den Platzhirsch. Er brach zusammen im Feuer. Aber er raffte sich auf. Und während die Tiere laut schreckend abgingen, machte er ein paar wilde Fluchten in die Dickung. Sein riesiges Gebäude fegte und krachte und knatterte noch eine Weile. Dann war alles totenstill. Ich kümmerte mich nicht darum. Ich – kümmerte – mich – nicht. Ich wußte, er hatte genug. Wie lange er noch weidwund ging, das war seine Sache. Ich ließ ihn verenden, wo und wie er mochte. Wie den Wolf. Ich ging nie wieder an diese Stelle des Waldes. Mir war, ich hatte dort einen andern umgebracht. Zweimal. Einen ganz andern. Aber dieses Morden befriedigte mich nicht. Es ließ mich ganz kalt. Meine Seele war erfroren. Kein Blutrausch erweckte sie mehr.
Es ging auch nur flüchtig durch meinen Sinn, daß Milda die nächsten Male nicht mit Upsau kam. Ich versuchte ihn loszuwerden, sobald ich konnte. Wir hatten nun schon die letzten Septembertage. Die Wiese war längst kein Aufenthalt mehr für die Nacht. Ich saß aber täglich am Moor, stundenlang, und beobachtete die Vogelscharen, die sich zu der großen Reise sammelten: Störche, Brachvögel, Kormorane, Trappen, Wildgänse und Singschwäne. Als die Kraniche kamen, eine perlblasse Eins über dem Gold der Wälder, fiel mir ein, wie ich sie vorausgeahnt hatte damals als Abschiedsgebärde dieser verflossenen Zeit. Zum erstenmal schien Lil zu mir zurückzukehren, und was wir gesagt und getan hatten. Aber es war doch so, als ob andere es gesagt und getan hätten; es folterte nicht, und es erlöste nicht. Meine Seele blieb fern und erfroren.
Einmal ging ich und wollte die Wurzelhand der Orchis ausgraben und sie in fließendes Wasser werfen, da Lil doch nicht recht behalten hatte. Aber die Wiese vergilbte bereits. Ich fand den Zauber nicht mehr.
Im Oktober kam Milda das erste Mal wieder mit heraus. Ich mußte sie ansehen. Irgend etwas in mir zwang mich. Ihr Gesicht war wieder ganz Hingabe, ganz Schmerz und Beseligung, und zugleich stand eine demutsvolle Bitte um Vergebung in ihrem Ausdruck. Ich wurde erschüttert von diesem Blick.
Ich veranlaßte Upsau, in den Wald zu gehen und mir einen Baum auf Wintervorrat zu fällen. Als er fort war, redete ich zu Milda. Sie erglühte, und Tränen traten in ihre Augen. Sie hätte nicht kommen wollen; sie hatte gefürchtet, daß ich es nicht gern sehen würde. Aber Upsau hatte sie gezwungen. Mit Schlägen. Ich hatte nicht Branntwein mit ihm getrunken und vergessen, ihm ein Geldgeschenk zu machen die letzten Male. Er meinte, es geschehe, weil Milda nicht mitgekommen war.
»Und sonst, Milda?« fragte ich. Ich hatte meine Hand auf ihre Schulter gelegt. »Wie geht es dir sonst?«
Ein unsagbarer Ausdruck von Sanftheit, Ergebung und Glück ging über ihr armes Gesicht, so daß es schön wurde: »Gut geht es, gnädiger Herr«, sagte sie. »Das Kind wird stark und schön werden. Möge es ein Knabe werden, gnädiger Herr, und Euch gleichen, daß ich mein Glück an ihm sehe!«
Um mich kreiste etwas: »Milda!« Ich schüttelte sie an den Schultern.
Sie erschrak. Sie begriff gar nicht. So lange Jahrhunderte, so grenzenlos war Frauentum gedemütigt worden, daß sie mich gar nicht begriff.
Diese Nacht war die allerdunkelste meines Lebens. Aber am Morgen konnte ich weinen, und meine erfrorene Seele wurde wieder lebendig.
Einen Monat später habe ich Milda geheiratet. Das Kind war ein Knabe, und vielleicht glich er mir. Aber er kam tot zur Welt zum Schmerz seiner Mutter. Sie hat mir kein anderes Kind geboren. Ich habe sie nie geliebt, aber sie war mir heilig, wie Erde heilig ist.
Ich lebte mit ihr in den Wäldern. Ich hatte uns mit geringer Hilfe von Krougschen Leuten und auf Krougschem Grund ein Häuschen gebaut. Dort lebte ich nicht viel anders als vorher, mit Jagd und Arbeit und Kunstschaffen. Ich schickte einmal etwas auf Ausstellungen, aber es wurde kalt lächelnd zurückgewiesen. Nun, ich hatte Zeit. Mir gründete das Werk sich immer tiefer ein. Ich wußte, ich konnte warten.
Als Milda fünf Jahre bei mir war, starb Sikras, alt, müde, halb blind, aber feurig liebend noch im letzten Augenblick.
Milda war glücklich. Sie diente mir demütig und leidenschaftlich ergeben bis zu ihrem Tode. Ja, bis zum Tode.
Als 1905 die Revolution reif war und das Äxtchen aufblitzte und das Blut den Terpentinbach herunterfloß – Herrenblut – kam Upsau mit einer Mordbrennerschar zu mir heraus. Er war vom Schwindel erfaßt. Er vermutete Geld bei mir. Sie waren alle betrunken. Als sie kein Geld fanden, zerschlugen sie alle meine Skulpturen, das ganze Werk von dreizehn Jahren, auch den Auerhahn, wie er der Pansflöte lauschte. Zuletzt wollte Upsau mich selber erschlagen mit seiner Holzaxt. Ich begriff es erst, als Milda sich bereits zwischen ihn und mich geworfen hatte und den Schlag aufgefangen. Ihr Blut ernüchterte ihn, und er floh mit seinen Spießgesellen.
Ich begrub Milda im Walde wie Sikras. Ich konnte mich nicht entschließen, nun länger dort zu bleiben. Mitzunehmen hatte ich nichts als mich selber – nur – ich war vielleicht ein wenig gewachsen in diesen Jahren.
Ich ging zurück nach Deutschland und führte zunächst ein Wanderleben. Das geheimnisvolle Gesetz, das immer über mir gestanden hatte, dieser Tropfen Wikingblut gab nicht Ruhe. Der Ozean der Wälder war groß gewesen, voller Abenteuer, voller Offenbarungen und voller Erschütterungen. Und der Ozean meiner Liebe . . .
Ja, dies war wohl der Grund, daß ich so lange ein Heimatloser und Wallfahrer bleiben mußte; weil jenes Boot nicht in seinen Hafen gelangte. Das Ziel meines Kreuzzuges bescherte mir ein leeres Grab. Aber ich war ausgezogen nach dem Gott, der Liebe heißt. Nun trieb es mich aufs neue, den Ozean des Lebens zu erproben. Es waren noch viele fremde Küsten zu erobern. Aber an jeder habe ich als letzten Fund mich selber entdeckt, einen neuen Zug meiner Wesenheit, höher oder auch niedriger, als ich mich vorher gekannt und eingeschätzt hatte. Denn ich zog sie unerbittlicher als früher, die fremden Wege, kühner und härter entschlossen zum Erleben und auch zum Erleiden, damit mein eignes Menschentum zwischen Hammer und Amboß und fressender Glut zuletzt sich zum Ringe runde und stark genug werde, mein Werk zu tragen, und daß der Pulsschlag eines heißen, blutenden und dennoch ungebrochenen Herzens dieses Werkes Pulsschlag sei.
Ich habe mich niemals des Frevels bloßer Lebensneugier schuldig gemacht. Was mich lockte oder jagte, war immer ein himmlischer Stern oder eine dämonische Geißel. Immer folgte ich einem höheren Gesetz. So glichen meine Wege oft genug jenem Weg durch die kurischen Wälder, den ich bei mir den »Tunnel« genannt hatte, und den man nur mit der Axt in der Hand, mit zerrissenem Gesicht und oft genug auf dem Bauche kriechend wie ein Tier zurücklegen konnte. Aber immer war am Ende solcher Wege ein Ausblick, irgendeine aufleuchtende Ferne und ein Rauschen vom Brunnquell des Lebens. Und was es auch war, das sich mir erschloß, ein ganz Hohes oder ein ganz Tiefes, ich brachte ein feineres Verstehen mit als Lebensfracht, ein schmerzlicheres Miterleiden, den Willen härter, und tiefer die Demut vor dem Unerforschlichen.
Aber dieses nahm ich als das letzte und geheimste Wunder: Welche Wege ich auch beschritt, wem ich mich auch hinschenkte, völlig und ohne Vorbehalt, niemals habe ich mich verloren. Ein Unantastbares blieb. Um dieses Allerinnerlichste stand wie die Waberlohe der Sage immer ein undurchdringlicher Ring, der nach jedem Erleben nur stärker und tiefer glühte. Und in dem Herzpunkt dieses mystischen Kreises war ich ganz allein mit meiner Sehnsucht nach dir, Lil. – Nur wenn ich es bedenke, so war diese Sehnsucht nach dir zugleich die Sehnsucht nach Gott oder auch nach der eignen Vollkommenheit, und an dieser dreifältigen Sehnsucht wuchs und reifte ich langsam.
Jetzt lebe ich schon länger als ein Jahrzehnt in dieser Stadt dunkelglühender Backsteingotik mit dem Salzgeruch vom Meer herüber. Hier, wo die Kathedralen sehr tief und wuchtend dem Erdhaften verwurzelt sind und wo die Türme dennoch die kühnsten Übersteigerungen wagen, erschien mir die Todeslinie zwischen Diesseitigem und Jenseitigem zuletzt überbrückt, so daß die Stimmen beider nicht länger wie Kampfschreie gegeneinandergellen, sondern sich zu dem neuen und größeren Rhythmus vereinen. In den fränkischen Städten mit ihren Ekstasen des Hausteins hatte ich mich einstmals vergeblich um eine Erkenntnis zerrungen, die mir nach den Jahren des Erlebens und vielen strengen, einsamen Arbeitsjahren hier zuletzt in den Schoß fiel wie eine reife Frucht. Ich begriff, daß eine Gedanken- und Gefühlswelt sich ausgelebt hat: nämlich das individualistische Zeitalter mit seinen sehr stolzen und dennoch sehr armen und bangen Vereinzelungen. Der Garten der Kultur übersteigerte seine Leistungen. Er hat uns vollkommene Frucht getragen. Nun aber blieb sein letzter Sinn nicht länger die Frucht, sondern allein die Blüte. Bald hat er ausgeblüht. Es gilt, den neuen Acker zu finden für den neuen starken Lebensbaum. Die Zeit ist voller Angst und Warten. Wie ein Weib wartet in der Angst und in der Sehnsucht, wenn sie gebären soll. Wir stehen vor einem Wandel des Weltgefühls, und wie noch jedesmal, wird die große Stilwandlung damit verbunden sein. Noch viele dunkle und wirre Wege wird die Menschheit gehen müssen, bis sie das neue Ziel erkennt. Ob eine Persönlichkeit sie führen wird – ein Werk – ein Ereignis – Gott weiß es. Aber wenn er, wie bei mir, das allmächtige Leid die Hand ausrecken heißt, so wird, wie bei mir, die allmächtige Liebe die andere Hand fassen. Denn alle letzten Dinge sind ungeschieden.
Wenn dann die Menschheit das Wesentliche wieder fand und es für das neue Gesetz hält und für das noch nie zuvor Erkannte, so wird es doch nur das uralte und ewige sein. Denn allein die Form und der Ausdruck wechseln, das Wesentliche ist immer das gleiche. Vielleicht aber wird der einzelne oder das Volk, das bestimmt ist, wieder dem, was hinter den Dingen steht, am tiefsten nahezukommen, zuvor am tiefsten leiden müssen.
Es wird in der Kunst nun nicht mehr lange um Einzelerlebnisse gehen oder um ein Volksschicksal, ja nicht einmal mehr um die Menschheit an sich, sondern um alle drei nur insofern, als sie den ewigen Bindungen verankert sind. Um das All schlechthin wird es sich handeln oder auch um das Mysterium. Des Menschen Herz ist wieder sehr unruhig geworden, und es wird so lange wandern müssen, bis daß es die alte Heimat erreicht: Gott. Wenn die Menschheit in diesen Urgrund zurückfand, wird auch ihre Ursprache, die Kunst, wieder allen verständlich sein, denn das Überzeitliche ist eine Achse, um die eine ganze Erde wohl zu schwingen vermag.
Was mein eignes Werk anlangt, so wäre zu sagen, daß ich nach meiner Übersiedlung hierher sofort die Arbeit anfing, und zwar erstand mir an dem ersten Tage und in der ersten Nacht noch einmal Lilith und die schenkende Mutter Gottes. Und beide waren Lil.
Seither hatte ich eine große stille Freude. Ich wußte, in niemals ruhender Arbeit und strengster Selbstzucht würde es mir zuletzt gelingen, die Einheit alles Seins in mir zu vollenden und in meinem Werk auszudrücken. – – –
Ja – selig sind die großen Einsamen. So weiß ich es heute. Denn allein in der letzten Stille erlauscht sich das Wesen des Werkes.
Selig sind die, denen das Blut wie ein fressendes Feuer durch die Adern rinnt. Denn in dem Brand ihres Blutes werden sie das stählerne Gerüst ihrer Flügel schmieden.
Selig sind, die den Baum ihres Menschentums niemals versäumten. Denn woher sollte dem dürren Ast die reife Süße der Frucht wachsen?
Selig sind die, welche erleiden durften. Denn ohne die Würde des Leides hätte ihr Werk nur ein halbes Angesicht.
Selig sind die, zu denen die Liebe kam wie der eilende Rausch vieler Frühlinge. Denn die Kelter des Herbstes wird aus ihrem Heimweh den Wein pressen, der den Gott in sich birgt.
Selig sind, die sich vor keinem Wege fürchteten. denn auf jedem Wege erlauschten sie ihrem Liede einen neuen Ton.
Selig sind die großen Heimatlosen auf Erden. Denn ihr Zuhause ist die Ewigkeit.
Nun ist es wohl so weit, daß ich das silberne Herz öffnen darf.
Nachschrift.
Als ich auf die Feder unter den gekreuzten Fackeln drückte, fiel mir die Haarsträhne entgegen, die Lil damals mir abschnitt. Sie war mit einem lichteren Strähn verflochten, dessen Glanz und Farbe ich so schnell erkannte. Auf einem Papierstreifchen stand mit verblaßter Schrift:
»Ask und Embla.«
Ja, selig bin ich gewesen, Lil, da ich dich liebte und um dich litt. Denn aus Halten und Hergeben erwuchs mein Werk. Ich grüße dich, Lil, aus der Tiefe und der Fülle meines Wesens!