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Vor einem schmalen, niedrigen Haus in der Gasse de Credo hemmte ein großer, breitschultriger Mann den müden, schleppenden Schritt, mitten unter den drei großen roten Laternen, die über dem Bogen der Eingangstür hingen. Es war das einzige Haus in dieser engen, krummen, ungepflasterten Gasse, das zu dieser mitternächtigen Stunde erleuchtet war. Aus den untersten Fenstern kam, von Vorhängen gedämpft, mißtöniges Lärmen, verworrenes Lachen, Kreischen, Klavierspiel und wilde Banjomusik.
»Das letzte«, dachte der Mann, die Tür anstarrend, »das letzte.«
Plötzlich klopfte er an. Unverzüglich knirschte ein Schlüssel, knackte ein Riegel, wurde die Tür geöffnet, nicht völlig, kaum bis zur Hälfte. Ein Weibergesicht wurde sichtbar, breit, alt, häßlich, glänzend von Schminke, umstarrt von dickem, blauschwarzem Haar, überspielt von elektrischem Licht. Mit kleinen verkniffenen Augen musterte sie den hochgewachsenen Mann. »Ah … Capitán alemán«, sagte sie grinsend und ließ ihn ein.
Schweigend betrat der Mann den schmalen, funkelnden Gang mit Wänden aus spiegelndem Glas. Eine Sekunde lang schloß er geblendet die Augen. Hinter ihm knirschte der Schlüssel, ächzte der Riegel. Er hörte es nicht. Aus grünlich glimmenden Augen blickte die Alte ihn lauernd an von oben bis unten, von der blauen verwaschenen Seemannsmütze über den blauen ein wenig abgetragenen Rock bis zu den schweren, schmutzigen Schuhen.
» Señor Capitán noch nie nix hier?« fragte sie zögernd mit einer heiser rasselnden Stimme. » Capitánes alemánes serr gern kommen in Haus von Madame Fevrier.«
Nein, er gefiel ihr nicht sehr, dieser Capitán alemán, den die alte erfahrene Pförtnerin des Hauses Fevrier in der Gasse de Credo von Montevideo sogleich am Schiffszeichen der Mütze als Deutschen erkannt hatte. Freilich, er trug goldene Tressen an den Ärmeln des Rockes, doch sie waren verblichen und stellenweise zerrissen. Er trug eine schwarze Krawatte, doch sie hing fleckig und schief an einem unsauberen Kragen. Nein, so kam kein richtiger Kavalier in das Haus von Madame Fevrier, das zu den feinsten und vornehmsten von Montevideo gehörte.
Eine Tür flog auf. Überlaut, wie Karnevalstoben brach Lachen, Singen, Gläserklirren und Musizieren in den schmalen, spiegelblitzenden Gang. Ein kupferhaariges, von den kleinen elfenbeinweißen Brüsten bis zu den Knien in ein dünnes, giftgrünes Rieseln von Tüll und Seide gekleidetes Mädchen hängte sich ohne zu zögern mit strahlenden Augen und klingendem Lachen in den Arm des großen, ein wenig geduckt dastehenden Mannes.
»Ah, mon chéri … Viens, mon chéri, viens, je suis toute seule«, rief sie und zog ihn zur Tür. Ohne Willen, starren Gesichts, den Blick weit auf in einer sonderbar dunkel brennenden Bläue, schritt er neben ihr her.
» Sacramento« murmelte die Alte mit schief hängendem Mund, »diese kleine, freche Julienne aus Paris … sich einem Kerl in den Arm zu hängen, ohne ihn zu besehen.«
Doch die kleine, freche Julienne aus Paris liebte die großen, breitschultrigen Männer, die stark waren wie Bären und zärtlich wie Knaben. Sie zog ihn behende um einen kleinen runden marmornen Tisch und drückte ihn mit ihren schmalen und weiß gepuderten, mit großen falschen Brillanten bedeckten Fingern in ein scharlachfarbenes Sofa, das so weich war, daß er beinahe versank, und lachte ihn an mit ihrem lauten, klingenden Lachen. Doch keine Miene verzog sich in dem langen, bartlosen und harten Gesicht. Es blieb wie geschnitten aus erdgrauem Stein. Nur die hellblauen, unter den dicht beieinanderstehenden weißblonden Brauen stark verkleinerten Augen wanderten suchend von Tisch zu Tisch. Langsam, unendlich langsam, als könnten sich die Kugeln der tief in dunklen Höhlen liegenden Augen nur schwer und mühsam in ihren Gelenken bewegen, ging der bohrende Blick des schweigsamen Mannes über die Tische hinweg, fünfzehn oder sechzehn kleine, runde marmorne Tische um ein Podium geschart, von dem aus drei ebenholzschwarze, halbnackte Niggerknaben in schrillen Klängen die Saiten ihrer Banjos zupften und mit rauhen Kehllauten die eintönigen Gesänge ihrer afrikanischen Urwaldheimat ertönen ließen. Auf scharlachfarbenen Polstern wiegten sich schillernde Paare, trunken von Wein und von Küssen. Durch den perlmutterfarbenen Rauch von Zigaretten und Menschendunst sprühte Licht aus Decke und Wänden. Es war ein einziges Flimmern und Blitzen aus weißen Schultern, liebkosenden Armen, funkelnden Augen und gelben, schwarzen, rotbrennenden und kupferglänzenden Haaren. Weiber aus allen Zonen der Erde, Männer, alte und junge, weiße, braune und gelbe, die sie mit lüsternen Händen und heißen Augen umgriffen.
Ein grinsender Bantuneger in safrangelber Jacke und weiten Nankinghosen brachte Champagner.
Ungeduldig warf die kleine Julienne ihre duftenden Arme um den Hals des reglosen Mannes, der immer noch schwieg, mit sonderbar brennendem, ruhlos wanderndem Blick. Hingekuschelt lag sie auf seinem Schoß, auf den heraufgezogenen, seidenschimmernden Beinen lag schwer, ohne daß er es wußte, seine große, gebräunte Hand.
»Warum siehst du die anderen an«, rief sie zu ihm hinauf, erregt, ein wenig geärgert, mit eifersüchtig blitzenden Augen, »bin ich nix schöner als die, und die da und die?« Ihr dünner Zeigefinger stieß zornig durch die rauchwirbelnde Luft wie ein winziger Dolch. Dann war ihr schmaler, zitternder Mund dicht vor dem seinen, der hart geschlossen war und blaß, als wäre er ohne Blut. »Oh, ich lieben serr die deutsche Mann. Und wenn du nix kannst sprecken français, ich serr gut kann sprecken ein bisken von deutsch. Da! Trink!«
Sie streckte die Hand zu den hohen, geschliffenen, schäumend gefüllten Gläsern. Da spürte sie, wie seine große blaugeaderte Hand von ihren Knien heraufkam und sich fest um ihr gebrechliches Handgelenk spannte.
» Oh là, là!«
Verdutzt, mit offenem Mund sah sie ihn an. Schimmernd von Glanz und Feuchtigkeit lagen die kleinen Zähne im purpurnen Rot.
»Warte«, sagte er schroff, ohne sie anzusehen, den Blick unter den dicht zusammengerückten Brauen in die blitzende Wirrnis gerichtet. »Ist in diesem Haus …« er brach ab, schloß eine Sekunde lang, als spürte er plötzlichen Schmerz, mit schweren, bläulichen Lidern die Augen. Dann schlug er den Blick langsam in das erschreckte, unter der feinen Pfirsichschminke erblaßte Gesicht, das dicht unter ihm war, und sprach weiter mit einer Stimme, die tonlos war und mühsam ein Zittern verhielt:
»Ist in diesem Haus ein junges Weib, eine Deutsche, hochgewachsen, lichtblond …«
»Nix da, so eine Blonde«, unterbrach ihn rasch und angstvoll die kleine Julienne und zog ihre Beine von seinen Knien. »Nur eine Deutsche im Haus … die da, die Rote« – sie hob die Hand – »die bei dem Spanier.«
»Ja«, sagte er dumpf, ohne den Kopf aufzuheben, »die hab' ich gesehen.« Dann fuhr er fort und umspannte mit seiner Faust hart das Gelenk ihrer Hand, daß sie fast geschrien hätte vor Schmerz.
»Und früher nicht? Vor Monaten nicht? Vor einem Jahr nicht?«
»Nix weiß, Monsieur, ich aus meiner Paris erst in dies Haus vor vierzehn Tag. Müssen fragen Madame.«
Sie hob die Hand. Zitternd wies ihr Zeigefinger durch den schwankenden Rauch. Da saß, mit verschwommenen Formen, in einem hochlehnigen, scharlachrot gepolsterten Stuhl hinter einem kleinen, hochbeinigen Tisch vor einem großen, aufgeschlagenen Buch Madame Fevrier. Mit verengten Augen, die hatten Muskeln seines Gesichts ohne Bewegung, blickte der Mann in die angedeutete Richtung. Er sah undeutlich ein langes Gesicht unter einem breiten Turban grellgelben Haares, gespensterhaft große, grünlich glimmende Augen, eine lange, magere Hand, die ein dunkel gefülltes Weinglas zum Munde führte und wieder zum Tisch stellte, zwischen zwei Flaschen, von denen die eine glatt und schlank, die andere dickbauchig und kurz war, dicht umsponnen von gelblichem Bast.
»Madame trinken mixed Chartreuse und Kognak der ganze Nacht«, sagte die kleine Julienne, noch immer Angst in der Stimme.
Sie sah, wie der Mann sich schwerfällig erhob und mit plumpem Schritt, den Kopf ein wenig in die Schultern geduckt, den Blick unverwandt nach vorne gerichtet, an den kleinen marmornen Tischen vorbeiging, von Licht und Lachen blitzend umschwirrt, bis er den Tisch erreichte, hinter dem die Fevrier thronte und mit gekrümmten Fingern Zahlen in ihr dickes Kontobuch schrieb.
»Madame, ein Wort«, hörte Julienne ihn sagen, die kleine Julienne, die noch vor einem Jahr, ehe der findige und erfahrene Jakob Silverstone sie entdeckt und mit Sekt und seidenen Spitzen ihr liebedurstiges Blut zum Rasen gebracht, ein sanftes, süßes Pariser Grisettchen gewesen war.
Ihr banger Blick kam nicht los von dem großen, bärenhaften, so wenig zärtlichen Capitán alemán. Nun hob Madame den hageren Kopf. Nun sprühten ihre grünlichen Augen. Nun sprach er sie an. Nun neigte er sein Gesicht dicht zu ihr hin. Nun fragte er mit seiner tonlosen Stimme, die erschauern machte, als stiege sie aus einem Grabe herauf, nach dem schönen, hochgewachsenen Weib, mit den tiefblauen Augen und dem lichtblonden Haar, nun schüttelte Madame heftig ihre gelbe Frisur, so daß sie blitzte und sprühte, nun reckte er sich steil in die Höhe und starrte an allem vorbei, lange, ohne sich von der Stelle zu rühren. Ein Grauen faßte sie an. Eiskalt kroch es über den nackten, zitternden Rücken.
»Er sucht seine Geliebte … er sucht seine Braut … er sucht sie im Haus von Madame Fevrier …«
Julienne schloß verstört den Blick, kauerte sich tief in die warmen pfaublauen Kissen. Sie fror. » Oh l'amour«, seufzte sie unablässig, » oh l'amour, oh l'amour. Oh mon Gaston, mon Gaston. Mon chéri!.«
Plötzlich schrak sie empor.
Der große Deutsche stand wieder neben dem kleinen marmornen Tisch. Sie lächelte starr, doch sie rührte sich nicht. Er hob sein Glas und trank es leer, rasch, gierig, wie ein Mensch, der verdurstet, nahm das ihre, trank es aus und setzte es hin, so hart, daß es zerbrach.
Da sah er Julienne. Um ihren Mund war ein Lächeln. Er hielt es für Spott. Da fuhr er sie an.
»Dich sucht keiner, nicht wahr, du bist hier zu Haus, nicht wahr?«
Julienne wurde blaß.
»Nein«, rief sie so laut, daß viele an den Tischen verstummten und einer der banjospielenden Niggerknaben eine Saite zerriß vor Schreck. »Nein, mich sucht keiner! Ich bin hier zu Haus!«
Sie warf sich über das purpurne Feuer des Sofas und schluchzte … weinte und schluchzte nach ihrem Gaston, der im Theater la Roche das Cello spielte, wie keiner in ganz Paris.
Die schrillen Töne der Banjos verstummten. An allen Tischen sprangen die Weiber aus den Armen der Männer, stürzten seidenknisternd und blitzend heran, drängten sich um den kleinen marmornen Tisch, riefen den Namen Julienne, die nicht aufhören wollte zu schluchzen, und beschimpften den regungslos dastehenden Mann.
Aus den geschminkten Lippen der Fevrier ertönte gellend ein zorniger Fluch. Der Bantuneger fletschte die Zähne und brüllte nach Geld für den Sekt. Mechanisch griff der Mann in die Tische und warf einen Zwanzigdollarschein auf den Tisch, ohne ihn anzusehn. Grinsend mit einem »Thanks« steckte der Neger ihn weg.
Schwer setzte sich der Mann in Bewegung. Man stieß ihn an, man drängte ihn fort durch die Tür, in den Gang, aus dem Haus. Hinter seinem Rücken, mit häßlichem Lachen, warf die Alte die Tür heftig ins Schloß.
Draußen, im feuchten Dunkel, die Schuhe tief im Schmutz der ungepflasterten Gaste de Credo, stand er, das Gesicht in den Händen.
»Rio … Bahia … Salvador … Montevideo … ich kann sie nicht finden …«
Sein Kopf sank tiefer hinab, fast bis zur stöhnenden Brust. Schwer drückte die breite Stirn auf die großen, starr gebogenen Hände.
Hinter ihm johlten betrunkene Männer und Weiber. Sie schwankten lärmend an ihm vorbei. Er schritt ihnen nach, schwer und langsam die enge verwinkelte Gasse hinauf, der Avenida de Sacramento entgegen.
In einem Haus nicht weit vom Ausgang der Gasse de Credo lag eine Schenke. Hinter schlecht verhängten Fenstern glomm Licht. Der Mann blieb stehen. Trinken, das Hirn berauschen, das Herz betäuben, kein Mensch mehr sein, ein Tier, ein Stück Vieh, Kreatur, die dumpf vegetiert, kein Hirn, kein Herz, keine Schuld, kein Gewissen, keine Liebe, keine Sehnsucht …
Die Stube, die er betrat, war niedrig, die Luft schwül, verqualmt und stickig, gefüllt mit Gerüchen von Schweiß, Sprit und gebratenem Fleisch. Undeutlich sah er auf ledergepolsterten Bänken vor langen Tischen aus rohem, rötlichem Holz Schattenleiber mit verschwommenen Gesichtern und glimmenden Augen. Er stand eine Weile mitten Im Raum, vor einem Tisch voll lärmender, wild mit Armen und Händen fuchtelnder Männer, schwarzhaarige, blitzäugige Burschen, Italiener, Küstenschiffer und Barkenführer aus dem Hafen von Montevideo, stand unschlüssig und dumpf, als wäre seinem Bewußtsein entfallen, warum er hier stand, umwittert von Dampf und Gestank, von erregtem Geschwätz und flatterndem Licht. Die Italiener tranken blutroten spanischen Wein. Einer, ganz jung, schlank wie ein Rohr, verwegen und hübsch, mit krausem, schwarz und wirr funkelndem Haar, schwang eine der rotbraunen, dickbäuchigen Flaschen, setzte sie an den zähneblitzend geöffneten Mund und trank in langen, gierigen, wollüstigen Schlucken, als tränke er den heißen Chianti der Heimat, bis die andern entzückt und wild in die Hände klatschten.
Er riß die Flasche vom Mund, »corpo di bacco«, und gab sie weiter. Zwei Tropfen an seinem Kinn waren wie funkelndes Blut. Der deutsche Kapitän setzte sich an einen leergewordenen Tisch unweit der Italiener. Das tabakbraune, abgesessene, fettig gleißende Lederpolster war hart wie Holz. Aus einem Riß quoll dürres graues Pampasgras. Um einen Tisch nebenan, eng beieinander, die schwarzhaarigen, ruppigen Köpfe zusammengesteckt, hockten lang aufgeschossene, auffällig elegant gekleidete Kerle, mit glatten, infamen Gauchogesichtern, braunhäutig, von hagerem, spanischem Schnitt. Zwischen ihnen Weiber mit ziegelroten Gesichtern und hartem, blauschwarzem Haar, lange dünne Zigarren zwischen den Zähnen, auf der Haut über der Oberlippe dunkelbläulichen Flaum. Sie redeten flüsternd, heftig und rasch, in einer unheimlich fremdartigen Sprache, in der Verbrechen zu lauern schien, Totschlag und Mord.
Der unstet schweifende Blick des Deutschen hakte sich plötzlich fest. Unten vor der Schmalseite des Tisches hockte ein junger Mensch in blauer Bluse und schlief. Hart lag seine Stirn auf dem linken, schräg über den Tisch geworfenen Arm. Die rechte Hand hielt krampfhaft ein Glas mit einem Rest von abgestandenem Bier. Sein Haar war gelb und dicht. Unter dem Schein der Lampe, der fast senkrecht herabfiel, brannte es wie Gold in der Sonne. Auf dem schwarzen Rand der blauen Mütze, die neben ihm lag, stand in grüner Schrift der Name des Dampfers »Kap Negro«, eines Schiffes der Hamburg-Süd.
»Ihr Haar«, murmelte der Mann vor sich hin, »ihr lichtgelbes Haar.«
Plötzlich stand Wein vor ihm, eine dickbäuchige Flasche blutroten spanischen Weines. Hatte er Wein bestellt? Er wußte es nicht. Ein hagerer, braunhäutiger Neger in kurzer knallroter Zacke, unter ihr eine lange giftgrüne Schürze, lief eilig zwischen den Bänken und Tischen davon. Zögernd umgriff die lange, gebräunte Hand den schwellenden Bauch der Flasche. Schluchzend und glucksend wie dunkles zähes Blut stürzte der schwere Wein in das große, grobgeschliffene Glas. Duft von einer wilden und würzigen Süße stieg auf, betäubend wie Weihrauchgewölk. Er roch ihn und atmete tief. Sogleich sah sein traumhaft zerfließender Blick Gärten und Berge voll saftgrüner Reben und schwerer, goldbrauner, reifender Trauben, die atemraubende, blutbetörende Düfte verströmten, in eine Luft voll sprühenden Leuchtens unter dem blauesten Himmel über dem gleißendsten Meer. Er sah sich selber, zwanzigjährig, eine Reise nach Spanien, unter Reben und Trauben, und über sich, über den hungrigen Augen und dem begehrenden Mund, ein junges, heißes Gesicht, ein süßes Geschöpf, halb Jungfrau, halb noch ein Kind, das zwischen den kleinen, blinkenden Zähnen die tiefbraunen, überreifen Beeren zerdrückte, sich niederbeugte im Schmuck ihres schwarzen, blau brennenden Haares, und den Verdurstenden schmecken ließ, was sie ihm bot, den Honig der schmelzenden Frucht, die Süße ihrer feuchten, nach ersten Küssen schmachtenden Lippen. Ana Lucrecia Tagliagone, eines heiteren Weingärtners liebliche Tochter, Andalusiens edelste Blüte.
Er schloß heftig die Augen. Um seinen hart geschlossenen Mund lief ein fast wildes, wie aus lautlosem Stöhnen aufbrechendes Zucken. Er riß das Glas in die Höhe, trank und leerte es in langen, gierigen Zügen bis auf den Grund. Dann setzte er es hart auf den Tisch.
Der Schläfer unten erwachte. Er fuhr erschrocken empor, blickte mit blauen, verstörten Augen umher, trank einen Schluck von dem schalen, trübe gewordenen Bier, schüttelte sich, stellte das Glas mit einer Miene des Abscheus beiseite, warf ein paar Münzen zum Tisch, stülpte die Mütze über den strohgelben, welligen Schopf und rannte hinaus.
Der deutsche Kapitän starrte ihm nach. »Ihr Haar, ihr gelbes Haar«, murmelte er in einer großen, fast inbrünstigen Vergessenheit seiner selbst.
Er atmete lang und tief, vergaß zu trinken, stützte die Ellbogen auf die Kante des Tisches und vergrub das Gesicht zwischen den Händen.
Seeleute niedersten Standes schwankten betrunken über die Schwelle und besetzten, da nirgendwo Platz für sie war, mit großem Gelärm und Gelächter die Bänke am Tische des Deutschen, der es nicht merkte. Dem Schnitt ihrer Gesichter nach schienen die meisten Amerikaner, Iren oder Briten zu sein, zwei oder drei hatten portugiesischen oder spanischen Einschlag, einer von ihnen, ein großer, stämmiger Mann, mit weißblondem Haar, sah aus wie ein Isländer oder ein Schwede. Einige saßen da wie Verbrecher, den Kopf in die Schultern geduckt, mit kleinen, verschlagenen Augen und zurückfliehenden Stirnen unter runden, kurzgeschorenen Schädeln. Sie sprachen erregt durcheinander, in schlechtem, kaum verständlichem Englisch.
Die lauten und wüsten Stimmen weckten den Deutschen. Mit einer raschen, stoßhaften Bewegung der Hand griff er zur Flasche, füllte das Glas, zog es herauf, spürte Ekel, stellte es heftig zurück, rief den knallroten, giftgrünen Neger heran, zahlte und stand auf, um zu gehen. Doch er zögerte, horchte auf und blieb stehen, hart neben dem Tisch, die Hand um die Kante gekrampft.
Einer der betrunkenen Leute, ein langer und hagerer Mensch, in einem Anzug, der aussah, als sei er ehemals die blaue Uniform eines britischen Marinesoldaten gewesen, hatte plötzlich mit flacher Hand hart auf den Tisch geschlagen und » Goddam!« in das laute Gelärm seiner Genossen gebrüllt und hinterhergerufen: »Ich will euch was sagen, ihr Kerle … ein gottverfluchtes Ding, diese Reise.« Der heftige Ton seiner Stimme hatte viele zum Schwelgen gebracht.
» By Gosh!« schrie ein kleiner, rothaariger Bursche, der ein Kohlenschlepper zu sein schien, denn seine Ohrlöcher, die Ecken seiner trüben, verschmierten Augen und die Winkel des häßlich verzerrten Mundes waren voll Ruß. »Vierfache Heuer, nicht zu vergessen!« Er streckte vier schmutzige Finger steil in die Luft. »Vierfache Heuer!«
Die meisten brüllten ihm Beifall und hämmerten mit ihren Fäusten den Tisch.
Einer, der neben ihm saß, mit dem wilden, braun verbrannten Gesicht eines mexikanischen Cowboys, breit überschlappt von einem verwegenen Hut aus rohem Leder, rief in die Schar:
»Hauptsache, Kerls, was für eine Sorte von Kapitän diese sogenannten Schiffsreeder Alfonso Toledano und Sohn an Bord ihres wurmstichigen Kastens schicken. Wenn er ein Säufer ist, ein Lump, du Schuft ohne Patent, dann machen wir kehrt und fahren mit unseren Klapperkähnen wieder den Paraná hinauf und hinab.«
Es entstand ein dumpfes, unruhiges Murmeln. Der mit dem Cowboygesicht schwieg eine Weile. Dann grinste er breit:
»Kommt aber ein tüchtiger Kerl an Bord der ›Alhambra‹, einer, der seine Sache versteht, mit allen Ozeanwassern gewaschen Ist und weiß, wie man sich in einem richtigen Sturm zu benehmen hat, dann los! Mit Gott und dem Satan!«
Die Leute um ihn herum lachten rauh, brüllten ihm zu, spülten den scharfen Gin durch die Kehlen und riefen nach neuem.
» Three cheers for John Holiday!« krähte mit häßlich gespaltenem Maul der rothaarige Trimmer.
» Three cheers!« johlten die andern ihm nach, als seien sie alle besessen.
Nur der große, stämmige Mann blieb stumm. Er hatte den Kopf gesenkt und schien zu schlafen mit schwerem, röchelndem Atem. Der Trimmer, der neben ihm saß, stieß Ihn an.
»Hallo!« rief er grinsend, »was sagt der Schwede dazu?«
Der Mann hob den Kopf. Mit seiner langen, knochigen Hand strich er über die Stirn und durch das dünne, weißblonde Haar. Die Muskeln des bartlosen Gesichts hingen schlaff, sein wasserblauer Blick ging stumpf umher. Seine Kleidung, Steuermannsjacke, ein grauwollener Isländer darunter, war schlecht wie die der andern.
»Mensch«, schrie der Trimmer ihn an und lachte, »mußt du besoffen gewesen sein!«
Mit großen, dämmernden Augen starrte der Schwede an ihm vorbei. »Ja, das Saufen«, sagte er murmelnd, »aber verflucht, man wird wieder nüchtern.«
Einer, den sie Jim Fox nannten, ein schwarzstruppiger, zwerghaft verkrüppelter Mensch mit dem Gesicht eines pavianähnlichen Affen, stierte aus verquollenen Augen lange ins Glas.
»Verrottetes Schiff! Sauft und krepiert!« schrie er plötzlich über den Tisch, mit einem gellenden Lachen.
Der deutsche Kapitän stand noch eine halbe Minute lang neben dem Tisch, den Blick starr zu Boden. Plötzlich schrak er empor, schaute mit dunkel brennenden Augen in die Schar der berauschten Janmaaten, riß sich zusammen und verließ mit raschem Schritt die Spelunke.
Der Prado de Sacramento, den er nach dem Verlassen der stockig dunklen Gasse de Credo betrat, war leer von Menschen und von wenigen Bogenlampen dürftig erhellt.
Nach drei Minuten erreichte er die Plaza Mayor. Die heruntergekommenen Seeleute und die Spelunke hatte er völlig vergessen. Der weite Platz, von einer einzigen, hochhängenden Bogenlampe gespenstisch überflammt, lag leer und stumm, von Regierungsgebäuden, Hotels und Bankhäusern wie von gewaltigen Felsenmauern düster umstellt.
In der Mitte des Platzes, dicht neben dem steil aufragenden Lichtkandelaber, machte er halt und starrte aufs Pflaster. Irgendwoher aus einer Uhr kamen vier harte, metallene Schläge. Er hörte es nicht. Es vergingen Minuten. Ein Mann schritt schwankend vorbei. Seine schweren Stiefel stampften hallend über den Platz. Er blieb stehen, glotzte den regungslos in den Erdboden Gebannten, der nicht aufblickte, aus betrunkenen Augen blödsinnig an, murmelte unverständliche Worte und taumelte weiter. Ein Automobil mit großen, weißstrahlenden Augen schoß aus der schwarzen Schlucht einer Straße quer über den Platz, flog knatternd an den dunkel ragenden Häusern vorbei und verschwand in der Nacht. Sein Ohr blieb taub. Plötzlich hob er die Hände und drückte sie, zu Fäusten geballt, bohrend gegen die dumpf keuchende Brust.
»Aus«, dachte er schwer, und seine Schultern bogen sich tief. »Alles zu Ende … alles zu Ende.«
Die Fäuste fielen hinunter. Schwer den Kopf in die Schultern geduckt, schritt er weiter, überquerte den Platz und kam in die Straße de Montra, in der das kleine Hotel lag, darin er seit Wochen wohnte.
Durch stockdicke Finsternis erklomm er die steile, krachende Treppe. In der niedrigen, dürftig eingerichteten Kammer drehte er mechanisch den Griff des elektrischen Schalters. Der erste Gegenstand, der in sein Blickfeld geriet, war inmitten des Tisches ein Browning, hart beleuchtet im Sturz des Lichtes von der Decke herab. Der kurze, stählerne Lauf schimmerte blau. Die Mündung war ein rundes, tiefschwarzes Auge, das ihn unverwandt ansah. Neben der Waffe stand eine dickleibige Karaffe voll Wasser. Sie sprühte und blitzte, als sei sie lebendig unter dem stürzenden Licht.
Lange stand der Mann neben der Tür. Er starrte unablässig zum Tisch. Wie kam der Revolver dorthin? Ja, richtig, er hatte vergessen, ihn in die Tasche zu stecken, heute am Morgen, ehe er die Stube verlassen. Die Magd, ja, die Magd hatte ihn unter dem Keilkissen des Bettes gefunden, wo er Nacht für Nacht griffbereit lag, zum Tisch gebracht und neben die Karaffe gelegt.
Schwerfällig ging er hinüber. Eine Minute lang stand er ohne Bewegung, den Blick starr zum Browning. Plötzlich hob er ihn auf und setzte ihn dicht an die Schläfe. Eiskalt durchfror es die Haut und das Hirn. Mit kurzem Druck des gehobenen Fingers schob er den Sicherungsflügel zurück. Sechs Kugeln bereit zum Schuß. Ein Beben des Blutes konnte sie lösen. Seine Unterlippe begann zu zittern. Jeder Nerv seines Körpers war zum Zerreißen gespannt. Im Netzwerk der Adern stockte das Blut. Jetzt … einen letzten Atemzug noch … jetzt … doch die Hand sank hinab. Aus seiner Stirn brach eiskalt Schweiß. Knirschend mahlten die Zähne. Nein! Nein!! Es wäre feige! Es wäre wie Flucht! Es wäre Verrat! Mit einem zornigen Stoß warf er den Browning zum Tisch, ohne die Waffe zu sichern. Ein kurzer, gedämpfter Knall. Mit scharfem Klirren durchschnitt ein Schuß die Karaffe. Der Mann warf den Kopf zum Nacken und horchte. Kein Hund bellte auf. Keine Tür, die man aufstieß. Keine Treppenstufe, die krachte. Kein Mensch, der kam. Im Haus blieb alles still. Nur das Ticken der Uhr in der Tasche, nur das Spülen und Tropfen des Wassers vom Tisch auf den Boden, und auf der Wand, da, wo der Schuß getroffen, ein Rieseln von bröckelndem Lehm.
Schwer grübelnd, rastlos durchmaß er die Stube. Wenn er die Mittelplanke des Fußbodens an einer bestimmten Stelle betrat, lief ein Stöhnen durchs Holz, wenn er am Fenster vorbeikam, ächzten die Scheiben, wenn er den Tisch umschritt, knirschten die Scherben der zersprengten Karaffe.
Plötzlich fiel es ihm ein:
»Wenn ein anderer es täte?«
Er blieb stehen und griff mit beiden Händen zu den heftig klopfenden Schläfen.
»Bei Gott! Ja! Ein anderer! Wer? Irgendein … irgendein Hergelaufener, ein Lump, ein Verbrecher, irgendein Desperado, der einen anderen zusammenschießt, wenn man ihn anständig bezahlt! Dreißigtausend Dollar auf der Pinkerton-Bank, Butterflystreet in New York. Ein Scheck! Eine Unterschrift! Mörder heran! Ein Schuß … das Leben war aus, das Gewissen zerschossen, die Schuld gesühnt!« Er lachte rauh, mit einem harten Schlag der Faust gegen die Stirn.
»Sühne?« Er lachte aufs neue. Ob er es tat, oder die Tat einem andern befahl … die gleiche Feigheit, die gleiche erbärmliche Flucht!
Wieder durchschritt er die Stube, unstet, von Wand zu Wand.
Plötzlich blieb er zum zweitenmal stehen.
»Wie? Wenn Gott selber es täte? Wenn Schicksal es täte? Gott ist gerecht. Schicksal tut nichts ohne Grund! Ein Ziegel vom Dach, ein Sturz aus dem Fenster, ein Bruch der Ketten im Fahrstuhl, auf See im Sturm ein stürzender Mast … brechende Welle … herunter von Bord, in bodenlose Tiefe hinunter!«
Wie von einem jäh aufspringenden, ungeheuerlichen Gedanken erfaßt, griff er mit beiden gespreizten Händen ins Haar. Die Muskeln seines langen, erbleichten Gesichtes begannen heftig zu zittern. Die Augen gingen weit auf und entbrannten in unheimlichem Feuer.
So stand er lange. Dann warf er sich in den Sessel, zusammengejagt von unerhörten Gedanken. So lag er viele Minuten. Plötzlich, mit wildem Ruck fuhr er empor. Er stand steil gereckt, eine hünenhafte Gestalt, regungslos mitten im Raum, den Blick starr und schwarz in die Ferne gerichtet, wie verkettet im ewigen Dunkel. Aus seiner Brust kam ein dumpfes, wie von Blöcken zerstampftes Keuchen. Es war, als entränge sich seiner Seele ein unerhörter Entschluß, der ingrimmig und endgültig war.
»Gott soll entscheiden! Und sein Urteil vollstrecken mit eigener Hand«, murmelte er aus Lippen, die hart waren wie Eisen.
Es war, als bebte sekundenlang ein dunkles, unheimliches Raunen irgendwo unter der Decke des niedrigen Raumes oder tief unter den Füßen.
Er zog die Kleider vom Leib, legte sich nieder, drehte den Schalter über dem Bett, schlug schwer die Lider über die plötzlich todmüde gewordenen Augen, atmete lange und schwer, schlief ein, und lag da, traumlos, lautlos, fast wie ein Toter.
Am nächsten Morgen gegen zehn machte er sich auf den Weg nach der Gasse de Palo. Der kleine dicke spanische Wirt, den er nach der Adresse der Schiffsreederei Alfonso Toledano gefragt, hatte mit seinen goldbraunen, in bläulichen Fettpolstern versteckten Augen seltsam geblinzelt und mit einem verschlagenen Grinsen über sein rundes, weinrotes, wie von Öl glänzendes Gesicht vertraulich gesagt:
»Kenn ich sehr gut, Señor Capitán. Schieber und Gauner. Machen feine Geschäfte?
Es war ein strahlender Tag, eine blitzende Lust und darüber ein Himmel von sengendem Blau. Ungewohnt rasch schritt der Deutsche die Straße de Montra hinauf, querte die blendende, kochende Plaza Mayor, geriet in eine breite, promenadenähnliche Straße, mit langen Reihen reglos dastehender, sonnenbeflammter Palmen vor weißen, prunküberladenen Häusern, und drängte sich mit unverwandt nach vorn gerichtetem Blick durch das lärmende Gewühl von Menschen und Wagen. Equipagen glitten dahin, mit kleinen, argentinischen Pferden bespannt, in seidenen Polstern braunhäutige, nach letzter New Yorker Mode exzentrisch gekleidete Herren, juwelenbedeckte, schwarzhaarige Damen in Weiß, um die blinkenden Schultern wehende Schals aus farbenschillernden Kolibrifedern, lässig zurückgelehnt, stolz lächelnd, als trabten vor ihnen die schlanken und rassigen Pferde über den vornehmsten Boulevard von Paris ins Bois de Boulogne.
Plötzlich war er am Eingang der Gasse de Palo. Krumm, eng und düster hing sie an der gleißenden Straße wie ein schmutziger, schräg nach unten fallender Schlauch. Je weiter er kam, desto kleiner, niedriger und unansehnlicher wurden die Häuser, die gebrechlich, schmutzig, aus dem braunen Lehm der Pampas erbaut, mit schwarzgrünlichen Schindeldächern bedeckt, trostlos aneinanderklebten, wie im Hinterlande von Uruguay in den Dörfern die elenden Hütten der Charrúas, der letzten Nachkömmlinge aus den alten indianischen Stämmen des Landes. Weiber, schwammig, mit starkknochigen, ziegelroten Gesichtern, standen in roten Unterröcken über schmutzigen Hemden unter den Türen, schwatzten mit kreischenden Stimmen oder starrten mit schwarzen, scharf glänzenden Augen in die Scharen der Kinder, die halbnackt, die gelben und braunroten Leiber mit bunten Fetzen bedeckt, im Staub und Dreck des ungepflasterten Fahrdammes spielten und tanzten. Ein hagerer, langbezopfter Chinese im gelben Kittel und blauen, breit fallenden Hosen verkaufte gedörrte Fische aus großen, schilfgeflochtenen Körben, die schwer von der Tragbahre hingen. Aus elenden Schenken drang lautes Gelärm, Schiffsvolk, das sich in Reisschnaps und süßen spanischen Weinen betrank. Aus Pökelanstalten und Fleischkonservenfabriken, steil und schwarz, mit vielen erblindeten Fenstern, kamen widerliche Gerüche.
Der Mann, der immer rascher die langsam zum Hafen abfallende Gasse hinabschritt, als hätte er Sorge, in einer wichtigen und dringlichen Angelegenheit sich zu verspäten, sah nichts und hörte nichts. Er näherte sich dem Ausgang der Straße, die sich verbreiterte und endlich im menschenwimmelnden Kai des Hafens verlief. Masten, Segel, Schornsteine, Rauchwolken in allen Farben standen reglos in der heißen, spiegelblitzenden Luft. Hinter den Schiffen, Barkasten und Flößen schillerte grün, purpurn und blau das brackige Wasser der Bai. Jenseits aus gelbem Ufersand wölbte sich, dem smaragdgrünen Rücken einer riesenhaften Schildkröte gleich, der Monte Video einem Himmel entgegen, der die tiefstrahlende Fülle tropischen Blaues kaum zu fassen vermochte.
Vor einem Haus aus gelben gebrannten Ziegeln, breiter und höher, doch nicht sauberer als die andern, machte der Deutsche halt, über einer Reihe niedriger Fenster im Erdgeschoß las er auf der Mauer in schmutzigweißer Schrift in spanischer Sprache die Worte: »Alfonso Toledano und Compagnie, Flußschiffahrtsgesellschaft, Uruguay – Paraguay, Parana, Personenverkehr, Vieh- und Gütertransport, Export und Import.«
Mit einer Entschlossenheit, die seine harten Gesichtszüge noch gespannter und eiserner machte, betrat er durch die offenstehende Tür das außen und innen verwahrloste Haus. Am Ende des schmalen, von einem Glühlicht dürftig erhellten Ganges war eine Tür, darauf ein Schild: »Alfonso Toledano y Eia.« Ohne anzuklopfen betrat er ein kleines Kontor, besten dünn verhangenes Fenster zum Hafen hinausging. Die grün getünchte, niedrige Stube, in der es nur eine Bank gab, einen langen, schiefstehenden Tisch und ein Regal, bis zur Decke gefüllt mit Aktenbündeln, Schubfächern und Kontobüchern, war flimmernd gefüllt von gebrochenem Licht. Auf der Bank unter dem Fenster hockte ein großes, indianisch aussehendes Weib, unter dem grellroten Kopftuch schwarzes, ungeordnetes Haar, hart wie Pferdehaar, das hakennasige, lange Gesicht starkknochig und ziegelrot wie die Hände im Schoß. Aus einer spaltenweit offenstehenden Tür kamen eine halbe Minute lang undeutlich die Worte eines zwischen zwei Männern flüsternd geführten Gespräches. Dann wurden Schritte vernehmbar. Ein langer, noch junger Mensch trat in die Stube, ein eckiges, hartes Gesicht von spanischem Schnitt, gelbhäutig, mit dunklen, scharf stechenden Augen, ein bartloser, blutroter Mund, schwarzes, in der Mitte gescheiteltes Haar, glatt und glänzend von Fett. Er war modisch gekleidet, roch stark nach Parfüm und stutzte ein wenig, als er neben der Eingangstür den großen, blondhaarigen Deutschen entdeckte, der rasch zwei Finger der Rechten zur Mütze hinaufschob.
»Sie wünschen«, fragte er schneidend auf englisch.
»Ich möchte den Chef sprechen, mein Herr. Mein Name ist Bork, Kapitän aus Hamburg.«
»Paolo Toledano«, entgegnete selbstsicher und kühl der Spaniole. Mißtrauisch prüfend glitt sein Blick von oben nach unten und wieder hinauf. Er sah auf den Ärmeln des blauen, vertragenen Rockes die verblichenen goldenen Tressen und über dem Schirm der Seemannsmütze als Kokarde zwei Flaggen, kreuzweis übereinander, die schwarzweißrote des Deutschen Reiches und die rote von Hamburg mit ihren drei Türmen, zwischen ihnen ein großes, silbergesticktes B, alles ein wenig zerfasert.
»Eine halbe Minute, Señor Capitán.«
Er drehte sich um, in der langen, gelbhäutigen Hand einen blaßroten Schein. Das indianisch aussehende Weib stand vor dem Tisch, knochig, in kurzem, giftgrünem Rock auf eckigen Hüften. Neben ihr auf dem Fußboden zwei große vollbepackte Henkelkörbe aus schilffarbenem Rohr. Sie legte Geld auf den Tisch und empfing den Schein.
»Also die ›Paraguay‹, nicht wahr?« sagte sie in einem rauhen, fast unverständlichen Spanisch und studierte mit blinkenden Augen den Fahrschein.
Das Weib lachte hämisch und hell: »Wann seid ihr je pünktlich gewesen mit euren gottserbärmlichen Kähnen!«
Der elegante Spaniole verzog keine Miene. Gelassen strich er das Geld vom Tisch in die gebogene Hand, zog eine Börse, ließ es darin verschwinden, steckte sie mit der gleichen Gelassenheit weg, wandte sich, als die Frau mit ihren schilfgrünen Körben verschwunden, mit einer weltmännischen Wendung zu dem Deutschen und öffnete höflich die Tür.
Alfonso Toledano, der Chef, ein Greis, der hinter einem breiten, wüst mit Zeitungen und Papieren bedeckten Doppelpult saß, in einen riesenhaften, rotgepolsterten Lehnstuhl verkrochen, blickte den Fremden aus kleinen verwaschenen Augen unsicher an. Aus dem verwelkten, mürrisch herabgezogenen Mund floß schwärzlicher Saft.
» Capitán Bork«, stellte Paolo vor.
»Was wünschen Señor Capitán?« fragte mit krächzender Stimme der Greis.
Bork, neben dem Pult, auf einem niedrigen Hocker, der außer den Sesseln der Chefs und einem breiten, mit bunten, zerrissenen Decken überworfenen Diwan die einzige Sitzgelegenheit des schlecht und dürftig möblierten Kontors war, legte die Hand mit einer schweren und langsamen Bewegung flach auf den Tisch.
»Sollte die Kapitänsstellung auf Ihrer ›Alhambra‹ noch unbesetzt sein«, sagte er rasch mit einer festen und ruhigen Stimme, »möchte ich mir erlauben, Herr Toledano, mich darum zu bewerben.«
Der Alte hob ruckhaft den mageren Kopf. Der lippenlose, blutleere Mund riß sich auf zu einem schwarzen, fast zahnlosen Loch. Der junge Toledano, der eben dabei war, sich niederzusetzen, fuhr wieder empor, wie von einer Sprungfeder zur Höhe geschnellt. Er war der erste von beiden, der Fassung gewann.
»Allerdings«, sagte er langsam, »der Platz ist noch frei.« Er schwieg eine Weile. Sein Blick wurde überscharf.
»Ohne Stellung?« fragte er plötzlich.
»Ja«, entgegnete Bork, ohne zu zaudern.
Paolo beugte sich vor und kniff die Augen zusammen.
»Ohne Patent?«
Bork zögerte.
»Ja«, sagte er dann, ohne mit der Wimper zu zucken, und dachte: »Ich lüge.«
Der Alte und der Zunge begegneten einander mit kurzen, bedeutsamen Blicken.
»Kennen Sie die ›Alhambra‹?« fragte Paolo, ließ sich nieder und beugte den Kopf weit vor. Sein langes, gelbes Gesicht zeigte deutlich eine starke nervöse Spannung.
»Nein«, entgegnete Bork, »ich weiß nur, daß sie in den nächsten Tagen ausreisen soll.«
»Das ist richtig«, nickte Paolo. »Die ›Alhambra‹ soll mit Stückgut nach Belgisch-Matadi an der Mündung des Kongo und mit einer Ladung Elfenbein nach Montevideo zurück.«
»Ja«, entgegnete Bork mit unbewegtem Gesicht, »ich habe davon gehört. Ich kenne einige Leute der Mannschaft. Soviel ich weiß, erhalten sie für diese Reise vierfache Heuer.« Er schaute von einem zum andern. »Hat man mich recht orientiert?«
Paolo Toledano antwortete nicht gleich. Auch der Alte blieb stumm. In seinen kleinen, grünlichen Augen war ein unruhiges Flackern. Dieser Capitán alemán … war er nicht recht bei Verstand? Toledano, der Jüngere, dachte: »Ein Kapitän? Ohne Stellung? Ohne Patent? Desperado? Kein Zweifel, der Mann braucht Geld.«
»Wieviel?« fragte er plötzlich.
Er beugte sich vor. Seine Hand kroch wie der braune, platte Kopf einer Schlange die Tischkante entlang.
Bork begriff sogleich den Sinn dieser Frage. Er überlegte. Dann sagte er mit einem kalten, ironischen Zug um den Mund:
»Wenn ich Ihnen, Señores Toledanos, die ›Alhambra‹ unversehrt mit voller Ladung über den Atlantik in den Hafen von Montevideo zurückbringe … zahlen Sie nach Belieben.«
Paolo stutzte. Sein schwarzer Blick bohrte sich scharf in den unbewegten des Deutschen. Plötzlich fragte er, den Kopf ein wenig erhebend:
»Was bedeutet auf Ihrer Mütze das B, Señor Capitán? Ihr Name oder die Reederei?«
Borks Lippen preßten sich hart aufeinander. Dann sagte er finster:
»Beides, Herr. Die Borks in Hamburg sind Kaufleute, Reeder und Kapitäne zugleich.«
»Und aus welchen Gründen haben Sie Ihre Firma verlassen?« fragte lauernd Paolo.
Bork starrte ihn an. »Gründe privater Natur«, sagte er schroff.
»Soso!« Der Spanier nickte und zögerte eine Weile. »Wir zahlen Ihnen …«, sagte er endlich mit einer langsamen und tastenden Stimme, zögerte aufs neue, so daß der alte Alfonso unruhig hin und her rutschte in seinem Stuhl vor unerträglicher Spannung, und fuhr schließlich fort: Wir zahlen Ihnen, wenn Sie glücklich den Hafen von Montevideo zurückerreichen …«, er stockte, dann sagte er rasch und zeigte die Zähne, »den Zehnten vom Wert der Ladung. Bedenken Sie … Kostbare Fracht! Elfenbein! Dreitausend Tonnen!«
Der Alte riß aufs neue den blutlosen Mund weit auf. Dann kam ein Kichern, das plötzlich in einem heftigen Zuklappen des Mundes verstummte.
Bork fragte mit einer Gelassenheit, die den jüngeren der beiden Spaniolen verblüffte:
»Ist die Ladung versichert?«
»Nach vollem Wert.«
»Wie hoch?« fragte Bork.
Der Spanier zog die Brauen zur Stirn. »Sechsmalhunderttausend Dollar, Señor Capitán«, versetzte er breit und grinste, »außer dem Schiff. Zehn Prozent. Rechnen Sie aus!«
»Genau das Doppelte meines Guthabens auf der Pinkertonbank in New York«, dachte Bork mit einem ingrimmig sich selber verhöhnenden, kaum merkbaren Lächeln.
»Ich denke, Señor Capitán, wir machen es schriftlich.«
Mit einem glatten, zynischen Lächeln um den blutroten Mund erhob sich Paolo und blieb eine Weile stehen, mit scharfem, prüfendem Blick.
»Wie alt?« fragte er plötzlich.
»Vierunddreißig«, entgegnete nach kurzem Stocken der Deutsche.
»Vierund...dreißig?« Er lachte. » Caramba … ich hielt Sie für fünfzig.«
Borks Blick ging dunkel an ihm vorbei. Der alte Alfonso in seinem Sessel stieß ein schepperndes Lachen heraus.
»Ja, ja«, ächzte er mühsam. »Wird manch einer grau und alt vor seiner Zeit. Ich war kaum fünfzig, da war mein Haar so weiß wie Schnee.«
»Wirst wissen warum«, sagte beißend der Sohn.
»Ich weiß, ich weiß«, grinste der Alte, verzog den verdorrten Mund und blickte mit kleinen, lüstern triefenden Augen schief zu dem Deutschen, der ihn nicht ansah. »Die Weiber, die Weiber …«; er lachte stupid.
Paolo Toledano holte hinter dem verblichenen Vorhang eines Eckschrankes eine Schreibmaschine hervor, trug sie zum Tisch und begann zu schreiben. »In Matadi«, sagte er, während unter seinen gelben knochigen Fingern die alte Maschine rasselte und seufzte, »werden Sie alles in bester Bereitschaft finden. Sie müssen sich sogleich nach Ihrer Ankunft mit unserem Spediteur in Verbindung setzen, dem Signor Nicodemo Pirato, einem Genuesen, einem ausgezeichneten Mann. Sein Kontor und das Lager liegen unmittelbar neben dem belgischen Zollamt.«
Bork nickte. »Sie wissen«, sagte er, und seine Stimme klang ruhig in das nervöse Geklapper der alten Maschine, »daß zu dieser Jahreszeit die Witterung in den Breiten, die ich durchfahren muß, sehr unruhig sein kann. Hält Ihre ›Alhambra‹ das aus?«
Mit einem Ruck zog Paolo das Blatt aus den Rollen, lachte kurz und zeigte die Zähne.
»Und ob, Capitán! Wir haben den Kasten erst vor drei Jahren gründlich überholen lassen. Der läuft wie ein Hase, pfeilschnell durch Wind und Sturm.« Er reckte den Hals. »Nicht wahr, Alter?«
»Ja, ja«, röchelte eilig der Alte, »und neu aufmalen lassen, vom Bug bis zum Heck. Und die Maschine hat erst vor acht Wochen neue Kolben erhalten.«
Bork schwieg.
Paolo schob das Blatt zu ihm hin und reichte ihm einen langen Halter aus Bambusrohr, den er tief in eine dickliche schwarze Tinte getaucht hatte.
»Bitte zu unterschreiben.«
Ohne das Blatt zu lesen, schrieb der Deutsche mit einer steilen, starken lateinischen Schrift unter den Pakt seinen Namen: Justus Bork.
»Ich werde gegenzeichnen«, sagte der jüngere Toledano nach einer kurzen, von einem heiseren Hüsteln des Alten begleiteten Pause. Während er flüchtig seinen Namenszug schrieb, fuhr er fort:
»Morgen im Laufe des Tages wird die ›Alhambra‹ in See gehen können. Bis Mittag, hoffe ich, wird die Mannschaft vollzählig an Bord sein. Ihr Steuermann, ein Schwede mit Namen Morelund, wird Sie empfangen.«
Er erhob sich und überreichte das Blatt. »So … es wäre nun alles in Ordnung.«
»Ja«, entgegnete Bork, und im harten Glanz seiner Augen entstand plötzlich ein dunkel flackernder Brand, »alles in bester Ordnung.«
Paolo streckte die lange, gelbhäutige Hand aus, die Bork zögernd, fast widerwillig ergriff und sogleich wieder losließ.
Mit einem niederträchtig verbindlichen Lächeln wünschte der Spaniole ihm glückliche Reise.
»Ja, glückliche Reise«, rief heiser der alte Alfonso, »glückliche Heimkehr, Señor Capitán!«
Bork hob die Hand zur Mütze, wandte sich um und verließ die Stube ohne ein Wort. Hinter ihm fiel die Tür mit hartem und kurzem Klappen ins Schloß. Paolo Toledano stierte ihm nach. Plötzlich sagte er, ohne den Kopf zu wenden, mit einem satanischen Lächeln:
»Es ist, verdammt, ein merkwürdig verzwicktes Gefühl, wenn man erlebt, wie einer sein Todesurteil mit eigener Hand unterschreibt.«
»Weißt du das so gewiß?« fragte fröstelnd der Greis.
»Die ›Alhambra‹ bringt keiner lebendig zurück«, versetzte Paolo.
Der Alte reckte sich mühsam aus seinem Sessel.
»Der doch«, sagte er heiser, »der doch!«
Paolo bewegte langsam den Kopf hin und her. Dann sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen: »Der nicht, mein Bester … gerade der nicht!«
Es war, als fühlte er plötzlich selber ein Grauen. Drei Sekunden lang stierte er finster zur Tür, durch die der Deutsche verschwunden war, dann lachte er schneidend und kurz und rief mit verzerrtem Mund:
»Es dürfte nichts schaden, auf das Wohl der ›Alhambra‹ und ihres Capitán alemán einen Whisky puro zu nehmen.«
Der Alte nickte und lachte dünn. Zwischen den blauen, häßlich verzogenen Lippen standen oben und unten, durch schwarze Lücken voneinander getrennt, je zwei stockfleckige Zähne.
»Weißt doch immer das Rechte, mein Sohn«, sagte er, mit lüsternem Blick auf die Gläser, die Paolo bereits füllte, »immer das Rechte.«
Er trank und setzte unvermittelt das halb geleerte Glas von den Lippen.
»Und wenn er dennoch zurückkehrt?« fragte er wie aus plötzlichem Schreck. »Was dann, he?«
Der Sohn verzerrte den Mund, stieß sein Glas heftig zum Tisch und stierte den Vater sekundenlang an, als hätte er plötzlich alle Fassung verloren. Dann schien es, als durchblitzte ein Gedanke sein Hirn. Mit diabolischem Lächeln trat er zum Tisch, nahm den Vertrag, faltete ihn, zog eine Zündholzschachtel hervor und steckte den Streifen in Brand.
»Geschieht ihm recht, diesem Dummkopf von einem Capitán alemán«, sagte er grinsend, »warum hat er sich kein Duplikat geben lasten!«
Und während er mit triumphierendem Blick den Weg der züngelnden, eilig fressenden Flamme verfolgte, und der alte Alfonso mit aufgesperrten Augen und weit aufgerissenem Mund sprachlos hinüberstaunte, fuhr er ingrimmig fort:
» Caramba! Santa Marina wird ihnen gnädig sein, den Toledanos, Vater und Sohn.«
Es war ein schimmernder Tag. Unter dem sattblauen Himmel, in dem wie weißes, rollendes Feuer die Sonne stand, wälzte sich der Rio de la Plata wie glühende Lava breit und träge am Monte Video vorbei. Lichtstrahlen aufschleudernd, die hin und her schossen wie Blitze zwischen den Schornsteinen und Masten der Schiffe, die im brackig schillernden Wasser des langen Hafens verankert waren.
Es war zwei Stunden vor Mittag. Durch das menschenwimmelnde, karrenknatternde, winschenkreischende Getriebe des schmalen Kais bahnte sich Bork seinen Weg, scharf ausspähend, den Kopf ein wenig zum Nacken. Plötzlich machte er halt. Da lag, zwischen vielen kleinen, schmutzigen Barkassen und Dampfern, mit ragendem Bug, die schwarzweißrote Flagge am Heck, die stolze »Kap Negro« der Hamburg-Süd. Achtern donnerten unaufhörlich sonnenbeblitzte Kohlen in die schwarz geöffneten Bunker. Über vier Laufplanken zur Back schleppten halbnackte Mulatten in endlosem Zug auf und nieder die Pökelfleischkisten aus den Saladeros von Montevideo in die Frachtkammern des mächtigen Schiffes. Am Bugspriet, hart an der Reling, stand Kapitän Marr, lang, hager, mit bartlosem, scharfem Gesicht, die Hände tief in den Taschen des Rockes, in lebhaftem Gespräch mit drei deutsch aussehenden Herren, die tropische Anzüge trugen. Bork kannte ihn gut, ihn und sein Schiff, auf dem er, zwanzigjährig, mit seinem Vater nach Spanien gefahren. Eine Weile starrte er hin und lauschte der dunklen, volltönenden Stimme. Dann wandte er schwer den Kopf. Viele Sekunden lang stand sein Blick reglos zwischen den abgetakelten Masten eines britischen Schoners, mit hartem Glanz zur Ferne gerichtet. Als er sich senkte, traf er den Namen »Alhambra«, der in großen, weißen Buchstaben nahe dem Bug auf die Bordwand eines mittelgroßen, sonderbar breitgebauten Dampfers gemalt war. Bork erkannte sogleich an den eigentümlich halbmondförmigen Ausladungen des Decks mittschiffs Backbord und Steuerbord, daß dieses Fahrzeug in vergangenen Zeiten ein Raddampfer gewesen sein mußte, ein alter, verbrauchter Uruguay-Klepper, durch eine Schraube auf Seefahrt dressiert. Sie sah nicht übel aus, diese »Alhambra«, unter den Blitzen der Sonne, die sich breite Wege bohrten durch den schwerfälligen Rauch über dem Hafen. Die Reling schien ohne Tadel. Die Scheileits glänzten, als wären sie neu. Die Brücke, das kleine Kompaßhaus in der Mitte, darunter das Kartenhaus mit schmalen, viereckigen Fenstern hoben sich aus den sauber gescheuerten Planken des Decks, als hätte man sie für Ewigkeiten gebaut. Aus dem schrägstehenden Schornstein kam dicker, pechschwarzer Rauch. Über der Schraube am Heck hing in einem schmalen Fallreep ein Mann, der heftig mit einem schweren Hammer den Steven beklopfte.
Zwei Minuten später stand Bork auf der Back vor einer Gruppe von Leuten der Mannschaft, die erregt miteinander sprachen, die Köpfe zusammengesteckt, mit hitzig gestikulierenden Händen. Sie fuhren auf seinen Anruf herum und strafften sich unwillkürlich, als sie den großen und breiten Mann erblickten, den sie seinem marinemäßigen Aussehen nach für ihren Kapitän halten mußten. Zwei junge, verwegen dreinfunkelnde Kerle in roten, weit aufstehenden Hemden und breiten gelbledernen Hosen rissen die Mützen vom Kopf und grinsten ihn an, der dritte, ein kleiner schmächtiger Mensch, einer heruntergekommenen britischen Blaujacke ähnlich, plierte aus vertrunkenen Augen mißtrauisch herauf.
Bork grüßte und fragte sie kurz:
»Offiziere bereits an Bord?«
»Melde mich zur Stelle, Herr Kapitän.«
Bork wandte sich um. Er erkannte sogleich den Schweden aus der Spelunke in der Gasse de Credo, der unter den heruntergekommenen Janmaaten der anständigste und ruhigste gewesen war.
»Mein Name ist Morelund. Ich soll Offizier sein auf diesem Schiff.«
Bork sah ihn verwundert an. »Soll?«
Um den langen, blassen, schmallippigen Mund des Schweden glitt ein schwaches, seltsames Lächeln, das sogleich wieder verschwand.
»Man hat mich nicht lange gefragt. Ich bin Steuermann gewesen auf einer Malmöer Bark. Seit einem Jahr ohne Stellung.«
»Nie auf Dampfern gefahren?«
»Nein, nie!«
»Soso.«
Bork sah ihn einige Sekunden lang scharf und forschend an.
»Was hat er für große und traurige Augen«, dachte er plötzlich.
»Schaffen Sie mir die Mannschaft an Bord!« befahl er endlich in einem kurzen Ton.
Es dauerte nicht lange, dann standen sie alle im Halbkreis um ihn herum, die heruntergekommenen Janmaaten aus der Spelunke in der Gasse de Credo und einige mehr, Kohlenschlepper, Heizer, Matrosen und Maschinisten, von gleichem Schlag, verrottetes Pack, Menschengesindel, das nichts mehr zu verlieren, zu verkaufen und wegzuschmeißen hatte als das erbärmliche Leben, Lumpengestalten mit Sträflingsgesichtern, darunter zwei oder drei, die den Eindruck erweckten, als hätten sie niemals in ihrem Dasein Schiffsplanken betreten.
Mit festem, ein wenig zusammengedrücktem Blick schaute Bork die Reihe entlang. Dann sprach er sie an:
»Ich bin euer Kapitän, Leute. Ich erwarte Zucht und Ordnung an Bord. Wer nicht gehorcht, kommt in Eisen?
Er sprach Englisch, das breite, verdorbene Pidgin-Englisch der Seeleute, das sie alle verstanden. Der lange Schwede, der ein wenig beiseite stand, ruhig und ernst, mit großen, leidvollen Augen über dem gelben Gesicht, nickte ihm schweigend zu. Auch die Mannschaft blieb stumm. Einige grinsten sich an. Andere blickten sonderbar zwinkernd in das kantige, unbewegte Antlitz des Kapitäns. Bork fragte jeden nach seinem Namen und der Art seiner Arbeit. Frech, schroff, finster, höhnisch, feixend, verschlagen oder verlogen gaben sie Antwort. Einige devot und geduckt, andere mit deutlich gezeigtem Respekt. Einige aus der Spelunke erkannte er wieder, den britischen Seesoldaten, der sich John Holiday nannte und Deserteur zu sein schien, den rothaarigen Trimmer und den zwerghaft verkrümmten Matrosen Jim Fox, der das Gesicht eines Pavians hatte und so betrunken war, daß er nur stammeln konnte. Einer der letzten, ein Heizer, vierschrötig, mit schweren, plump am Körper hängenden Armen, Haarschopf, Gesicht und Hände schwarz bekrustet von Schmutz und Ruß, als hätte er sich jahrelang nicht gewaschen, fügte seiner Antwort mit dumpfem Murmeln hinzu: »Man hat uns feine, verdammt feine Kohlen in die Bunker getan, Herr Kapitän. Mehr Rauch und Asche als Feuer.«
»Mußt sie mit Petroleum begießen«, rief eine brüchige Stimme. Sie kam vom Koch, der neben ihm stand, eine schlohweiße, lange und dürre Gestalt, eine graue, verschmutzte, viereckige Mütze auf dem spitzigen Schädel. Krächzend begann er zu reden, in einem raschen, schlechten Französisch, man habe ihn auf die Straße gesetzt, aus einer Speisehalle beim Hafen, ohne Kündigung, bloß seines Alters wegen, »und der da«, er zeigte auf den rothaarigen Trimmer, »hat mich aufgegriffen und auf die ›Alhambra‹ verschleppt, dafür sei ich noch gut.« Er lachte verzerrt. »Ich heiße Lupu Jambon, bin sechzehn Jahre lang Pariser Koch beim König von Siam gewesen.« Keuchend, fast heulend hörte er auf.
Bork starrte ihn an und verspürte eine Regung von Mitleid. Kurz gab er den Leuten Befehl, an die Arbeit zu gehen. Auch der Koch drehte sich um. Bork rief ihn zurück.
»Wenn du von Bord willst, es steht dir frei.«
Da entstellte sich das alte, in einem langen Leben verschrumpfte Gesicht.
»Nein«, rief er heiser. »Soll ich draußen auf der Gasse krepieren wie ein verhungerter Hund? Hier hab' ich mein Brot. Und wenn wir zurück sind, verdammt, die Toledanos bezahlen vierfaches Geld.«
Seine winzigen, tief in blauen Gruben steckenden Augen sprühten vor Gier.
Das Mitleid in Bork verging. Ohne zu grüßen, ließ er ihn stehen.
An der Reling stand wartend der Schwede.
»Kommen Sie, Morelund«, sagte er finster. »Wir wollen das Schiff überholen.«
Ehe sie in den Niedergang tauchten, sahen sie einen chinesischen Kuli eilig die Laufplanke heraufkommen, keuchend, Kopf und Nacken gebeugt unter einem kleinen, dickbäuchigen Faß.
»Wohin?« rief ihn Morelund an.
»Rum für die Mannschaft«, ächzte der Chinese auf spanisch, »von Toledano, dem alten«, lief nach achtern und verschwand durch die Luke zum Mannschaftslogis.
»Noble Leute, die Toledanos«, murmelte hinter ihm herblickend der Schwede. »Wissen, was sich gehört.«
»Kommen Sie«, sagte hart und heftig der Kapitän.
Mit einer alten Schiffslaterne, die verbeulte Metallteile und staubblinde Glasscheiben zeigte, durchleuchteten sie die unteren Teile des Schiffs. Zwischen den Bodenwrangen über dem doppelten Kiel stand Wasser, wrackiges, stinkendes Wasser. Beim Vordersteven war die Vernietung mit dem Kiel nicht in Ordnung. Die Eisenlappen hingen verrostet und locker in ihrer Verschraubung. Beim Steven neben dem Austritt der Schraubenwelle klaffte ein Riß, notdürftig verkittet mit Zement oder Lehm. Lange standen sie vor den Maschinen, beide mit dem gleichen, unbewegten Gesicht. Im verbeulten Manometer fehlte der Zeiger.
»Uraltes Modell«, sagte der lange, schwarzhaarige Kerl, der mit einer Handvoll schmutzigen Wergs an den ranzig verschmierten Ventilen und Kolbengelenken herumwischte. Unter den Kesseln im Heizraum brannten die Feuer. Der baumstarke Heizer bedeckte mit wuchtigem Schwung seiner Schaufel die prasselnde Glut mit Kohle. Unter der schwarzen Schicht war lange ein dumpfes Brodeln, Knacken und Fressen, bis sie zerriß und die Lohe emporbrach, gelbrot, rauchspeiend, fauchend und donnernd.
»Nicht viel los mit den Kesseln«, knurrte der Heizer und schlug mit seiner Schaufel das Feuerloch zu, daß es klirrte. »Drei Röhren sind leck. Es zischt wie verrückt, man weiß nicht woher.«
Bork wandte sich weg, ohne ein Wort. Von dem schweigsamen Schweden gefolgt, klomm er die steile eiserne Stiege hinauf, die unsicher in rostbedeckten Scharnieren hing.
»Gottes Sturm wird leichte Arbeit haben«, dachte er dunkel.
Zwei Stunden nach Mittag löste die »Alhambra« die Trossen, rasselte aus den Schlammgründen des Hafens den Anker herauf. Bork stand auf der Brücke neben dem Kompaß, die Hände im Rad. Tief unten begannen die Maschinen ihr Werk. Sie stampften und stöhnten. Durch die Spanten und Planken, die vergitterten Fenster der Scheileits, durch die Verlaschungen der Luken ging ein Knirschen, ein Ächzen, ein Seufzen. Schwerfällig, mit hastig sich drehenden, zuweilen kreischend absetzenden Schrauben manövrierte das alte hochlaufende, kärglich mit Stückgut befrachtete Schiff an der Kap Negro und vielen Barkassen, Flößen, Dampfern und Seglern vorbei aus der Bai von Monte Video in den Rio de la Plata hinein, der mit breitem, grün schillerndem Rücken unter den Sturzbächen der Sonne sich dehnte und wälzte, querte das Küstenmeer der Lagunen und kroch mit ostnordöstlichem Kurs über die gleißende See, träge wie eine Schnecke, von einem kräftigen Wind aus den Pampas lange verfolgt, so hartnäckig und steif, daß das Leeboot ins Schwanken kam, sich den Tauen entwand, niederstürzte und ein Stück der Reling zerschlug.
Tage vergingen.
Die Mannschaft verhielt sich anständiger und menschhafter, als Bork es erwartet. Der Ozean rollte in einer schönen, tiefrauschenden Dünung voll sattblauen Glanzes unter der kristallenen Wölbung des sonnenbefeuerten Himmels. Durch die blitzende Luft tönte ein gleichmäßiger Wind, Passat aus Südost. Herden von Zirruswölkchen, von seinem sanftmütigen Atem getrieben, schimmerten hoch in der Luft, wie weiße Lämmer auf amethystfarbenen Wiesen. Kein Anzeichen kommender Stürme. Dies alles machte die Leute friedfertig und heiter. Sie gehorchten jedem Kommando. Es schien, als hätten sie in aller Verkommenheit ihrer Seelen Respekt vor dem entschlossenen Willen, dem strengen Ernst und dem überlegenen Blick dieses Mannes, der es gewagt hatte, Kapitän eines Schiffes zu werden, aus dem aus hundert Winkeln die Worte starrten, unheimlich und unsichtbar: Verrottung und Untergang. Nur wenn sie Freiwache hatten, vertilgten sie Unmengen von Rum, Whisky und Gin. Dann gab es in den Messen tobenden Lärm, Boxkämpfe und unflätige Lieder, wie Gebrüll wilder Tiere. Doch nie wurden die Messer gezogen. Die Fäuste genügten. Nur einmal wurde einer auf vierundzwanzig Stunden in Eisen gelegt und in der Heckducht verstaut, tief unten im Schiff. Es war Jim Fox, der Zwerg mit dem Paviansgesicht, der dem auf einem Haufen Tauwerk hinter dem Kartenhaus unter der Mittagsglut eingeschlafenen Schweden Morelund die dicke Tombakuhr mit einer Beißzange von der Kette geknipst hatte und im Augenblick von dem Schweden selber erwischt wurde, als er dabei war, das gestohlene Gut unter dem Strohkissen in der Koje des rothaarigen Trimmers arglistig und frech zu verstecken.
Bork selber hielt sich von seiner Mannschaft zurück. Er sprach mit keinem. Sie hörten seine Stimme nur dann, wenn er Kommandos gab oder mit Morelund sprach. Dieser Schwede mit seinem ruhigen Wesen und seinem stillen und ernsten Gesicht und seinen hellblauen, oft tief und traurig nach innen gerichteten Augen war unter dem tierhaften Gesindel an Bord der einzige Mensch. Sehr rasch hatte er sich unter der Anleitung Borks mit der Steuerung des Dampfers vertraut gemacht. Eines Tages, als er seinem Kapitän das Rad übergeben und noch eine Weile auf der Brücke neben ihm stand, schweigend und in sich gekehrt, fragte ihn Bork unvermittelt:
»Sagen Sie, Morelund … warum sind Sie auf diesem Wrack?«
Der Schwede blieb eine Weile stumm. Sein Blick ging weit an Bork vorbei und wurde dunkel und schwer.
»Ich weiß es nicht, Herr Kapitän«, sagte er endlich, »ich bin sinnlos betrunken gewesen, als ich in die Hand des Agenten schlug und das viele Geld in die Tasche steckte, das er mir gab und das ich nahm, weil ich seit einem Jahr ohne Stellung war und in der Tasche keinen einzigen Cent. Gott weiß, es war das erstemal, daß ich in meinem Leben betrunken war. Aber ich wollte mir, weil ich's nicht länger ertragen konnte, das ewige Grübeln ersäufen.« Er schwieg eine Sekunde, dann fuhr er fort, ernst, murmelnd, als spräche er zu sich selber: »Und als ich nüchtern war, am nächsten Tag, da war mir dies alles recht. Denn es ist gleich, was man tut, wenn einem das Leben verpfuscht ist und man keinen richtigen Zweck mehr erkennt, weshalb man noch lebt. Gleich, in was für einen Sarg man sich bettet, und wo man ihn in die Erde scharrt oder ins Meer wirft.«
Der Schwede verstummte, sah das bleiche, unbewegte Gesicht Borks und den starr nach unten gerichteten Blick. Er wollte gehen, doch er blieb wie gebannt. Um seinen Mund lief ein Zucken. Es schien, als wollte er fragen: »Und Sie, Kapitän, warum führen Sie dieses verrottete Schiff?« Doch er zögerte, kniff die Lippen zusammen, blieb noch eine Weile ohne zu sprechen neben dem Kapitän. Dann ging er schwerfällig davon. Als er die steile Treppe hinab nach achtern verschwunden und der schwere Hall seiner Schritte verklungen war, ging um den hartgeschlossenen Mund des Mannes an Steuerrad ein schwaches, kaum merkbares Zucken. Er beugte sich weit nach vorn, spähte scharf übers Meer, unablässig, obwohl nirgendwo in der gleißenden Weite ein Segel, ein Schornstein oder eine Wolke zu sehen war.
Eines Tages, ehe die Dämmerung kam, stieg aus dem Horizont die Insel St. Helena auf, wuchs und wuchs, ein brennend weißes Gebirg, aufgereckt wie eine Pyramide aus den glühenden Sandflächen Ägyptens.
Sie kamen näher und näher. Dämmerung wälzte sich auf. Unverwandt starrte Bork zur Insel hinüber. Die linke Hand schwer auf der Brüstung des Brückengeländers, die andere hart verkrampft um das Glas.
Ihm war, als stände hoch auf den steilen, von Brandung umschäumten Klippen eine dunkle Gestalt, gedrungen und schwer, wie gehauen aus Stein, umstarrt von Einsamkeit, die Arme verschränkt über der Brust, die Stirn zur Brandung gesenkt, düster vom Wühlen rastloser Gedanken, Vergangenheit formend, Zukünftiges türmend, ein Titan noch in der Verbannung.
Es war dunkel. Aus dem brennend weißen Gebirge wurde ein Wall schwärzester Mauern, ein finster gequaderter Kerker inmitten der grauenvollen Wüste eines endlosen, dumpf rollenden Meeres.
Seit drei Tagen lag die »Alhambra« auf der Reede von Matadi am südlichen Mündungsufer des Kongo vor Anker. Sieben halbnackte Neger, die ebenholzschwarze Haut feucht blinkend unter dem steilen Glutsturz der afrikanischen Sonne, schleppten gewaltige Kisten, die sie auf Flößen heranbrachten, in die dunklen, stinkenden Laderäume des Schiffes, das immer tiefer einsank in das gelbe, schilfgrün durchwischte Wasser des Kongo. Die Lagerspeicher der Faktorei des Genuesen Nicodemo Pirato schienen unerschöpflich.
» First claß«, hatte der schwarzhaarige, sehnig gebaute Pirato gesagt, als er am ersten Tag im kleinen Kontor seiner Faktorei eine dieser schweren Kisten vor dem deutschen Kapitän hatte aufbrechen lassen. Einen der schlanken, blendend weißen, gelblich behauchten, edel gebogenen Elfenbeinzähne hatte er aus der Kiste herausgenommen und Bork in die Hände gelegt.
»Wiegen Sie, wiegen Sie, Signor Capitano! Erlesene Ware! Dreitausend Tonnen!« Über seinen weißen blitzenden Zähnen verzog er den dunkelroten, üppigen Mund.
»Santa Maria della Peruggio, die Herren Toledanos, Vater und Sohn, verstehen sich auf gute Geschäfte!«
Mit zärtlich streichelnden Händen hatte er den mattblinkenden Zahn in die Kiste zurückgelegt. Nun stand er neben dem Kapitän auf Deck der »Alhambra«, unweit der Luke, in der die Neger mit ihrer kostbaren Bürde unaufhörlich versanken. Sorgfältig notierte er jede einzelne Kiste. Gegen Mittag, als sämtliche Frachträume achtern und vorn vollgepackt waren, verstauten die Schwarzen die letzten Kisten vorn auf der Back.
Kapitän Bork beugte sich weit über die Reling.
»Die Tiefladelinie liegt bereits drei Zoll unter Wasser«, sagte er, als er sich wieder erhob.
Der Italiener hob lächelnd den Kopf.
»Die Kontrolleure von Belgisch-Matadi, Signor Capitano«, entgegnete er mit einer sanften Stimme und einem freundlichen Lächeln, »nehmen es nicht so genau.«
Als die letzte Kiste verstaut und über den stattlichen Stapel eine braune, verschmutzte, vielfach geflickte Persenning gespannt war, löste Nicodemo Pirato den Zettel vom Block, steckte ihn weg, zog einen länglichen Brief aus der Tasche und reichte ihn Bork.
»Die Konnossemente, Herr Kapitän. Wie ich höre«, fügte er mit einem neuen Lächeln hinzu, »sind Sie mit zehn Prozent am Wert der Ladung beteiligt … corpo di bacco … die Toledanos sind nobel. Glückliche Heimkehr.«
Er machte eine kleine elegante Verbeugung, drückte die Hand, die der schweigsame Mann ihm reichte, dann stieg er behende mit funkelnden Augen das Fallreep hinab in sein Boot, das sogleich, vier schlanke Negerknaben mit federnden Muskeln fest in den Riemen, mit haarscharfem Bug pfeilschnell das schillernde Wasser zersägte.
Als aus den fernen Urwäldern am oberen Kongo die Nacht heraufzufinstern begann und auf den Dampfern und Segelschiffen, die auf der Reede von Matadi verankert waren, die ersten Lichter erglommen und zwischen den winzigen Hütten der Eingeborenen die wilden, hungrig umherstreifenden Hunde anfingen zu bellen, stand Bork steuerbord an der Reling, die Hände um das Geländer geklammert. Er war fast allein. Drei Mann von der Wache lagen achtern faul auf den Planken, tranken Gin und rauchten lange, pechschwarze Zigarren. Der Schwede Morelund hockte, wie immer des Abends, in seiner Kabine backbord unter dem Deck.
Rasch fiel die Nacht. Hoch in tiefschwarzer Wölkung brannten weiß und funkelnd die unermeßlichen Scharen der Sterne.
Bork starrte unablässig zum Strand. Dumpf und ohne Ziel gingen seine Gedanken. »Wann kommt der Sturm …?« stieg es plötzlich dunkel aus der Tiefe herauf und erlosch in der gleichen Sekunde. Vom Strand her, aus kleinen, runden Fensterlöchern glomm trübes Licht. Da hockten in den niedrigen Schenken hinter Wänden aus Brotbaumholz, unter Dächern aus Palmblätterrippen, auf Schemeln von Bambusrohr seine Leute, fraßen sich voll an fettem Flußpferdragout, tranken Palmwein dazu und küßten, wenn sie betrunken waren, den schwarzen Weibern die blauroten Lippen. Ihr rauhes Lachen und das schrille Kreischen der Weiber drang aus den Fensterlöchern und zerbrach die Stille der tropischen Nacht.
Da hörte Bork plötzlich unter sich den schönen und dunklen Klang einer singenden Stimme. Verwundert horchte er auf. Es konnte nur Morelund sein. Er sang ein schwermütiges, nordisches Lied. Es waren Worte der Liebe, melancholisch und süß, schluchzend aus seligstem Glück, dunkel getragen von einer Ahnung unermeßlichen Leides.
Wundersam, wie Sang aus träumender Seele, kam es herauf.
Atemlos, mit schwer klopfendem Blut, die Augen zur Hälfte geschlossen, die Lippen hart aufeinander, lauschte der einsame Mann. Die Haut unter den tiefliegenden Augen, von den langen, hellblonden Wimpern berührt, schimmerte feucht. Sein Atem ging tief.
Die Worte verhallten, das Lied verklang. Wie Klage aus einer tiefen, schmerzlichen Not schwebte der letzte Ton dunkel zur Höhe, streifte das Herz des immer noch lauschenden Mannes und verlor sich in den schwarzen, unabsehbaren Weiten des Alls.
Da schrak er zusammen, schlug die Lider empor und starrte lange verworren in das wilde Gefunkel der Sterne. Sein Ohr vernahm dumpf ein lautes Johlen und Lärmen. Sein Blick, der sich senkte, sah dunkle Gestalten betrunken taumelnd den Strand entlang und den Booten entgegenwanken, plump und schwer, die Gesichter weiß und die Kleider blinkend im Sternenfeuer der Nacht.
Der Mann an der Reling senkte den Kopf tief bis zur Brust. Ein Seufzen stieg auf, schwer, klagend, tief aus unvergänglichem Weh. Als er das Klatschen der Ruder vernahm und das immer naher herankommende höllische Johlen, ging er davon, die Schultern nach vorn, mit schwerem, schleppendem Schritt zu seiner Kabine.
Es war sieben Uhr morgens. Aus dem dicken Schornstein der »Alhambra« walzte sich pechschwarzer Rauch steil und träge durch die heiße, vom Gold der Sonne blitzend durchrollten Luft. Breit und schwer, gleißend wie zähflüssiges Blei, lag die Mündung des Kongo vor den dunkelgrünen, endlosen, die Ewigkeit suchenden Wassern des atlantischen Meeres.
Auf der Brücke stand Bork neben dem ernsten und schweigsamen Schweden.
»Paradies«, sagte Morelund plötzlich.
Bork sah im Blick des großen, breitstämmigen Menschen einen sonderbar traumhaften Glanz, um den harten Mund ein entrücktes Lächeln, das alle Falten, die ihn umgaben, ausgelöscht hatte. Unvermittelt begann er zu lachen, laut und rauh, Gesicht und Blick jählings verdunkelt.
»Verdammt, Kapitän«, rief er grimmig, »es kehrt keiner zurück in sein Paradies, wenn er einmal heraus ist!«
»Nein, nie!« rief Bork. Seine Stimme klang tief und erregt, und in seinen Augen war plötzlich ein schütterer Brand, der ebenso schnell wieder verging. Rasch beugte er sein Gesicht zum Schallrohr und rief ein Kommando hinab.
Unten der Maschinist warf einen Hebel herum, dann einen zweiten. Der lange, öltriefende Kolben setzte mit einem ächzenden Laut mühselig sich in Bewegung, um sogleich wieder, mit einem heftigen Knirschen, zu stoppen. Die Schraubenwelle hatte kaum eine Vierteldrehung gemacht. Nun stand auch sie wieder still. Aus den Ventilen zischte weißer, wütender Dampf. Der lange Kolben stand auf dem toten Punkt. Mit grimmigem Fluch schlug der Maschinist die Hebel zurück, griff nach einer verbeulten Kanne, schüttete sinnlos Öl ins Kurbelgetriebe, warf aufs neue die Hebel herum und versuchte, während siedendheiße Wolken von Dampf ihn umzischten und die Kommandoglocke zornig zu schrillen begann, durch den Druck seiner gewaltigen Schultern die Kolbenstange dem toten Punkt zu entreißen. Es gelang. Das große Rad fing an, sich zu drehen. Unter den Eisenplanken des Bodens drehte sich kreischend die Welle.
»Biest«, stieß der Maschinist zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus und stierte die Maschine sekundenlang an, mit bösem Blick, als sei sie ein widerspenstiges, heimtückisches Tier, das er haßte.
Zehn Tage später, als sie aus dem Gebiet des Südostpassats den Regionen der braven Westwinde entgegenkrochen und die Freiwache faul auf dem Achterdeck lag im Schatten der aufgestapelten Elfenbeinkisten, richtete einer der Leute plötzlich sich auf und schnupperte mit vorgestrecktem Gesicht und bebenden Nüstern lange in die blendende Luft und den weichfließenden Wind. Von seinen eingetrockneten Schläfen hing dünnes, aschgraues Haar.
Verwundert stierten die Leute ihn an.
»Verdammt«, hörten sie nach einer Weile ihn murmeln, »es riecht nach Sturm!«
Da schraken sie alle empor und starrten über das Meer.
»Keine Wolke am Himmel!« brüllte mit lautem Lachen der kleine krumme Matrose Jim Fox, der wie ein Pavian aussah.
»Wer den Sinn dafür hat«, sagte der graubehaarte Janmaat, »kann ihn riechen, den Sturm, drei Tage vorher.«
»Wenn das wahr ist«, schrie mit einer Grimasse der kleine krumme Matrose, »Teufel, man muß rechtzeitig anfangen, sich voll und toll zu saufen«, sprang auf und rannte unter dem rauhen Gelächter der andern in die Kombüse zum Koch und kaufte sich für drei englische Pennies ein Doppelquart Gin.
Am nächsten Morgen stieg die Sonne herauf, purpurn wie sonst, vergoß ihr Blut und rollte mit weißem Glanz zum Zenith, der blau war wie nie. Es schien dem Schweden, der auf der Brücke neben dem Steuerrad stand, als sei die Dünung nicht mehr so glatt und glänzend wie gestern und alle Tage vorher. Wenn sie sich senkten, waren die Scheitel in eigentümlicher Weise gekräuselt. Es war, als ginge von Norden her durch den ganzen Atlantik ein feines, kaum merkbares Zittern. »Vielleicht«, dachte der Schwede, »bebt irgendwo in ungeheurer Ferne im tiefsten Abgrund des Meeres die Erde.«
Drei Stunden nach Mittag, als Bork auf der Brücke stand und mit dem Glas den ganzen Horizont spähend umkreiste und südwestlich bereits die Zackengipfel der Insel Sankt Helena gesichtet hatte, erkannte er plötzlich nordnordost dicht über der Kimmung drei kleine Wölkchen, ein Dreieck, die Spitze nach oben. Er beugte sich vor und schaute lange hinüber. Unbewegt standen sie, drei schwarze Punkte im tiefblauen Himmel.
»Sturm«, murmelte er, ohne daß sich seine Lippen bewegten, setzte das Glas beiseite, stellte das Steuerrad fest und schritt hin und her auf der schmalen Brücke, die unter seinen schweren Schritten seufzte und merklich schwankte. Nach einer halben Stunde konnte er die drei dunklen Wolken mit bloßem Auge erkennen. Da blieb er stehen, den Blick aufs schärfste gespannt. Sie standen noch immer im Dreieck, doch schienen sie zusehends zu schwellen. Unter ihnen wuchs eine breite schwarze Rauchsäule herauf, wuchs und wuchs und berührte die Wolken, die plötzlich zu einem schweren düsteren Klumpen verschmolzen. Vor der kristallenen Bläue des Horizontes stand unversehens ein mächtiger, tiefschwarzer Baum, mit schwerem Stamm und breiter, gerundeter Krone, eine Faust, eine unheimliche, finster geballte Faust, drohend herausgestreckt wie aus den dunkelsten Abgründen des Alls.
Borks Blick wurde starr. Durch sein Herz ging ein Krampf. Hart biß er die Zähne zusammen.
»Gottes Faust! Gottes gewaltige Faust!«
Da zerbrach das Wolkengebilde, wie auseinandergerissen von jählings aufspringenden Winden. Es hing über der Kimmung wie lange Schwaden von Rauch, rasch überholt von schwarzem Gewölk, das unförmig heraufbrach, wie die schwarzen und plumpen Leiber riesiger Wale, so schwollen und schwollen sie finster den halben Himmel hinauf. Aus Nordost raste ein Wind heran, der mit heftigem Pfeifen das tieflaufende Schiff überholte. Die Dünung zersprang zu kurzen, weißköpfigen Wellen.
Borks Hände umgriffen die Speichen des Rades. Mit einer kalten und scharfen Stimme gab er durchs Sprachrohr und mit Glockensignalen den Maschinisten und Heizern seine bestimmten und klaren Befehle.
Die Leute wurden von Fieber erfaßt. Morelund hielt sie, solange sie nüchtern waren, in Zucht. Sie arbeiteten oben und unten, bleich, verstört, mit zusammengedrängten Brauen und verbissenen Zähnen, dichteten und verlaschten die Luken, die Scheileits, verschlossen Niedergänge und Bullaugen und taten alles hastig, mit grimmig zupackenden Händen, in einer Art dumpfer Verzweiflung und einer quälenden Furcht vor kommendem Unheil. Grimmig dachte ein jeder: »Sturm! Ein verrottetes Schiff! Vierfache Heuer! Verdammt, wir haben es alle gewußt. Untergang! Untergang!«
Auf der langen Bank im Logis fand Morelund, der unablässig die Mannschaft befeuernd umherstrich, den Matrosen Jim Fox in die Ecke geduckt, eine Flasche zwischen den Fingern, aus der er soff und soff, unaufhörlich, in langen, glucksenden Zügen.
»Rauf! An die Arbeit!« schrie der Schwede ihn zornig an.
Der Pavian sprang von der Bank. »Verflucht, wir fahren zur Hölle!« brüllte er wild, soff den Rest seiner Flasche, schmiß sie zu Boden, daß sie zerschellte, taumelte durchs Logis und klomm wie ein Affe die eiserne Stiege hinauf.
Der Wind wurde heulend. Die Wogen wuchsen zu Bergen mit weißen, gezackten Scheiteln. Der Himmel wurde finster über die ganze Wölbung hinweg und schrumpfte zusammen. Der Horizont zog sich enger und enger. Die jaulende Luft wurde dick und grau wie von Asche und wirbelndem Staub. In allen Spanten und Planken erzitternd, krachend im Holz, bald schwerfällig stampfend, bald heftig schlingernd, schwankte das überbeladene Schiff mit kreischender Schraube durch die wühlende See, von Winden und Wogen bedrängt, die hinter ihm her waren, heulend, drohend, unerbittlich ohne Erbarmen, ein Heer von Dämonen.
Als Bork, in Ölzeug und Südwester vergraben, den Kopf nach rückwärts wandte, sah er, nicht weit vom Heck, eine gigantische Woge, steil, aufgereckt, eine indigoblaue Mauer, mit Zinnen aus fahlweißem Schaum, die unheimlich tosend herankam, rasch, mit voraufjagenden Schauern eiskalten Windes. Die Männer, die auf dem Achterdeck standen, schrien dumpf, warfen die Arme empor und erstarrten.
Eisern griffen Borks Hände in die Speichen des Rades. Es ging durch sein Hirn wie ein Blitz: Ein rascher Druck der Fäuste, eine ganze Drehung des Rades, das Schiff, die Mannschaft, er selber, wenn das Steuer am Heck nicht versagte, außer Gefahr! Oder aber, verdammt, die Hand nicht rühren, warten … eine halbe Sekunde nur … die Mauer herankommen lassen … alles aus, weg aus dem Leben! Ingrimmig lachte er auf. Und während er dachte: »Ich darf keinen Selbstmord begehen, Gott muß entscheiden«, warf er mit einem einzigen ungeheuren Druck seiner Fäuste das ächzende Rad eine ganze Drehung herum.
Ihm war, als hörte er vom Heck her das Knirschen und Krachen des gewaltsam herumgeworfenen Ruders. Er sah den Bug des Schiffes sich bäumen, sich wenden, spürte ein Splittern, Knacken und Stöhnen durchs ganze Schiff, und sah die dämonisch gereckte Welle eine Bootslänge weit von Steuerbord weg klaffend sich spalten und wutschnaubend niederbrechen in die aufdonnernde See. Die Alhambra, zur Seite geschleudert, backbord übergeneigt, Wasserflagen achtern und über Back, richtete mühselig sich wieder zurecht und schwankte weiter, von neuem Grauen unbarmherzig verfolgt. Auf der Back waren die aufgestapelten Elfenbeinkisten gefährlich ins Rutschen gekommen. Die straff gespannte Persenning, die sie bedeckte, war mit reißendem Knall auseinandergerissen, die dicken Taue zersprungen wie jäh von Blitzen zersägt. Drei, vier Kisten waren polternd aufs Deck gestürzt und mit dumpfem Krach auf den Planken zerschellt und spien ihren Inhalt über das auf und nieder steigende Deck: Kokosnüsse … braune, haarbebuschte Kokosnüsse, die in wild tanzenden Wirbeln die Reling entlang rollten bis achtern zum Heck.
Bork beugte sich weit über die Brücke. Kokosnüsse! Nirgendwo Elfenbein! Nicht ein einziger Zahn! Grimmig lachte er auf. Dann biß er die Zähne zusammen. Verdammt, keine Zeit für die Schufte Pirato und Toledanos Vater und Sohn. Unter seinen Fäusten wand sich und ächzte das Rad. Doch es war, als wollte das Steuer unter den Lawinenstürzen der Wogen nicht länger gehorchen. Wehrlos schwankte das todwunde Schiff an dunkel gläsernen Bergen vorbei durch schauervolle Täler und Schluchten.
Die Nacht brach herein. Doch die Luft wurde nicht schwarz. Den kochenden Wassern entstiegen phosphorglimmende Schwaden, die zwischen Meer und Wolken geisterhafte Helligkeit schufen. In dieser von furchtbaren Winden zerwühlten Luft war grauenvoll ein Getön, irr wie das Kreischen, Schrillen und Heulen von Klarinetten, Querflöten und Blechtrompeten eines wahnsinnig gewordenen Orchesters. Aus schwarzen Wolkenspalten begann Regen niederzuprasseln, schwer und steil wie reißende Bäche aus den Schluchten gigantischer Berge.
Bork sah, wie unter ihm zwischen zerfetztem Tauwerk, zerspaltenen Brettern und irrsinnig hin und her rollenden Kokosnüssen die Leute der Mannschaft umhersprangen, tobsüchtig, eine Horde losgelassener Teufel. Vergebens versuchte der lange Schwede, Zucht und Ordnung zu halten. Sie soffen aus dickbauchigen Flaschen, brüllten, Todesfurcht in brennenden Augen, unflätige Lieder. Einer der Maschinisten stand unter der Brücke um einen Eisenpfosten geklammert und schrie, das schweißbedeckte Gesicht von Angst und Entsetzen unmenschlich verzerrt, unaufhörlich zu Bork hinauf:
»Der Heizer ist toll! Schmeißt Öltanks unter die Kessel!«
Der hagere Koch hockte steuerbord, unweit des Bugs, die Beine zum Wasser, die mageren Schenkel um eine schief aufragende Sparre der zerbrochenen Reling geklammert, die verdorrten Finger in einen Sack verkrampft, aus dem er unablässig Kartoffelknollen herausriß, mit denen er, rasend vor Zorn, das fauchende Meer bombardierte.
» Bête, Bête!« schrie er es an. » Sacre nom de dieu! Diable Canaille! Couche cochon! Couche cochon!« Über seiner keuchenden Brust tanzte an einer silberdurchwirkten Schnur, hin und her gerissen vom Sturm, weiß wie eine Flocke aus Schnee, der große Elefantenorden des Königs von Siam.
Backbord, triefend vor Nässe, rissen zwei halbnackte Janmaaten so wild an den Pumpen, daß es in den Röhren knirschte und schrie. Doch das Speigatt spuckte nur Tropfen. Der eine, ein blonder sehniger Ire, fluchte wie toll. Der andere, ein langer, mulattenhaft aussehender Kerl mit fahlblauen Phallustätowierungen auf der zimtbraunen Brust, sprang plötzlich zur Seite, streckte die Fäuste zur Brücke hinauf und schrie, sie schüttelnd:
»Hundsfott von einem Kapitän!«
Bork, den Blick starr nach vorn, wo dicht vor dem auf und nieder steigenden Bug die Wogen sich bäumten, so hoch, als wollten sie vereint mit den pechschwarzen, tiefhängenden Wolken die »Alhambra« mit letztem, gewaltigem Ansturm mit einem einzigen ungeheuerlichen Schlage zermalmen, hörte den Schrei, zuckte zusammen, erbleichte. Doch sein Blick blieb starr.
Der blonde Ire hatte mit gellendem Auflachen den Hebel der Pumpe fallen lassen, war zu dem irrsinnig brüllenden Mann hinübergesprungen, hatte ihn bei den Schultern gepackt und heftig geschüttelt. »Mensch!« schrie er ihn an mit einem neuen grellen Gelächter, »vierfaches Geld! Vierfaches Geld!«
Da fuhr der mulattenhaft aussehende Janmaat in die Tasche der grünen Manchesterhose, riß Banknoten heraus und schmiß sie fluchend zwischen die wirbelnd hin und her rollenden Kokosnüsse auf die ächzenden Planken des tanzenden Decks und schrie aus rostiger Kehle:
»Geld! Geld! Höllisches Geld! Geld für den Tod!«
Ehe der Sturm die Scheine wegzerren konnte, stürzte sich der blonde Ire zu Boden, griff mit gierigen Fingern nach den roten und braunen Lappen, riß die nassen, um die Scheine gekrampften Hände zur Höhe mit einem lauten gierigen Lachen: »Geld! Geld! Höllisches Geld!« Eine steile Welle, die über die Back raste, zerrte ihn weg und schmiß ihn über die zerbrochene Reling ins gurgelnde Meer. Eine Sekunde noch tauchten aus dem wirbelnden Wasser, krampfhaft die Scheine umkrallend, seine langen, knochigen Finger. Gleichzeitig scholl aus der Tiefe des Schiffes ein gellendes Knallen, Krachen und Knacken. Aus zerspringenden Bullaugen, berstenden Planken und aufgeschleuderten Luken stieß höllisch zischender Dampf. Ein dumpfes, donnerndes Schüttern rann durch das Schiff von unten nach oben, vom Bug bis zum Heck. Betrunkene Menschen, vom Tod an der Gurgel gepackt, brüllten wie Tiger. Ehe die »Alhambra« in der Mitte zerbarst, sprang der kleine krumme Matrose, mit ausgestreckten Armen, schauerlich aufheulend, mit einem katzenähnlichen Sprung in die tosende See. Das letzte, was Borks Ohren und Augen im Sturz der niederbrechenden Brücke erfaßten, war die Gestalt des Schweden Morelund, groß und mächtig zwischen den Trümmern des Bugspriets, die Arme emporgereckt, das Antlitz nach oben gerichtet, die Augen strahlend geöffnet in einem überirdischen Glanz, als sähen sie die Wolken aufgespalten zu einem Tor voll himmlischen Lichtes, und aus dem bebenden Mund unablässig ein inbrünstig schluchzender Ruf, der im Brausen und Zischen des Sturmes und im Stöhnen des untergehenden Schiffes ertrank. Dann war für seine Sinne alles vorbei. Finsternis, donnerndes Chaos, und plötzlich, eiskalt um ihn her, die Stille des Todes.
Über der brodelnden Gruft, in der die Trümmer versanken, tanzten die letzten Schwaden des kochenden Dampfes wie eine Schar von Gespenstern, bis der heulende Wind sie verschluckte.
Drei Tage später, in der Frühe des Morgens, als das britische Kanonenboot Chester mit südlichem Kurs auf Sankt Helena, hundert Seemeilen von der Insel entfernt, in den Bereich der Benguelatrift kam, die von Südwest her den Atlantischen Ozean quert, sichtete der Mann im Ausguck eine unabsehbare Menge schwarzer Punkte langsam herantreiben. Er lugte scharf durchs Glas. Die schwarzen Punkte kamen näher und näher. Plötzlich erkannte er weithin verteilt eine unabsehbare Herde von Kokosnüssen, sanft von der Strömung getragen. Zwischen ihnen entdeckte er treibendes Holz, Bretter und Spieren. »Von einem untergegangenen Schiff«, dachte der Mann. Er ließ das Glas nicht von den Augen, denn er hatte ein Wrackstück gesichtet, das auf und nieder stieg und immer größer wurde und langsam näher kam. Plötzlich stieß er einen kurzen, zischenden Laut durch die vorstehenden Zähne. Er lugte verschärft. » Damned!, ja.« Da lag ein Mensch auf einer Kajütenwand oder einem abgeschlagenen Kartenhausdach. Er gab Meldung zur Brücke. Ein Boot ging zu Wasser. Es dauerte nicht lange, da lag auf den eisernen Decksplanken der Chester ein regloser, triefender Mensch mit unnatürlich gedunsenem Leib, über dem die blauen Seemannskleider klaffend zerrissen waren.
»Kapitän oder Steuermann«, sagte der Kommandant, der von der Brücke gekommen und auf dem Ärmel der Jacke die Reste goldener Litzen entdeckt hatte.
Zwei Matrosen knieten hin und begannen die steifen Arme des leblos daliegenden Mannes rasch und kräftig auf und nieder zu ziehen. Dem fahlblauen, starr geöffneten Mund entbrachen unerschöpfliche Mengen brackigen Wassers. Als sie ihre Versuche, den Lebensatem zu wecken, hoffnungslos einstellen wollten, schlug er plötzlich langsam und schwer die blauschwarzen verquollenen Lider empor. Ein erfrorener Blick glotzte sekundenlang unheimlich in die blitzende Luft, wie die dicken, glanzlosen Augäpfel toter, von der Brandung ans Land geworfener Fische. Röchelnd kam der erste Atemzug erwachenden Lebens. Dann fielen die Lider wieder zurück.
»Visitieren!« befahl der Kommandant mit unbewegtem Gesicht.
In den zerlöcherten und zerfetzten Taschen war nichts zu finden. Nur im Futter des Rockes über der Stelle des Herzens fühlte man, fest vernäht, etwas Hartes. Man schnitt eine schmale, unverschlossene Tasche aus schwarzem Leder heraus. Dann zogen sie ihm die nassen, zerrissenen Kleider vom Leib, schlugen einen langen Marinemantel herum, hoben ihn auf, trugen ihn hinunter und verstauten ihn in einer überzähligen Koje achtern im Schiff.
Ehe der Kommandant des Kanonenbootes in seiner Kajüte die Tasche, die man ihm auf den Tisch gelegt hatte, zur Hand nahm, um ihren Inhalt zu prüfen, goß er rasch hintereinander drei große Whiskys hinab. Endlich nahm er sie auf. Außen, vom Brand der Sonne, war sie schon trocken, innen noch feucht. Im ersten Blick sah er nur Geld, Fünfzigdollarscheine, ein stattliches Bündel, durchfeuchtet und ein wenig zusammengeschrumpft, kein Name, keine Adresse, keine Notiz. Er nahm die Scheine heraus, sie zu zählen. Zwischen ihnen entdeckte er plötzlich einen Fetzen Papier, der aus dem Rand einer Zeitung herausgerissen zu sein schien, denn es war deutlich neben der gerissenen Stelle schwarze, gedruckte Schrift zu erkennen. Der weiße Rand war beschrieben. Die Buchstaben, dünn und blaß, waren nicht zu entziffern, denn der Fetzen Papier war feucht wie die Scheine. Der Kommandant legte ihn hin. Später, als alles getrocknet war, nahm er ihn wieder auf. Die Schrift, mit Bleistift geschrieben, war erkennbar geworden, jedes der deutschen Worte war deutlich zu lesen.
»Man hat mich betäubt. Ich kann mich nicht retten. Man wird mich verschleppen … ich weiß nicht wohin. Ingrid.« Der Kommandant starrte lange zu Boden. Irgendein unbestimmtes Grauen faßte ihn an.
»Sonderbar«, murmelte er vor sich hin, steckte den Fetzen Papier zwischen die Scheine zurück, nahm die Brieftasche vom Tisch, machte sie auf und gewahrte in ihrer Tiefe ein winziges Bündelchen goldgelben Haars. Ein Strahl der tropischen Sonne ließ es erfunkeln.
Wieder starrte der Kommandant des Kanonenbootes Chester lange zu Boden. »Sehr sonderbar«, sagte er murmelnd, dann schob er die Scheine zurecht, klappte die Tasche zusammen und verwahrte sie in seinem Tresor.
Als der Gerettete von der »Alhambra« im städtischen Spital von Jamestown auf St. Helena nach zwei Tagen hochgradigen Fiebers aus der Besinnungslosigkeit aufwachte, in der ihn die Leute von der Chester aus dem Atlantik gezogen hatten, die Augen aufschlug und sich aufrichtete, um gleich wieder ins Kissen zurückzusinken, sah er am Fußende des schmalen eisernen Bettes zwei Menschen, die beide einen kleinen Ruf ausstießen und ihn mit einem freundlichen Lächeln begrüßten. Es war ein junger, brillentragender Arzt in weißem Kittel mit einem langen, bartlosen Gesicht angelsächsischen Schnittes und eine gleichfalls weißgekleidete, ältliche Schwester, ein rundes, gutmütiges Antlitz mit sanftblauen Augen unter blaßblondem, glattgescheiteltem Haar.
»Freut uns, daß wir Sie durchhaben«, sagte der Arzt in einem Deutsch, das englischen Tonfall hatte.
» Yes«, stimmte die Schwester zu, »wir freuen sehr viel.«
Der Patient blieb lange stumm. Seine weitgeöffneten, noch von Fieber unnatürlich glänzenden Augen wanderten langsam umher. Er schien angestrengt nachzudenken. Um den tiefroten, noch heißen Mund ging zuweilen ein Zucken. Endlich, nach einem tiefen Atemzug in einem Ton, in dem Erkenntnis und Staunen zu liegen schien: Wahrhaftig ja … ich lebe …«
Der Arzt nickte.
»Als die beiden Blaujacken von der Chester Sie brachten, vor zwei Tagen«, sagte er mit einem heiteren Klang in der Stimme, »hielt ich Sie für verloren. Sie hatten mehr als vierzig Grad und phantasierten, wie ich niemals einen Menschen gehört habe im Fieber.« Er wandte den Kopf. »Nicht wahr, Schwester?«
» Yes, indeed«, entgegnete die kleine, rundliche Schwester. » Awfully.«
Der Kranke richtete sich mühsam auf. »Wie bin ich gerettet worden?« fragte er noch immer staunend.
»Nach dem, was die Blaujacken erzählten«, sagte der Arzt, »fand man Sie zwischen einer unabsehbaren Herde von Kokosnüssen auf der Strömung der Benguelatrift mit Armen und beiden Füßen eingekeilt in die zackigen Bruchstellen einer Kajütenwand, die Sie mindestens drei Tage lang über das Meer getragen hat, nach der Berechnung des Kommandanten. Das ist alles, was ich von Ihnen weiß. Außer, was Sie selber im Fieber …«
Die Schwester, ein wenig errötend, legte rasch ihre kleine rundliche Hand auf den Arm des Arztes. Der verstummte. »Verzeihung«, murmelte er, sah den erschreckt und fragend geöffneten Blick des Patienten und sagte rasch: »In drei oder vier Tagen, denke ich, werden Sie so weit sein, daß wir es wagen dürfen, Sie zu entlassen. Good bye.« An der Tür blieb er stehen und wandte sich um. » Pardon, Sir. Darf man schon fragen«, er lächelte, »Sie sind uns ja leider noch völlig unbekannt. Die Blaujacken konnten uns keinerlei Auskunft erteilen. Nur eine Ledertasche mit Geld haben sie abgegeben. Sie liegt unten im Kastenschrank. Ich schicke sie Ihnen herauf.«
Er blieb noch eine Weile neben der Tür, als erwartete er Antwort. Doch er sah den Blick des Patienten starr ins Leere gerichtet. Da entfernte er sich.
Langsam wandte der Aufgewachte das eingefallene, noch krankhaft bleiche Gesicht zur Schwester und fragte, und jedes Wort fiel schwer wie Blei:
»Sagen Sie, Schwester … haben Sie verstanden … was ich im Fieber sprach?«
»Nicht alles, Sir«, entgegnete sie sanft, dann stockend, als wüßte sie nicht recht, ob sie aussprechen durfte, was sie nun sagte:
»Wenn das, was ich hörte, ich hatte die beiden Nächte Wache bei Ihnen, wenn das, was ich verstanden habe, lautere Wahrheit ist, dann muß man …«, ihre Stimme wurde ganz leise, »ja, dann müssen Sie sehr unglücklich sein.«
Er sah sie groß und unruhig an. Über sein bleiches Gesicht lief eine Röte. Er schwieg lange. Seine Lippen begannen zu zittern. Dann sagte er langsam:
»Fieberträume sind Beichten, die uns ein Dämon entreißt.«
Seine Augen, die sich mit dunklem Grauen gefüllt hatten, schlossen sich schwer. Der Kopf sank ins Kissen zurück.
Da wurde die Tür aufgemacht. Ein Wärter reichte die Tasche hinein und ging wieder hinaus. Die Schwester brachte sie mit einem gütigen Lächeln dem Kranken, strich ihm die Decke zurecht und verließ leise die Stube.
Es dauerte noch eine Woche, ehe man ihn entließ. Da außer den Stiefeln von seiner ganzen Bekleidung nichts übriggeblieben war als ein Häuflein unbrauchbarer Fetzen, hatte er einem Wärter den Auftrag gegeben, alles Notwendige in den Läden von Jamestown zu kaufen.
Eine halbe Stunde nach seiner Entlastung stand er auf der Rampe des kleinen, befestigten Hafens, hart vor dem Absturz. Die Bai von St. James lag mit smaragdgrünem Leuchten spiegelglatt zwischen den Zedern und Eukalypten ihrer flachlaufenden Ufer. Ein einziger rauchspeiender Dampfer, fast verzehrt von der blitzenden Lohe der glutheißen Luft, durchschnitt eilig die grüne Fläche. Fern, gleich einem Wall aus tiefblauen Quadern, stand unter der sonnenbeflammten Kuppel des Himmels das atlantische Meer. Bork stand unschlüssig in der Nähe eines stattlichen Gaffelschoners, der hart an der Rampe zwischen zwei kleinen britischen Kreuzern, die Kohlen einnahmen, verankert lag. Zimmerleute waren beschäftigt, einen neuen Fockmast zu setzen und dem Großmast neue Gaffelhölzer zu geben. Hammerschläge dröhnten herüber. Bohrer knirschten, Sägen kreischten, hoch oben im Großmast sang einer, in den Wanten hängend, mit tiefem Baß ein melancholisches, nordisch klingendes Lied. Bork sah alles, als seien es unwirkliche, nebelverhangene Bilder, und hörte alles, als seien es ferne, verworrene, unbekannte Geräusche.
»Gott hat mich leben lasten«, dachte er dumpf mit zusammengebissenen Zähnen, »Gott hat entschieden, mag er sehen, wie er mich weiterbringt.« Sein Blick hatte viele Minuten lang, ohne daß sein Bewußtsein teilgenommen, starr auf dem Namen des Gaffelschoners gelegen, der in großen, roten Buchstaben vorn auf den Steven gemalt war. Plötzlich trat der Name klar vor sein Hirn: Skagen.
Er schaute lange hinüber. Dunkel stieg Erinnerung auf. Skagen … ja, Skagen, wo die nackten Dünen daliegen wie gelbe unförmige Haufen, wo Kattegatt und Skagerrak sich die schweißtriefenden Stirnen zerschlagen, wenn sie miteinander in Streit geraten … wo die Wolken schwarz die Erde bedrücken und der Wind heult, wie aus Abgründen der Hölle. Skagen!
Er fuhr mit der Hand über die Stirn und atmete tief. Um seinen Mund war plötzlich ein Lächeln, sonderbar starr, das sogleich wieder verschwand. Er wandte den Kopf und sah im Heck die dänische Flagge. Eine halbe Minute noch blieb er stehen, dann begann er zu schreiten, verharrte aufs neue, stierte lange zum Pflaster, dann ging er rasch und entschlossen noch zwei Schritt die Rampe entlang, eine steile Treppe hinab, und über eine Laufplanke hinweg auf Deck der Skagen.
Den jungen, flachsblonden Matrosen, der im Schatten des Kartenhauses auf den Planken hockte und Segeltuch ausbesserte, die langen Beine verschränkt wie ein Schneider, fragte er dänisch:
»Kapitän an Bord?«
Der blonde Matrose, ein wenig erschrocken, plierte den großen Mann mit dem bartlosen, harten Gesicht mißtrauisch an.
»Unten in der Kajüte beim Frühstück«, sagte er zögernd mit einer kurzen Bewegung des Kopfes zum Niedergang hin.
Der Kapitän des Gaffelschoners, ein breiter, vierschrötiger Mann, hob erstaunt das rotbäckige, feiste Gesicht vom Teller, als nach heftigem Anklopfen und seinem unwillig hingeknurrten Hereinruf eine große, fremde Gestalt die Kajüte betrat, neben der Tür blieb und rasch fragte in dänischer Sprache:
»Mein Name ist Bork. Ich möchte eine Auskunft von Ihnen erbitten, Herr Kapitän.«
Der Kapitän vergaß, die Gabel, mit der er soeben ein Stück blutigen Fleisches vom Teller gespießt hatte, zum Munde zu führen. War das ein Landsmann, ein Däne? Marineblau? Stehkragen? Schwarze Krawatte? Seemannskappe? Er sah aus wie ein Brite oder ein Deutscher, wie ein Kapitän oder ein Steuermann, hatte freilich kein Schiffszeichen auf seiner Kappe und keine Tressen auf den Ärmeln des Rockes.
»Mein Name ist Nielsen«, sagte er in einem breiten, jütländisch klingenden Dänisch. »Bitte nehmen Sie Platz.« Er lachte ein wenig.
»Gestatten Sie, daß ich weiteresse. Wenn ich Sie einladen darf?« Er wies mit der fleischbestückten Gabel auf einen zweiten Teller ihm gegenüber. »Mein Steuermann ist gestern abend von Bord und noch nicht wiedergekommen, weil er in Jamestown … na ja …« Er lachte dröhnend und schob den blutigen Bissen hinter die Zähne und begann heftig zu kauen.
Bork lehnte ab.
»Ihr Schiff heißt Skagen«, sagte er rasch, als er saß. »Darf ich fragen … sind Sie selber aus Skagen?«
»Ja«, nickte Kapitän Nielsen mit prall gekugelten Backen, hinter denen die Zähne geräuschvoll mahlten. »Aber schon lange weg. Mein Vater mit seinem Boot und seiner Mannschaft ist im Skagerrak in die Brüche gegangen. Da bin ich weg nach Frederikshavn und hab' den Schoner erstanden und ihn Skagen getauft. Aus alter Treue. Aber ich hab' noch einen Großonkel in Skagen, den Oberlotsen Jes Nielsen, achtundneunzig«, er lachte breit, »außer Dienst natürlich.«
Er verstummte und aß. Bork schwieg eine Welle. »Wissen Sie«, fragte er plötzlich und reckte ein wenig den Kopf, »ob südlich von Skagen zwischen den Dünen an der Straße nach Frederikshavn das alte Bootshaus noch steht, das der Kaufmann Gabriel Bork vor mehr als fünfzig Jahren erbaut hat und fast jeden Sommer bewohnte?«
»Warten Sie mal.« Eine Viertelminute lang stierte er auf den leergegessenen und mit einem Stück Brot saubergewischten Teller. Endlich nickte er schwer. »Das ist wohl möglich. Vor zehn Jahren hat die alte Bude noch da gestanden, aber inzwischen soll sie in einem Sturm stark zu Schaden gekommen sein.«
Er hob sich schwerfällig auf, stampfte zu einem Schrank in der Ecke, entnahm ihm zwei Gläser und eine Flasche aus durchsichtigem Glas, aus der sich kristallene Flüssigkeit in die Gläser ergoß.
»Aalborger Aquavit«, sagte Nielsen, grinste und schnalzte. »Skol, bester Herr.«
Mechanisch nahm Bork das Glas und trank. Er spürte nicht den Geschmack, nur den Brand in der Kehle.
Nielsen, im Begriff, die Gläser aufs neue zu füllen, zauderte, hielt die Flasche schräg in der Hand, die kleinen Augen blinzelnd zum Gast, der regungslos dastand, den Blick unverwandt geradeaus, als sei er eingebohrt in die Wand der Kajüte.
»Sagten Sie nicht, Ihr Name sei Bork? Ja, ja«, er nickte, goß ein und stellte die Flasche beiseite. »Jetzt fällt mir alles ein. Den Alten, den hab' ich gesehen, als ich kaum zwölf war, und acht oder neun Jahre später den Mann, der sein Sohn gewesen sein soll. Der hatte seinen Jungen mit nach Skagen gebracht, und sie haben beide im alten Bootshaus gewohnt, zwei oder drei Wochen lang. Der Junge ist verdammt ein strammer und hübscher Bursche gewesen, wenn er daherkam und den jungen Weibern von Skagen den Kopf verdrehte mit seinem hellen Haar und seinen blauen, feurigen Augen. Ja, ja, die Weiberchen waren hinter ihm her wie die Möwen hinter dem Schiff. Einmal«, er lachte sein fettes Lachen, »entschuldigen Sie, Herr, wenn Sie's selber gewesen sein sollten, als er an unserem Garten vorbeikam, da hat mich die Wut angefaßt, weil er der Kare Kjörr nachplierte, In die auch ich mächtig verliebt gewesen bin. Da hab' ich dem jungen Bork, weil ich gerade beim Stallreinigen war, eine Handvoll Hühnermist mitten auf die weiße Primanermütze geschmissen.«
Er lachte, aufs höchste belustigt, nahm sein Glas und fuhr fort, ehe er trank:
»Damals vor zehn Jahren, als ich zuletzt In Skagen gewesen bin, da hat mir der alte Oberlotse viel von dem Großvater erzählt, mit dem er fast jeden Abend in der Schenkstube von Madsens Hotel Cederlundpunsch trinken mußte. Immer hat er eine Frau mit nach Skagen gebracht, jedes Jahr eine andere!« Er lachte. »Skol! Herr! Warum trinken Sie nicht, Herr? Aalborger Aquavit reinigt das Blut!«
Wieder trank Bork, ohne zu wissen, daß er es tat. »Der Mann, von dem Sie sprechen, ist nicht mein Großvater gewesen«, sagte er langsam, ohne den Blick zu wenden, das leere Glas in der niederhängenden Hand. »Ein Großonkel von mir, Junggeselle sein Leben lang.«
»Soso«, feixte der Kapitän, »Großonkel! Junggeselle! Naja, Onkel und Großonkel, noch dazu unverheiratet, sind immer lustiger gewesen als eingetrocknete Großväter und Väter! Das werden Sie auch an meinem alten Großonkel Jes Nielsen bemerken, dem Oberlotsen, wenn Sie mal wieder in Skagen sind. Das ist, Wetter ja, ein Mann. Er ist der scharfsichtigste Lotse gewesen, den die Welt jemals erlebt hat. Wenn er im Ausguck stand, mit bloßem Auge konnte er sehen, ob das, was dicht unter der Kimmung schwamm, ein Mensch im Korkring war oder eine Tonne oder ein Stück Wrack. Ja, ein verdammt scharfsichtiger Herr. Auch heute noch, wo er fast hundert ist, und wenn er einen ansieht, das geht durch und durch.« Er verschnaufte, dann fragte er blinzelnd: »Sind auch Junggeselle, mein Herr, nicht wahr?«
»Nein«, kam es schroff.
»Aber ich! Und was für einer! Hartgesotten! Fühl' mich verdammt wohl in meiner Haut.«
Er lachte so laut und schallend, daß es die Hammerschläge und das Kreischen der Säge auf Deck übertönte. Bork wartete, bis er zu Ende war, dann setzte er mit einer raschen Bewegung der Hand das leere Glas auf den Tisch und fragte entschlossen, mit sonderbar aufbrennendem Blick:
»Hören Sie, Kapitän, geht Ihre Reise nach Jütland?«
»Ja«, entgegnete Nielsen verdutzt. »Nach Frederikshavn, sobald die Skagen wieder seetüchtig ist. Schwere Havarie gehabt bei dem Sturm vor zwei Wochen.«
»Ist es möglich«, fragte Bork nach tiefem Atemzug, »mich mitzunehmen? Ich bezahle natürlich.«
Verblüfft starrte Nielsen ihn an. »Platz wär' schon da«, sagte er langsam.
»Ich nehme mit der schlechtesten Koje vorlieb. Schlagen Sie ein.«
Kapitän Nielsen schlug ein. Er lachte schon wieder. »Ich hab' einen tüchtigen Koch. Und Aquavit und Punsch noch zwei Kisten voll. Abgemacht also.« Bork löste sich aus dem Druck der schweren, fleischigen Hand, legte mit kurzem Gruß zwei Finger an den Schirm seiner Kappe und ging.
Nielsen blickte ihm kopfschüttelnd nach.
»Merkwürdiger Kauz«, dachte er, wieder ein wenig unsicher geworden. Dieses starre Gesicht, das sich beim Sprechen mit keiner Miene verzog, dieses Stieren an einem vorbei, selbst beim Trinken, verdammt ja, einen Sparren mußte er haben im Kopf. Er überlegte, ob er ihn nicht zurückrufen sollte. Es war eine lange Reise bis Frederikshavn. Wer weiß … was passiert. Er trank noch drei Aquavits. »Mich dünkt«, murmelte er beim letzten, »er scheint harmlos zu sein.«
Vom Hafen aus ging Bork, ohne zu wissen wohin, durch die engen Straßen der kleinen Stadt an niedrigen, aus dem flimmernden Granitstein der gebirgigen Insel erbauten Häusern vorbei, aus deren flachen Schindeldächern die steile Mittagssonne lohende Glutherde machte, an Läden vorbei, vor denen fette, spanisch aussehende Weiber auf kleinen Schemeln hockten, schläfrig auf Käufer wartend, wand sich durch einen johlenden Haufen betrunkener Besatzungssoldaten, die in schlecht sitzenden, unsauberen Uniformen aus Khaki mit ihren bartlosen Gaunergesichtern den Eindruck erweckten, als seien sie Deportierte aus britischen Garnisonen. Endlich kam er ins Freie und ging weiter, ohne zu wissen warum, den Blick geradeaus unverwandt auf den nackten, zerrissenen Dianagipfel gerichtet, dessen granitene Zacken im Sonnensturz blitzten wie Gold.
»Skagen, nach Skagen«, strich es unablässig durch das Gestrüpp seines Gehirns, »zwischen den kahlen Dünen sich einscharren wie in ein Grab, das Gewissen ersticken unter den Sturmböen fliegenden Sandes, betäubt von der donnernden Brandung der Meere.«
Unweit eines zerfetzten und verrosteten Stacheldrahtzaunes, der die schwarzen, verfallenen Holzbaracken umschloß, in denen die Briten während des Burenkrieges ihre Gefangenen verstauten, blieb er stehen, in die Erde gerammt wie ein Pfahl. Vor seinen Augen wurde es dunkel, er sah nicht mehr den breit und eckig aufstrebenden Pik; es war, als verlöre der erstarrende Körper alles Blut und alle Lebendigkeit, nur der Atem blieb und der dumpfe, langsame Schlag seines Herzens und das Graben und Bohren im Hirn. So war er stehengeblieben, wie in den Erdboden gebannt; wie immer, wenn ein Erlebnis oder ein Bild blitzhaft heraufbrach – aus seinem Dasein vor der grausamen Stunde – wenn die Erkenntnis sein Gewissen aufwühlte und alle Vergangenheit mit schwarzen, undurchdringlichen Schleiern bedeckte, aus denen nur selten ein Lichtstrahl des Erinnerns heraufglühte und sogleich wieder erlosch.
In dieser Sekunde stieg ein Name herauf. Kapitän Nielsen hatte ihn ausgesprochen. Borks Hirn hatte ihn dumpf empfangen und wieder vergessen.
Kare Kjörr.
Der Strand von Skagen, ein weißer, blitzender Strahl im Branden der See, die Knie benetzt von springendem Schaum, die Augen, braun und glühend wie altes Gold, das Haar wie Kupfer, funkelnd im Wind, duftend wie Tang in sengender Sonne, erstes Rauschen erwachenden Blutes, unschuldiges Brausen der Jugend, viele brennende Tage, niemals ein Wiedersehen, vergessen, verschollen, von immer neuen Stürmen des Herzens verdrängt.
Er riß sich zusammen und zerdrückte ein Stöhnen. Schutt über allem. Rasch schritt er weiter, eine Stunde lang reglos durch steinige, baumleere, sonnenverbrannte Steppe. Riesenhafte Disteln reckten sich neben ihm auf, fahlgrüne Agaven mit gigantischen Schäften streiften ihn wie Gespenster mit nackten, dornigen Armen. Er geriet in ein Tal, in dem die Gräser üppiger wuchsen, breitblättrige Pflanzen mit großen, giftfarbenen Blumen mächtig zur Höhe schossen, Eukalyptusbäume mit saftgrünen Wipfeln stämmig sich reckten und mit dem herben und wilden Geruch ihrer schmalen, spitzigen Blätter den süß schwebenden Duft der schlanken Zedern ohne Erbarmen erstickten. Wasser rauschte, grellbunte Vögel durchblitzten die schattendunkle, sonnenzerfetzte Luft. Eidechsen, drei, vier hintereinander, mit schilfgrünen Rücken, huschten schillernd über den Weg und verschwanden geschmeidig in einem Dickicht von Schlingpflanzen und wild wuchernden, blütenentflammten Cyreen. Aus moosbedecktem Geröll zischte der Kopf einer Natter. Plötzlich stand er vor einer Grotte aus wuchtigen, unbehauenen Blöcken moosbedeckten Granits. Den finster gähnenden Eingang verschloß ein breites Gitter aus verrostetem Eisen. Darüber steil in Granit gemeißelt in englischer Sprache dunkel verwittert die Worte:
»Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen. Von 1821 bis 1840 ruhte sein Leichnam in dieser Gruft.«
Es ging ein Schauer durch seinen Körper. Ehrfurcht? Grauen? Schicksalsatem? Menschenfurcht vor der unheimlichen Macht, die auch den Gewaltigsten stürzt und seinen Leichnam in einem öden Winkel der Erde höhnisch verscharrt?
Er trat dicht an das Gitter heran, umgriff die Stäbe und drückte die Stirn gegen das Eisen, von dem der Rost abzublättern begann unter der harten Berührung.
Modergeruch drang auf ihn ein. Eishauch wehte ihn an. Finsternis, die kein Menschenblick zu durchbohren vermochte. Durch die dumpfe Stille klang zuweilen unheimlich ein Ton, als fiele aus unsichtbarem Gestein ein Tropfen Wasser in eine Lache am Boden.
»Totenkammer …+«, dachte er dunkel, kein Toter darin. Doch er ist da … aus diesen düsteren Quadern wittert ewig sein Geist.«
Aufs neue fror über seinen Nacken ein Grauen. Er nahm den Kopf von den eisernen Stangen. Auf Händen und Stirn klebte Rost. Er spürte es nicht.
Er wandte sich weg und ging. Nach langem Irren fand er die Straße zur Stadt. Der Tag war nahe dem Abend, über der Kimmung des Ozeans, da, wo die Sonne versunken war, stand vor der grünspanfarbenen Wölbung des Himmels In scharlachflammender Lohe ein brennender Wald. Die Zackengipfel des nackten Gebirges troffen von glühendem Blut. Die Luft über den flachen Dächern von Jamestown war durchweht von purpurnen Winden.
Bork blieb stehen. Dumpf ging es durch sein Gehirn: »Einsamkeit tötet. Verbannung mordet. Der Titan mußte sterben. Auch ich werde sterben im Todeshauch der Verbannung, ein kleiner … armseliger, schuldbeladener Mensch.« Rasch schritt er weiter.
Zwei Marinesoldaten der »Chester«, die ihn auf der Stelle erkannten, grüßten und blieben stehen, da er an ihnen vorbeischritt, ohne zu danken.
»Tom«, sagte der eine und legte die braune Hand auf die Schulter des andern, »hast du seine Augen gesehen?« Er strich mit zwei Fingern über die Stirn. »Den hat's.«
»God save the Queen«, entgegnete Tom. »Schlffbruch. Drei Tage lang oder vler Salzwasser geschluckt. Goddam, reicht für das Leben.«
Vor einem kleinen Gasthaus in der ersten Gasse, die er betrat, machte er halt. »Lodging Board« stand über der schmalen, ausstehenden Tür. Nach kurzem Besinnen überschritt er die Schwelle. Der Wirt, ein stämmig gebauter Mulatte, der hinter der Bar stand, stellte die dickbauchige Flasche, aus der er öligen Schnaps in zwei kleine, zinnerne Becher gegossen, ungewohnt heftig beiseite, als er den Mann erblickte, der in kurzem, befehlendem Ton ein Zimmer verlangte.
»Herr«, sagte er grinsend, »hier ist nur eine Schlafstelle für Neger.«
»Das ist mir gleich. Ich bin müde.«
Der Mulatte schüttelte ohne Begreifen den Kopf. Der blaurote, wulstige Mund verzog sich über den starken, weiß blinkenden Zähnen.
»Well« sagte er endlich, »einen halben Schilling die Nacht.«
Bork zog einen Dollarschein aus der Tasche. Umständlich wechselte der Mulatte mit englischem Geld. Bork steckte es weg, ohne zu zählen.
»Come on«, grinste der Wirt.
Die beiden Gäste, die vor dem Schenktisch standen, ein schwarzer, wollköpfiger Hafenarbeiter und ein kleiner, gelbhaariger Marinesoldat, der betrunken zu sein schien, stierten den beiden mit glotzenden Augen nach.
»Goddam«, sagte lallend der kleine Soldat, als die Tür ächzend ins Schloß gefallen und das Krachen der Treppenstufen verstummt war, »hast du auf seiner Stirn … über den Augen die beiden braunen Striche gesehen?«
Der Nigger kniff die Augen zusammen.
»Yes«, entgegnete er mit fletschenden Zähnen, »der kommt aus dem Bagno. Den hat man gebrannt … den hat man gezeichnet.«
»By Gosh«, murmelte der betrunkene Marinesoldat.
Sie blickten einander eine Sekunde lang sonderbar an, dann griffen sie zu den Gläsern und schlürften geräuschvoll den öligen Schnaps. Oben schob der Mulatte von einer schief in den Angeln hängenden Tür einen Riegel zurück. Bork betrat eine winzige Stube. Das Licht einer Gassenlaterne fiel kärglich durch ein erblindetes Fenster.
»Links ist noch Platz«, sagte der Wirt, schloß die Tür und stapfte die steile Treppe zurück in die Bar.
Bork, auf seinem Lager aus faulem, stinkendem Stroh, eine alte, zerlöcherte Pferdedecke über den Kleidern, im Ohr das röchelnde Schnarchen des Niggers auf der anderen Seite der Stube, starrte reglos zur Decke, auf der das fahle Licht der Gassenlaterne geisterhaft hin und her ging.
»Verbannung tötet«, murmelte er unaufhörlich, bis der Schlaf ihn befreite.
Hagelböen und Regenflagen sausten aus schwerhängendem Wolkenhimmel schräg durch die aschgraue Luft, als an einem der ersten Oktobertage der Gaffelschoner »Stagen« die triefend durchnäßten Segel zu reffen begann und an Segelkuttern, Barkassen und Frachtdampfern vorbeimanövrierte, bis er am Kai von Frederikshavn Anker und Trossen warf zwischen zwei tiefliegenden Fischewern, deren Mannschaft dabei war, die gewaltige Beute zu löschen, und den prasselnden Regen verfluchte, der sie naß machte bis auf die Haut.
Eine halbe Stunde später betrat Bork durch ein breites, altertümlich geformtes Portal das ehrwürdige Hotel zum König von Portugal am Ende der Havnegade, in dem er vor siebzehn Jahren mit seinem Vater zwei Tage und zwei Nächte verbracht, als sie von Hamburg über Frederikshavn nach Skagen reisten. Er trug den blauen Anzug, die blaue Kappe, Kragen und Krawatte aus Jamestown und in einem kleinen Segeltuchkoffer einen wollenen Isländer, eine Jacke aus Drell und eine Manchesterhose, Arbeitskleider, die er sich im ersten Zwischenhafen gekauft hatte, da ihm plötzlich nach langer, qualvoller Untätigkeit das rasende Verlangen gekommen war, Seemannsarbeit zu tun. Sein Gesicht war gebräunt von Seesalz und scharfen Winden, seine Augen hatten die lichtlose Kälte verloren, nur um den hatten, immer ein wenig nach unten gebogenen Mund war das Zeichen ewiger Not. Sein Gehirn war klarer geworden unter der Weite des Himmels, im dunkel tönenden Rauschen der See und im Brausen des ewigen Windes. Doch sein Herz war nicht freier geworben. Es lag schwer in der Brust, ein widerwillig und mühsam arbeitender Muskel. Immer noch, wenn aus untersten Tiefen Erinnerung an vergangenes Leben heraufsprang und seine Gedanken bedrängte, war es, als sähe er unbekannte Bilder in einem Buch, das er niemals gelesen. Keiner der Mannschaft hatte ihn je lachen gehört. Viele hielten sich in einer unerklärbaren Scheu von ihm fern. Andere, obwohl er nur das Notwendigste sprach und nie freundlich zu ihnen war, hatten ihn zuweilen mit Augen voll Ehrfurcht betrachtet, von der sie nicht wußten, woher sie kam. Selbst Nielsen, der Kapitän, der anfangs mißtrauisch gewesen, war ihm bald mit Höflichkeit und Achtung begegnet und nicht aus dem Staunen herausgekommen. Dieser schweigsame Mann, der Deutsch sprach, Französisch, Spanisch, Englisch und Dänisch, Arbeit tat wie der beste Matrose, Steuermann oder Bootsmann, in der schlechtesten Koje schlief tief unten im Schiff, und nicht zu bewegen gewesen war, sie mit einem andern zu tauschen, abends in der Kajüte ihm zur Gesellschaft die schärfsten Liköre getrunken in erstaunlichsten Mengen, ohne jemals einen Rausch zu bekommen, dieser unheimlich verschlossene Mann, der einmal, als selbst der Steuermann zu verzagen begann, den Schoner durch schwierigste Winde gebracht hatte, so sicher, als hätte er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan als gesegelt, war ihm ein Rätsel geblieben, das größte und letzte Rätsel der Welt. Täglich, auf der endlosen Reise, hatte Nielsen den breiten fleischigen Kopf geschüttelt. Nein, es war nicht zu lösen.
Er vergoß eine salzige Träne, die er mit wulstigem Handrücken unwillig wegwischte, als er ihn jetzt zwischen nassen Menschen, Pferden und Wagen in der Richtung der Havnegade verschwinden sah, die große Gestalt ein wenig geduckt unter dem zornigen Regen.
Mittags im Speisesaal des Königs von Portugal setzte sich Bork an einen für zwei Personen gedeckten Tisch vor einem der breiten, niedrigen Fenster, von dem aus der Blick weithin schweifte über Kais, Hafen und Meer. Der Saal war schmal und lang, nicht sonderlich hoch, Decke und Wände vornehm und dunkel getäfelt. Man roch das Alter.
Bork schaute hinaus. Der Himmel lag tief und grau. Kein Regen, kein Hagel. Die Luft war ohne Wind, voll dünnen Nebels. Rauch aus den Schloten der Dampfer stieg schwarz und träge zur Höhe. Die nackten Masten der zahllosen Segelschiffe dükerten unablässig über dem brackig grünen, noch immer unruhig schwankenden Wasser. Die Molen und Brücken, die sich weit hinaus streckten ins Meer, versanken im Dunst.
Ein Herr trat zum Tisch.
»Scharbatz«, sagte er kurz und fügte, während er Platz nahm, mit einem höflichen Lächeln hinzu: »Ich pflege immer zu essen an diesem Tisch, wenn ich Geschäfte habe in Frederikshavn.«
Bork grüßte stumm. Er sah einen kleinen, rundlichen, sorgfältig gekleideten Herrn mit glattem, braunem, in der Mitte gescheiteltem Haar, hechtgrauen, lebendigen Augen und einem roten, voll und heiter geschwungenen Mund in einem kurzen, viereckig geschnittenen Batt.
Ein hagerer Kellner, das weiße Tuch elegant unter dem linken Arm, stellte ein geschliffenes Glas und eine Karaffe Bordeaux auf den Tisch und reichte dem Herrn die Karte.
Der lehnte ab.
»Zwei Dutzend Austern«, sagte er freundlich.
»Limfjord?« fragte der Kellner.
»Fladstrand natürlich. Limfjord-Austern sind nichts für mich.« Der Kellner verzog keine Miene.
»Sehr wohl.«
»Dann Goldbutt, gebraten.«
Bork las die Karte, die der Kellner ihm reichte. Es reizte ihn nichts. »Nehmen Sie Goldbutt«, riet der freundliche Herr. »Wenn Sie in Ihrem Leben noch keinen Goldbutt gegessen haben, mein Herr, nehmen Sie Goldbutt.«
Bork starrte ihn eine Weile an. »Gut«, sagte er dann.
Der Kellner verschwand.
»Der Goldbutt«, begann Herr Scharbatz zu sprechen, »ist der feinste und vornehmste Fisch. Man fängt ihn nur im Kattegatt. Ich hab' ihn in Hamburg und in London gegessen, ich habe ihn in Kopenhagen gegessen. Nichts, keine Spur. Hier muß man ihn essen, in Frederikshavn, im König von Portugal.«
Die Austern kamen. Mit Hingabe begann er zu essen.
»Sind Sie Hamburger, mein Herr?« fragte Bork plötzlich.
Herr Scharbatz lächelte ein wenig.
»Nein, Hesse. Aber da ich gerade kein blinder Hesse gewesen bin, hat mich mein seliger Vater nach Hamburg zu einem Verwandten geschickt, der ein Bugsier- und Leichtergeschäft hatte am Rödingsmarkt. Heute habe ich eine Flotte von sieben Dampfern, keinen unter tausend Tonnen, und acht Segelschiffen und bin Hamburger Bürger. Vielleicht ist Ihnen die Firma bekannt, Jakob Ladebaum, Börsenstand dreiundachtzig.«
»Ja«, nickte Bork und schaute an ihm vorbei. »Ich entsinne mich.«
Als er die letzte Auster geschlürft und ein Glas Rotwein getrunken, fragte Herr Scharbatz mit einem forschenden Blick seiner grauen lebendigen Augen:
»Auch Kaufmann, nicht wahr?«
»Nein, Seemann.«
»Seemann.« Deutlich verschärfte sich der unablässig musternde Blick.
Der Kellner brachte den Butt. Rund, dick, goldbraun gebraten, dampfend und duftend lagen die Fische, von brauner Butter umflossen, auf schneeweißen Schüsseln.
Herr Scharbatz aß langsam, mit tiefstem Behagen. Es war, als ließe er jedes einzelne Stück auf der Zunge zerschmelzen. Sein Gesicht begann zu erglänzen. Dennoch schien er nicht recht bei der Sache. Zuweilen, während die runden Kinnladen bedachtsam mahlten, blickte er schräg zu dem schweigsamen Tischgenossen hinauf, der gelassen, fast mechanisch wie mit abwesendem Geist, die Mahlzeit verzehrte. Wo hatte er dieses Gesicht schon gesehen? Dieses auffällig lange, wie aus Holz geschnitzte Gesicht, dieses weißblonde, wellige Haar, diese stahlblauen Augen unter den buschigen Brauen? Plötzlich fiel es ihm ein. Die dichten Augenbrauen fuhren zur Stirn. Er trank den Rest seines Bordeaux, wartete, bis der schweigsame Mann seine Mahlzeit beendet und der lange Kellner mit unbewegtem Gesicht das Geschirr abgeräumt hatte, dann fragte er unvermittelt:
»Mein Herr … heißen Sie Bork … Justus Bork?«
Bork schrak zusammen.
»Nein!« rief er laut.
»Natürlich nicht«, entgegnete Herr Scharbatz ein wenig erschrocken. »Man hat ja in allen Zeitungen gelesen, daß dieser Kapitän Justus Bork mit einem südamerikanischen Dampfer bei einem Orkan im Atlantischen Ozean mit Mann und Maus untergegangen sein soll. Natürlich ja. Es soll ein schwimmender Sarg gewesen sein, dieses Schiff, und kein Mensch in Hamburg begreift, auf welche Weise dieser Bork, der doch drei eigene Dampfer besessen hat, als Kapitän auf so ein Wrack gekommen ist. Es soll eine aufsehenerregende Affäre gewesen sein. Bestochene Versicherungsagenten, bestochene Schiffskontrolleure, die Mannschaft mit sechsfachem Lohn. Kokosnüsse, statt der versicherten Elfenbeinfracht. Die Inhaber der betreffenden Firma sollen mit schwerem Kerker bestraft worden sein.«
Er verstummte und kam nicht los vom Gesicht des wortlos dasitzenden Mannes, das grau war wie Asche und dessen dunkel gewordener Blick an ihm vorbeiging, starr und kalt über die weißgedeckten, mit Speisen beladenen Tische hinweg, an denen die Gäste des Königs von Portugal aßen, tranken und sprachen.
Herr Scharbatz schwieg eine Weile.
»Merkwürdig«, sagte er endlich ein wenig zögernd nach einer halben Minute und bewegte ungläubig den runden Kopf hin und her, »Sie gleichen dem Justus Bork auf ein Haar. Es ist nicht zu begreifen.«
Da wandte Bork den Kopf. »Wo haben Sie ihn kennengelernt?« fragte er in eisiger Ruhe.
»Ich hab' ihn nur einige Male flüchtig gesehen«, entgegnete langsam Herr Scharbatz, als sänne er nach. »Das erstemal im Borkschen Kontor. Ich kam, um ein Geschäft zu bereden, ich wollte für eine Reise nach China einen der Borkschen Dampfer chartern. Da trat Justus herein, sprach ein paar Worte mit seinem Vater über eine Reise der Hertha Bork nach Westindien und Nordamerika. Dann ging er wieder hinaus. Zwei- oder dreimal hab' ich ihn auf der Börse gesehn. Er hielt sich sehr zurück und sprach mit keinem und redete nur dann, wenn einer ihn ansprach. Von der Reise der Hertha Bork ist er nicht wieder zurückgekehrt.«
Er machte eine Pause. Borks Gesicht zuckte in keiner Muskel. »Wissen Sie mehr von den Borks?« fragte er eisern gerafft. »Ich habe Interesse für diese Familie. Ich bin weitläufig mit ihr verwandt und habe seit Jahren, die ich auf langen Reisen im Ausland war, nichts aus der Heimat gehört.«
»Entfernte Verwandtschaft? Daher diese Ähnlichkeit also«, dachte Herr Scharbatz. Laut fuhr er fort, ein wenig lauernd: »Was soll ich Ihnen noch sagen, mein Herr? Ich weiß nicht mehr, als was sich in Hamburg die Leute erzählen oder was man so auf der Börse erfährt. Was wahr davon ist, mein Gott«, er lachte, zog eine Zigarrentasche aus Krokodilleder hervor, machte sie auf und reichte sie Bork. »Havanna, Sumatra-Deckblatt. Schwer, schwarz, schneeweiße Asche.« Er schien ein wenig erregt.
Halb ohne Bewußtsein nahm Bork die große, rotgold beringte Zigarre. Herr Scharbatz reichte ihm Feuer.
Der Kellner brachte eine silberne Kanne, aus der es nach Kaffee roch, und eine Tasse.
»Leisten Sie mir Gesellschaft?« fragte freundlich Herr Scharbatz.
Bork nickte. Sie rauchten schweigend, bis der Kellner die zweite Tasse gebracht, eingeschenkt und sich entfernt hatte.
»Justus Bork ist schon einmal verschollen gewesen«, begann er langsam zu sprechen und verlor keinen Blick von dem unbewegten Gesicht ihm gegenüber, als könnte er den Gedanken nicht loswerden: dieser Mann da ist Justus Bork und kein anderer. »Es ist Ihnen vielleicht bekannt, daß er sich vor einer Reihe von Jahren mit der einzigen Tochter des Hauptpastors Jodokus Tobaben von der St.-Katharinen-Kirche verheiratet hat. Man sagt, sie sei wohl sehr schön, doch geistig nicht sehr bedeutend gewesen. Er soll sich, erzählte man sich an der Börse, in ihren Vornamen Gabriele verliebt haben und überhaupt eine merkwürdig romantische Natur gewesen sein. Kinder sind nicht gekommen. In New York hat er kurz vor der Heimfahrt unvermittelt dem ersten Offizier seines Schiffes die Kommandogewalt übergeben, ist von Bord gegangen und nicht zurückgekehrt, so daß man ohne ihn abreisen mußte. Er soll sich während der Hinfahrt sinnlos in eine junge Schönheit verliebt haben, die Zwischendeck fuhr und eine Lehrerstochter aus Holstein gewesen sein soll. Nach fast einem Jahr kam er plötzlich zurück, schweigsam, unnahbar, fast einem Nachtwandler gleich. Plötzlich war er wieder verschwunden, spurlos, bis man in den Zeitungen von seinem Untergang im Atlantischen Ozean las.«
Herr Scharbatz legte die Zigarre, die während der langen Rede erloschen war, aus der Hand, beugte sich vor und fragte mit verkleinerten Augen:
»Merkwürdige Geschichte, nicht wahr?«
»Sind Sie zu Ende?« entgegnete Bork.
»Ja, nur daß Ulrich Bork, der Vater, vor drei oder vier Wochen gestorben ist.«
Bork fuhr zusammen. »Gestorben?«
»Ja, an der Malaria, die er sich aus der Südsee geholt hat, und die er nicht loswerden konnte, trotz allen Chinins, das er geschluckt haben soll.«
Er stockte und nahm langsam, über die Tasse hinwegblinzelnd, einen Schluck Kaffee.
»Es scheint überhaupt mit den Borks zu Ende zu gehn«, fuhr er fort. »Alle sterben sie weg. Der älteste, aber das wissen Sie wohl, ist untergegangen bei einem Sturm in der Nordsee, mitsamt seiner Jacht, seiner Frau und seinen zwei Kindern. Der zweite, der ist als Seeoffizier im Chinafeldzug gefallen. Der jüngste vor einem Vierteljahr, als das Borksche Packhaus zusammenbrach, unter den Trümmern begraben und tot herausgezogen worden. Und der andere, der Justus, na, der ist nun auch nicht mehr da, liegt tief unten im Atlantischen Meer. Seine Frau soll übrigens schon seit Monaten die Scheidungsklage eingereicht, doch wieder zurückgezogen haben nach den Gerüchten von seinem Tod.«
Borks Hände, die geballt auf der Tischplatte gelegen hatten, krampften sich plötzlich so heftig zusammen, daß die Zigarre zwischen den Fingern zerbrach. Mit einem kurzen, rauhen, unverständlichen Laut stand er auf, die buschigen Brauen hart beieinander, die Stirn finster gefurcht, die Augen verengt, verließ er mit raschen Schritten den Saal. Lange starrte Herr Scharbatz ihm nach.
Wenige Minuten später stand er vor der Tür seines Zimmers im zweiten Stock, die Hand schwer auf der Klinke. Er stierte zu Boden und dachte: »Was nicht alles geschieht. Man schiebt sich durchs Leben, man ißt, man trinkt, man raucht, man hat sein Kontor, man hat viel Geld, hat Frau und Kinder und ist zufrieden. Gott bewahr' mich vor …«, ihn schauderte, er brach ab, dachte nicht weiter, drückte die Klinke und ging in sein Zimmer, um sich zum Mittagsschlaf niederzulegen. Doch er schlief lange nicht ein.
In der Dämmerfrühe des nächsten Tages verließ Bork das Hotel. Die Luft war klar, der Himmel lichtgrau und hoch und versprach einen sturmlosen Tag. Durch Gassen, über Plätze und Brücken, an der uralten Feste Fladstrand vorbei, fand er nach vielem Suchen und Fragen den Weg nach Skagen. Damals, als er mit seinem Vater nach Skagen reiste, fuhr noch die Post. Heute brachte die Küstenbahn Menschen und Güter zur Nordspitze Jütlands. Doch er zog es vor, den Weg nach Skagen einsam zu gehen und zu Fuß.
Es ging schwer auf der sandigen, wenig befahrenen Straße, an deren Ende Verbannung stand. Der Sand war zäh und feucht von den Regengüssen der letzten Tage und klebte wie schmelzender Schnee unter den Sohlen. Mit tiefem, langsamem Atem schritt er dahin. Doch er wurde nicht müde. Es war, als hätte sein Körper unverbrauchte und überschüssige Kraft. Er schritt fast ohne Gedanken, wie unter dumpfem, unentrinnbarem Zwang. Nur einmal, als von den Meeren her der dunkle, ungeheuerlich aufheulende Ton einer Dampfersirene ihn traf und der großen Stille entriß, die ihn umgab, fuhr er zusammen, blieb stehen und stierte zur Ferne. Der Reeder aus Hamburg … Vater tot … der junge Bruder unter dem Packhaus … die Frau … Er drückte die Fäuste vor die brennend schmerzenden Augen, stöhnte dumpf, ließ die geballten Hände zurückfallen und schritt schwerfällig weiter. Mit allem Grauen weltverlorener Erde umgab ihn das weite und flache Land, wölbte sich über ihm grau und schweigsam der Himmel. Sümpfe, bedeckt mit reglosem Schilf wie mit fahlgrün glimmendem Schmutz, krochen mit fauligem Atem neben ihm her. Frösche quakten aufs neue. Umstarrt von Eichenkratt und Krüppelföhren, vergruben sich karge Gehöfte in schmutzigbraune Schwaden von Rauch, der unablässig aus Morästen und Torfmooren stieg. Wiesen mit bleichem, narbigem Gras, Heideflächen mit stumpf glotzenden Tümpeln, Vogelbeerbüsche, in denen Kiebitze klagten, Brombeerranken, gelbroter, winziger Klee. Zuweilen blökten kleine Herden von Schafen. Nirgends ein Hirt. Immer öder wurde das Land. Kein Bauer, kein Acker. Telegraphenstangen, die schief und schwarz von Wind und Sturm dem Rand des Sandweges folgten, eine endlose Reihe, einander sich nähernd, enger und enger, bis sie als winzige Punkte im Dunst der Ferne versanken, wie im Rauch einer Kimmung. Auf ihren Spitzen hockten schwarze, schweigsame Raben, die zuweilen einen kurzen, heiseren Schrei ausstießen wie aus Hunger oder aus Grimm.
Borks Blick ging schwer über die trostlose Fläche zur Ferne, aus der sich im Norden, undeutlich in ihren Konturen, niedrig und langgestreckt der blasse Leib einer ersten Düne erhob.
»Weg«, dachte er dunkel, »den die Schächer schreiten, die man zum Galgenberg führt.«
Gegen Mittag erreichte er dürftige Häuser zwischen dichtem Ellerngestrüpp und kargen, windschiefen Birken, die schon ihr buntes Laub verloren. Zwischen ihnen ein schwarzer, weiträumiger Krug, davor ein Walnußbaum, uralt, stämmig, mit mächtiger Krone. Bork erkannte ihn gleich. Damals stand er in Blüte, heute trug sein breites Geäst ein gelbes, herbstliches Kleid, an vielen Stellen zerfetzt, mit klaffenden Löchern. Hier waren sie der schweren gelben Postkutsche entstiegen und weitergefahren auf kleinen, hochrädrigen Wagen, die es den starken dänischen Pferden leichter machten, durch den immer tiefer und zäher werdenden Sand vorwärts zu kommen. Der Postkutscher hatte einen knallroten Mantel getragen und auf seinem kreisförmigen Horn dänische Weisen geblasen. Ein alter Seemann mit Stelzfuß und schlohweißem Haar, das kurz geschnitten um seinen dicken Schädel lag, so daß es ausgesehen hatte, als trüge er eine Mütze aus Eisbärenfell, hatte ihre Koffer getragen. Als seine Arbeit getan, hatte er drinnen in der weitläufigen Schenkstube gehockt, die breite, gutmütige Wirtin hatte ihm Brot und Teepunsch gebracht, und dann hatte er schnarchend geschlafen, tief und fest, trotz des Lärmens der vielen Gäste, die mit der Postkutsche gekommen waren. War er noch da? Bork lächelte. Es war ein starres, schmerzliches Lächeln.
Nach kurzem Zaudern betrat er den alten Krug. Er setzte sich an einen Tisch in der Nähe eines breiten, niedrigen Fensters. Nur ein paar Bauern, kleine und kümmerliche Gestalten, saßen trinkend, rauchend und schweigend umher. Bork blickte zur Bank neben dem Kachelofen hinüber und staunte. Nein, der alte Seemann mit dem Eisbärenfellschädel war nicht mehr da. Auf der Bank neben dem dickbäuchigen Ofen saß ein junges, rothaariges Weib mit hellblauen Augen und einem runden, milchweißen Gesicht, einen großen, blaugrauen Angorakater in ihrem Schoß, dem sie das Fell kraulte, zärtlich, mit einem versonnenen Lächeln. Lange starrte er hin. Das Weib hob plötzlich den Kopf. Durch ihr Haar ging ein Funkeln. Im Blau ihrer tiefliegenden Augen ein weicher, traumhafter Glanz. Unverwandt sah sie ihn an, so tief, daß sie den graublauen Kater in ihrem Schoß vergaß, und auch dann nicht hinabschaute, als das ungeduldige Tier dunkel zu knurren begann. ' Er spürte sein Blut, preßte die Lippen zusammen und schaute weg. Es gab kein Weib mehr für ihn.
Auch die dicke, gutmütige Wirtin war nicht mehr da. Ein grauhaariger Mann brachte ihm mürrisch auf seinen Wunsch nach Essen und Trinken Brot mit Speck und eine Flasche Carlsborger Bier. Als Durst und Hunger gestillt, war auch das junge, funkelnde Weib nicht mehr da. Nur der blaugraue Angorakater lag zusammengerollt im Ofenwinkel und schlief, die kümmerlich kleinen Bauern hockten vor ihren Tischen, rauchten und schwiegen. Bork zahlte mit einer dänischen Krone und ging.
Der Himmel im Süden war heller geworden. In der hohen, grauen Luft begann es zu flimmern. Bork schritt weiter nach Norden. Von Ost und West rückten Hügel heran, die ersten Dünen, die aus dem Kattegatt und dem Skagerrak bleich und träge heraufkrochen wie die langen, hellhaarig schimmernden Rümpfe gigantischer Tiere, die hoch im Norden sich trafen und ineinander verwälzten. Er kam ihnen näher und näher wie den erstarrten Wogen eines endlos sich dehnenden Meeres, auf ihren Scheiteln ein Flirren und Flimmern wie von zerspringendem Schaum.
Der Sand unter seinen Füßen wurde weißer und tiefer. Das Gehen wurde zum Stampfen. Unter den schwachen Schuhen knirschte es dumpf.
»Wüste wälzt sich heran«, dachte er unablässig, den Blick starr nach vorne gerichtet. »Der Leib wird erfrieren. Das Herz wird verdorren. Die Seele wird sterben.«
Ungeheuerlich war die Stille und das Grauen, das ihn empfing. Wie durch einen Totenacker schritt er dahin. Hügel an Hügel, über Gräbern von Riesen, ein unabsehbares Chaos. Kein Laut, nirgends ein Atem. Kein Baum, kein Strauch. Regungslos ragten grüngraue Halme in die windlose Luft. Zuweilen erschrak er, als berührten gespenstische Hände das erfrierende Herz. Zwischen Haferbüscheln und langem Gras begann es zu rieseln, unheimlich, ein Raunen und Flüstern im rinnenden Sand. Plötzlich huschten drei Hasen, schräg hintereinander, blitzschnell an ihm vorbei quer über den weißen Weg und verschwanden in den aufraschelnden Halmen der Dünen. Windschnell jagte ein Fuchs ihnen nach, rostbraun, mit heißem, keuchendem Atem, die Rute gestreckt, die lange, spitzige Schnauze witternd dicht über dem Sand.
Unvermittelt, nach einer scharfen Biegung um den Hang einer Düne, stand er vor einer kleinen, niedrigen Hütte aus schwarzem, vermorschtem Holz. Der kurzen, rußbeschmutzten Schornsteinröhre, schief im flachen Dach, entstieg senkrecht ein dünner, bläulicher Rauch. Vor einem halbblinden Fenster neben der Tür stand ein Mann, hager, ein langes, braunes, zersetztes Gesicht, kurzes aschgraues Haar. Die Kleider, eine braunwollene, in zerlöcherten Schaftstiefeln steckende Hose, ein rotes, verschmutztes Hemd und eine fadenscheinige lehmgelbe Mütze, über und über bedeckt mit Staub.
Bork blieb stehen.
»Noch weit nach Skagen?«
Der Mann schüttelte langsam den Kopf, hob den hageren Arm und wies auf ein langes, schwarzes Gebilde, das dreieckig, die abgebrochene Spitze nach oben, in kurzer Entfernung dem Scheitel einer Düne entstieg.
»Turmspitze vorbei«, sagte er müde, fast mürrisch, »Viertelstunde bis Skagen.«
»Die Kirche von Skagen?« fragte Bork mit Erstaunen. Wieder schüttelte der Mann den Kopf. »Nur noch Turm von der alten. Haben die Schotten gebaut, die gehaust haben in dieser Gegend, ich weiß nicht wann. Heute kaputt von Sturm und Sand. Höllisches Wetter vor hundert Jahren, oder hundertzehn. Dünen herangerannt wie Teufelsbrei aus der See. Sand vor der Kirche bis oben zum Dach. Leute am Sonntag heran mit Schaufeln und Spaten. Sich durchgefressen und Predigt gehört. Dann wieder der Sturm und der Sand, flog über die Erde wie Wolken, ratsch, weg die Kirche, bloß noch der Turm.«
Er schwieg eine Weile, dann lachte er plötzlich auf, rauh und kurz, mit einem verkniffenen Blick zum zerbrochenen Turm:
»Streckt ewig Finger nach Gott, haha! Schreit Fluch, immerzu Fluch!«
Lange schaute Bork in das alte, verzerrte Gesicht, dann wollte er grüßen und gehen. Doch er fragte, wie über sein Bewußtsein hinweg:
»Warum wohnen Sie in dieser elenden Hütte, in dieser Öde?«
Der Mann hob die mageren Schultern und ließ sie fallen. Stumpf sah er den Fragenden an.
»Na«, knurrte er endlich, »weil ich ein Anpflanzer bin.«
Er wies mit einer weit ausholenden Bewegung der vertrockneten Hand über das endlose, starre Gewoge der Dünen, auf denen, wie aufgereiht, Strandhafer und Halmgras wuchsen. »Vor hundert und hundert Jahren, überall da herum Wiesen und Acker, Viehherden darauf und Rinder und Schafe, und Weizen und Rüben und Rethdachhäuser mit Menschen. Da kam der Wind gestürmt, und der Sand kam gebraust, und alles war weg in sieben Tagen oder in zehn.« Er machte eine Pause, dann fuhr er fort, fast murmelnd, mit groß und starr werdendem Blick über die Dünen hinweg: »Muß pflanzen, muß pflanzen. Festmachen die Dünen. Gegen den Wind und den Sturm. Dünen stark sein, nicht wegfliegen und Häuser zerbrechen und Menschen totschlagen und Vieh.« Er zeigte nach Westen. »Müssen hingehen, weiter hinaus, alles nackt, kein Gras, kein Hafer, kein Halm, hin und her, tanzen im Sturm, springen und rutschen und fliegen und flattern wie Fahnen, und wen das trifft, Gott soll mich verdammen, den schmeißt es um und macht ihn tot und gräbt ihn ein.«
Es kam ein langes Schweigen. Bork stierte zum Sand. »Er sieht meine Stiefel«, dachte der Pflanzer. Dann sagte er langsam, mit einem lauernden Blick:
»Schlecht bezahlt, Herr, das Pflanzen. Sand durch die Löcher, sticht Füße kaputt.«
Bork hörte es dumpf, gab ihm Geld und ging in der Richtung, die ihm der Pflanzer gezeigt hatte, davon. Plötzlich machte er halt. Vor ihm lag Skagen. Er staunte. Die Sonne hatte mit letzter Kraft den dünnen Nebelschleier durchstoßen, der noch vor einer Sekunde ihr Antlitz bedeckte. Eine Flut roten Lichtes überströmte das Land. Die Ziegeldächer der kleinen, zwischen halmbewachsenen Dünen ruhenden Häuser von Skagen erglühten, als seien sie bedeckt mit lauter Korallen. Alles flammte und strahlte, das Herbstlaub der Erlenbüsche, die nackten Schlehdornhecken, die krummen Weiden, die schwarzen Krüppelkiefern, die schiefstehenden Eiben, die letzten gelben Blätter der Faulbaumäste, die breiten Wiesenflächen, vor Skagen die frisch umbrochenen Acker. Und über allem der lohende Himmel und unter ihm das purpurne Meer.
Der weiße Sandweg wurde zu einer sandigen Straße. Vor einem schwarzen Schuppen zwischen zwei kleinen, von dürftigen Gärten umgebenen, mit roten Ziegeln gedachten Häusern sah Bork schon von weitem eine Ansammlung von vielen Menschen. Als er näherkam, sah er, wie sie alle, Männer, Weiber und Kinder, dicht aneinandergedrängt, stumm, mit bleichen Gesichtern durch das breit aufstehende Tor eines Schuppens starrten. Er blieb stehen, zwischen zwei Männern, und sah über die Köpfe der vor ihm stehenden Weiber hinweg, wie im Innern des Schuppens ein großer, starkknochiger Mann und ein Gendarm mühselig den steifen Körper eines mittelgroßen, breitschultrigen Mannes von einem Dachbalken zu lösen versuchten. Auf einer Kiste stehend, zersägte der kurze, dicke Gendarm mit seinem Säbel das zähe Schiffstau dicht beim Knoten unter dem Balken. Der neben ihm hielt mit starken, knochigen Händen den Körper des Toten umfaßt, dessen weißblond beschopfter Kopf so tief zur Brust hing, daß niemand sein Gesicht zu erkennen vermochte. Kein lautes Wort war zu hören.
»Ein Mensch, der Frieden gesucht hat«, sagte Bork halb unbewußt.
Da hörte er neben sich eine tonlose und traurige Stimme:
»Mein Bruder … der Bootsmann Taneeren … achtzehn Jahre jünger als ich«
Bork wandte den Kopf und sah ein breites, graubärtiges Schiffergesicht, auf der Kappe über dem Schirm einen kleinen, schlanken Leuchtturm aus gelbem Metall.
»Was hat ihn getrieben?«
Der Graue schwieg. Seine dünnen Lippen kniffen sich hart zusammen.
Da kam von links eine höhnisch klingende Stimme:
»Sein Weib hat ihn getrieben … sich an den Balken zu hängen.«
Bork fuhr herum. Er sah einen schlacksig gewachsenen, schwarzhaarigen, spitzbärtigen Menschen von etwa dreißig, der feixend lachte und Miene machte, weiterzusprechen. Doch mit einem harten und drohenden »Schweig!« schnitt ihm der grauhaarige Mann das erste Wort von den Lippen. Der Spitzbärtige lachte aufs neue mit niederträchtig verzerrtem Gesicht, dann legte er nachlässig die Hand an die Kappe und trollte davon.
Die beiden anderen mußten beiseite treten, da der lange, starkknochige Mann, der ein Gesicht hatte, das nach Seeluft und Stürmen aussah, und der kleine, dicke Gendarm aus dem Schuppen herauskamen, den toten Bootsmann Taneeren auf einer Bahre. Die Männer und Weiber gingen mit schwerem Schritt hinterdrein. Sie hatten alle die Stirne gesenkt, ihre Lippen waren geschlossen, als gäben sie dem Toten schon das letzte Geleit. Kinder blickten verängstigt in die blassen Gesichter der Mütter.
Bork starrte noch lange in die schwarze Tiefe des Schuppens, in dem undeutlich erkennbar allerlei Schiffsgerät aufgehäuft war.
Die Sonne war weg. Schwer und grau wie Schatten von Riesen fiel Dämmerung in die engen Straßen von Skagen.
Müde, die Glieder zerschlagen vom schweren Wandern, ging Bork die Hovedgade entlang, die Hauptstraße von Skagen, an vielen kleinen Häusern vorbei, die winzigen Gärten von schwarzen Planken umzäunt, fast alle von Stangen und Pfählen umstellt, an denen große und schwere Netze hingen, um im Winde zu trocknen. Auch diese Straße war Sand, tiefer, dichter, schneeweißer Sand, so feinkörnig und zart, daß kein stapfender Fuß, kein Pferdehuf, kein mahlendes Wagenrad ihn feststampfen konnte. Vor einem Haus, das breiter und höher war als die anderen, mit steilem, schwarzgeschiefertem Dach, drei Reihen schmaler und niedriger Fenster mit Spiegelscheiben in grüngestrichenen Rahmen, blieb Bork stehen. »Madsens Hotel« stand groß und schwarz über der Tür.
Ein Bett, eine Schütte von Stroh, das nackte Holz … schlafen, schlafen!
In der Schenkstube, die lang und niedrig war, mußte er warten. Der Wirt war nicht da. Im dünn fließenden Licht von zwei Petroleumlampen, die von der tabakverräucherten Decke hingen, sah er Gesichter von Menschen. Einer, schmal und blaß, auf seiner Kappe das Lotsenzeichen, rührte schweigend in einem dampfenden Glas, als sei er schwer in Gedanken. Der andere, eine lange holländische Tonpfeife zwischen den Lippen, war der schwarzhaarige, spitzbärtige Mann, der neben ihm vor dem Schuppen gestanden, in dem man den Bootsmann Taneeren vom Balken geschnitten hatte. Er schien von dieser Sache zu sprechen, laut, mit höhnischem Mund, die Pfeife zwischen den Zähnen. Plötzlich verstummte er und blinzelte schief zum Schenktisch hinüber. Bork spürte den Blick.
»Der Wirt ist im Keller«, rief der Schwarze in einem Ton, der auffallend spöttisch klang. »Holt ein Faß Bier. Die Leute werden zusammenlaufen, weil der Bootsmann Taneeren sich in sein Tau gehängt hat.«
Er lachte. Der Mann neben ihm verzog keine Miene. Aus einem dämmergefüllten Winkel der niedrigen Stube kam der kurze, zornige Ruf einer heiser röchelnden Stimme. Undeutlich sah Bork ein fahles, abgezehrtes Gesicht, ein Glimmen von schlohweißem Haar und ein Blinken wie aus kleinen, scharfsichtigen Augen.
»Hallo, Oberlotse«, rief der Schwarzhaarige, der wie ein Kaufmannskommis oder Amtsschreiber aussah, und begann aufs neue zu reden von dem unglückseligen Bootsmann Taneeren und seiner leichtfertigen Frau in einer so niederträchtigen Weise, daß neben ihm der Lotse die Brauen finster zusammenzog und heftig den Löffel auf den Tisch warf, mit dem er in seinem Teepunsch gerührt hatte.
Da tönte aus dem dämmerverhangenen Winkel aufs neue die röchelnde, zornig klingende Stimme.
»Schwefel und Pech in dein Maul! Wenn einer stirbt, soll man schweigen. Wenn einer tut, das wie Sünde aussieht und keine ist, soll man erst recht verstummen.«
Es war eine Weile still in der Stube, so still, daß man das Fallen von Tropfen aus der Wasserleitung hinter dem Schanktisch vernahm.
»Greisengeschwätz«, rief der spitzbärtige Mann.
Der neben ihm hob langsam den Punsch und murmelte, ehe er trank: »Hast recht, Nielsen! Bei Gott und den Menschen, hast recht.«
»Nielsen?« Bork horchte auf und spähte scharf zu dem Alten, der im Dunkel hockte, wie verkrochen in einer Gruft, aus der kein Laut mehr kam. »Nielsen? Oberlotse, Jes Nielsen, fast hundert …« Deutlich hatte er im Ohr die breite Stimme des Kapitäns von der »Skagen«.
Da ging hinter dem Schanktisch die Tür. Eine Frau trat heraus, Geschirr in den Händen, eine schöne, noch junge Gestalt, die gelassen die Stube durchschritt, mit einem leisen, freundlichen Wort dem spitzbärtigen Mann Teller und Schüssel hinstellte, der sie mit frech verzogenem Mund und lüstern funkelnden Blicken verfolgte, als sie zurückging mit ihrem schönen und ruhigen Gang. Sie blieb vor dem Fremden stehen und fragte leise nach seinem Begehr. Bork schwieg eine Sekunde. Er sah ein edel geformtes Gesicht mit dunklen, schweigsamen Augen und einen weich geschnittenen Mund, der blaß und geschlossen war. Er fragte nach einer Stube. Ehe sie antworten konnte, kam Madsen, der Wirt, aus dem Keller, ein Fäßchen Bier auf der Schulter. »Ein Gast«, sagte sie ruhig und ging hinaus.
Der Wirt war ein kleiner, schmächtiger Mann, mit schmalem, blassem Gesicht und großen, fiebrig glänzenden Augen, die tief in blauen Schatten lagen. Er setzte keuchend das Faß auf den Tisch und begrüßte freundlich den Gast. Bork bat um Unterkunft. »Ja«, nickte der Wirt, »oben im zweiten Stock.«
Er sah den kleinen Segeltuchkoffer, der neben dem Gast auf dem Fußboden stand, und hob ihn auf.
Schwer kam Bork die steile Treppe hinauf.
Müde … müde … sterbensmüde, als läge hinter ihm ein ununterbrochenes Wandern durch Wochen … durch Jahre …
Oben in seinem Zimmer, kaum fähig zu sprechen, bat er den Wirt, ihn schlafen zu lassen, ihn nicht zu wecken, und sollte es Tage dauern. Madsen schaute ihn eine Weile aus seinen großen, fiebrig glänzenden Augen verwundert an, dann nickte er schweigend mit einem kleinen, gütigen Lächeln, setzte den Koffer auf einen Stuhl und ging mit einem leise gemurmelten Gruß aus der Stube.
Bork machte kein Licht. Das kleine Zimmer war vom Schein einer Straßenlaterne dürftig erhellt. Es war in seinem Hirn kein Gedanke, nur dumpf der eine: »Skagen, in Skagen.« Müde, müde, schon schlief das Herz in der Brust, schon schlief die Seele. Er zog sich aus, legte sich hin, zog mit versagenden Händen die schwere, weiche Daunendecke über den Leib und schlief ein. Am nächsten Morgen in der Frühe wurde er wach. Er schaute mit weiten Augen lange zur Decke. »Skagen, in Skagen«, murmelte er mit Lippen, die sich kaum regten, und schlief wieder ein und lag in Schlaf den ganzen Tag, die ganze folgende Nacht, mit schwerem und tiefem Atem.
Am Morgen des zweiten Tages, gleich nach dem Frühstück in der Schenkstube von Madsens Hotel, ganz wach, mit klarem Bewußtsein, machte er sich auf den Weg zum Bootshaus des alten Adrian Bork zwischen den Dünen südlich von Skagen. Ehe er ging, gab er in der Postagentur neben Madsens Hotel einen Brief auf, der eingeschrieben an das New Yorker Bankhaus Pinkerton Söhne gerichtet war.
Es war ein sonniger Tag. Von Südost her wehte ein kräftiger Wind.
Schwer stapfend, das Gehen im tiefen Sand noch nicht gewohnt, schritt er die Hovedgade entlang in der Richtung nach Süden. Nicht weit von Madsens Hotel, auf der anderen Seite der Straße, sah er neben der engen Tür eines winzigen Hauses in einen hochlehnigen, schwarzgepolsterten Stuhl geduckt die Gestalt eines hageren, schlohweißen Mannes, bis zu den Hüften, obwohl ihn die Sonne beschien, in ein weißes, wolliges Schaffell gehüllt, neben ihm vor der offenstehenden Tür ein mittelgroßes, breithüftiges und breitgesichtiges Weib, das zwischen den großen und weichen Händen ein dampfendes Glas hielt, aus dem der Wind dem schwerfällig dahinstapfenden Mann eine Welle würzigen Grogduftes entgegentrug. Bork sah, während er näher kam, wie die Frau eine ihrer breiten Hände vom Glase zur Höhe hob, flach gegen die niedrige Stirn legte, dicht unter dem kümmerlichen Rest des graugelben Haares, das mühsam zurechtgestrichen den runden Schädel bedeckte, und aus kleinen, bläulich blinkenden, in den weichen Wangen fast vergrabenen Augen neugierig zu ihm hinüberspähte, und wie das hagere, fast nur aus Haut und Knochen bestehende Greisengesicht mit dürrem Hals aus den spitzigen Schultern sich reckte, den scharfen, hechtgrauen Blick blinzelnd ihm zugewendet.
»Der Oberlotse Jes Nielsen«, dachte Bork, grüßte unwillkürlich mit einem kurzen Nicken des Kopfes und empfing einen stummen, kaum merkbaren Gegengruß. Eine Sekunde lang hatte er das Gefühl, hinübergehen zu müssen, um ihm den Gruß zu bestellen, den der Großneffe Kapitän Nielsen von der »Skagen« ihm in Frederikshavn für den Alten mit auf den Weg gegeben. »Hat noch Zeit«, dachte er dann und stapfte weiter die Hovedgade hinab, an den kleinen, ziegelroten, zwischen flachen, halmbewachsenen Dünen liegenden Häusern vorbei, von denen manche so niedrig waren, daß die breiten Holzgestelle, an denen Netze und Fische zum Trocknen aufgehängt waren, sie fast überragten.
Am schwarzen, vereinzelt daliegenden Bootsschuppen vorbei kam er fast unvermittelt zum Strand. Überrascht blieb er stehn. Vor ihm eine breite, endlos gedehnte, weiß blitzende Fläche, aus der schwarze Sparren ragten, wie aus Gräbern die Arme schwarzer Gespenster, Wrackholz von gescheiterten Schiffen. In sein Ohr drang hallend der laute Gesang von Männern, das Lärmen von Kindern, das breite Lachen von Weibern. Er sah das weite, dumpf tönend heranrollende, über den Sandbänken schäumend verbrandende Meer, schimmernd unter der tiefklaren, von Sonne durchfluteten Luft. Ein Schwarm weißer Möwen schrie über ihn weg mit schwirrendem Flügelschlag, ein wildes, flirrendes Blitzen. Regenpfeifer schnellten wie Pfeile über den Sand. Seeschwalben streiften mit spitzen Flügeln sein Knie. Schwer stampfte er weiter, an Schiffern vorbei, die mit stämmigen Schultern ein starkes, breitbugiges Boot aus der Brandung den Strand hinaufzogen, unter dem Gelächter der Weiber, die sich die derben Hüften hielten, wenn einer der singenden Männer im feuchten Sand ausglitt und stürzte und sich fluchend wieder erhob, und an Kindern vorbei, die lachend und lärmend, viele mit ernsten und steifen Gesichtern, nach toten, glotzäugigen Fischen gruben und die verfaulenden Leiber in Körbe und Säcke warfen, Dünger für die Felder, Äcker und Wiesen um Skagen, dem Paradies am Rande der Wüste.
Dunkel entsann er sich, daß dieser nach Süden laufende Weg eine Viertelmeile von Skagen entfernt eine Biegung nach Osten machte, um sich nach wenigen Minuten wieder nach Süden zu wenden. An dieser kurzen Strecke Wegs, die Vorderseite zur See, lag einsam das kleine Haus. Er sah es bald, zwischen weißen Dünen ein schwarzer Fleck. Dreihundert, vierhundert Schritt, dann war er da. Staunend, viele Minuten lang, starrte er in einen wirr ineinandergeschobenen Haufen von Trümmern schwarzen Gebälks, der sich zu beiden Seiten in die nackten Sandhänge mächtiger Dünen vergrub. Zwischen den geborstenen Balken schimmerte Sand, Sand, überall Sand. Ein langes Stück Holz, das einem Dachsparren glich, ragte schräg in die Luft. An einem dicken, steil nach oben gereckten Pfosten hing in rostigen Angeln der Rest einer Tür.
»Was für Winde, was für Stürme«, dachte Bork, »haben dies Haus zerschlagen!«
Er entsann sich genau, wie es von innen gewesen war, damals, als er mit seinem Vater in Skagen gewesen. Östlich der fensterlose, schmale und niedrige Schuppen, die Lustjacht des Großonkels darin, auf der er mit einem Schifferknecht und seiner Begleitung große Fahrten gemacht, oft durch den Öresund bis nach Kopenhagen und Helsingör. In der Mitte die Küche mit Schrank und Herd und dem schmalen Eisenbett für die Magd oder den Knecht. Westlich die große Stube, die alles zugleich gewesen war, Wohnraum, Eßzimmer und Schlafgemach, ein breites Bett aus rotem Sandelholz, das Adrian Bork, wie die Leute in Skagen erzählten, aus dem Nachlaß alter jütländischer Adelsfamilien ersteigert, der runde Föhrenholztisch in der Ecke, die hochlehnigen Bänke dahinter mit den weichen, rosaseidenen Polstern und Kissen, und unvergeßlich der mächtige Laaländer Schrank mit reichem, bäuerlich kräftigem Schnitzwerk aus dem siebzehnten Jahrhundert, in dem sie damals, ja, er entsann sich genau, zarte, seidene Frauengewänder gefunden, Spitzenwerk und allerlei Dinge aus feinstem Brüsseler Leinen.
Mit einem Lächeln, das krampfhaft erschien, ging er hinüber. Mühsam auf Händen und Füßen bestieg er das Chaos, das unter ihm ächzte, seufzte und krachte.
Eine Frau kam des Weges aus der Richtung von Skagen mit schwerem Schritt, die Schultern gebeugt unter der Last einer Bahre, an der zwei Körbe hingen. Als sie den Fremden erblickte, der hin und her über das schwarze Balkenwerk kroch, lange nach unten stierte, plötzlich einen langen Sparren heraufzog und wieder beiseite warf, blieb sie stehen, ließ die Körbe mitsamt der Tragbahre zum Sande hinab, blinzelte eine Minute lang neugierig hinüber, dann rief sie heiser:
»Das meiste, Herr, das steckt im Sand.«
Bork fuhr herum und starrte in das alte, zermürbte Gesicht.
»Ich kannte das Haus«, fuhr das alte Weib fort, »ich hab' den Herrschaften, die damals drin wohnten, als ich noch Kind war, jeden Tag geräucherte Fische gebracht. Meine Mutter hat für die Herrschaft das Essen gekocht. Schad' um das Haus! War ein vornehmes Haus. Die Kammer und der Schuppen sollen noch heil drinstecken im Sand, sagt unser Bürgermeister und wundert sich immer, daß sich die Besitzer nicht melden, all die Jahre nicht.«
»Wann war der Sturm?« unterbrach sie Bork.
Sie machte mit der mageren Hand eine langsame Bewegung über die Trümmerstätte hinweg. In ihren kleinen, verschlafenen Augen erglomm ein Funke.
»Hab' ihn miterlebt, diesen Sturm, Herr, vor sieben Jahren oder vor acht. Hab' gesehn, wie sie wuchsen, die Dünen, erst um den Schuppen herum, dann um die Kammer. Das war der Sturm, Herr, bei dem drei Häuser eingestürzt sind in Skagen und in Altskagen eins. Und sieben Boote untergegangen im Kattegatt und im Skagerrak und sechzehn Menschen ertrunken, dreizehn aus Skagen. Ja, und in der gleichen Nacht, da hat der Blitz in der Mitte vom Bootshaus das Dach heruntergerissen, und dann sind die Dünen herangekrochen. Jeden Tag, wenn ich meine Fische zu den Anpflanzern getragen habe, jeden Tag sind sie höher gewachsen, immer höher. Der Sand von Osten, der hat es zuerst geschafft, da war miteins der Schuppen verschwunden.«
Mit heiserem Atem hörte sie auf. »Ich muß nun weiter.« Keuchend belud sie sich mit den Körben, aus denen Geruch von geräucherten Fischen über das schwarze Trümmerwerk strich, und stapfte mit unverständlich gemurmelten Worten davon, die Schultern gebeugt, hart kämpfend gegen den kräftigen Wind.
Bork starrte noch lange in das Chaos der Trümmer.
»Ausgraben«, dachte er unablässig. »Graben und bauen!«
Der nächste Tag war ein Sonntag. Bork wußte es nicht. Er erkannte es erst, als er vom Fenstertisch aus, an dem er in der Gaststube von Madsens Hotel seine Mahlzeiten nahm, die Männer, Frauen und Kinder von Skagen, sonntäglich gekleidet, die Havedgade hinauf- und hinabgehen sah. Die meisten, die südwärts stapften, fast alle mit ernsten Gesichtern, gingen dunkel gekleidet. Unter ihnen der grauhaarige Mann, der neben ihm gestanden hatte vor dem Schuppen am Eingang von Skagen, der Bruder des Toten, den man heute begrub. Neben ihm eine hagere, dunkelgekleidete Frau mit einem langen, harten und strengen Gesicht.
Es war ein trüber, von feinem Regen durchnäßter Tag. Der Himmel lag tief und einförmig grau. Von den Ellernbüschen und Faulbeerbäumen, die in den Ecken der kleinen, plankenumfaßten Gärten standen, war das letzte Laub zur Erde gefallen. Alles war grau, die roten Ziegeldächer, die flachen Dünen zwischen den schmalen, niedrigen Fenstern, der Sand auf der Straße.
Die kleine, altmodische Pendeluhr an der lehmgelben Wand über dem Schanktisch schlug zehn, langsam und blechern. Bork war der einzige Gast in der Stube. Die junge Magd, ein frisches, rotbäckiges Gesicht unter dem dicken Schopf ihres flachsblonden Haares, brachte ihm Frühstück, Kaffee, Brot, Butter, eine Kanne Milch, Ziegenkäse und ein großes Glas Aquavit.
»Ich wünsche dem Herrn eine gesegnete Mahlzeit.«
Ehe er zu essen begann, fragte Bork, ob der Gastwirt Madsen im Hause wäre und ob er ihn sprechen könne.
»Nein«, entgegnete die Magd mit einer raschen, jung und hell klingenden Stimme, »der ist mit seiner Frau zum Begräbnis von dem Bootsmann Taneeren gegangen, den man am Donnerstag abend im Schuppen vom Fischer Harmsen am Balken gefunden hat. Die arme Frau.«
Bork nickte.
»Ja, ich weiß.«
Er schaute eine Weile an ihr vorbei durchs Fenster, dann wandte er den Kopf wieder herum:
»Wissen Sie, wo man in Skagen Werkzeug kauft, Hacke und Spaten?«
»Ja, ja«, entgegnete eifrig die Magd, »beim Krämer Axel Twist, im Eckhaus von der Kirchengade, der hat solche Sachen. Ich hab' gestern für Herrn Madsen ein neues Beil in seinem Laden gekauft. Er ist ein unfreundlicher Mensch, und die Leute kaufen nicht gern bei ihm. Des Sonntags, Herr, hat er seinen Laden geschlossen, dann läuft er von morgens bis abends in den Wirtshäusern herum und spielt mit den Schiffern und Fischern Karten und Würfel und betrügt sie alle, das weiß ich genau. Er wär' auch schon hier mit seinen Kumpanen, aber der ist auch mit zum Begräbnis gegangen, obgleich ihm die Frau von dem Bootsmann Taneeren damals, als sie schon Braut war, einen Eimer Wasser über den Kopf gegossen hat, na ja, Herr, Sie können sich denken warum.«
Erschöpft hielt sie inne, denn sie hatte rasch, fast überstürzend gesprochen und war außer Atem gekommen. Sie wollte gehen, doch als sie eilig die ersten Schritte getan, machte sie halt und horchte auf, denn aus der Ferne kam Klang von Kirchenglocken, dunkel tönend, langsam hintereinander.
»Jetzt läuten sie die Glocken«, sagte sie leise, ganz ernst geworden, »jetzt legen sie ihn ins Grab. Der Pastor ist nicht dabei. Der hat auch dem Küster verboten, die Glocken zu läuten, weil doch der Bootsmann Taneeren ein Selbstmörder sei. Aber der Küster, ein ganz alter Mann, hat dem Pastor und den Leuten gesagt, er täte es doch, denn der Bootsmann Taneeren sei sein ganzes Leben lang ein rechtlicher und ordentlicher und frommer Mann gewesen, und daß er sich aufgehängt, daran sei einzig und allein die Frau schuld gewesen, die Kare Kjörr, die das Kind ist von einer leichtfertigen Magd, die gedient hat in diesem Hotel vor mehr als dreißig Jahren.«
Erschrocken hörte sie auf, denn sie sah das lange Gesicht des fremden Gastes auf sich gerichtet, bleich, mit weitgeöffneten Augen. Sie hörte ihn sagen, langsam, mit einer dunklen Stimme:
»Kare Kjörr?«
»Ja, Herr«, entgegnete furchtsam die junge Magd, »Kare Kjörr«, sah noch eine Weile mit bangen Augen in das bleiche Gesicht des Mannes, darin sich keine Miene verzog, dann lief sie eilig davon.
Langsam begann Bork zu trinken, zu essen. Er tat es ohne Bewußtsein. Mitleid stieg auf, umflossen von einer schmerzlichen Traurigkeit, die ihn nicht loslassen wollte. Unruhig stand er auf, nahm die Kappe vom Haken, verließ das Hotel und schritt durch den feuchten, sich an den Schuhen festsetzenden Sand die Hovedgade hinab. Es kamen ihm Menschen entgegen, einzeln und in Gruppen, Schiffer und Fischer in dunklen Trachten, Frauen in Schwarz, alle schweigend mit ernsten Gesichtern, unter ihnen der Gastwirt Madsen mit seiner stillen und schönen Frau. Sie kamen vom Totenacker. Manche, wenn sie vorbeigingen, schauten den Fremden an, die meisten hielten den Blick zur Erde. Einmal, es waren die letzten, hörte er einen zum andern sagen:
»Schade um ihn.«
Der andere, noch jung, mit weißblondem Haar und seeblauem Blick, seufzte und sagte:
»Schad' um die Frau.«
»Es wäre besser«, sagte murmelnd der erste, »sie wäre tot statt ihres Mannes.«
Bork schritt unaufhaltsam weiter. Es trieb ihn unwiderstehlich ein Drang zu den Trümmern zwischen den Dünen.
Bald war er da.
Stundenlang, überrieselt vom grauen Regen, hockte er im Chaos der schwarzen Sparren und Balken, die Füße heraufgezogen, auf den Knien die Ellenbogen der Arme, das Gesicht in den Händen. Kein Mensch kam vorbei. Unendliches Schweigen. Rings um ihn her bleich und tot das Wellenmeer der nackten Dünen. Fernher, die Stille verstärkend, das eintönige Rauschen der Brandung über den Bänken. Ein einziger Gedanke beherrschte dunkel und unablässig sein Hirn:
»Ausgraben und bauen … leben im Haus zwischen den Dünen, einziger Genosse die Einsamkeit, bis die Seele erstickt, das Blut gerinnt und das Herz aufhört zu schlagen.«
Am nächsten Morgen, als Bork nach dem Frühstück von seinem Fensterplatz aufstand, um beim Krämer Twist für die ersten Aufräumungsarbeiten im Trümmerchaos des schwarzen Hauses zwischen den Dünen das notwendige Werkzeug zu kaufen, sah er eine dunkelgekleidete, nicht sehr große, doch reife und schlanke Frauengestalt in schräger Richtung den tiefen und weichen Sand der Straße queren, freien, fast leichten Ganges, nicht schwer und stapfend wie die stämmig gewachsenen, rundhüftigen und breitschultrigen Frauen und Mädchen von Skagen. Vor einem Mann, dem Bruder des Bootsmanns Taneeren, der ihr entgegenkam, blieb sie stehen, um lange mit ihm zu sprechen. Sie stand so, daß Bork nur ihre Gestalt, nicht ihr Gesicht zu sehen vermochte. Ihr dunkles, fast üppiges, zu einem Knoten geschlungenes Haar war unbedeckt. Um ihre Schultern trug sie einen langen, breiten und schwarzen Schal, der mit seinen Fransen den Sand der Straße berührte. Eine heftige Bö, die unversehens heranstob, zerrte ihn hoch, machte ihn flattern, bis er im ermattenden Wind langsam hinabwehte zum Sand.
Bork kam nicht los von ihrer Erscheinung. Plötzlich sah er vor seinen inneren Augen ein Bild: Schiffer und Fischer, Särge, die sie zwischen sich trugen, damals vor siebzehn Jahren, auf dieser Straße … sechs Särge, sechs Seeleute aus Skagen, in schweren Stürmen gescheitert, von der reißenden Brandung über die Sandbänke hinweg auf den Vorstrand geschleudert. Hinter den Särgen sechs Frauen. Sie trugen alle auf gebeugten Schultern diesen breiten, schwarzen, bis zu den Schuhen fallenden Schal, wie diese Frau ihn trug.
Ohne daß Bork es gehört, war Madsen in die Gaststube getreten, zu Borks Tisch gegangen und vor der Schmalkante stehengeblieben. Dem Blick seines Gastes folgend, sagte er leise:
»Das ist die Kare Taneeren … die Witwe des Bootsmannes Taneeren.« Leise, kaum hörbar, ohne das Gesicht aus dem Fenster zu nehmen, sprach Bork:
»Ja, ich hab' es gefühlt.«
Es war lange still zwischen den Männern. Sie sahen, wie die beiden Menschen sich trennten, der Alte schwerfällig nach Norden stampfte und Kare, die Stirn ein wenig gesenkt, blaß, mit müdem Mund, die Hovedgade hinabging, bis sie durch die enge Tür eines kleinen Hauses gegenüber dem Laden des Krämers Twist verschwand.
»Es tut mir leid um die Kare«, sagte der Gastwirt Madsen, und seine großen, glänzenden Augen waren feucht von Mitleid und Trauer. »Sie ist völlig zerstört. Was hat sie denn Böses getan? Es steckt ihr im Blut. Ihre Mutter ist Magd in diesem Hause gewesen. Ihr Vater, wie es so geht, irgendein Gast, auf und davon und nicht wiedergekommen. Er soll ein vornehmer, ganz junger Ungar gewesen sein.« Er machte eine kleine Pause, dann fuhr er fort: »Ihr Mann, der Bootsmann Taneeren, war oft länger auf See als ein Jahr. Wenn einer kam, der sie begehrte und ihr gefiel, ja, dann war es um sie geschehen. Es muß über sie hergefallen sein wie ein Sturm, wie ein Brausen. Ihrem Mann hat sie es gesagt, wenn er heimgekehrt war, und er hat ihr immer vergeben. Er ist ein wunderlicher Mensch gewesen, ein Christ, ein frommer Mann, der immer das Neue Testament mit sich trug und immer an Bord blieb und niemals, wenn er in fremden Städten war, in Schenken saß oder in schlechten Häusern.«
Madsen schwieg eine Weile. Auch Bork sprach kein Wort.
»Einmal hat er zu mir gesagt«, hörte er Madsens leise und traurige Stimme, »Madsen«, hat er gesagt, »nie hab' ich die Ehe gebrochen, ich bin ohne Sünde, das schwör' ich bei Gott. Aber ich kann keinen Stein auf sie werfen.«
»Und hat sich dennoch das Leben genommen«, murmelte Bork.
Der Gastwirt nickte. »Habe viel darüber nachdenken müssen«, sagte er langsam. »Ich glaube, und meine Frau glaubt das auch, er hat nicht aufhören können, sie lieb zu haben. Aber er hat sie nicht mehr küssen und nicht mehr umarmen können … da ist er aus dem Leben gegangen.«
Es war lange still zwischen den beiden. Bork saß reglos mit geschlossenem Blick. Endlich sagte er schwer, aus tiefem Grübeln heraus, und seine Augen blieben bedeckt:
»Es kann auch anders gewesen sein, Madsen, wenn er so fromm war, wie Sie erzählen. Er hat ihr vergeben, und immer aufs neue vergeben, und als der Tag kam, an dem er verzweifelte und sein Herz nicht mehr vergeben konnte, und er den Stein aufhob gegen sein Weib, da erschrak er so sehr vor sich selber und so sehr vor Gottes Zorn, daß er hinging und sich das Leben nahm, und so den Stein auf sich selber geworfen hat.«
»Ja«, nickte Madsen versonnen, »vielleicht haben Sie recht.«
Gäste kamen herein. Still, mit Augen, deren Glanz völlig nach innen gerichtet schien, ging er zum Schenktisch.
Schwer in Gedanken schritt Bork die Hovedgade hinab. Seine Stirn war gesenkt, um seinen Mund lag ein Zug von Traurigkeit. Daß er Arbeitsgerät hatte kaufen wollen, schien ihm völlig entfallen zu sein. Von irgendeinem lauten Geräusch vor ihm oder hinter ihm aufgeschreckt, hob er den Kopf und sah über eine Reihe von Ladenfenstern ein breites Schild mit der Aufschrift: »Warenmagazin Knud Sörensens Nachfolger, Axel Twist.« Sich dunkel entsinnend, schritt er zur Tür. Ehe er sie erreichte, wurde sie aufgemacht. Schrill klang Schellengeläut. Eine Frau kam über die Schwelle, unter dem kupferbraunen Haar ein erregtes Gesicht, der schlanke Körper bebend an allen Gliedern. Ohne ihn anzusehen, flog sie wie flüchtend an dem Fremden vorbei, der einen Schritt zur Seite gewichen war. Er sah, wie sie dahinlief quer über die sandige Straße, mit wehendem Kleid, die Enden des langen, schwarzen Witwenschals flatternd hinter ihr her, bis sie durch die Tür eines kleinen Hauses verschwand.
Er schloß die Augen. Kare Kjörr. Er hatte ihre Gesichtszüge erkannt, obwohl sie ihm in ihrer Erregung fremd und verändert erschienen in der ersten Sekunde. Vor seinen geschlossenen Augen sah er ihr junges und schönes Gesicht, wundersam in die mondweiße Klarheit des hohen Himmels gezeichnet, als sie dastand vor der tönenden See, damals vor vielen Jahren, der junge, schlanke Leib aufblühend aus dem Gischt der rauschenden Brandung, mitten im springenden Schaum, der sie benetzte und nicht vermochte, die Glut ihrer brennenden Lippen zu kühlen, und den Blick zu verschleiern, der unverwandt zur Ferne spähte, sehnsüchtig zu den Schiffen hinüber, die mit qualmenden Schloten und grüßenden Flaggen am Heck unbekannten Ländern und paradiesischen Inseln entgegenfuhren.
Lange noch stand er da, ein Mensch, tief versunken im Traum. »Was hat man ihr angetan?« dachte er dumpf. Als er den Blick wieder hob, sah er dunkel die Schwelle, die Tür und über den Fenstern das Schild. Er zögerte, dann trat er rasch ein.
Als er im Laden vor dem langen, mit vielen Waren bedeckten Ausgabetisch stand, beugte sich lächelnd ein schwarzhaariger, spitzbärtiger Mensch zu ihm hin, der in den Gruß des Fremden hinein hastig zu sprechen begann. Bork erkannte den Mann, der neben ihm vor dem Schuppen gestanden, als man den Bootsmann Taneeren vom Balken geschnitten, und in der Schenkstube von Madsens Hotel höhnische Reden geführt hatte.
»Rassiges Weibsstück, wie?« rief er mit häßlichem Grinsen, »hab' durchs Fenster gesehen, wie Sie ihr nachgestarrt haben. Ja, die Taneeren …« Er lachte kurz und gemein und schlug mit der flachen Hand auf eine Rolle blaugrauen Düffeltuches, die der Länge nach vor ihm lag. »Hat mir eine Webe verkauft. Geld für den Sarg und für das Grab, in dem der Bootsmann Taneeren jetzt seine Ruhe hat, um die sie ihn gründlich gebracht, die Kare, geborene Kjörr, das Kind der Liebe!« Er lachte feixend. »Ich habe ihr Trost spenden wollen, aber mir scheint, mein Herr«, er lachte aufs neue, »sie kann meinen Trost nicht vertragen.«
»Schweigen Sie!« fuhr Bork ihn zornig an und hob die Hand, fast, als wollte er schlagen.
» Excuse me, Sir«, rief der Krämer ein wenig verdutzt, um sogleich mit schleimigem Lächeln und einer leichten Verbeugung zu fragen:
»Was steht zu Diensten, mein Herr?«
»Nichts.«
Ohne Gruß, die Brauen finster beisammen, verließ Bork den Laden.
Verblüfft stierte der Krämer ihm nach. Dann verzog er verächtlich den Mund, spie schräg zum Fußboden hinab in den Sand, den die schweren Schuhe und Stiefel der Leute von Skagen mitgebracht hatten.
» Foolish Englishman«, fluchte er grimmig, denn er haßte die Briten, die alljährlich im Sommer als Touristen nach Skagen kamen und ihn kurzfertig und hochnasig behandelten, wenn sie in seinem Laden Einkäufe machten. Niemals jedoch hatte ihn einer so schroff abfahren lassen wie dieser Fremde mit dem langen, harten und bartlosen Gesicht, das unverkennbar den Briten verriet. Mißmutig nahm er das Düffeltuch Kare Taneerens vom Tisch, trat zum Fenster, schob das Endstück des glatten, dichtwebigen Stoffes zwischen Zeigefinger und Daumen und prüfte die Wolle.
»Schlechte Ware«, murmelte er vor sich hin. »Schlechte Ware. Werde von heute ab nur noch bei Mendel Verschleißer in Frederikshavn bestellen.«
Er schlug mit der flachen Hand grimmig aufs Tuch und warf es so heftig zum Tisch, daß es weiterrutschte, abstürzte und dumpf auf den Fußboden aufschlug.
Draußen, auf der Schwelle, blieb Bork sekundenlang stehen. Unverwandt hing sein Blick an dem kleinen Haus und der schmalen Tür, hinter der Kare Taneeren verschwunden war. »Nun sitzt sie daheim«, dachte er schwer und traurig. »Dunkelheit um sie her, sie ist einsam und friert … friert und erschauert im Grauen der Schuld. Schuld? Sitzt sie geduckt, mit erstarrten Augen, die Hände verkrampft im Schoß, … in Qual und Wirrnis verloren, ausgestoßen in eine Wüste, in der es nichts anderes gibt als Gestrüpp von Disteln und Dornen?«
Kare Kjörr …
War noch in seiner Seele ein Rest von Liebe? Mitleid stieg auf … Mitleid mit einem Herzen, dem Blut entströmte wie Blut aus eigenen Wunden.
Endlich setzte er sich in Bewegung. Schwerfällig, ungewisse Dunkelheit vor schmerzenden Augen, schritt er die Hovedgade weiter hinab. Was hatte er vorgehabt, was wollte er tun? Er blieb aufs neue stehen und starrte zu Boden. Endlich fiel es ihm ein. Ja, richtig, Werkzeug kaufen. Chaos lichten, aus Trümmern ein Haus erbauen, für was? Für wen? Für einen, der kein Heim mehr brauchte, der kein Lebendiger mehr war. Ein Lächeln, hart, grausam, verzerrte den fest geschlossenen Mund, dem alles Blut entwichen war. Wie geschoben von unerklärbarem Zwang stampfte er weiter, kaufte in einem Laden am Ende der Straße Spitzhacke, Stemmeisen und Spaten und wanderte weiter, strandentlang, Sandweg entlang, die Schultern schwer mit eiserner Bürde beladen, bis er das schwere Trümmerfeld zwischen den weißen und nackten Dünen erreichte.
Spät nach Mittag kam Bork nach Skagen zurück. In der Schenkstube von Madsens Hotel saßen vor breiten, vierkantigen Tischen Schiffer, Fischer, Strandwächter und Beamte vom Zoll, tranken Cederlund-Punsch oder Carlsborger Bier und rauchten aus kurzen Pfeifen.
Borks Tisch am Fenster war frei. Als er die Mahlzeit, die Madsen ihm brachte, beendet, kam durch die Eingangstür der Oberlotse Jes Nielsen, schlürfend, auf zwei Handkrücken gestützt, ging, ohne sich umzusehen, an den Tischen vorbei und erwiderte jeden Anruf der Gäste mit einem kurzen, knarrenden Gruß. Den Fremden erspähend, blieb er stehen.
»Guten Abend, mein Herr!«
Bork blickte auf. Es war dunkel geworden. Unter der niedrigen Decke verspülten die beiden Petroleumlampen ihr trübseliges Licht. Bork sah das alte, graue Gesicht fahl glimmend wie die Larve eines Gespenstes.
»Sie heißen Bork, wie?« hörte er die röchelnde Stimme und fragte ein wenig erstaunt: »Woher kennen Sie mich?«
Der Alte verzog den dünnen, eingetrockneten Mund zu einer Grimasse, die ein Lächeln bedeuten konnte.
»Sie sind Ihrem Herrn Großonkel wie aus dem Gesicht geschnitten, mein Herr. Überdies habe ich heute von meinem Neffen, Kapitän Nielsen, einen Brief aus Frederikshavn bekommen.«
Bork sah den Greis aufmerksam an.
»Sie sind der Oberlotse Jes Nielsen, nicht wahr? Ihr Neffe hat mir von Ihnen erzählt.«
Der Greis nickte. »Ganz recht, ganz recht. Und mein Neffe von Ihnen, in seinem Brief. Sie haben Schiffbruch gehabt im Atlantik, wie? Mein Neffe hat Sie mitgenommen auf seiner Skagen, was? Ich hab' Sie schon vorgestern abend gesehen, drüben, neben dem Schenktisch. Hab' Sie nicht gleich erkannt. Merkwürdig, bei meinem scharfen Gesicht einen Bork nicht gleich zu erkennen!« Er lachte, es klang wie Rasseln von Scherben. »Adrian Bork, glaub' ich, hat Ihr Großonkel geheißen. Ich hab' ihn kennengelernt, da hat er schon graue Haare gehabt und ich schon weiße. Ein prächtiger Mann, der zu trinken verstand und … zu lieben!«
Der Gastwirt Madsen ging durch die Stube zur Ecke, in der der Oberlotse Jes Nielsen Abend für Abend zu sitzen pflegte. Er trug auf einem Brett eine dickbauchige, mit gelbem Bast umwickelte Flasche, einen irdenen Krug, aus dem es dampfte, und eine bäuerlich bunte Schale mit einem Berg von schwarzbraunem Kandis.
»Wollen Sie mithalten, Herr?« fragte der Greis und grinste über sein altes, zernagtes Gesicht. »Indischer Reisrum, ein Grog, halb Rum, halb Wasser, drei Löffel Kandis … Feuer fürs Blut, für das bißchen, was man noch hat.«
Bork zögerte.
»Ich danke, Herr Oberlotse«, sagte er dann ein wenig schwer, mit Augen, die abwesend schienen, »ich bin sehr müde.«
»Schade. Hätten von Ihrem Großonkel reden können. Na, ein andermal denn, wie?«
Er nickte und stakte, die eckigen Schultern gekrümmt, auf seine Handkrücken gestützt, hüstelnd und röchelnd davon, kopfnickend an grüßenden Schiffern vorbei, und vergrub sich in seiner Gruft.
Als neue Gäste hereinkamen und die Stube sich füllte mit den Gerüchen von Speisen, Bier, Grog, Punsch, Tabak und Menschen, ging Bork hinaus, schwer die steile Treppe empor, denn er war müde von diesem Tag.
Als Madsen am nächsten Tage in der Gaststube zum Tisch Borks trat, um ihm, wie es seine Gewohnheit war, guten Morgen zu wünschen, fragte ihn Bork:
»Sagen Sie, Madsen, was ist das für ein Mensch, dieser Oberlotse Jes Nielsen?«
Madsen lächelte ein wenig.
»Ja, das ist ein merkwürdiger Mann. Er weiß viel und redet von Gott und Welt, als wüßte er in allem Bescheid. Er kann witzig sein und gallig zugleich. Man wird nie recht klug aus ihm. Wenn man glaubt, er meint es ernst, dann merkt man später, daß es oft nur ein Schabernack war. Die Nielsens, die heute fast ausgestorben sind, nur der alte Jes lebt noch und sein Großneffe, der Kapitän von der Skagen, sind eine alteingesessene Familie gewesen, Fischer, Küstenschiffer und Handwerker. Die Mutter vom Jes, die sehr schön und sehr klug und die Tochter von einem Strandvogt gewesen sein soll, ist gestorben bei seiner Geburt. Der Vater, ein kleiner Tischler, ist schwermütig darüber geworden, als Zimmermann auf ein Schiff gegangen und nie wiedergekommen. Den kleinen Jes hat ein Bruder seiner Mutter erzogen, als Schiffsjunge auf seinem Gaffelschoner um die Erde und dann nach Kopenhagen auf die Schiffahrtsakademie geschickt. Er soll sich aber, wie seine Kameraden erzählten, mehr in den Hörsälen und der Bibliothek der Universität herumgetrieben haben als in der Akademie. Nie soll er etwas mit Weibern zu tun gehabt haben. Das ist es vielleicht, was ihn so launisch, so bissig und, wie soll ich sagen, so scharfgeistig gemacht hat.«
»Und die Alte, die mit ihm lebt?« fragte Bork.
Da außer ihnen niemand in der Gaststube war, setzte sich Madsen zum Tisch und begann zu erzählen, in seiner einfachen Art, die etwas Wägendes und Nachsichtiges hatte.
»Ja, die Thode«, sagte er sonderbar lächelnd, »die ist auch schon um die achtzig herum. Genau weiß es keiner. Sie selber nicht. Fast vierzig Jahre ist sie in seinem Dienst. In ihrer Jugend ist sie mit einem alten, gichtbrüchigen Zollassistenten verheiratet gewesen, dem einzigen, der sie genommen hätte, wie die alten Leute von Skagen erzählen. Sie ist dann bald Witwe geworden und hat sich in ihrem winzigen Häuschen mit Düffelweben kümmerlich durchs Leben gebracht. Als Nielsen, schon mehr als sechzig, nach seinen vielen Reisen um die ganze Erde herum, für immer nach Skagen zurückkehrte, hat er vielleicht großes Mitleid für sie gehabt, hat ihr das kleine Haus abgekauft und sie bei sich behalten, nicht als Frau, sondern als Magd. Ich glaube, sie hat ihm treu gedient.«
Er schwieg eine Weile, als sänne er nach. Bork blickte schweigend an ihm vorbei.
»Soll ich noch weiter erzählen?« fragte der Wirt.
Bork nickte.
»Es ist merkwürdig genug«, fuhr Madsen fort, und sein schmales Gesicht wurde nachdenklich und ernst, und die großen, fiebrig glänzenden Augen verdunkelten sich, während er weitersprach, und wurden sonderbar tief.
»Von seiner letzten Reise hat der Oberlotse eine stattliche, fremdartig aussehende Ziege mit nach Hause gebracht. Er hat sie, wie er erzählt, in Kalkutta von einem indischen Tierhändler gekauft, der sie mit vielem anderen Getier in den Gebirgen des Tibet erbeutet haben soll. Himalajaziege nannte sie Nielsen, manchmal auch Schraubenziege. Mit Namen hat er sie Jugo genannt. Ich hab' sie noch selber gesehen. Sie war sehnig gewachsen, mit starken und schlanken Beinen, das Fell war wie Seide, blaßgrau wie die Federn von Tauben, und die Mähne über dem Hals und den Schultern war lang und weich wie Haar aus blauer Seide. Die Augen konnten einen anschauen, als wären sie die Augen von einem Reh. Sie trug, fast einen Meter lang, zwei seltsam verschraubte, oben verschnörkelte Hörner, die waren blau wie im Sommer der Himmel. Wenn er mit ihr durch Skagen ging und sie spazieren führte den ganzen Strand entlang, dann blieben die Leute stehen, so vornehm ging sie neben ihm her, anzusehen als sei sie eine verzauberte indische Fürstin.«
Versonnen lächelte Madsen in sich hinein, dann fuhr er fort, ruhig, fast ernst:
»Jedem, der es wissen wollte, hat der Oberlotse gesagt, sie ersetze ihm alles, Frau, Mutter und Kind. Frau, weil sie schöner und herrlicher anzusehen sei als das begehrteste Weib, das Gott auf seiner Erde herumlaufen ließe, Mutter, weil ihre Milch ihn ernähre, und Kind, weil sie sanft und liebreich sei und sich streicheln und kosen ließe wie ein kleines, liebebedürftiges Kind. Als ich ihn einmal fragte, warum er sein Herz so sehr an diese Ziege gehängt hätte, sah er mich von der Seite her an, verzog den Mund und sagte in einem sonderbar bissigen Ton: ›Ich will alt werden, Madsen. Hundert und mehr. Ich muß alt werden, hörst du, Madsen, ich muß! Und jeder, der lange Zeit von der Milch einer Himalajaziege getrunken hat, wird alt wie Methusalem … manch einer älter als Gott.‹ Und dann sah er mich an mit seinen kleinen scharfsichtigen Augen, boshaft und funkelnd, und lachte so heiser und laut, als steckte etwas Besonderes, Unheimliches hinter seinen Worten und seinem Lachen, so daß ich in meiner Seele erschrak.«
»Lebt sie noch?« fragte Bork.
»Nein«, entgegnete Madsen, »vor vier Jahren, als ein großer Sturm aus Nordost ihren Stall zerschlug, brach sie aus und wurde vom Wind in die Dünen westlich von Skagen gejagt, wo sie niedergebrochen, vom fliegenden Sand überholt und erstickt sein muß. Aber der Oberlotse hat sie wiedergefunden, denn die Hörner ragten hoch aus dem Sand. Die hängen heute in seiner Diele, gegenüber der Tür an der Wand, von der Sofalehne fast bis zur Decke, zwischen zwei langen Speeren mit vergifteten Spitzen, die er aus Afrika mitgebracht hat.«
Bork blieb stumm, als Madsen geendet hatte. Draußen mit knirschenden Rädern rollte ein Wagen heran und hielt vorm Haus.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte Madsen und ging zur breiten Ausgangstür.
Bork hörte ihn nicht.
»Älter als Gott«, dachte er dunkel.
Als Madsen mit einem Herrn, dem er beim Verlassen des Wagens behilflich gewesen war, wieder die Schenkstube betrat, sah Bork eine starke und hohe, in einen braunen, weit fallenden, auch die Arme bedeckenden Mantel gehüllte Gestalt, um mehr als Haupteslänge den Wirt überragend, den mächtigen Kopf halb eingegraben in eine fremdartige, fast mönchisch erscheinende, braune Kapuze. Unter dichten, schlohweißen Brauen aus schwarzen Höhlen dunkel glimmende Augen, aschgraue Gesichtshaut darunter, eine hakig gebogene Nase über einem schneeweißen, schmal und lang über die breite Brust hinfallenden Bart. Schwer, auf einen Krummstock gestützt, den Oberkörper ein wenig nach vorn, durchschritt er die Stube einem Ahasverus gleich auf hartem Weg. Ohne den Gastwirt anzusehen, der schmächtig neben ihm herging, murmelte er einige Worte, die Bork nicht verstand. Völlig im Bann dieser sonderbaren Erscheinung, die unwirklich, fast gigantisch erschien in der dämmrigen Luft des niedrigen Raumes, starrte er ihm nach, bis er mit Madsen durch die Tür zu den oberen Räumen verschwunden war.
»Wer war das?« fragte er mit einer abwesend klingenden Stimme den Knecht von Madsens Hotel, der kofferbeladen die Stube betreten hatte, und machte unwillkürlich eine Bewegung der Hand in der Richtung, aus der hinter der Tür noch das Krachen von Treppenstufen vernehmbar war.
»Der Amtmann aus Jörring«, versetzte gleichmütig der Knecht, ohne sich umzuschauen.
»Älter als Gott«, murmelte Bork, wandte sich wieder zum Tisch und brachte die Morgenmahlzeit zu Ende, fast ohne Bewußtsein.
Eine halbe Stunde später saß Bork in der kleinen, überheizten Amtsstube des Bürgermeisters von Skagen und sprach in raschen und kurzen Worten von seinem Plan. Der Bürgermeister, grauhaarig, mit dem breiten, bartlosen und verschlossenen Gesicht eines jütländischen Schiffers, einarmig, an der linken Schulter im kurz abgebundenen Ärmel der graublauen Düffeljacke nur noch einen Stumpf, hörte gelassen zu und setzte zuweilen mit schwerer, langsamer Hand, den Stift steil zwischen den Fingern, ein Wort auf das Aktenpapier, das er umständlich vor sich hingelegt, ehe der fremde Besuch angefangen hatte zu sprechen.
»Tja«, sagte er nach kurzem Besinnen, als Bork zu Ende war, »es wird natürlich niemand etwas einwenden können, wenn Sie das alte Bootshaus wieder aufbauen und darin wohnen wollen. Das scheint mir klar.«
Er legte den Stift beiseite, stand schwerfällig auf, rückte den alten, breitlehnigen, altertümlich geschnitzten Stuhl ein wenig nach hinten, nahm ein klobiges Stück Wrackholz aus einer Kiste, stieß mit dem rechten Fuß die Feuertür eines dickbäuchigen, rot gekachelten Ofens auf und schob das Stück Holz in die Glut, in der es sogleich heftig zu knacken und zu prasseln begann.
Als er wieder im Lehnstuhl saß, den Stift zwischen den Fingern, sagte er langsam – und ließ den wasserblau forschenden Blick nicht aus den Augen des Fremden:
»Es ist nur, Herr Kapitän, Sie müssen den Nachweis führen, daß Sie wirklich der Erbe und Großneffe von dem Hamburger Kaufmann Adrian Bork sind, auf dem das Haus im Grundbuch von Skagen steht.«
Bork dachte nach.
»Bin völlig ohne Papiere«, sagte er endlich. »Ich kann mich durch nichts legitimieren. Ich habe im Atlantischen Ozean Schiffbruch erlitten. Es ist alles verlorengegangen. Ich habe Grund …« er zögerte, weiter zu sprechen.
»Schiffbruch?« horchte der Bürgermeister auf, kniff die Augen zusammen, machte sie gleich wieder auf und hörte aufmerksam zu.
»Ich habe Gründe«, sagte Bork mit einer klaren und entschlossenen Stimme, »mit meiner Familie in Hamburg keinerlei Verbindung zu unterhalten. Es gibt zwischen uns Differenzen, die sich in absehbarer Zeit nicht überbrücken lassen. Würde Ihnen, Herr Bürgermeister, das Zeugnis des Oberlotsen Jes Nielsen genügen?«
Der breite Mann dachte nach.
»Ich glaube, ja, das würde genügen. Ich will mit dem Amtmann reden, der heute früh aus Jörring gekommen ist wegen des Hafens, den die Regierung uns bauen will.«
Bork stand auf. Ehe er ging, sagte er plötzlich, wie von einem Gedanken erfaßt:
»Es gibt in Skagen …«, doch er brach ab, preßte hart die Lippen zusammen und schaute an den grauen Haaren des Bürgermeisters vorbei durch das Fenster über rote Ziegeldächer hinweg, hinter denen unter dunkel treibenden Wolken fahl und endlos die starren Wogen der Dünen sich dehnten. »Es gibt eine Frau in Skagen«, hatte er sagen wollen, »die weiß, wer ich bin …«
Der Bürgermeister neben dem Stuhl, die schwere, mit grauem Haarwuchs bedeckte Hand auf der Lehne, sah ihn verwundert an. »Er sieht den Schiffbruch«, dachte er plötzlich, und, selber zur Ferne starrend, begann er zu sprechen:
»Auch mein Schiff, das ›Kong Frederik‹ hieß, ist untergegangen im Atlantischen Ozean auf der großen Bahamabank bei den Antillen, vierundzwanzig Grad nördlicher Breite, vor dreiundzwanzig Jahren in einem Hurrikan. Ein britischer Trawler hat uns herausgefischt, vier von der Mannschaft und mich. Acht sind untergegangen und mit ihnen mein linker Arm, den die Bramstange vom Großmast mir aus der Schulter gerissen.«
Er wandte den Blick zu Bork. »Und wo sind Sie gescheitert, Herr Kapitän?« fragte er langsam.
Ohne den Blick aus den Dünen zu lassen, entgegnete Bork mit einer Stimme, die tonlos war, als käme sie aus dunkelsten Tiefen der Seele:
»Ich bin gescheitert in keinem Sturm, an keiner Klippe, an keinem Riff … ich bin gescheitert …«
Er sprach nicht weiter und senkte die Stirn.
Der Bürgermeister erschrak.
»Mensch!«
Da riß Bork sich auf, murmelte verstört einen Gruß und ging hinaus.
Der Bürgermeister setzte sich hin, schwerer als sonst. »Der hat mehr verloren als einen Arm«, dachte er dumpf.
Aus dem glutheißen Ofen kam Krachen, Knacken und Prasseln. Das schwarze Wrackholz der gestrandeten Schiffe verbrannte wie Zunder.
Als Bork einen Tag später kurz vor der Dämmerung nach vielen Stunden erster Aufräumungsarbeiten im Trümmerhaufen des alten Bootshauses müde und mit zerschlagenen Gliedern die Schenkstube von Madsens Hotel betrat, die er durchqueren mußte, um zum Gang und zur Treppe nach oben zu kommen, blieb er stehen, die Hand noch auf der Messingklinke der Tür. Auf dem runden Tisch, rechts hinten im Winkel, in dem ewige Dämmerung herrschte, brannten zwei dicke, wachsgelbe Kerzen in kurzen Leuchtern aus buntem Holz. In seinem Stuhl, dessen breite und hochragende Rückenlehne mit ihrem reichen Schnitzwerk im unruhig flackernden Licht der Kerzen aussah wie die Mittelwand eines Altars aus der Gotik, saß mit vorgebeugten Schultern der Oberlotse Jes Nielsen, das schlohweiße Haar wie Schnee vom Mond, das Gesicht nicht erkennbar; denn es war über ein großes, schweres, breit aufgeschlagenes Buch geneigt, das mit hell beschienenen Seiten schräg in den langen, zerfurchten Händen lag. Langsam, ein dumpfes Grollen unter der röchelnden Stimme, las er Worte, die Bork nicht aufnahm, da sein Blick seltsam gebannt war von der hohen und dunklen Gestalt des Amtmanns aus Jörring, die reglos vorm Schenktisch stand, die breiten Schultern nach vorn, den Kopf tief gebeugt, wie atemlos lauschend, eine große, blaß glimmende Hand vergraben in einem langen und breiten Bart, der weiß war wie das Haar über der mächtig gewölbten Stirn. Borks Blick schweifte weg. Doch er blieb, ehe er den Oberlotsen erreichte, zum zweiten Male haften auf der Gestalt einer Frau, die unbewegt, von Schatten beworfen, einen Schritt weiter vor der Schwelle der Tür stand, die über den dunklen Gang zur Treppe führte. Blaß glommen Gesicht und Hände, doch nichts war deutlich erkennbar, alles war Schemen, unfaßbar und wesenlos.
Es war eine dumpfe Stille im Raum, ein unheimliches Zwielicht von Tageshelle, Dämmerung und Kerzengeflacker, durch das dumpf grollend die Stimme Jes Nielsens drang. Der Mann an der Eingangstür horchte auf. Er streckte den Oberkörper nach vorn, lauschte aus unwiderstehlichem Zwang und erbleichte unter den Worten, die er vernahm.
»Verflucht wirst du sein in der Stadt, verflucht auf dem Acker, verflucht wird sein die Frucht deines Leibes, die Frucht deines Landes, die Frucht deiner Rinder und die Frucht deiner Schafe. Verflucht wirst du sein, wenn du eingehest, verflucht, wenn du ausgehest.«
Ein Röcheln unterbrach die langsam hingrollenden Worte. Bork starrte über die unruhig brennenden Kerzenflammen hinweg ins Dunkel.
»Der Herr wird unter dich senden«, klang es aufs neue, »Unfall, Unruhe und Unglück, in allem, da du tust, bis du vertilget werdest und untergehest um deines bösen Wesens willen. Der Herr wird dir die Pestilenz anhängen, bis daß er dich vertilge in dem Lande, dahin du kommest.«
»... in dem Land, dahin du kommest«, murmelte Bork.
»Der Himmel, der über deinem Haupte ist, wird ehern sein und die Erde unter dir eisern. Dein Leichnam wird eine Speise sein allem Gevögel des Himmels und allem Tier auf Erden, und niemand wird sein, der sie scheucht.«
Da fiel ein Laut in die drohenden, immer von einem heiseren Röcheln getragenen Worte, ein langer, schmerzlicher Laut, ein Seufzen aus unaussprechlicher Not.
Nielsen brach ab. Bork sah mit erstarrtem Blick die Frauengestalt, die über die Schwelle getreten war und nun im Zwielicht stand, Qual und Verzagen im bleichen Gesicht, darin die Augen standen, groß, dunkel vor Angst und Entsetzen. Bork erschrak.
Der große, dunkle Mann vor dem Schenktisch rührte sich nicht. Unbewegt lag die lange, fahl glimmende Hand im schneeweißen Bart. Sein Blick war geschlossen.
»Was tust du hier?« rief Nielsen aufgebracht durch die Stille. »Hab' ich dich hergerufen?«
»Lies weiter!« rief aus ersticktem Schluchzen die Frau.
»Nicht für dich«, klang es heiser zurück.
»Lies weiter … Jes Nielsen.« Es war ein Ruf der Verzweiflung. Ihre weißen Hände im schwarzen Witwenschal hoben sich auf, als wollten sie flehen.
Nielsen las weiter.
»Der Herr wird dich schlagen mit Wahnsinn, Blindheit und Rasen des Herzens und wirst tappen im Mittag, wie ein Blinder tappet im Dunklen, und wirst auf deinem Wege kein Glück haben und wirst Gewalt und Unrecht leiden müssen dein Leben lang, und niemand wird dir helfen.«
Rasselnd verschnaufte der Alte eine lange Sekunde. Die Menschen im Raum standen wie Säulen aus Stein. Über dem schweren, breit aufgeschlagenen Buch im Schein der Kerzen stand wie ein Totenschädel Jes Nielsens weißer Kopf. Der große, dunkle Mann am Schenktisch hatte das Haupt erhoben, die Hand aus dem Bart gleiten lassen und starrte mit schwarzen, unnatürlich geweiteten Augen in den flackernden Winkel, aus dem die Stimme Jes Nielsens kam, drohend, ohne zu röcheln, nicht mehr die Stimme des Oberlotsen Jes Nielsen, eine Stimme irgendwoher aus lichtloser Finsternis, aus Schlünden der Hölle, donnernd, ungeheuerlich anschwellend in den Ohren der Menschen, die sie im Bann erstarrten Lauschens vernahmen.
»Deine Fußsohlen werden keine Ruhe haben, denn der Herr wird dir ein bebendes Herz geben und verschmachtende Augen und eine verdorrte Seele. Ein Haus wirst du dir bauen, aber du wirst nicht drinnen wohnen. Ein Weib wirst du dir vertrauen lassen, aber ein anderer wird bei ihr schlafen. Und werden alle diese Flüche über dich kommen und dich verfolgen und treffen, bis du vertilget bist.«
Der Alte schlug das Buch zusammen. Es gab einen schweren und dumpfen Laut. Eine der Kerzen erlosch. Dann löschte er zwischen den langen und dürren Fingern die zweite und saß nun völlig im Dunkeln, wie weggeschluckt von der Erde.
Tief geduckt, wie zerbrochen, schlich die Witwe Taneeren hinaus. Der schwarze Schal schleifte lang hinter ihr her.
Der schwere, weißbärtige Mann aus Jörring stand noch immer ohne Bewegung, den Kopf zur Erde. Plötzlich fuhren die Hände zur Höhe und bohrten sich, zu Fäusten geballt, tief in die dunklen Gruben der Augen. Zugleich brach ein Stöhnen herauf, so qualvoll, so urgewaltig, daß der mächtige Körper in allem Fleisch und allem Blut heftig erschüttert zu schwanken begann. Das Stöhnen erstarb. Den breiten Oberkörper nach vorn, das Kinn auf der Brust, die Hände im Bart, als suchten sie Halt, ging er mit schleppendem Schritt durch die Stube, über den Gang und die düstere Treppe hinauf.
Madsen kam aus dem Keller, Weinflaschen in einem Korb, in der Hand eine Laterne. Ohne den Korb beiseite zu stellen, tat er einige Schritte durch die Stube, hob die Laterne, um ihren Schein durch das Zimmer spielen zu lassen. Bleich hinter dem runden Tisch im Winkel glommen Jes Nielsens Haar und Gesicht.
»Was ist mit dem Amtmann?« fragte zögernd der Wirt. »Ich sah ihn die Treppe hinaufgehen.«
Brüchig kam die Stimme des Lotsen: »Vielleicht hängt er morgen oder übermorgen an einem Balken im Dach des Hauses.«
Madsen erbleichte.
»Mensch«, sagte er mit einem Grauen, »was redest du da?«
Von obenher kamen dumpfe Geräusche, hin und her, wie schwere Schritte von Wand zu Wand.
Der Gastwirt hob lauschend den Kopf. »Horch, wie er stampft«, sagte er murmelnd, und im Fieberglanz seiner Augen stand Angst. Dann ging sein Kopf wieder zum Lotsen. »Was ist mit ihm, Nielsen?«
Lange kam keine Antwort.
»Er wird es von selber sagen«, brach endlich grimmig verbissen aus dem Dämmer die rasselnde Stimme. »Jetzt ist er reif. Jetzt hat's ihn gepackt, jetzt ist er geliefert, der Mörder!«
Jäh brach er ab und fuhr auf und starrte zu Madsen:
»Habe ich Mörder gesagt?«
»Ja«, sagte Madsen, blaß, mit bebendem Mund.
Der Lotse nickte. Hart und kurz lachte er auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ja, ich hab' es endlich gesagt«, kam es knirschend mit funkelndem Blick. »Da steht es geschrieben, vor mir, ehern und hart in der Luft. Mörder! Mörder! Und keiner ist da, der es auslöschen wird, kein Mensch, kein Richter, kein Satan, nicht einmal Gott!«
Der Gastwirt fühlte aufs neue ein Grauen, horchte zur Decke, in der ein Zittern und Dröhnen war von schweren Schritten, die nicht aufhören wollten, langsam und dumpf auf und nieder zu gehen, brachte Korb und Laterne zum Schenktisch und setzte eine der beiden Lampen, die von der Decke hingen, mit zitternden Fingern in Brand, und schrak zusammen, als er den Mann erblickte, den Gast, der bleich und verstört an der Eingangstür lehnte, mit entstelltem Mund, die Augen unheimlich verglast. Da packte ihn das Entsetzen. Durch sein Blut rann Frost. Er drehte den erfrierenden Blick zum Oberlotsen hinüber, der schweigend hinter dem Tisch saß, undeutlich erkennbar im Schattengrau seines Winkels, und sah, wie er mit dürren Fingern in die runde Schildpattdose hineingriff, die er aus Kamerun mitgebracht hatte, ein schwarzes Stück Priem heraufholte, es über die strichdünnen Lippen schob und mit den wenigen Zähnen, die noch in den Kiefern saßen, langsam zu kauen begann. Da schlich er hinaus, von einer Furcht gepackt, wie er sie nie in seinem Leben gespürt.
Kaum war er draußen, stürzte Bork zum Oberlotsen hinüber, warf die Arme über den Tisch, die Finger gespreizt wie im Krampf, und schrie ihn an: »Woher weißt du, daß ich ein Haus aufbauen will, und daß ich verflucht sein soll, nicht zu wohnen in diesem Haus! Mensch, sprich, woher weißt du das?«
Nielsen schwieg. Seine grünlich blinkenden Augen bohrten sich tief in das graue, qualvoll entstellte Gesicht, das unheimlich fordernd dem seinen näher und näher kam, und erkannte, daß in der Brust dieses Menschen das Gewissen schrie und verzweifelt sich bäumte.
Borks Hände griffen um Nielsens Schultern. »Mensch«, wiederholte er keuchend, sie heftig schüttelnd, »sprich, woher weißt du das!«
Da schlug der Oberlotse mit der hageren Hand hart auf den gelblichweißen, stockfleckigen Schweinslederdeckel des schweren Buchs.
»Da steht's, Mann«, stieß er zischend zwischen den Zähnen heraus. »In der Bibel. Aufgezeichnet von Gott für den Amtmann, für alle, die schuldig sind.«
Bork ließ die Hände fallen. Entspannt, schwer atmend sank er in den Stuhl neben dem Tisch, den Blick schwer zur Erde.
»Für alle, die schuldig sind …«, murmelte er dumpf.
Es kamen Gäste, Schiffer, Fischer, breite und schwere Gestalten, Strandwächter und Leute vom Zoll, setzten sich an die Tische und bestellten Teepunsch oder Carlsborger Bier bei der jungen, flachsblonden Magd und bei der Gastwirtsfrau, die ernst und schweigend in die Stube getreten war.
Madsen erschien und machte sich hinter dem Schenktisch zu schaffen. Wenn die Frau zu ihm hinkam, um für die Gäste Getränke zu holen, und wieder umherging, ruhig, mit ihrem stillen und schönen Gesicht, sah er ihr nach. Um seinen schmalen Mund ging ein Lächeln, in seinen fiebernden Augen erglänzte ein Funke vom Glück.
Da rief eine laute Stimme ihn an. Er schrak auf. Es war Axel Twist, der Krämer. Er saß allein an einem Tisch nicht weit vom Oberlotsen und rührte heftig in seinem Punsch.
»He, Madsen«, rief er hinüber, so laut, daß an den meisten Tischen die Gespräche verstummten, »was ist das mit der Taneeren? Rennt aus dem Wirtshaus heraus über die Straße, mit einem Gesicht, als wäre wie ein Gespenst der tote Bootsmann hinter ihr her mit seinem Tau um den Hals.«
Madsen starrte ihn an und sagte bedrückt: »Die Witwe Taneeren? Ich weiß es nicht. Sie wollte wohl mit dem Amtmann sprechen. Aber der ist schon abgefahren.«
»Ja«, lachte der Krämer in einer häßlichen Weise, »der scheint nicht mehr recht bei Verstande zu sein. Ich hab' ihn aus der Hintertür herausschleichen sehen wie einen Dieb, oder wie einen, der einen Schlag auf den Nacken bekommen hat. Sein Gesicht war weiß wie Kalk.«
Er nahm sein Glas und trank es leer.
Vom Tisch des Oberlotsen her kam ein kurzer, grimmiger Laut.
Unter den Fischern, Schiffern und Lotsen entstand ein Gemurmel. Keiner in Skagen mochte ihn leiden, diesen Schwätzer, diesen aus Kopenhagen hergelaufenen Krämer.
»Schweig!« rief einer.
Grinsend schob Twist das leere Glas über den Tisch. »Carlsborg-Pilsener, Frau Madsen.«
Schweigend nahm Frau Madsen das Glas. Schweigend, mit ernstem Gesicht, brachte sie das neue Getränk.
Als er mit spitzen Lippen den Schaum wegblasen wollte, gewahrte er Bork, der zusammengekauert auf seinem Stuhl am Tisch des Lotsen saß, der dabei war, sich einen Grog zu bereiten. Der Krämer Twist kniff die Augen zusammen.
»Was ist mit dem Briten denn los?« rief er feixend.
Bork hob den Kopf. Er sah eine grinsende Fratze, bleich und geisterhaft im Schein der Lampe, die über ihm hing, und eine fahle, knochige Hand, die ihm ein überschäumendes Glas hinstreckte, und hörte dunkel eine beißende Stimme: »Skol dear Sir, skol!«
Bork starrte an der Fratze vorbei in das graublaue Wogen von Tabaksdampf über den Köpfen der Schiffer, Zöllner und Lotsen und murmelte vor sich hin: »Wirst nicht darin wohnen …«
Die Leute, die vor ihm saßen, blickten verwundert auf. Bork sah es nicht. Plötzlich erhob er sich, ging an den Tischen vorbei durch den Gang und die Treppe hinauf in sein Zimmer.
Unruhig ging Bork in seiner Stube von Wand zu Wand. Plötzlich machte er halt und sprach finster aus knirschenden Zähnen: »Und dennoch will ich es aufbauen und wohnen unter seinem Dach, solang ich noch lebe.«
Er atmete tief. Doch die Unruhe in ihm ließ ihn nicht los. In seiner Brust war Beklemmung, die sie zu sprengen drohte. Es war dunkel im niedrigen Raum. Nur das Petroleumlicht einer Straßenlaterne glomm mit gespenstischem Schein durch die Spiegelscheiben der Fenster. Unbestimmte Angst zerdrückte sein Herz. Die Wände rückten heran, die niedrige Decke senkte sich tief, schwarz stieg der Fußboden auf, immer näher und näher, seinen Leib, sein Herz und Gehirn zu zermalmen. Da riß er ein Fenster auf, beugte sich weit hinaus und atmete keuchend die kühle, von Wind fast befreite Luft. Sein unsteter Blick ging über die Dächer der kleinen Häuser weit über das Meer. Nordwestlich, dicht über der Kimmung stand groß und rund orangefarben der volle Mond. Der gelbrote Dunst färbte den Himmel und die schweren und schwarzen Wolken, die ihn langsam durchzogen, und troff ins Meer und spülte über die rollende Dünung, die aufgleißte wie schmelzender Schwefel. Unablässig hörte er das Rauschen der Brandung, die über den Sandbänken schäumend zersprang. Es drang in ihn ein, füllte den ganzen Körper. Es trieb ihn, diesem großen, dunkeltönigen Rauschen nahe zu sein. Nach kurzem Zaudern verließ er sein Zimmer.
Rasch schritt er die Straße hinauf, irrte lange umher zwischen kleinen, schlafenden Häusern und niedrigen Dünen, streifte ein Boot, das breit und schwarz, den Kiel nach oben, im Sande stak, stieß gegen ein zweites und kam zum Strand. Es war Flut. Über seine Füße hinweg verrollte dunkel schluchzend das Meer. Ruhlos stampfte er weiter, keuchend am Leuchtturm vorbei, der blitzend sein weißes Feuer verschoß, immer weiter nach Norden, die schmale Landzunge Greenen entlang, bis eine brausend aufbrandende Woge ihn hemmte. Vor ihm mit dunklem Getön schwankten die Meere, Kattegatt – Skagerrak.
Eine schwarze, langleibige Wolke, die träge dahinzog, verdeckte den höher gestiegenen Mond. Ein Feuerstrahl aus der Kuppel des Leuchtturms warf breit und breiter eine schimmernde Straße über das Meer und brach aus der fahlhellen Himmelswand dicht über der Kimmung ein Tor, weiß und funkelnd wie geschmiedet aus Silber. Eine Bark querte träge die schillernde Straße. Scharf umrissen und weiß glitten Bug, Segel und Masten und Heck durch das flutende Licht und tauchten wieder ins Dunkel.
Borks unsteter Blick kam langsam zur Ruhe. Das Keuchen in seiner Brust verstummte. Die Angst schwand hin. Im Urgrund der Seele entstand ein Gefühl, ein unbekanntes Verlangen, ein schmerzliches Ahnen. Einsamkeit, die ihm half? Er lauschte und lauschte. Nirgends der Laut eines Menschen, nur das Verrauschen des Wassers zu seinen Füßen und die Brandung fern über den Bänken und das stumme Blitzen des Feuers über der dunkel rollenden, blinkend sich scheitelnden Dünung.
Schwer in Gedanken ging er zurück. Der Weg war düster. Schwarzleibig trieben die Wolken vorm Mond. Unweit des Leuchtturms hörte er Schritte. Knirschend im Sand kamen sie näher und näher. Da blieb er stehen. Undeutlich erkannte er die Gestalt einer Frau. Vor der Eingangstür im Unterbau des Leuchtturms machte sie halt. Er hörte ihr Klopfen. Sekundenlang blieb es still. Dann ein menschlicher Laut, gedämpft wie durch Holz, Schritte auf Steinen, die Tür wurde geöffnet, schwer und klirrend, als fielen eiserne Riegel, die Frau verschwand, hart fiel die Tür ins Schloß.
Bork ging weiter. Da fiel aus zwei schmalen Fenstern des Unterbaues Lichtschein blaß über den Sand, dunkel durchschnitten von den Schattenstreifen der Kreuze. Er hemmte den Schritt, als er durch vorhanglose Scheiben in der hell erleuchteten Stube um einen runden Tisch drei Menschen erblickte. Zwischen einem grauhaarigen Mann, dem Bruder des Bootsmannes Taneeren, und einer großen hageren Frau sah er Kare, das schwarze Witwentuch über Schultern und Brust. Die hagere Frau strickte unablässig an einem braunen, wollenen Strumpf. Sie sah nicht nach unten. Ihr kleiner, grauer Blick stand scharf nach vorn. Ihr Mund, fahlblau und schmal, war verkniffen. Der alte Leuchtturmwächter hatte eine Pfeife zwischen den Lippen. Er sog und sog, obwohl sie erloschen war und keinen Rauch mehr gab. Sein Blick ruhte bekümmert auf Kare. Sie hatte die Stirn gebeugt. Ihre Hände lagen ineinandergerungen im Schoß. Sie schien zu schluchzen, denn ihre Schultern bebten.
Der Mond stieg über die Wolken hinaus. Die Luft wurde weiß, der Sand schmolz zu Silber, der Schein aus den Fenstern erblaßte.
Es vergingen viele Minuten. Bork rührte sich nicht von der Stelle. Plötzlich sah er, wie sich die Witwe Taneeren mit einer wilden Bewegung erhob, den Kopf zum Nacken warf, Worte ausstieß, zornig, Schmerz in den Augen, und sich heftig umwandte zur Tür, als wollte sie flüchten. Er sah den grauhaarigen Mann aufspringen vom Stuhl und den Arm nach ihr ausstrecken, als ob er sie festhalten wollte, und die hagere Frau mit einer harten Wendung das spitze Gesicht aufwerfen und hörte ihren schneidenden Ruf: »Laß sie laufen!« In der nächsten Sekunde war Kare verschwunden. Wenig später hörte er Schritte, das Eisengeräusch des zurückgeschobenen Riegels, dann stand sie im Freien vor der schwer knackend zuschlagenden Tür. Sie schrak heftig zusammen, als sie den Mann erblickte, der nicht weit von ihr stand, von Monddunst umflossen, eine große und dunkle Gestalt, den Kopf ein wenig nach vorn, das Gesicht im Lichtschein der Fenster, mit schweren, tief träumenden Augen. Sie starrten einander an. Sein Gesicht in der Helligkeit, die alle Falten und Kanten verwischte, war seltsam verjüngt. Plötzlich erkannte sie ihn.
»Just!« rief sie laut und streckte die Hände zur Höhe und rief zum zweitenmal »Just« aus tiefstem Erschrecken und maßlosem Staunen.
»Kare«, sagte er leise.
Da schlug sie die Hände vor ihr Gesicht. Er hörte sie schluchzen. Unfähig zu sprechen, trat er einen Schritt näher heran und blieb stehn und streckte, überwältigt von Mitleid, ihr beide Hände entgegen. Sie schien es zu spüren. Ihre Hände fielen hinunter.
»Nein!« rief sie aus tiefstem Jammer. Und ehe seine Hände sie festhalten konnten, lief sie an ihm vorbei, fliehend den Sandweg hinauf, ein Schatten im Mond. Die breiten Enden des langen Schals wehten wie schwarze Flügel hinter ihr her. Plötzlich, wie von den Dünen verschluckt, war sie verschwunden.
Bork beugte sich vor, die Hände geballt auf der Brust.
»Kare!« rief er schmerzlich und laut.
Kare hörte ihn nicht.
Ziellos, in seiner Brust ein dumpfes, schmerzendes Wühlen, begann er zu schreiten, kam ab vom Weg und verlor sich in Dünen, hügelauf, hügelab. Plötzlich, im rinnenden Sand, begann er zu gleiten, zu rutschen. Wasser klatschte auf unter den Füßen, er stand in einem Sumpf bis zu den Knien. Gurgelnd stieß es herauf wie Blasen aus Schlamm. Vom Scheitel des Dünenhanges löste sich Sand, eine weiße, schaumverstäubende Welle glitt knirschend hinab und stürzte mit dumpfem Getön in das brackige Wasser. Ein wildes Geschrei brach auf, Flattern von hundert Flügeln, ein wüstes, verworrenes Kreischen um seinen Kopf, hirnbetäubend und herzzerreißend, als schwirrten aus untersten Schlünden der Hölle unzählbare Scharen dämonisch besessener Vögel. Möwen in dichten Schwärmen, aufgescheucht aus ihren Nestern in die mondhelle Nacht, schwirrend, blitzend und kreischend, ein orgiastischer Tanz. Verzweifelt schlug er sich Bahn, kam aus dem Wasser, weiter, weiter … stampfend, keuchend, Schweiß auf der Stirn, fern das Höllengeschrei der zornigen Möwen, eine neue, nackte Düne hinauf, höher und höher, bis er den flachen Gipfel erreichte. In der Tiefe erschreckt, blieb er stehn. In seinen Adern stockte das Blut. Die Glieder wurden zu Stein. Vor seinem erfrierenden Blick, in unabsehbaren Fernen dunstig verglimmend, das starre, tote Meer der kahlen Dünen, zerzackt und zerrissen, Welle an Welle, Krater an Krater, Mondeswüste, unendlich einsam, grauenhaft still unter der fahlblauen Helligkeit einer unheimlich reglosen Luft.
Ein Schauder faßte ihn an.
»Bin ich noch Mensch in dieser Einsamkeit … vor diesem All, das erbarmungslos schweigt? Bin ich nichts anderes mehr als nur ein Körnlein Staub im Sand der Wüste …?«
Er senkte die Stirn und lauschte tief in sich hinein. Doch in der Brust das Herz blieb stumm.
Er horchte auf. Schlug Mitternacht irgendwoher? Dunkel tönende Klänge, langsam verwehend in der windlosen Luft. Um ihn her war die Stille des Todes, eiskalt über den starren Wogen aus bleichem Sand.
»Schädelstätte von Golgatha«, dachte der Mann.
Geduckt schlich er davon. Nach langem, mühvollem Wandern durch tiefen, ziehenden Sand geriet er auf einen Weg, an dem zwischen halmbewachsenen Dünen die ersten winzigen Häuser standen. Aus drei schmalen, dicht nebeneinanderliegenden Fenstern glomm Licht. Schnapsgeruch wehte heran, Gläserklirren, mißtönig und laut ein melancholisches Lied. Er spürte brennenden Durst. Zaudernd stand er eine Weile in dumpfen Gedanken. Der Durst wurde quälend. Durch eine enge, schief in den Angeln hängende Tür betrat er die Schenke. Die kleine Stube war dick verqualmt. Widerwärtig roch es nach Fusel, Bier, schlechtem Tabak und Schweiß. Es gab nur einen einzigen langen Tisch in dem schmalen, dürftig erhellten Raum. Um ihn herum allerlei Schiffsvolk niederen Standes, Fischerknechte, Strandwächter, junge Matrosen, Kaiarbeiter aus Frederikshavn, zwei oder drei, die wie Landstreicher aussahen, trinkend, rauchend, kartenspielend, würfelnd aus verschmierten, ledernen Bechern. Eine kleine, magere Frau mit müden und farblosen Augen ging hin und her. Die Männer blickten schwerfällig auf und kniffen die Augen zusammen, als der Fremde hereinkam. Er trug keine Mütze. Sein Haar war zerwühlt, Gesicht und Kleider naß und verschmutzt. Nach einigem Zögern setzte sich Bork auf den einzigen freien Platz am oberen Ende des Tisches auf einen schmutzigen, dreibeinigen Schemel, der wrack zu sein schien, denn er knackte in allen Fugen. Die Männer, die schweigend und mißtrauisch zusahen, wie er Bier bestellte, das Glas hastig leerte, ein zweites verlangte und ebenso gierig hinunterstürzte, begannen wieder zu würfeln, zu zwickeln, zu trinken und zu reden, als der Gast sich nicht um sie kümmerte. Der war in stumpfes Grübeln versunken, den Blick an der Tischkante vorbei unverwandt zum Estrich gerichtet.
Nur einer, ein langer, schwarzhaariger Mensch, mit dunklen, tiefliegenden Augen, der ein Trimmer zu sein schien, kam nicht los von dieser geduckten Gestalt. Plötzlich ergriff er den Arm eines jungen, flachsblonden Matrosen, der neben ihm saß.
»Mensch«, sagte er langsam, und sein Blick blieb unverwandt auf dem Fremden, »den hab' ich heute früh an der Straße nach Skagen auf allen vieren mit einer Spitzhacke auf einem Haufen von Sand und Schutt und verrotteten Balken herumkrauchen sehn. Ich glaube, der ist nicht recht bei Verstand.«
Sein Blick ging schwer nach unten, es war, als dächte er angestrengt nach. Die andern starrten ihn an. Plötzlich begann er zu reden, fast keuchend in die Stille hinein.
»Ich war Heizer auf einem norwegischen Dampfer mit Stückgut und Passagieren regelmäßig von Bergen nach Grimsby. Eines Tages kam, mit irrsinnigen Augen und Schaum vor den Lippen und Schweiß auf der Stirn, ein vornehm angezogener Herr die eiserne Stiege zum Heizraum hinunter, wo ich beim Kessel stand und das Feuerloch auf hatte. Der Herr sprang auf mich zu, packte mich bei den Schultern, schüttelte sie und schrie mich an und spritzte mir seinen Schaum ins Gesicht, der gelb war wie Schwefel.
›Mann, schmeiß mich auf deiner Schaufel durchs Loch, schmeiß mich hinein, schmeiß mich hinein!‹
Ich stieß ihn weg, ich wußte nicht, wie mir war. Er riß aus seiner Tasche Banknoten heraus, sieben, acht Scheine von tausend Kronen, und schrie und schrie: ›Schmeiß mich hinein! Schmeiß mich hinein!‹
›Nein!‹ brüllte ich wie ein Tier, zehnmal lauter als das Feuer unter den Kesseln, und fühlte, daß meine Haare zu Berge gingen.
Da sah er mich wild aus seinen wahnsinnigen Augen an und sprang zum Loch, aus dem die höllische Hitze herausfuhr und ihm Gesicht und Kleider versengte, und ehe er weiter konnte, heulend wie eine Hyäne, hatte ich ihn mit meiner Schaufel so auf den Kopf geschlagen, daß er hinfiel, als wäre er tot. Verdammt, die Banknoten schmiß ich ins Feuer, daß sie in einer Zehntelsekunde verzischten wie Zunder.«
Er schöpfte Atem und sah nicht, wie der Fremde oben am Tisch das Gesicht aufgehoben hatte und ihn anstarrte mit großen, sonderbar brennenden Augen. Auch die andern bemerkten es nicht. Sie hingen stier an den Lippen des schwarzbärtigen Heizers, der fortfuhr, langsam und schwer, mit einem Grauen im weit geöffneten Blick:
»Er war nicht tot, nur ohne Besinnung. Man legte ihm Eisen an und brachte ihn in die Ducht im untersten Schiff. Der Mann, der ein Schwede war und reicher Kaufmann gewesen sein soll, hatte in den drei Tagen, die wir auf See waren, in seiner Kabine gehockt, und der Steward, der ihm das Essen hineinbrachte, hat mir gesagt, daß er ihn nie anders auf seinem Stuhl gesehen hätte als tief zusammengeduckt, ohne Bewegung, den Kopf tief auf der Brust … die Augen stier zu Boden gerichtet, genau so«, er wandte, die Hand ausstreckend, den Kopf zu dem Fremden, »genau so wie der.«
Es kam eine schwere Stille. Viele glotzten mit stumpfen Augen zum Fremden, der sich nicht rührte. Andere brachten den Blick nicht aus der Wand, in die sie ihn eingebohrt hatten. Einer, der wie ein Landstreicher aussah, stieß unvermittelt ein rauhes und kurzes Gelächter heraus. »Ich an seiner Statt wär' lieber ins kalte Wasser gesprungen, verdammt!«
»Schweig, Mann!« fuhr der Heizer ihn an. »Weißt du, was dieser Mann getan oder verbrochen hat, daß er für sieben- oder achttausend Kronen in die Hölle geschmissen sein wollte?«
Jäh richtete Bork sich auf. Erschreckt hörten die Männer am Tisch seine rasche, erregte Stimme. »Auch ich will euch etwas erzählen! Wenn ihr es hören wollt …«
Alle stierten ihn an, blöde, vertrunken, mit grinsenden Mäulern.
»Los!« rief mit frechem Lachen der junge, flachsblonde Matrose.
Einer der Landstreicher, ein Glas Aquavit zwischen den Fingern, rief, ehe er trank, feixend hinüber: »Bloß, Herr, wenn's was zum Lachen ist!«
Bork hörte ihn nicht. Er wollte beginnen. Doch er stockte beim ersten Wort. Sekundenlang hing sein Blick im stumpfen Glanz eines alten, rotbraunen Tabakkastens aus Jakarandaholz, der in der Mitte des Tisches stand. Unmöglich, ein einziges Wort über die erfrierenden Lippen zu bringen. Alles in seinem Innersten brannte, wogte und gärte und drängte vulkanisch zum Ausbruch und wehrte sich dennoch in Schmerz und Angst, ans Licht zu gelangen. Sein bitterlich zuckender Mund blieb stumm. Nein, nein, es gab keine Menschenzunge, die es vermocht hätte, von dem Tag zu sprechen, an dem über zwei Menschen das Unheil hereinbrach, erbarmungslos, alles vernichtend.
Plötzlich beugte er Kopf und Schultern nach vorn und warf die Arme mit geballten Händen weit über den Tisch. »Seid ihr nicht Menschen«, rief er keuchend mit heiß flackernden Augen, und es war in seiner Stimme ein Ton, als würbe er leidenschaftlich um das Herz dieser armseligen Menschen, die er nicht kannte, von denen er nichts anderes wußte, als daß sie lebendig waren … »Menschen wie ich? Habt alle Menschliches getan in eurem Leben …?«
Seine Stimme war nur noch ein Schluchzen, seine Hände lagen flehend mit ihren Flächen nach oben.
Da schlug der Landstreicher mit seinem Glas so hart auf den Tisch, daß es zerschellte. »Der Kerl ist verrückt«, rief er mit grellem Lachen, »schmeißt ihn hinaus.«
Bork fuhr empor. Sein Gesicht war weiß geworden. Um seinen Mund, dem alles Blut entwichen, lief unaufhörlich ein Zucken. In der Schenkstube sprach keiner ein Wort.
Draußen schrien verflogene Möwen.
Borks Blick ging schwer zum Fenster, hinter dessen glimmenden Scheiben die Nacht hing, schwarz, kalt und undurchdringlich. Durch sein Ohr hallten Worte und stürzten zur Tiefe:
»Verflucht wirst du sein … Gott wird dir ein bebendes Herz geben und verschmachtende Augen und eine verdorrende Seele …«
Gebeugt schlich er hinaus durch die schmale, schief hängende Tür in die Nacht, in der kein Mond mehr schien. Finster zusammengeballt lagen die Wolken über Menschen, Dünen und Meer.
Die Landstreicher, Matrosen und Schifferknechte am langen Tisch stierten ihm nach, dann tranken sie weiter, rauchten, würfelten, spielten Karten und redeten rauh durcheinander mit betrunkenen Stimmen.
Die kleine, magere Frau saß geduckt auf dem Schemel, den der Unbekannte verlassen, die von Arbeit und Leid zernagten Hände müde im Schoß.
Am nächsten Tag früh im Morgen ging Bork den Weg zum Bootshaus, um weiter in den Trümmern zu räumen. Die windlose Luft war durchstrahlt vom Licht der aufrollenden Sonne. Ruhig schwankte in blanker und glatter Dünung das Meer. Unter seinen Füßen blitzte der Sand wie fließendes Silber.
Ohne zu wissen warum, blieb er stehn, bückte sich und tauchte die Hände tief in den schimmernden Sand und hob sie wieder empor. Ihm war, als höbe er Sternenlicht auf, das zur Erde gefallen war.
Er schloß die Augen. Wundersam ging durch die erzitternde Hand ein Gefühl, das seinen ganzen Körper durchbebte, weich, unendlich sanft, unendlich süß.
»Ach, deine Hand … deine weiche, weiße, liebkosende Hand …«
Langsam rieselten die feinen Körner zwischen seinen Fingern zur Erde. Seine Augen schlossen sich auf. Tief aus der vereinsamten Seele stieg Sehnsucht herauf, unsagbar von Schmerzen erfüllt, von einem Begehren durchbebt, darin keine Hoffnung mehr war. Ein Schluchzen rang sich empor, sein Kinn fiel zur Brust, vor seinen Augen wurde es dunkel. Es war, als verfinsterte sich die Sonne. Unter seinen Füßen wurde der Sand schwarz.
In der zweiten Hälfte des Oktobers erhielt Bork von der Depositenkasse des Bankhauses Pinkerton Sons aus New York einen Wertbrief mit zehntausend Kronen dänischen Geldes. Am gleichen Tag, als er beim Mittagessen in der Gaststube saß, brachte ihm Madsen ein Schreiben des Bürgermeisters, in dem man ihm mitteilte, daß sowohl die Gemeinde Skagen wie das Amt Jörring keine Einwendungen zu machen habe gegen den Wiederaufbau des Bootshauses an der Straße nach Frederikshavn.
»Bauen!« dachte Bork und machte mit ausgestreckter Hand einen raschen Strich durch die Luft, als wollte er endgültig die Worte wegstreichen, die sich in sein Hirn eingehakt hatten wie Geierkrallen: Ein Haus wirst du bauen, doch du wirst nicht darin wohnen.
Er wollte eine Frage an Madsen richten, der neben dem Tisch geblieben war. Doch er blieb stumm, als er sah, wie der Gastwirt ein wenig abgewandt der Frau nachschaute, die mit Geschirr in den Händen die Stube durchschritt und am Schenktisch vorbei die Küche betrat.
»Wie herrlich sie geht«, sagte der Gastwirt leise mit einem stillen und glücklichen Lächeln.
Auch Bork hatte ihr nachgeblickt. »Ja, in ihrem Körper ist Harmonie.«
»Das haben Sie schön gesagt«, hörte er die Stimme des Wirts.
»Sie haben Ihre Frau gewiß sehr lieb.«
»Ja«, entgegnete Madsen, »sie ist Gnade Gottes und Christi Barmherzigkeit.«
Er schwieg eine Weile. Dann fing er an zu erzählen, leise, den Blick unverwandt groß und heiß auf die Tür zur Küche gerichtet.
»Sehen Sie, Herr, ich bin sehr krank. Der Doktor in Frederikshavn hat mir gesagt, ich müßte mich vorsehen, sonst sei es bald aus mit mir. Ich habe mir in den Kupfergruben von Falun mit giftigen Gasen die Lungen verpestet, und als ich wieder nach Skagen kam, um das Gasthaus weiterzuführen, weil mein Vater gestorben war, da ging es fast auf den Tod. Aber die Magd war da, sie pflegte mich wie eine barmherzige Schwester, und als ich wieder so weit war, daß ich aufstehen, umhergehen und das Gasthaus selber besorgen konnte, sehen Sie, da kam die Nachricht, daß ihr Bräutigam, der auf einem Esbjerger Schoner die Südsee befuhr, bei einem Überfall in der Malakastraße zwanzig Seemeilen von der Küste von Sumatra im Handgemenge mit malaiischen Piraten ums Leben gekommen sei. Da hatten wir nun jeder sein Päckchen durchs Leben zu tragen, ich krank im Körper und die Magd traurig im Herzen. Da haben wir uns dann zusammengetan und wurden Mann und Frau. Und alles ist still und schön zwischen uns beiden.«
»Wie glücklich er lächeln kann«, dachte Bork. »Es gibt auf dieser Erde noch Menschen.« Dann fragte er leise: »Wie kamen Sie nach Falun?«
»Ach«, entgegnete Madsen mit einem kleinen Lächeln, das schwermütig schien, »das ist eine Geschichte für sich. Als ich um die zwanzig herum war, sehen Sie, und meinem Vater, der Witwer war, helfen mußte im Gasthaus, da ging die Sage umher in Schweden und Dänemark, ein Rutengänger aus Norrland habe versichert, daß tief unter den Kupferschichten von Falun eine starke Goldader sein müßte. Der Bergmann, dem es glücken würde, sie aufzuschlagen, dürfte so viel pures Gold mit aus dem Schacht nehmen, soviel sich bergen ließe in seinem Brotbeutel und seinen Taschen. Da bin ich hingewandert, denn ich hab' mir gedacht: Wenn du die Goldader triffst, dann kannst du dir den schönsten und vornehmsten Gasthof kaufen in Frederikshavn oder in Kopenhagen. Ich habe gebohrt und gebohrt, gehackt und gehackt, dreizehn Jahre lang, und als ich dachte: Nun kommt das Gold, da kam das giftige Gas. Ja, sehen Sie, das ist wohl immer so, wenn einer seinem Glück nachjagen will, dann jagt er meistens nur seinem Unglück nach.« Er schwieg eine Weile. Dann sagte er mit seinem schönen und tiefen Lächeln: »Aber ich will nicht klagen. Wenn mich das giftige Gas nicht krank gemacht, hätt' ich vielleicht meine Frau nicht bekommen. Das ist mehr wert als alles Gold auf der Erde.«
Er blieb noch eine Weile sinnend vorm Tisch, dann wollte er gehen. Bork hielt ihn zurück.
»Eine Sekunde, Madsen. Darf ich um eine freundliche Auskunft bitten?«
»Gern.«
»Ich darf das alte Bootshaus aus dem Dünensand graben. Der Bürgermeister und der Amtsmann in Jörring haben nichts dagegen. Es wird harte Arbeit geben, und ich brauche ein paar erfahrene Leute dazu. Vielleicht können Sie mir einige nennen.«
Madsen dachte ein wenig nach.
»Wenn jetzt die Stürme kommen«, sagte er dann, »gibt es gewiß Schifferknechte und andere, die Ihnen helfen können. Es ist vielleicht besser, Sie fragen den Oberlotsen, der weiß in solchen Dingen Bescheid.«
Bork nickte.
»Wollen Sie denn immer in Skagen bleiben?« fragte ein wenig verwundert der Wirt.
»Ja«, entgegnete Bork mit einer raschen, ein wenig erregten Stimme, »ich will Schiffer werden in Skagen oder ein Fischer.«
Staunend sah Madsen ihn an. »Schiffer? Fischer? Ein hartes Handwerk, Herr. Viele sind zugrunde gegangen dabei.«
Da lächelte Bork, herb, fast starr. »Ich bin Seemann seit Jahren.«
Unwillkürlich ergriff Madsen Borks Hand, die hart um die Tischkante geklammert war, und drückte sie fest. »Dann wünsch' ich Glück, mein Herr, dann wünsch' ich Glück.«
Borks Lächeln erstarrte. Steif ging sein Blick an Madsen vorbei. Der grüßte stumm und ging in die Küche.
Draußen blies scharf der westliche Wind, griff in den Sand, stäubte ihn auf und wehte ihn rasch vor sich her, in dunstigen, wirbelnden Wolken die ganze Straße entlang. Der Oberlotse Jes Nielsen, einen langen, schwarzen Ölrock über den hageren Gliedern, auf dem spitzigen Schädel einen breiten Südwester, beides zerfetzt von Stürmen und salziger See, war so eifrig dabei, seine Schweine zu füttern, daß er nicht hörte, wie Schritte heranstapften, knirschend im Sand, und endlich, dicht neben ihm, aufhörten zu stampfen. Bork sah und hörte, wie der Alte den beiden ein wenig hageren Tieren, die ihre borstigen Köpfe dicht nebeneinander tief in den Schrotbrei des kurzen Troges steckten, heftig zuredete, tüchtig zu fressen, damit sie fett und speckig würden bis Anfang November, wo sie ans Messer müßten. Während er mit großem Vergnügen und heißem Bemühen das gierige Schnaufen ihrer Schnuten nachzuahmen versuchte, rief Bork ihn an.
»Sie da«, rief er und nickte ihm zu. »Herr Justus Bork! Eine Minute, mein Herr.«
Er wandte sich wieder den Schweinen zu und trieb sie, da der Trog sauber geleert war, in den vierkantigen Koben, der aussah, als sei er ehemals eine stattliche Schiffskombüse gewesen, schlürfte nach rechts und betrat einen Stall, dessen schwarze Wände aus Wrackplanken bestanden, darüber moosig bewuchert ein uraltes Boot kieloben als Dach. Bork sah im Dämmer des Stalles den schweren Leib einer Kuh, daneben den Lotsen, der Heu in die Raufe füllte und das rotbunte Tier zärtlich beklopfte und freundlich ermahnte, fleißig zu fressen, damit die Milch im Euter fett werde und süß.
Endlich trat er heraus und rieb sich die Hände. Es zuckte und tanzte in allen Runzeln des erdgrauen Gesichtes.
»Das Viehzeug gedeiht«, sagte er grinsend und zeigte die wenigen Zähne. »Nur muß es fressen und fressen, zum Wohle der Menschheit, zu Gottes Lob! Was steht zu Diensten, mein Herr?«
»Ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten, Herr Oberlotse.«
»Warten Sie«, unterbrach ihn der Greis und wies auf das kleine, von einem winzigen Gärtchen umfriedete Haus unmittelbar neben den Ställen. »Gehen wir hinein. Der Westwind zerbläst mir das bißchen Lunge, das ich noch hab'. Ich habe noch manches zu ordnen auf dieser Erde, ehe ich …«, er hustete röchelnd und endete heiser, »ehe ich in die Sandgrube fahre.«
Durch eine enge und niedrige Tür, unter der sie sich bücken mußten, betraten sie einen schmalen Raum, der zugleich Küche und Wohndiele war. Über einem schwarzgepolsterten Sofa, das fast die ganze Breite der Hinterwand deckte, sah Bork zwischen den beiden Speeren aus Afrika zwei lange, tiefblaue, seltsam verschraubte Hörner, die einem kurzen, bleichgelben Schädel entstiegen und mit den zierlichen Verschnörkelungen ihrer Spitzen die weißgetünchte Decke berührten. Sein Blick blieb wie gebannt. Er sah nicht die Frau, die schwer und breit aus einer Nebenkammer hereinkam, eine Sekunde lang stehenblieb, als sie den Fremden erblickte, zum Herd stapfte und Brei verrührte in einem dampfenden Topf.
»Ja, die Schraubenhörner«, hörte Bork des Oberlotsen sonderbar beißende Stimme. »Man hat Ihnen bereits erzählt von einer Himalajaziege, was?«
»Ja«, entgegnete Bork und wandte sich zu Nielsen, »Madsen hat mir von ihr erzählt.«
»Natürlich, natürlich!« krähte der Oberlotse gereizt, »die Leute müssen zu reden haben.«
Die kleinen, grünlichen Augen glühten erbost.
»Schlimm genug, daß man sein Herz an ein Tier hängen muß, wenn es auf der ganzen Erde Gottes nicht ein einziges Menschenherz gibt, an das einer wie ich«, er atmete heftig und wiederholte, aus grimmiger Selbstverhöhnung heraus, »an das einer wie ich sein hungerndes Herz hängen kann. Sprechen wir nicht weiter davon, Herr. Was steht zu Diensten?«
Bork sprach kurz von seinem Plan, das alte Bootshaus seines Großonkels Adrian ausgraben und herrichten zu lassen, und daß er Arbeiter und Handwerker brauche dazu.
Scharf äugte der Oberlotse ihn an. »Gut, gut! Ich weiß Schifferknechte, sieben oder acht, die sich auf das Zimmern und Schlossern verstehen. Warten Sie.«
Er zog den Ölrock vom hageren Leib, nahm den Südwester vom Schädel, warf beides auf das lange, schwarze Sofa hinter dem Tisch, holte aus der untersten Schublade eines alten Eckschranks Stift und Papier, setzte sich an den Tisch auf das Sofa unter den Hörnern, und während er schrieb, ohne viel nachzudenken, bewegten sich murmelnd die vertrockneten Lippen.
»So«, sagte er, als er fertig war und seinem Gast das Blatt in die Hand gab, »haben also die Absicht, mein Herr, sich häuslich einzurichten in Skagen. Wünsch' Ihnen Glück, Herr!« Er stockte und verzog grinsend den Mund. »Werden der Herr sich auch eine Hausgenossin besorgen aus Frederikshavn oder aus Hamburg oder aus Kiel, wie weiland Ihr Herr Großonkel, der Adrian Bork … jedes Jahr eine andere?«
Bork, der begonnen hatte, die dünn und steil hingekritzelten Namen zu lesen, hob das Gesicht. »Nein«, sagte er schroff, »ich habe gelernt, allein fertig zu werden mit mir.«
Da kam vom Herd her die breite und langsame Stimme der alten Thode.
»Was meinst du, Jes … vielleicht könnte der Herr die Kare Taneeren gebrauchen?«
Bork fuhr herum und starrte mit weiten Augen in das breite, weiche, vom Herdfeuer rote Gesicht der Frau, die in der dicken und schweren Hand einen hölzernen Löffel hielt, von dem es zäh zum Estrich tropfte.
»Die weiß nicht wohin«, fuhr sie gutmütig fort, »seit ihr der Krämer Twist ihr Haus gekündigt hat, und die Leute von Skagen kein Düffeltuch mehr kaufen wollen von ihr, weil sie sich doch, wenn ihr Bootsmann auf See war …«
»Mit anderen Dingen beschäftigt hat als mit Weben«, unterbrach sie der Oberlotse mit unverkennbarem Zorn. »Das geht uns nichts an, und die Leute von Skagen sollten nicht so viel davon reden. Einer ist nicht wie der andere. Es hat ein jeder seine Gründe für das, was er tut, ob es gut aussieht oder böse erscheint. Richtet nicht, spricht Gott, auf daß ihr nicht selber gerichtet werdet.«
Da riß Bork sich herum.
»Haben Sie nicht selber Gerichtstag gehalten«, rief er heftig, fast zornig, »Gerichtstag über den Amtmann aus Jörring?«
Grell, aus einem Mund, der sich höhnisch verzerrte, lachte Jes Nielsen auf.
»Ja, über den Amtmann Eike von Olafsborg! Das ist ein ganz besonderer Fall, mein Herr. Da würde Gott selber mit seinem Schwert seine eigenen Worte vertilgen. Das weiß ich, Herr. Das hab' ich erkannt!«
Er verstummte mit einem heiseren Röcheln. Die dünnen, verwelkten Lippen hörten nicht auf zu zittern.
Bork fragte und seine Stirn wurde finster: »Taucht Ihr Senkblei so tief, Herr Oberlotse?«
Mit gleicher Finsternis entgegnete Nielsen, und seine alte Stimme war in dieser Sekunde wie Eisen so hart: »Ja, Herr, so tief!«
Eine halbe Minute lang herrschte Stille im Raum. Die beiden Männer sahen sich an, als wollte einer den anderen bis zum letzten Abgrund der Seele durchbohren. Die alte Thode beim Herd plierte ängstlich hinüber.
»Das Essen ist fertig«, rief sie mit lauter, ein wenig unruhiger Stimme und klapperte mit den Deckeln, in der Hoffnung, die Männer auseinanderzubringen, ehe es Streit geben würde.
Bork riß sich zusammen. Heftig schob er das Stück Papier mit Nielsens Notizen, das er, ohne es zu wissen, zwischen den Fingern zerknittert hatte, in die Seitentasche des Rockes, vergaß zu danken, grüßte ohne ein Wort und ging hinaus.
»Ein Narr«, murmelte der Oberlotse ihm nach, und nach einer Weile, kaum hörbar, »oder ein Mensch.«
Mitte November war es geschafft. Es war mühsame Arbeit gewesen. Der Wind aus dem Westen, der von Tag zu Tag sich verstärkte und aus den untersten Tiefen des Skagerraks und des Kattegatts das eintönig dunkle Brausen heraufwühlte, das herankommende Stürme verkündet, zerrte an den Leibern der Männer, warf ihnen den auffliegenden Sand ins Gesicht und brachte in einer heulenden Nacht die ausgegrabene Westwand des kleinen Hauses zum Sturz. Der Ostteil des Hauses, ein fensterloser, schuppenartiger Raum, der Stall für die Lustjacht Adrian Borks, war unversehrt. Die Jacht war nicht mehr da. Die Möbel des westlichen Raumes, den der Sturm durch die zerbrochenen Fenster dicht mit Sand zugepackt hatte, zeigten sich gut erhalten; das breite Bett aus rotem Sandelholz, der runde Föhrentisch, hinter ihm die Bank in der Ecke, die alte, dänische Truhe und der wuchtig gebaute, derb beschnitzte Laaländer Schrank aus dem siebzehnten Jahrhundert. Selbst einer Radierung über dem Bett – Meer, Sandbänke und Strand bei Skagen – hatte der Sand nicht geschadet, denn er war unter der wasserdichten Bedachung trocken geblieben, sieben Jahre lang.
Der erste, der ihn besuchte, war der Oberlotse Jes Nielsen. Es war ein kalter, sturmreicher Tag. Windstärke acht aus Westnordwest. Keuchend, die mageren Hände um die Krückenknöpfe geklammert, auf dem Schädel den schwarzen Südwester, die beiden Enden des langen Ölrockes wild flatternd einen halben Meter vorauf, stapfte der Alte heran. Die Fischer von Skagen waren dabei, ihre breiten, hochbordigen, abgetakelten Boote mit umgelegten Masten den Vorstrand heraufzuschleppen, so weit, daß ihnen das Branden der kommenden Stürme nichts anhaben konnte, so mächtig sie rasten.
Schon von weitem erspähten die scharfsichtigen, ein wenig zusammengekniffenen Augen des Oberlotsen das kleine, schwarze, neuerstandene Bootshaus zwischen den nackten Dünen. Als er die Wegbiegung erreichte, sah er einen Mann den Vorstrand heraufstapfen. Er plierte hinüber. Ja, es war Bork. Bald waren sie einander ganz nah.
»Hallo«, rief der Oberlotse ihn an.
»Ich habe den Fischern geholfen, die Boote zu bergen«, rief Bork.
Sie schüttelten einander die Hände, beide mit keuchendem Atem.
»Ja, ja, der Westwind, der hat's«, rief lachend der Oberlotse, »hat mich getrieben, daß ich kaum mitkommen konnte mit meinen vier Beinen.« Kichernd hob er die Krücken und stieß sie zurück in den Sand.
»Ja, der West«, entgegnete Bork, »der brandet ins Blut wie Gewitter.«
Sie standen vorm Haus. »Bei Gott«, sagte der Greis und zog die dünnen Brauen zur Stirn. »Auferstehung. Gestorbenes wird wieder lebendig!«
Bork schob den Riegel vom Schuppentor. Der schmale, fensterlose Raum, den sie betraten, war völlig leer.
»Damals«, sagte Bork, »als ich mit meinem Vater in Skagen war, stand hier eine Jacht.«
»Die Liebeslust«, nickte der Lotse, ein Funkeln im Blick, »ja, die ist weg.«
Bork nickte.
»Ja, richtig, die Liebeslust! Vielleicht hat ein verliebtes Paar sie gestohlen und im Skagerrak Mondscheinfahrten auf ihr gemacht.«
»So ähnlich«, entgegnete Nielsen. Er begann zu erzählen. »Die Sache ist die. Der Krämer Twist hatte zwei Freunde aus Kopenhagen als Gäste in seinem Haus, vor denen er mit seiner Seetüchtigkeit prahlte. Er hatte reichlich Teepunsch getrunken. Obgleich kein Segelwetter war, böiger Wind aus Nordost und krappe See, haben sie doch die Liebeslust aus dem Schuppen geholt und sind losgesegelt und wurden, ich hab' es mit eigenen Augen gesehen, schon nach einer halben Minute von einer harten Bö heftig angepackt, daß sie, seewärts tief in die See gedrückt, in rasender Fahrt an den Bug eines Dampfers gerieten, der ihnen glatt das Heck abrasierte. Der seetüchtige Twist mit seinen Kumpanen wurde ins Wasser geschleudert und von der Mannschaft des Dampfers geborgen. Die Liebeslust aber, verdammt, ging zum Teufel.«
»Laß fahren dahin!« entgegnete Bork. »Ich habe dem alten Schiffer Theedens sein altes Boot abgekauft. Der Zimmermann Struve hat mir's in Trimm gebracht. Morgen geht's los. Mit dem jungen Piet Struve als Knecht. Dorsche fangen im Kattegatt.«
Der Oberlotse riß die kleinen Augen weit auf und schüttelte heftig den Kopf.
»Erstens«, rief er mit unverkennbarem Hohn, »gibt es im ganzen Kattegatt und auch im Skagerrak seit zwanzig Jahren keinen einzigen Dorsch. Nur noch Schellfische, Knurrhähne, Zungen und Porren. Zweitens«, er streckte den dürren Arm durch das Schuppentor und zeigte auf das hochrollende Meer, »sollten der Herr Kapitän wissen, daß sich bei einer so verteufelten See überhaupt keine Fische heraufholen lassen, weder Dorsch noch Schellfisch, weder Porren noch Knurrhahn.«
Bork sah ihn an mit klarem und festem Blick. »Gleichviel, ich bin hungrig nach Sturm.«
Sie querten den schmalen Mittelraum, in dem nur ein Küchenherd stand und eine hölzerne Bank unter dem Fenster, das zu den Dünen hinausging, und betraten die westliche Stube, die zugleich Schlafkammer, Wohnraum und Eßzimmer war. Der Oberlotse blieb stehen unweit der Schwelle, blickte neugierig umher und hakte sich endlich fest in dem breiten, sandelholzfarbenen Bett, dessen barockes Schnörkelwerk sich sonderbar ausnahm gegen das bäuerlich derbe Geschnitz des Laaländer Schrankes.
»Breit für zwei«, sagte er grinsend.
Durch Borks Gesicht ging ein Zucken. Auf seiner Stirn stand plötzlich Dunkelheit.
»Soll kein Weib hierher?« fragte blinzelnd der Lotse.
Bork schwieg eine Weile, dann sagte er schroff: »Alles, was Weib ist, hab' ich vergessen.«
»Begreife«, entgegnete Nielsen nach kurzem Schweigen und seine Worte klangen sonderbar hart. »Ein Mensch kann Dinge erleben, die ihn wünschen lassen, das Weibsvolk sein Leben lang vergessen zu können.«
Bork gab keine Antwort. Es kam ein langes Schweigen. Ein jeder schien nachzudenken. Sie horchten beide auf, als aus dem kleinen Turm der Kirche von Skagen die Uhr die Mittagstunde rief, zwölf dunkle Klänge, vom Wind herangetragen, endlos voneinander getrennt.
»Muß gehn«, murmelte plötzlich der Greis, der noch immer auf seine Krücken gestützt dicht bei der Tür stand. »Die Thode wartet auf mich mit dem Essen.«
»Ich werde mit Ihnen gehn«, sagte Bork, kaum daß er es wußte.
»Richtig«, entgegnete Nielsen, »Sie essen in Madsens Hotel …«
Es ging ein Frösteln durch seinen Körper. »Es ist kalt hier bei Ihnen. Es muß ein Ofen herein. Haben November. Muß Wärme haben um seinen Körper und um sein frierendes Herz«, er lachte verzerrt mit einem Röcheln, »braucht nicht gleich ein Weibsbild zu sein.«
Schweigend, die Lippen hart aufeinandergepreßt, die Augen zusammengekniffen, um sich vom Sand, der ihnen beißend entgegenflog, nicht die Hornhaut zerreißen zu lassen, stampften sie nebeneinander her, die Oberkörper nach vorn, schwer kämpfend gegen den immer stärker anschwellenden, immer unheimlicher jaulenden Wind, unendlich langsam, da der Alte auf seinen Krücken nur mühselig vorwärts kam. Unablässig rasselte es unter dem schwarzen, zerschlissenen Rock.
Nachmittags, einsam, im kleinen, schwarzen Haus zwischen den Dünen, ging Bork unablässig von Wand zu Wand. Zuweilen blieb er stehen und lauschte dem Wind, der ungeheuerlich toste, die Glasscheiben in ihren Rahmen erklirren machte und gegen die Wände donnerte, als wollte er das auferstandene Haus zum zweitenmal zwischen zornigen Fängen zerdrücken und unter den Wogen des aufgeschleuderten Sandes aufs neue begraben.
Fernher, schwer und dumpf, grollte die See.
Plötzlich schrak er zusammen. Er sah durch das Fenster, wie eine Frau die Straße heraufkam, rasch, fast laufend, im stoßenden Wind mit flatterndem Mantel.
Da war sie vorbei. Er horchte. Es klopfte.
»Was treibt sie her?«
Es klopfte zum zweitenmal. Rasch ging er hin, um zu öffnen.
»Kare.«
Kare blieb stumm auf der Schwelle. Wind fegte eisig an ihr vorbei durch die offene Tür.
»Willst du nicht eintreten?« fragte er leise.
Da ging sie drei Schritt in den Mittelraum, blieb stehen und wandte sich um.
Mit einer kleinen Bewegung der Hand wies Bork zur Tür der westlichen Stube. Sie neigte ein wenig den Kopf und ging hinein, rasch, ohne ein Wort.
Bork, die Hand auf dem Riegel, schaute ihr nach.
»Was treibt sie her?« ging es unablässig durch seine Gedanken.
Langsam schob er den Riegel ins Schloß, dann ging er ihr nach. Sie stand zwischen Tisch und Tür, ihm zugewendet mit weiten Augen, schwer von Angst und Schmerzlichkeit. Ihr Gesicht war bläulichweiß erstarrt wie von Kälte. Ihr Mund schien sprechen zu wollen, doch er blieb stumm. Bork sah, wie durch ihre Schultern und durch den ganzen Körper unter dem Mantel ein Beben lief.
»Es ist kalt in meinem Haus«, sagte er leise, »ich habe vergessen, die Öfen setzen zu lassen.«
Sie schaute ihn an. »Draußen ist's kälter«, sagte sie murmelnd, als wüßte sie nicht, daß sie sprach.
»Just!« rief sie plötzlich und hob ein wenig die Hände, die weiß waren wie Schnee.
Just …
Wundersam durchschwang es sein Blut. So weich, so hingegeben hatte sie seinen Namen gerufen, damals, als sie in seinen Armen träumte mit geschlossenen Augen und unter seinen brennenden Lippen erwachte, umrauscht von Brandung, umloht von weißem Sand.
Da hörte er ihre Stimme, flehend, voll Angst: »Ich muß dich fragen, Just …«
Bork sah sie an. Wieviel Gram, wieviel Not lag in diesem herb gewordenen, doch immer noch jungen und schönen Gesicht!
Er zeigte schweigend auf einen Stuhl.
Sie schüttelte langsam den Kopf: »Nein, laß mich stehn.«
Er fühlte, wie sie sich zwang. »Sprich«, bat er leise.
Da schlug sie die Hände vor ihr Gesicht. »Ich kann es nicht sagen«, schluchzte sie laut. »Nein, nein … ich kann es nicht sagen!«
Er ging zu ihr hin, hob seine Hände, als wollte er ihre Schultern umfassen, und sprach auf sie ein, gütig, unendlich weich.
Plötzlich hob sie den Kopf. Ihre Hände stürzten hinab, weiß, den schwarzen Mantel entlang.
»Du soll mir sagen, Just«, rief sie mit bebendem Mund, »trage ich Schuld? Trage ich Schuld?«
Sie wollte weitersprechen, doch sie verstummte. Ihr Mund blieb geöffnet. In ihren weit aufgeschlossenen Augen stand leidenschaftlich, fast zornig ein Brand.
Bork blieb stumm.
Heulend rüttelte der Wind an den Wänden des Hauses, als wollte er sie ihren Fundamenten entreißen. Gegen die Scheiben der Fenster prallte klirrend der fliegende Sand.
Da entspannte sich Kares Gesicht. Der Brand in ihren Augen erlosch.
»Just, höre mich an«, begann sie zu sprechen, demütig, fast wie überwältigt von ihrer Not. »Seit ich dich wiedergesehen, hab' ich Tag und Nacht, Stunde um Stunde an all das denken müssen, was gewesen ist zwischen dir und mir vor vielen Jahren und was geschehen ist später, wenn ich allein und einsam war in meinem Haus.« Sie verstummte. Ihr Blick war schmerzlich verworren. Als sie aufs neue zu sprechen begann, war in ihrer Stimme ein heißes Beschwören. »Just … du bist es gewesen, der dies alles geweckt hat in meinem Blut und aufgewühlt in meiner Seele, die nie vergaß, was du mir sagtest, wenn wir beisammen waren: Ein Mensch darf alles tun, wozu sein Herz ihn treibt, sein Blut ihn zwingt.«
Sie schwieg. Der große, schwere Blick, der ihn nicht losließ, klagte und klagte an.
Auch Bork blieb lange stumm. Sein Blick wurde dunkel von schwerer Traurigkeit.
»Soll meine Seele noch schwerer beladen sein?« dachte er schmerzlich.
»Ja, das war mein Glaube«, sagte er endlich mit einer schweren und langsamen Stimme. »Aber es ist so, Kare Taneeren, daß Gott oder irgendein Dämon in unserer Brust uns Sünden tun läßt, die wir nicht wollten und die dennoch unser Gewissen belasten und unser Herz in ewigen Qualen zermalmen.«
Da fragte Kare mit Augen voll Angst, mit blassen Lippen, in denen ein Zittern war, als wollten sie vergehen vor Weh: »Was ich getan habe, Just … war das Sünde, die ich nicht wollte …?«
Er sah sie lange an.
»Nein«, sagte er dann, und seine Stimme kam weich aus schmerzlicher Güte. »Keine Sünde hast du getan, Kare Taneeren, dein Fleisch hat es getan, dein Blut hat es getan … es gab kein Wehren für dich.«
Doch ihre Angst wollte nicht weichen. Ihr Kopf bog sich zum Nacken.
»Das Gewissen, Just … ach das Gewissen«, sprach verquält ihr zuckender Mund.
Er starrte sie an. Die eigene Not stieg herauf. Er schlug die Hände vor sein Gesicht.
»Ja, das Gewissen«, stöhnte er dumpf.
Kare erschrak. Sie ging zu ihm hin, nahm seine Hände, zog sie behutsam hinab, sah sein Gesicht und spürte sein Leid.
»Just?« fragte sie bang, aus einer tiefen und schmerzlichen Ahnung.
Er blickte an ihr vorbei.
»Auch ich«, sagte er müde, »trag' einen Menschen auf meinem Gewissen, der lauter Liebe und lauter Leuchten war … und nun in Finsternis ist.«
Er blieb noch eine Weile stehen, mit weitem, verdunkeltem Blick, dann ließ er sie los, ging zum Fenster und drückte die brennende Stirn gegen die eiskalte Scheibe. Es war das Fenster, das zu den Dünen führte. Sie lagen bleich unter der dämmernden Luft, überflogen von Sand, den der heulende Wind ihnen entriß … Hügel von Gräbern, aus denen Hauch der Verwesung steigt.
Lange stand Kare noch da, stumm, regungslos, und schaute traurig zu Bork. In ihrem Herzen lag noch der Klang seiner Stimme. »Leid, Leid«, dachte sie schwer, »wir müssen es tragen … ein jeder das seine.«
Langsam, ohne ein Wort ging sie hinaus. Die Tür fiel dumpf ins Schloß. Bork am Fenster hörte es nicht.
Hart schritt Kare gegen den starken nordwestlichen Wind. Er riß an den Kleidern, warf ihr beißenden Sand ins Gesicht, zerwühlte ihr Haar. Sie spürte es nicht. Sie weinte und weinte unaufhaltsam den ganzen Weg, weinte zum erstenmal, seit jenem Tag, an dem ihr Mann den Tod anrief, ihn von der Erde zu nehmen.
Die Menschen, die ihr entgegenkamen, sahen nicht, wie sie weinte, denn die Dämmerung war tief und fast schon Nacht.
Acht stämmige Schifferschultern hatten genügt, Borks Boot den ganzen Vorstrand hinab bis hart ans Wasser zu bringen, das auf dem feuchten und festen Sand vor dem breit ragenden Bug quirlend verschäumte, noch schluchzend vom kühnen Brandungssprung über die Bänke.
Es war ein Gaffelboot, stark gebaut, schwer und wuchtig in Form, mit bogig ansteigendem Steven und breit gerundetem Bug und einem kraftstrotzenden Mast mit langem, braunem, fast neuem Segel.
Bork und Piet Struve, der Knecht, standen neben dem Boot beim Bug, auf dem der Name Beata Theedens stand, Bork luv, Piet lee. Die Schiffer und Fischer, die ihnen geholfen hatten, breitbeinig nebeneinander hart an der Kante des Wassers, blickten schweigend mit verkniffenen Augen über das unruhig schwankende, aus untersten Tiefen dumpf grollende Meer.
Der Wind war ein wenig schwächer geworden, hatte in der Nacht die Richtung geändert und hielt steten und starken Kurs auf Ostnordost.
Piet kraute heftig das gelbe, struppige Haar im Nacken und plierte mit kleinen, fahlblauen Augen bedenklich über die hochgehende, weißköpfige Dünung.
»Wenn das gut geht, will ich nicht Piet Struve heißen«, knurrte er vor sich hin. »Wer da auf Fischfang geht, dem sitzt der Tod im Nacken.«
»Ich habe gehört«, entgegnete Bork, »es gäbe in Skagen nicht einen einzigen Fischer, der Furcht hätte vorm Tod.«
»Ja, Herr«, grinste der Knecht. »Das hat seine Richtigkeit. Aber man braucht ihm nicht gerade entgegenzureisen.«
Der kleine, weißhaarige Schiffer Klaas Theedens, dem Bork das Boot abgekauft hatte und der dicht neben ihm stand, große, gelbe Messingringe in den haarbüschelbewachsenen Ohren, sog heftig an seiner Pfeife, die ihm der scharfe Wind auszublasen versuchte, und sagte mit einer ernsten und langsamen Stimme und verzog keine Miene dabei: »Das mit dem Tod, Herr, ist eine schwierige Sache. Wer sich fürchtet vor ihm, ist kein richtiger Schiffer. Aber er kommt zu oft, und es vergeht kein Herbst und kein Frühling, in dem nicht acht oder zehn kopfheister gehen mit ihren Booten. Sturm ist Sturm. Schiffbruch ist Schiffbruch. Tod ist Tod. Verdammt, man gewöhnt sich daran, und wenn man einen Strandwäscher sieht, den die Brandung herangespült hat, oder von dem und dem hört, der nicht wiederkommt, oder die Särge sieht und auf dem Totenacker die vielen Kreuze. Ja, was ist dann der Tod? Der Tod ist das Ende vom Leben, Herr, und das Leben in Skagen ist ernst, und der Tod ist ernst, und da ist kein Unterschied, Herr.«
Der Alte hätte noch weiter gesprochen, doch während der langen Rede war ihm die Pfeife erloschen. Schwerfällig stakte er über den feuchten und zähen Sand ums Heck, kauerte sich steuerbord tief in Lee und brachte mit vieler Mühe die Pfeife wieder in Brand.
»Alles ist gleich. Es ist kein Unterschied«, murmelte er vor sich hin, während er sog und sog.
»Windstärke neun«, sagte Bork mit einem Blick zum Leuchtturm hinüber, der hoch und stolz in schlanker Biegung zu den Wolken hinaufstieg, den roten Sturmball gehißt und die große, weiße Neun aufgesteckt hatte.
»Gestern zehn«, sagte der Knecht.
»Der Wind ist stark, aber nicht bös«, rief Bork, »wollen wir los?«
»Ja«, feixte der Knecht, »gegen Teufel und Tod.«
Er sprang ins Boot und klemmte sich in den Sitz beim Ruder. Bork stieg ihm nach, hißte die Gaffel und stellte sie dwars gegen den Wind, während die Schiffer und Fischer mit gekrümmten Rücken und stemmenden Schultern das Boot tiefer ins Wasser schoben. Knatternd bauschte sich das starke, vierkantige Segel, prall bis zum Platzen. Kaum hatte das Boot den Sandgrund verloren, flog es dahin, scharf über die gischtenden Bänke hinweg in die offene See, jagte im Kurs des Windes, zerschnitt schräg die hochlaufende Dünung, die luv und lee die Steven hinaufsprang und mit schäumenden Wogen achtern verrauschte.
»Hoiho!« schrie Piet und hielt mit harten Fäusten das Ruder in Richtung des Kiels.
Hinter ihnen, je weiter sie kamen, kroch alles zusammen, der Strand, die Dünen, zwischen ihnen die winzigen Häuser von Skagen, bis alles Land nur noch ein flacher, bleichgrauer Sandhaufen war, nur noch die schlank zu den Wolken schweifende Säule des Leuchtturms erkennbar, zu seinen Füßen die Landspitze Greenen, ein langer, schmaler Streifen aus bleichem Sand.
Bork blickte nach vorn. Sein Atem ging tief. Seine Brust wurde weit. Das wogende Meer, der ungeheuerlich tönende Wind, das Knirschen im jagenden Boot, Knattern im Segel, aus unergründlichen Tiefen das ewige, dumpfe Donnern und Rauschen, Möwengeflatter und Möwengeschrei, Hoiho, hoiho aus Menschenmund … Urlaute aus der ungebändigten Brust der Natur, Stimmen der ewigen Kraft.
»Wind flaut ab!!« schrie plötzlich Piet.
Bork riß sich herum. Zwischen den beiden stand prall gebaut das lange, vierkantige Segel.
»Das Netz!« befahl Bork.
Piet pfiff durch die Zähne, sprang auf, verlaschte das Ruder, holte das Netz aus dem Kasten und machte sich kopfschüttelnd daran, es an die Kurre zu knütten. Bork reffte mit beiden Fäusten die Gaffel bis zur Hälfte des Mastes und riß das Fockstagsegel zurück.
»Ich will nicht Piet Struve heißen«, schrie der Knecht, »wenn wir auch nur einen einzigen Fisch …«
Eine Welle, die über den ragenden Steuerbordsteven ins Boot sprang und klirrend zerbarst, verstopfte ihm mit einer Pütze schäumenden Wassers jählings den Mund. Er spuckte, fluchte und schleuderte ingrimmig das Netz in die Wogen, die dunkel und steil die Bordkante entlangglitten, wirbelnd mit ihm zu spielen begannen und endlich es zornig mit sich hinabrissen in den eigenen Sturz. Nun zerrte es an der Kurre, so heftig und wütend, daß sie straff wurde wie eine Stange aus Stahl und das Boot steuerbord tief zum Wasser gezogen wurde. Eine halbe Minute ging hin. Da ging durch die Kurre ein Ruck.
»Hoiho!« schrie Piet.
»Hieven!« rief Bork.
Sie warfen beide ihre Fäuste um die knirschende Leine, die hart und straff war wie Eisen, zogen und zogen, mit keuchendem Atem, die Lippen gepreßt, Schweiß auf der Stirn, die Muskeln ihrer Arme zum Zerspringen gesteift, bis sie mit einem gewaltigen Ruck das störrische Netz den Wogen entrissen, die es lange nicht hergeben wollten. Zwischen den triefenden Maschen wand sich wütend ein langer, breitleibiger Fisch. Schwer und klatschend fiel er ins Boot.
»Ein Dorsch«, schrie Piet verblüfft.
»Wahrhaftig ein Dorsch«, rief Bork, »den werden wir morgen bei Madsen verspeisen, und der Oberlotse muß helfen.«
Es war wirklich ein Dorsch. Fast einen Meter lang lag er im Boot mit breitem, grau schimmerndem Rücken und schneeweißem Bauch, ein langer, gestreckter Kopf, groß wie der eines jungen dänischen Pferdes. Er schlug mit dem Schwanz, daß es knallte, riß das Maul rund auseinander, als wollte er schreien, die großen, dick verquollenen Augen, unheimlich glotzend, glommen wie Phosphor.
»Der kann nur aus der Nordsee kommen«, rief Piet, kniete hin, durchschnitt mit scharfem Messer die Gurgel des mächtig sich bäumenden Fisches und hielt ihn mit beiden Fäusten so lange gepackt, bis der schwere, fleischige Leib aufhörte zu zucken. Dann beklopfte er ihn mit flacher Hand, wie der Oberlotse seine fressenden Schweine.
Es war eine harte und schwere Fahrt gegen den Wind in langen, mühevollen Streeks, die ganze Nacht. Bork bei den Segeln, Piet beim Ruder. In der grauen Frühe des Morgens knirschte unter dem Kiel ihres Bootes der Sandstrand von Skagen. Fischer, die dabei waren, ihre Fahrzeuge zu rüsten und ins Wasser zu schieben, um bei abschwächendem Wind vor den kommenden Stürmen des Winters einen letzten Fischzug zu wagen, halfen dem heimgekehrten Fahrzeug des Fremden unter lautem Gesang aufs trockene Land, als wäre er einer der Ihren. Sie rissen die kleinen Augen weit auf, als Piet sich mit einem langen und schweren Fisch belud, der aussah wie ein gewaltiger Dorsch. Er hatte den Kopf des Fisches auf einen Angelhaken gespießt, ihn über die Schulter geworfen, so daß er lang und schwer und schimmernd den Rücken hinabhing und bei jedem Schritt, den er stapfte, mit dem Schwanz gegen die Kniekehlen schlug.
Bork blieb noch eine Weile beim Boot und ließ den Blick über die Steuerbordkante gleiten, die in schöner Biegung hinaufschweifte zum stolz ragenden Bug. Er blieb haften auf dem altertümlich verschnörkelten Namen Beata Theedens.
»Ich will dich umtaufen, mein Boot«, dachte er plötzlich.
Er blieb noch eine Weile wie nachdenkend stehen, dann ging er davon, den Strand hinauf in der Richtung nach Skagen.
Nach einer Stunde kam er zurück. Der lange Strand war leer. Nur ein paar Kinder sammelten Wrackholz aus dem tiefen, krappwelligen Sand. Haare und Kleider flogen im Wind. Schwer rauschte die Brandung ihren ewig gleichen Gesang.
Bork hatte in Skagen Pinsel und Farben gekauft. Er machte sich gleich ans Werk. Der Ausdruck seines Gesichts war ernst. Die Stirn lag in Falten. In seinem Blick war ein starker, seltsam erregter Glanz.
Mit breitem, schwarzem Pinsel tilgte er auf beiden Seiten den Namen Beata Theedens.
Dann hockte er wartend im Sand. Sein Blick hing fest in den schwarzen, schwerleibigen Wolkengebilden über der östlichen Kimmung. Weit draußen, kleine, gelbliche Punkte, kreuzten die Boote. Bork sah sie nicht. Sein Gesicht blieb unbewegt, wie eingespannt in Gedanken, die immer das gleiche umkreisten. Sein Atem ging ruhig. Der Glanz in seinen Augen war tief und still.
Zwei Stunden später war die schwarze Farbe so trocken, daß Bork zum Pinsel griff. Als die Turmuhr der kleinen Kirche von Skagen ihre langsam, dunkel und zitternd herüberwehenden Mittagsschläge ertönen ließ, stand dicht unter der Reling auf beiden Steven in einer steilen, lateinischen Schrift, wie Brustfedern von Möwen so rein und weiß, der Name: Ingrid.
Bork trat einen Schritt weit zurück.
Ingrid … schneeweiß auf tiefstem Schwarz … Licht auf Finsternis …
Unverwandt, wie schwer aus tiefen Träumen, ruhte sein Blick auf dem Namen. Der schien lebendig zu werden, Gestalt zu gewinnen, wundersam rein und süß, Linien und Form.
Er schloß die Augen.
Seltsam, auf- und niedersteigend wie eine Welle, ging durch sein Herz ein Gefühl, zwiespältig und dennoch tief innen zusammenfließend: Schmerzlichkeit unvergänglicher Not und inbrünstig die Sehnsucht nach neuem Leben.
»Laß mich leben, Ingrid«, sprach unbewußt eine Stimme in ihm, »bei deiner Liebe, die allmächtig war, ach, laß mich auferstehn … Ein jeder Tag, der mich lebendig läßt, ist dennoch Buße.«
Er stand noch lange, mit geschlossenen Augen, wie eingegraben im Traum. Unablässig wie dunkles Flügelrauschen, ewig in gleichem und starkem Ton, umsang ihn der Wind … aus endlosen Sphären die brausende Stimme des Alls. Sie drang in sein Blut, schwang um sein Herz und machte es still.
Eine Schar weißer Möwen, die über ihn hinzog mit schwirrenden Flügeln und wildem Geschrei, machten ihn wach. Sie kämpften wütend gegen den Wind und kamen kaum von der Stelle. Sie waren ein einziger Schrei, ein einziges Flügelgeflatter, ein einziger, zorniger Wille. Und der Wind, der harte, kalte, aus vollen Lungen blasende Wind bezwang sie nicht.
»Sie leben«, dachte der Mann, der sie mit brennendem Blick verfolgte, bis sie mit schrägem Flug am Leuchtturm vorbei zwischen den Dünen verschwanden.
Eine Seeschwalbe streifte mit schnellen Flügeln sein Knie.
»Sie lebt«, dachte der Mann, »sie lebt …«
Vor seinem Fuß, aus einer Welle von Sand, streckte ein kleiner, schmächtiger Halm sich in die tönende Luft.
»Er lebt, er lebt …«
Nachmittags, kurz nach drei, machte er sich auf den Weg nach Madsens Hotel. Das Gehen wurde ihm leichter als sonst. Er hatte gelernt, die Füße aus dem Sande zu heben in der Art, wie die Leute von Skagen es taten, ging ohne Beschwer, als gehörte er zu ihnen seit Jahren.
Vor Kares kleinem Haus, fast ohne daß er es wollte, unmittelbar neben der Tür machte er halt. Es fiel ihm ein, wie sie vor ihm gestanden hatte in seinem Haus, verzehrt von Leid, geplagt vom Gewissen, hungrig nach Erbarmen von Gott und Menschen. Er hatte sie von sich gelassen ohne ein Wort.
Unwillkürlich, wie getrieben von Zwang, dem er nicht zu widerstehen vermochte, klopfte er an das schwarze Holz ihrer Tür. Er hörte einen lauten, klagenden Schrei.
Rasch trat er über die Schwelle und sah: sie war nicht allein. Vor ihr, in der Mitte des kleinen, niedrigen Raums, stand ein Mann. Er erkannte an dem langen, spitzbärtigen Gesicht den Krämer Twist, der heftig herumgefahren war beim Geräusch der zufallenden Tür.
»Ah, sieh da«, rief rasch beherrscht mit einem erzwungenen Lachen der Krämer, »der Herr von Bork, wahrhaftig der Herr von Bork.«
Hastig trat er heran und streckte die Hand nach ihm aus, die Bork übersah.
»Ich habe mit Frau Taneeren zu sprechen«, sagte finster der Deutsche.
»Soso«, entgegnete Twist und zog die pechschwarzen Brauen nach oben. »Mit der Witwe Taneeren, na ja!« Er grinste. »Düffeltuch kaufen, nicht wahr? Ausgezeichnete Ware. Die Witwe Taneeren versteht sich aufs Weben, dear Sir. First class, first class!«
Er unterbrach sich mit einem lauten Lachen und rief: » Excuse, Sir, daß ich Englisch parliere, aber ich habe bis gestern geglaubt, daß Sie ein Englishman sind, werter Herr. Freut mich, Herr Bork, von der Thode, die, wie Sie wissen, dem alten Oberlotsen die Suppe kocht, den Fisch brät und das Bett macht, gehört zu haben, daß der Herr Kapitän Bork kein foolish Englishman sind, sondern ein vernünftiger Deutscher. Ich liebe die Deutschen, bin ein halbes Jahr lang in Hamburg gewesen, alles first class, besonders die jungen Damen, wenn sie«, er lachte gemein, »über den Jungfernstieg gehen. Jungfernstieg! Ich sag' Ihnen, Frau Kare, die lange Reihe in Kopenhagen ist nichts gegen den Jungfernstieg an der Alster in Hamburg.«
»Lassen Sie Ihr Geschwätz«, unterbrach Bork ihn schroff.
»Pardon, mein Herr!« Er grinste aufs neue. »Will länger nicht stören. Much obliged. Au revoir. Good bye. Adieu! Wünsche beiderseits eine vergnügliche Nacht.«
Er lachte bissig, drehte sich um und verließ mit einer Grimasse die Stube.
Die beiden Menschen sprachen lange kein Wort. Bork am Fenster sah, wie der Krämer schräg die Straße querte in der Richtung nach Madsens Hotel und hinter einem breiten und hohen Gestell voll trocknender Fische plötzlich verschwand. Ihm war, als hörte er hinter sich ein kurzes, ersticktes Schluchzen. Er wandte sich langsam herum. Kare stand aufrecht im weichen Dämmer der Stube, den Kopf im Nacken, sehr bleich, die Augen geschlossen.
Endlich, nach langem Zaudern, fragte er leise:
»Was ist das für ein Mensch … dieser Twist … dieser Krämer?«
Ihr Blick ging zur Erde. Ihre Stimme klang dunkel und hart.
»Allen in Skagen ist er zuwider. Die Leute kaufen in seinem Laden, weil er billige Ware hat. Sein Vater hatte in Kopenhagen am Hafen eine verrufene Schenke und den Sohn nach Skagen geschickt zu seinem Schwager, dem Krämer, weil er in schlechte Gesellschaft geraten und schlimme Dinge getrieben. Der Krämer starb, und dieser Mensch wurde sein Erbe.«
Sie sprach dies alles in einem herben, krampfhaft zurückgehaltenen Zorn.
»Und heute?« fragte Bork nach langem Schweigen.
»Da wollte er alles zurücknehmen, die Kündigung und alles andere, und mir mein Tuch abkaufen und jeden Preis bezahlen, den ich verlangte. Und dann … ja dann …«
Jäh brach sie ab. Und gleich darauf, aus einem wilden, verzweifelten Schluchzen: »Fast hätt' ich's getan.«
»Kare!«
Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht.
»Da klopftest du an die Tür, da schrie ich auf! Da standest du auf der Schwelle.«
Ergriffen spürte der Mann, der groß und breit vorm Fenster stand und die Dämmerung im kleinen Raum dunkel vertiefte, den entfesselten Strom aufgepeitschten Gefühls, und fand nicht die Kraft, ihn zu hemmen. Was sprechen? Was tun? Er wußte sich keinen Rat. Hier war der Mensch zu Ende mit seinem armseligen Mitleid. Hier half nur Gott. Vielleicht nur der Tod …
Hatte er nicht selber das Leben bei den Schultern gefaßt und ihm ins Antlitz gerufen: »Laß mich leben … neuen Atem verspüren, neues Blut durch die Adern jagen. Mensch sein, unschuldig werden wie ein neugeborenes Kind.«
Kares Schluchzen verstummte. Ihre Hände glitten müde nach unten. Doch sie schaute nicht auf. Es war, als seien Blut und Leben in ihrem Körper erstarrt.
Was tun? Was sprechen?
Es kam ihm der Gedanke, irgend etwas zu sagen, das sie ablenken könnte, irgend etwas, und wenn es nur Worte waren, die ihr Gehirn aufnahm, über die sie nachdenken mußte, bis sie den Jammer ihres Herzens bedeckten.
Da sah er, wie sie die Hand flach aufhob zur Stirn und ruhen ließ unter dem kupfernen Haar, als dächte sie angestrengt nach. Nach einer Weile ließ sie die Hand wieder fallen und sagte müde: »Ich muß das Tuch zu Ende weben. Die Frau vom Strandvogt will es noch heute holen.«
»Dann will ich gehen«, sagte er leise.
Sie nickte, schien völlig abwesend zu sein, denn ihre geöffneten Augen hingen unverwandt im Glimmen des Fensters.
Plötzlich ging sie rasch durch die Stube zum Webstuhl, der unweit des Fensters stand, von der Gestalt des Mannes dunkel beschattet. Eine Weile noch saß sie untätig auf ihrem Sitz, dicht vor dem breiten, vierkantigen, waagerechten Gestell aus Balken, Walzen, Ständern, Bändern, Griffen und Hebeln. Ohne daß sie es merkte, trat Bork vom Fenster zurück und blieb stehen, zwei Schritt weit entfernt.
In der nächsten Sekunde wurde der flache Stuhl mit bengelnden, klappernden und tackenden Geräuschen in seiner ganzen Breite lebendig. Dicht nebeneinandergeschart, glitten die starken, fahlgrünen Fäden von der langen Kettenwalze bis zu den Schäften, die sie aufgriffen, ihnen die letzte Ordnung gaben und weitertrugen mit leisem Geklapper. Das Webeschiffchen schoß hin und her, verwob und verflocht das weiche, wie aus dem unerschöpflichen Leib einer Spinne rinnende Garn in die straffgezogenen Fäden, die sich hoben und senkten, Fach um Fach, bis sie, Gespinst geworden, unmerklich langsam um den Brustbaum sich wanden.
Bork stand dicht hinter ihr. Unhörbar war er herangetreten. Sie schien seine Nähe zu spüren, denn die Hand, die das Webeschiffchen regierte, blieb eine Weile still, mit einem schwachen Erbeben. Die Knie, die sich unter dem dunklen Kleid beim Niedertreten der Fußhebel hoben und senkten, hielten eine Sekunde lang inne. Ihr braunes, lockeres Haar im Nacken erzitterte leicht, wie im Hauch eines spielenden Windes, und blinkte wie Kupfer. Doch in der nächsten Sekunde glitten mit feinem Sausen die Fäden wieder den Schäften entgegen, klappten die Fächer, summte das kleine, webende Schiff.
Durch die Seele des Mannes schwang ein Gefühl unendlichen Mitleids. So stark war das Leid in ihr mit dem seinen verschmolzen, daß er einen Herzschlag lang dachte: »Du und ich … wir sind ein einziger Mensch.«
Völlig im Bann dieses Gefühls, hob er die Hand und berührte behutsam ihr Haar.
»Kare.«
Sie erschrak nicht. Doch der Webstuhl stand still. Sie bog den Kopf so tief zum Nacken, daß ihr Gesicht unter ihm war, von Tränen beströmt, die sie lautlos geweint hatte, während sie webte. Er sah ihre großen und traurigen Augen und hörte ihre Stimme, die wie ein Hauch zu ihm aufstieg:
»Just … liebst du mich noch …?«
Er beugte sich tiefer. Sein Mund lag dicht über dem ihren.
»Ich weiß es nicht«, sagte er traurig, »vielleicht ja … aber anders wie damals, als wir jung und leichtfertig waren und unser Blut rauschte, und wir noch nicht wußten, daß Liebe mehr ist als nur Umarmung und Kuß.«
Er schwieg erschrocken. Ihr Blick war dunkel geworden, wie plötzlich von Grauen erfüllt.
»Just, sag«, rief sie erregt, »bin ich verworfen?«
Ihr Ruf traf sein Herz. Er starrte sie an. Um seinen Mund ging Qual.
»Nein, nein«, rief er verstört, brennend aus eigener Not. »Du bist nicht verworfen, nein, nein … nur unser Gewissen macht uns zu Sündern!« Und plötzlich, mit beiden Händen leidenschaftlich ihre Schultern umgreifend, dicht vor ihrem Gesicht:
»Kare … Ich bin allein! Du bist allein! Komm zu mir, Kare … wir wollen beisammen sein, Tag und Nacht, zwei Menschen in gleicher Not … in gleichem Drang, unschuldig zu werden!«
Er ließ sie los. Sie hatte die Augen geschlossen. Im Ausdruck ihres Gesichtes war nicht zu erkennen, was ihre Seele bewegte. Doch ihr Mund war blaß, und ihr Atem ging tief und schwer. Langsam erhob sie sich, ging von ihm weg, trat mit zum Fenster und legte die Stirn gegen die Scheibe.
Draußen, die bleiche Sandstraße entlang, wanderten unförmig träge Schatten von Menschen.
Bork wartete stumm, zwischen Webstuhl und Bank, den Blick groß und schwer, unverwandt auf Kare gerichtet.
Endlich wandte Kare sich um. Ihr Gesicht war beschattet. Er sah nur den schweren, dunklen Glanz ihrer Augen.
»Ich habe Furcht vor den Menschen«, sagte sie leise.
Er schwieg eine Weile, dann sagte er weich: »Du und ich, Kare … wir dürfen keine Furcht mehr haben vor Menschen, nur noch vor Gott.«
Er lauschte ihrem Atem. Mühsam verhielt er den seinen. Er sah, wie der Kopf sich neigte, wie ihre Hände, glimmend im Dunkel, ein wenig sich hoben.
»Ich komme«, sagte sie still.
»Wann?« fragte er leise.
»Wenn ich spüre, daß du mich rufst.«
Ergriffen sah er sie an. Ihre Augen waren geweitet und sonderbar stark im Glanz.
»Kare!«
»Just!«
Mit gesenkter Stirn ging er hinaus.
Draußen war es dunkel geworden. Spärlich brannten Laternen, die dicken Pfähle schief vom ewigen Wind.
Bork schritt schwer die Straße hinauf. Zuweilen machte er halt und starrte zur Erde. Der Sand zu seinen Füßen glomm, blaß wie Leinentuch.
Leute gingen vorbei, blieben, wenn sie ihn sahen, einen Blick lang stehen, dann stampften sie weiter.
»Guten Abend, mein Herr«, rief plötzlich eine heisere Stimme ihn an, »so klaftertief in Gedanken?«
Bork fuhr auf. Neben ihm, auf seine Krücken gestützt, stand der Oberlotse Jes Nielsen, das eingedörrte Gesicht dicht vor dem seinen, mit kleinen, im Widerschein einer Laterne heftig funkelnden Augen. Ohne auf Antwort zu warten, fuhr er fort, mit seinem röchelnden Lachen: »Will zu Madsen, mein Herr. Hab' gehört von Piet Struve, gibt dort zum Abend gebratenen Dorsch, aus den Kattegattstürmen gefangen vom Fischer Bork. He he, he he! Hab' einmal gehört, he he, daß Laien es fertigbringen, einen Dorsch mit einem Kabeljau zu verwechseln.«
Er erschrak und verstummte, denn er fühlte sich unvermittelt um die spitzen Schultern gepackt und heftig geschüttelt. »Herr!« wollte er rufen, doch das keuchend erregte Flüstern des Mannes dicht vor seinem Ohr schnitt ihm das Wort von den Lippen: »Glaubst du, Mann, daß zwei Menschen, die krank in der Seele sind, ein Mann und ein Weib, einander helfen können zu Glück und Frieden, wenn sich beide zusammentun?«
Der Oberlotse, von seinem Erschrecken erholt, blinzelte ihn lange und forschend an. »Tja, mein Herr«, sagte er endlich mit breit gezogenem Mund, um den ein schwer verstecktes Grinsen war, »guter Rat, Herr, in so einer Sache, kostet viel Schweiß! Ich geb' überhaupt nicht gern Rat, Herr. Immerhin«, seine heisere Stimme begann sarkastisch zu werden, »habe ich einmal von einem Ihrer deutschen Landsleute gehört, man könnte sein Haus wieder sauber bekommen, wenn man den Teufel, der sich hineingesetzt hat, mit Beelzebub austreiben kann. Und jetzt«, er lachte und schnalzte, »he he, zu deinem Dorsch, Fischer Bork!«
Er stapfte mit seinen Krücken schrittweis vorauf.
Bork ging ihm nach. Die Worte des Oberlotsen hatten kein Echo geweckt. Sie lagen in seinem Gehör wie der blecherne Schall einer Trompete.
Drei Tage vergingen.
Die Fischer kehrten von ihrer wagemutigen Reise zurück, einer folgte dem andern, keiner blieb aus. Sie hatten trotz schweren Seegangs gute Beute gemacht und bei den Großhändlern in Frederikshavn verkauft. Als sie ihre kleinen Häuser betraten und mit breitem Lachen Weib und Kinder begrüßten, konnten sie die Hände in die Taschen ihrer ledernen Hosen stecken und klimpern mit den silbernen und goldenen dänischen Kronen.
Am vierten Tag, gegen Abend, als es schon dunkel war und Bork untätig auf der Bank in der westlichen Stube lag, im Finstern, da er kein Licht gemacht hatte, klopfte es zweimal kurz hintereinander an der Tür zur Straße.
»Kare …«
Rasch, ohne Licht zu entzünden, ging er hin, um zu öffnen.
Ja, auf der Schwelle stand Kare, stumm in ihren dunklen Mantel gehüllt, den schwarzen Schal über den Schultern, einem Schatten gleich vor der düsteren Luft.
»Komm …«, sagte Bork leise.
Er schob den Riegel ins Schloß, legte seinen Arm um ihre festen, gerundeten Schultern, führte sie in die Stube, ließ sie los, schloß die Tür und machte Licht in der Lampe, die von der Decke hing über dem runden Tisch in der Ecke.
Kare hatte Mantel und Schal beiseite gelegt und stand unweit der Tür, schwach beleuchtet in ihrem schlichten, dunklen Kleid, das ihre straffe und reife Gestalt eng und ohne Falten umschloß. Ihr Gesicht war blaß. Groß und tief über bläulichen Schatten brannten dunkel die Augen.
Bork stand beim Tisch.
»Just«, sagte sie leise, mit einem Lächeln, das müde schien.
»Drei Tage lang, Kare, hab' ich gerufen«, sagte er weich.
Da wurde ihr Lächeln tief und schön.
»Ja, Just … ich hab' es gehört.«
Eine Weile noch standen sie beide ohne Bewegung und sahen einander an.
Im eisernen Ofen krachte und knackte das trockene Wrackholz vom Strand.
»Wie schön sie noch ist«, dachte der Mann, »wie jung ihr Mund!«
Eine Sekunde lang schloß er die Augen. Dann hob er ein wenig die Hände und trat zu ihr hin. Er stand so dicht vor ihr, daß sie einander berührten. Schwer, nach langem Zaudern, legte er die Hände um ihre Schultern.
»Frau«, sagte er bebend.
Kare rührte sich nicht, nur ein Zittern ging durch ihr Blut. Sie schloß die Augen. Er hörte den tiefen Gang ihres Atems und spürte den Duft ihres Haares, wie Tang sengend aus heißem Sand.
»Kare.«
Da schlug sie die Augen auf. Um ihren Mund war ein Lächeln, zart und schön wie aus Traum.
Da beugte der Mann sich hin, und ihre Lippen versanken in einem langen, schweren und schmerzlichen Kuß.
Tief in der Nacht wurde er wach. Auf seiner Stirn stand Schweiß. Sein Herz schlug schmerzend gegen die Brust. Seine Augen bohrten sich hart in die Finsternis, die vor ihm lag und undurchdringlich war.
Neben sich hörte er Kares tiefes und ruhiges Atmen.
Er hatte geträumt, schwer und grauenvoll. Die Tür war aufgegangen. Es war im Raum plötzlich ein grelles, beißendes und rotes Licht gewesen, wie Feuer der Hölle. Der Oberlotse war durch die Tür gekommen, im schwarzen Ölrock, im schwarzen Südwester, in seinem hageren Gesicht, das bleich war wie Kreide, ein satanisches Grinsen. Er war an das breite und niedrige Fußende des Bettes getreten, hatte sich weit vorgebeugt mit seinen mageren Schultern und seinem spitzen, weißen, teuflisch verzerrten Gesicht, und hatte zuerst die Frau angeblickt, die träumend schlief mit einem schweren und süßen Lächeln um den geöffneten Mund, und dann mit seinen kleinen, funkelnd stechenden Augen den Mann durchdrungen, der sich nicht zu erheben wagte und nicht zu sprechen vermochte, denn es war, als würde seine Kehle gedrosselt von den höhnischen Worten, die über ihn herstürzten wie Geierkrallen.
»Ein Weib wirst du dir vertrauen … doch ein andrer wird bei ihr schlafen …«
Dann war zum zweitenmal die Tür aufgeflogen, wie gestoßen von einem Wind, klirrend waren die Flügel der Fenster auseinandergesprungen, und Männer waren hereingestürzt mit blutunterlaufenen Augen, aufgerissenen Mäulern, aus denen die Zähne brachen wie weißes Feuer, mit gierig gestreckten Hälsen, und waren über die schlafende, träumende Frau hergefallen mit einem Keuchen, das wie Wolfsgeheul war, so furchtbar, so grauenvoll, daß sie aufwachte und schrie, und alles in Finsternis brach.
Er stöhnte.
Kare erschrak im Schlaf. Verstört fuhr sie auf.
»Just!« rief sie bang.
»Hab' keine Angst«, sagte er leise, »ich habe geträumt, ich weiß nicht mehr was.«
Es war eine Weile still. Um die Holzwände des kleinen Hauses tönte der Wind.
»Auch ich habe geträumt«, sagte sie weich, und er fühlte, wie ihr Kopf dicht neben dem seinen war. »Ich lag im Sand in der Sonne. Du küßtest von meinen Gliedern den Schaum, den die Brandung herüberwarf, immer von neuem … und war kein Ende.«
Ihr Atem strich warm über ihn hin. Er schwieg.
»Ach Just«, klagte sie leise, wie unter Tränen, »wenn du doch wiedergekommen wärst … zur rechten Stunde …«
Lange kam keine Antwort. Er starrte in die Finsternis, die vor ihm lag, schwer und schwarz wie ein Block.
»Vielleicht, Kare«, sagte er endlich, ohne den Blick aus dem Dunkel zu nehmen, »kam ich dennoch zurecht … für dich und für mich …«
»Glaubst du das, Just?« fragte sie bang.
»Ja.« Keiner sprach mehr ein Wort. Sie lagen beisammen, ohne zu schlafen, bis der Morgen die Finsternis wegnahm und blasses Licht über sie warf.
Einsam, Mann und Frau, ohne Kirche und ohne Amt, lebten sie in dem kleinen, schwarzen Haus zwischen den Dünen, in dem vor Jahren allsommerlich ein Lachen, Singen und Jubilieren gewesen war, wenn Adrian Bork darin gewohnt, der lebenslang die schönen und jungen, gefälligen und heißen Frauen mehr geliebt hatte als die kalten und launenhaften Kurse der Börse. Nun aber war in diesen Räumen das Singen und Jubilieren auf ewig verstummt.
Von unheimlichen und rätselvollen Schauern der Seele war die Ehe dieser beiden Menschen umbrandet.
Seit dem Tag, an dem Kare gezwungen gewesen war, ihr kleines Haus zu verlassen und völlig zu räumen, war sie nie mehr in Skagen gewesen. Oft, wenn sie allein war, Hausarbeit tat oder vorm Webstuhl saß, der in der westlichen Stube neben dem Schrank aus Laaland untergebracht war, hielt sie inne, legte die Hände in ihren Schoß und schaute mit großen, verdunkelten Augen über sie weg zu Boden.
»Liebe ich ihn«, dachte sie ununterbrochen, »hab' ich Sehnsucht nach ihm, ist Freude in mir, wenn ich ihn herankommen höre, wenn er seine Hände um meine Schultern legt und mich küßt?« Ihre Seele gab keine Antwort. Sie legte ihre Hände flach auf die schmerzenden Schläfen und dachte verquält: »Alles verworren in mir … da ist kein Weg … ich geh' durch ein Dickicht voll Dornen und Stacheln und finde mich nicht heraus.«
Bork aber, wenn er einsam die kahlen Dünen nordwestlich von Skagen durchstreifte, das Grauen der kalten und bleichen Öde verspürte, das tote Schweigen empfand und das unheimliche, unaufhörliche Rinnen des Sandes vernahm, dachte unablässig: »Die heiße Stirn in ihren Händen kühlen, Frieden sammeln in ihrem Schoß …«
Wenn er den Strand entlang lief, immer weiter und weiter nach Norden, am Leuchtturm vorbei, Greenen entlang bis zur äußersten Spitze des Landes, stieg es brennend aus seiner ringenden Seele: »Sich ineinander verketten, eins sein in Schuld, eins sein in Not … und eins sein in der Sehnsucht nach Reinheit! Vielleicht … ja … großer Gott … vielleicht ein Kind!« Er hob die Hände vor sein Gesicht und schluchzte … schluchzte lautlos vor der donnernden Wogenwüste des Meeres, aus dem Wolken heraufwuchsen, schwarz und schwer unablässig die Formen verändernd, Spielzeug in den plumpen, zerstörenden Händen unsichtbarer Dämonen.
Es kamen Tage, an denen keines ein Wort sprach, verquälte Tage, an denen es war, als gingen zwei fremde Menschen nebeneinander her, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, eingegraben in eine schamhafte Scheu, von Dingen zu sprechen, die tief im untersten Abgrund der Seele ruhten und dennoch dumpf brodelten, wie die Gluterde tief in Vulkanen, die unheimlich murrt, um endlich mit furchtbarem Schrei den Brand ungeheuerlich zu entfesseln.
Nie fiel ein hartes Wort. Doch es ging auch kein Lachen durchs Haus. Wenn einer dem andern in einer kleinen Sache behilflich war oder um eine Handreichung bat, geschah es mit einem stillen und gütigen Lächeln. Manchmal, wenn ihre Hände unerwartet sich trafen, erschraken sie beide. Dann schauten sie aneinander vorbei, bis einer behutsam die Hand des andern suchte und fand und liebkoste.
Zuweilen, wenn sie einander umarmten und verschmolzen gewesen waren, in einer schweigsamen, dumpf und dunkel brennenden Glut, kam es vor, daß Kare in ein heftiges Schluchzen ausbrach, sich von ihm löste, wie in Flucht die Stube verließ, in die Knie stürzte vor dem kleinen Herd in der Küche, die Stirn gegen die eiserne Kante drückte und fassungslos weiterschluchzte, aus einer Verstörtheit der Seele heraus, die dunkel und rätselvoll war. Bork, wie betäubt, blieb zurück.
»Gespenster«, dachte er dumpf, »wir fliehen … sie jagen uns nach.«
Die Tage vergingen. Weihnacht war nah. Die Leute von Skagen lagen im Winterschlaf wie ihre Boote. Keins war mehr draußen. Sie lagen weit weg von Brandung und Wasser, kieloben im Sand, schwarz und plump, wie die toten Leiber gestrandeter Wale.
Unablässig Tag und Nacht schnob und stob um die kleinen Häuser der Wind. Alles in den winzigen Gärten, was nicht niet- und nagelfest war, wurde in sicheren Winkeln verstaut und verlascht, die Balkengestänge zum Trocknen der Netze und Fische zusammengelegt und geborgen.
Nie wurde es still in der kalten, beißenden Luft. Unaufhörlich ein Jaulen, Röhren und Pfeifen. Die Schornsteine heulten, die Dachziegel knirschten, die Türen, die nicht fest in den Angeln saßen, stöhnten und ächzten, und die Scheiben der kleinen Fenster klirrten unter dem Ansprung des aufgejagten, sausend dahinwirbelnden Sandes. Der Himmel hing tief und grau. Aus breiten und schwarzen Wolken, die der Wind zu Fetzen zerriß, stürzte und tanzte in wild zerwühlten Haufen nach langen Regenböen der erste Schnee. Die Meere brüllten sich an und krallten sich ineinander wie Horden rasend gewordener Panther, weißen Schaum vor weißen Gebissen. Stürme begannen zu donnern. Berge mit bleichen Gipfeln stellten sich auf und stürzten schäumend zurück in schwarz aufgähnende Schluchten. Über den Bänken stand unzerstörbar die Brandung wie eine Mauer aus Gischt. Fauchend den Strand hinauf rannte die berstende Flut, leckte gierig mit zischenden Zungen nach den schweren und schwarzen Leibern der Boote und bespie sie mit toten Fischen, Wrackholzsplittern und Tang. Zuweilen krachte es dumpf durch die Nacht. Irgendwoher ein Donner, oder ein Schiff, das in den Stürmen zerbarst. Dann fuhren in den kleinen Häusern von Skagen Schläfer empor, lauschten verstört und beteten stumm: »Krist Kyrie.«
An einem dieser rauhen Dezembertage hielt vor dem kleinen, schwarzen Haus zwischen den Dünen ein Schlitten. Eine Dame stieg aus, gekleidet in einen langen und schweren Mantel aus dachsgrauem Pelz, das Gesicht dunkel verschleiert. Der Knecht sprang eilfertig vom Sitz, hängte die Zügel ein, lief zum Haus und drückte auf die eiserne Klinke der Tür und klopfte, da sie verriegelt war.
Die beiden Menschen in der westlichen Stube hatten nichts von dem Herankommen des Schlittens gehört, nichts von den klingelnden Glocken, nichts von dem Stampfen und Schnauben des schweren, dänischen Pferdes, denn unaufhörlich, alle Geräusche erstickend, brauste und heulte der Wind. Kare hatte vorm Webstuhl gesessen, in dem es knackte und seufzte. Bork, der lesend hinter dem runden Tisch auf der Eckbank gesessen, horchte auf, als es klopfte, und sah schräg durchs Fenster den Schlitten des Gastwirts Madsen.
Kare, die hinausgegangen war, um zu öffnen, stand wieder unter der Tür.
»Eine Dame ist draußen«, sagte sie leise, mit einem großen und unruhigen Blick zu Bork, der aufstand, sich vorbeugte und aus fassungslosem Erstaunen heraus fragte:
»Eine Dame?«
»Sie hat gesagt«, entgegnete Kare, »sie käme aus Hamburg und wünsche Herrn Bork zu sprechen.«
Bork trat aus der Bank, ging um den Tisch und blieb stehn. Denn schon stand auf der Schwelle die Frau, eine hochgewachsene Gestalt, eingeschlossen in einen langen, schwer fallenden Pelz. Sie schaute zu Bork hinüber, wandte forschend den Blick zu Kare und betrachtete aufs neue den Mann aus großen, grauen, unruhig glänzenden Augen.
Stumm ging Kare hinaus, setzte sich in der Küche auf einen Schemel beim glimmenden Herd und begrub das Gesicht in den Händen.
»Gabriele«, sagte Bork leise, in der Tiefe erschüttert.
»Justus.«
Ihre Stimme klang wie zerbrochen, unsagbar traurig.
Bork schwieg lange. Mühsam erzwang er sich Ruhe, um sprechen zu können.
»Daß du gekommen bist«, sagte er endlich kaum hörbar und stockend, wie ohne Bewußtsein, »... und mich gefunden hast …«
»Es ließ mich nicht los«, entgegnete die Frau mit zuckendem Mund.
Bork hörte es kaum. Er schwieg. Immer noch staunend, sah er sie an, mit verworrenen Augen, die nicht begreifen zu können schienen, daß sie da war und vor ihm stand in dieser Stube, in diesem kleinen, schwarzen und weltverlorenen Haus zwischen den Dünen.
Gabriele Tobaben, Tochter des Pfarrers von Sankt Katharinen, Frau Justus Bork … ja, seine Frau. Undeutlich, aus einem Wirrsal dumpfer Gefühle, sah er das blasse, edel geformte Gesicht, den schmalen Mund, die Winkel nach unten, in tiefen Schatten die grauen Augen, schwer und dunkel von Gram, die weiße Stirn schwarz durchschnitten vom heraufgezogenen Schleier. Schmerz brannte auf, jäh quoll Mitleid aus der verschütteten Seele. Mit einer hilflosen Bewegung der Hand wies er auf den breitlehnigen, binsengeflochtenen Sessel, der aus Kares Hausrat in Borks Stube gekommen war. Schwer ging sie hin, nahm den Pelz von den Schultern, legte ihn über den Tisch und setzte sich nieder. Sie trug ein Kleid aus schwarzem Samt, schlicht, hoch geschlossen, eine schmale, silberne Nadel mit einem kleinen, weißen Elfenbeinkreuz als einzigen Schmuck.
Bork blieb stehen, drei Schritte entfernt. Unablässig sah er sie an.
»Warum ist sie nicht zornig?« dachte er dumpf und sah, wie ihre Hand im Schoß, die um ein Tuch geklammert war, weiß war und starr.
»Frau«, sagte er ohne Ton.
Da ging eine Bewegung über sie hin. Der Ausdruck ihres Gesichts war plötzlich so sehr verändert, daß der Mann heftig erschrak. Eine Röte war aufgequollen bis in die Stirn, ein Zittern rann durch die Haut. Es war, als bräche in einem Aufsprung wildesten Schmerzes in ihrer Seele alles zusammen, was sie seit der Stunde ihres Entschlusses, zu ihm zu kommen, aufgebaut hatte an Kraft, Härte und Mut, um diese Begegnung ertragen zu können.
»Justus!« rief sie aus haltlosem Schluchzen, und ihre Hände im Schoß krampften sich ineinander und machten eine Bewegung, als wollten sie sich dem Manne entgegenringen, der vor ihr stand, die Schultern nach vorn gebeugt, mit traurigem Mund und schmerzlich brennenden Augen. »Justus … warum hast du mir dies alles getan …? Warum hast du geschwiegen …? Dieses Schweigen, Justus, da du doch lebtest, das war das schlimmste … dieses grausame Schweigen.«
Ihr Kopf sank tief. Sie weinte lautlos, das Gesicht in den Händen.
Bork schwieg, qualvoll wartend, bis er fühlte, daß sie ruhiger zu werden begann. Dennoch blieb ihm die Kehle verschnürt. Schmerzhaft stieg es herauf: »Auch hier eine Seele zerstört! Auch hier eine Frau, die Fluch über mich spricht, weil ich ihr Leben zerbrach!«
Er unterdrückte ein Stöhnen. Ein Gedanke fuhr durch sein Hirn, beißend und höhnisch, der das Herz erschauern machte und die Seele zermalmte, ein satanischer Ruf aus der Hölle. »Dämonium mein ganzes verfluchtes Leben, Dämonium für die Frau, die dort weint, Dämonium für die … die in Schmutz und Grauen erfriert, ich weiß nicht wo …«
Vergebens rang er nach Worten.
»Beichten? Zur Erde sinken, ein armer Sünder, Gnade erflehn? Wohin aus dieser quälenden Wirrnis, wohin!? Gestrüpp, Gestrüpp … kein Weg … kein Weg … kein Schwert, es niederzuhauen!«
Verworren sah er die Frau, die weinte, ohne daß er es hörte, und die Stirn niedergebeugt hatte, so tief, daß er die Traurigkeit ihres Mundes und die Not in ihren Augen nicht sah.
Taumelnd ging er hinüber und neigte sich zu ihr hin, so tief, daß seine Stirn fast ihr Haar berührte.
»Frau«, sagte er traurig, »war deine Liebe zu mir so groß?«
Ihr Kopf sank noch tiefer zum Schoß. »Ja, Justus«, hörte er ihre Stimme unsäglich verzagt, »doch sie ist vielleicht nicht die rechte gewesen.«
Sie schwieg. Erschüttert ging Bork einen Schritt von ihr weg. Nach einer Weile begann sie zu sprechen, so leise, daß ihre Stimme im Wind, der draußen tobte, beinahe verhallte. Bork lauschte, den Blick starr zum Fenster, dahinter die Dünen lagen, bleich, Hügel an Hügel, fahl umdunstet vom aufgewirbelten Sand.
In seinem Ohr war Nachhall … »nicht die rechte gewesen …«
»Ach«, sagte sie langsam aus tiefer Traurigkeit, »unaussprechbar und nicht zu begreifen, wie alles gekommen ist. Sieben Monate bist du verschollen gewesen, keiner konnte mir sagen, warum und wohin. Als du dann wiederkamst, warst du verändert. Dein Wesen war fremd, kalt und starr, schweigsam und undurchdringlich. Ich wagte nicht, dich zu fragen. Ich hatte Mitleid mit dir und glaubte, du wärest krank, krank in der Seele. Da gingst du zum zweitenmal über das Meer und kamst nicht zurück. Es gingen Gerüchte in Hamburg umher, du hättest in Amerika einen Menschen getötet, seist in die Heimat geflüchtet und zurückgescheucht worden vom bösen Gewissen. Geheimnisvoll bliebst du verschollen. Unerträglich wurde die Qual, nirgendwoher die Wahrheit zu hören. Mein Vater verlangte die Scheidung. Als ich mich wehrte, enthüllte er alles, was seit langem er und andere gewußt und mir verschwiegen hatten. Ich hörte es an und begriff es nicht, nein, nein, ich begriff es nicht, denn ich hatte dich lieb und glaubte an dich wie an Gott. Alles in mir zerbrach, ich schloß mich ein, sah nur noch den Vater, dem ich verbot, deinen Namen zu nennen, nicht aus Zorn oder Haß, nicht aus beleidigter Liebe, sondern aus Furcht … ja, aus der Furcht, begreifen zu müssen, warum dies alles geschehen sei.«
Sie verstummte. Bork wandte sich um, sah die Gebrochenheit ihres Blicks und die reinen Züge ihres Gesichts unsäglich entstellt in einem Ausdruck von Angst … namenlose Angst vor der Antwort auf dieses Warum, Angst, die zu flehen schien: Hab' Erbarmen mit mir!
»Soll ich die Brust mir aufreißen«, rief er verquält, »mit elenden Menschenworten von Dingen sprechen, die unsere Seelen martern, selbst wenn wir schweigen? Sieh …«, er stand, die Arme ein wenig gebreitet, mit flachen Händen, »sieh … ich bekenne mich schuldig. Schuldig an dir, schuldig an einer andern! Warum bin ich schuldig geworden? Wenn ich's wüßte, wäre die Qual, die ich trage, geringer! Man kann Verbrechen verstehn und verzeihn … aber das letzte Warum …?«
In der Tiefe ihrer Augen erwachte ein Licht. »Ich möchte verstehn«, sagte sie langsam in einem fast kindlichen Ton, »ich möchte verzeihn.«
Schmerzlichkeit umflog seinen Mund. Er zögerte eine Weile, aus einem dunklen, halb unbewußten Gefühl von Scham, sich offenbaren zu müssen, beichten zu müssen vor dieser Frau, die nicht mehr sein Weib war, vor dieser Dulderin, dieser Schmerzensreichen, vor dieser reinen, kindhaften Seele.
»Ich habe dich sehr geliebt, Gabriele«, begann er endlich in einer stillen und traurigen Innigkeit, »tiefer und schöner vielleicht als die andern, die meiner hungrigen Jugend das Feuer gaben, das mich berauschte und doch nicht sättigte, so heiß und hoch die Flammen schlugen. Da sah ich dich und spürte den Widerhall deines Herzens. Wundervoll war die schöne und sanfte Glut deiner Augen, der weiche, sich hingebende Druck deiner Hände.«
Er schwieg eine Weile. Mit großen, vertieften Augen sah er sie an.
»Ja«, fuhr er versonnen fort, »ich habe dich sehr geliebt. In mir war das Gefühl, deine Liebe und meine würde die große und schöne Beständigkeit haben … nichts Vorübergehendes … nichts Verfliegendes. Dann kam die Ehe. Du warst gütig, wundersame Ergebung … doch ich erbebte nicht unter deinem Kuß. Es kam die Zeit, da ich erkannte, daß du nur Freund sein konntest, Begleiter und Kamerad meines Lebens. Das machte mich traurig, oft hart und verschlossen, denn sieh … mein Wesen war immer voll heißen Begehrens.«
Er sah, wie ihr Kopf nach unten ging, wie ihre Hände sich hoben und Stirn und Augen bedeckten. Eine tiefe Bewegung faßte ihn an. Er ging zu ihr hin, nahm ihre Schläfen und hob ihr Gesicht, das überströmt war von lautlos geweinten Tränen. Er beugte sich tief zu ihr hin.
»Hab' ich mit meinen Worten dein Weibtum beleidigt?«
»Nein«, sagte sie leise, »ich fange an zu begreifen.« Er sah sie lange an. »Niemand«, sprach er mit zuckendem Mund, »kann gegen sein Blut, Gabriele, du nicht und ich nicht und keiner auf Gottes Erde. So bin ich, als ich zum erstenmal dich verließ, in meines Blutes Schicksal getaumelt … Glück, übermenschliches Glück … Sturz und Fluch … und übermenschliche Qual.«
Er ließ sie los, ging durch die Stube und blieb stehn, da der Webstuhl ihn hemmte.
»Und Ingrid?« hörte er wie von fern ihre Stimme.
Sein Blick verdunkelte sich. Er wandte sich um. Lange fand er kein Wort. Endlich sagte er schwer: »Wenn sie noch lebt … ich weiß nicht wo … ist sie umgeben von Schmutz und Laster … und elenden Menschen.«
Unter einem Erbeben schloß Gabriele sekundenlang die schmerzenden Augen. Dann schauten sie lange einander an, als wollten sie Dinge erforschen und Geschehnisse aufhellen, nach denen keiner von beiden zu fragen wagte.
»Hat sie gewußt von mir?« fragte nach langem Schweigen die Frau.
»Sie hat dich gefühlt. Eines Nachts hob sie sich auf und sagte versonnen: ›Ich habe im Traum eine Stimme gehört, die rief laut und schwer deinen Namen.‹ Dabei sah sie mich an durch das fahle Dunkel der Nacht, so tief, daß ich fühlte: sie ahnt nicht … sie weiß.«
Wieder war eine Stille zwischen den beiden. Bork lehnte am Webstuhl, reglos, den Kopf nach unten, ein Mensch, tief eingesenkt in ein Meer voll Schmerzlichkeit. Er sah nicht, wie sie sich aus dem Sessel erhob, den Pelz umlegte und müde die Stube durchschritt. Unweit der Tür blieb sie stehen.
»Und die Frau, die mich einließ … ihr Blick war so schwer.«
»Die Witwe eines Schiffers aus Skagen, hilft mir im Haus … trägt Leid wie du und ich.«
Sie sah in seinen Augen ein tiefes, sonderbar schimmerndes Licht.
»Und hilft deiner Seele«, dachte sie traurig.
Sie reichte ihm rasch die Hand. Er nahm sie, senkte den Kopf, hob sie zu seinen Lippen und küßte sie lange, selbstvergessen, in einem unbewußten Gefühl, das wie Ehrfurcht war.
Stumm ging sie hinaus. Kare, auf ihrem Schemel neben dem Herd, schrak auf und sah auf dem blassen Gesicht der rasch hinschreitenden Frau große und schwere Tränen, die weggewischt wurden vom schwarzen Schleier, den sie tief hinabzog bis unter das Kinn. Ehe sie aufstehn und helfen konnte, hatte die Fremde den Riegel beiseite geschoben, die Tür aufgemacht und hinter sich wieder geschlossen. Kare ging hin, langsam, fast müde, und schob mit schweren Händen den Riegel zurück. Es krachte dumpf im Holz.
Bork hörte es nicht. Er hörte nicht den schnalzenden Ruf des Knechtes draußen bei Madsens Schlitten, nicht das heftige Knallen der Peitsche gegen den heulend stürmenden Wind, nicht das Schnaufen und Stampfen des schweren dänischen Pferdes und nicht das scharfe Schleifen der Kufen über den harten, körnig gefrorenen Schnee. Er stand noch immer dicht neben dem Webstuhl und lauschte einer Stimme, die in ihm sprach: »Von Frauen kommt Glück … von Frauen kommt Bitternis … von Frauen kommt Gnade …« Und plötzlich, aus tiefem Erschrecken, die eigene Stimme: »Von Männern kommt Fluch!«
Der Winter verging. Die Winde hielten den Atem an. Die Stürme verebbten. Der Skagerrakdonner verrollte, das Kattegattbrausen verlor seine dumpfe, störrische Wut. Der schwere, schwarze Wolkenhimmel zerbarst, und die Sonne der ersten Frühlingstage machte das Meer ergleißen und den ruhig gewordenen Sand leuchtend und warm. Die Fischer stampften zum Strand, kippten Mann neben Mann mit breiten Schultern die Boote, teerten die Planken und brachten in Ordnung, was Wind und Wetter mit harten Fäusten zerdrückt und zerschlagen.
An einem Tag im späten März, kurz vor der Dämmerung, hielt wiederum ein Gefährt vor dem kleinen, schwarzen Haus zwischen den Dünen, in dem Bork und Kare einsamer lebten denn je. Es war das Fuhrwerk des Gastwirts Madsen, der selber auf dem Führersitz hockte, neben dem Knecht, der dicht vorm Haus die Zügel straffte, so hart, daß die schwere dänische Stute laut wiehernd den Kopf zum Nacken warf und stehen blieb mit einem heftigen Ruck durch den ganzen Leib. Heiser keuchend, mit der Rechten die beiden Handrücken, mit der andern sich auf den Wagenrand stützend, stieg der Oberlotse heraus, von Kopf bis zu den Füßen in sein abgetragenes Ölzeug gekleidet, den schwarzen, zerlöcherten Südwester auf dem spitzigen Schädel.
Als er, ohne Schaden genommen zu haben, den Sandboden erreicht und die Krücken zurechtgestellt hatte, rief er zu Madsen hinauf:
»In einer Stunde also, nicht wahr, in einer Stunde.«
»In einer Stunde«, rief der Gastwirt zurück, die Stimme gedämpft durch einen dicken, wollenen Schal, der fünffach, die kranken Lungen zu schützen, den Hals umwand bis über die Spitze der Nase.
Der Knecht schnalzte und schwippte mit seiner Peitsche leicht über den Rücken des Pferdes. Schwer stampfend setzte sich die Stute in Gang. Knirschend mahlten die Räder den weißen, nach langem Winter locker gewordenen Sand.
Mit dem breiten Griff seiner Krücke klopfte der Oberlotse so heftig gegen die Tür, daß es dröhnte im Holz. Es war das erstemal, daß er kam, seit Bork und Kare ihr Leben zusammengetan hatten. Bork schob den Riegel zurück. Schnaufend, mit röchelndem Gruß stampfte der Greis über die Schwelle.
»Lang nicht gesehn«, sagte Bork und schloß die Tür.
»Der Winter, der Winter«, krähte der Oberlotse, »da steckt man im Haus, da hockt man beim Ofen, da läßt man sich von der Thode indischen Rumgrog servieren, so heiß und steif, daß er den alten Knochenbau heizt und in den Adern das Blut herumspringt wie Feuer.«
Er blinzelte schief zu Kare hinüber, die dabei war, unter einem Topf voll Wasser das Herdfeuer zu schüren.
»Treffliche Frau, die Kare Taneeren, wie? Läßt sich leben mit ihr, was?« Mit dürrer Hand klopfte er dem neben ihm stehenden Mann die Schulter und fuhr fort, während sie beide die Stube betraten: »Was hab' ich gesagt, Herr? Teufel und Beelzebub, wie?«
Er plierte durchs Zimmer.
»Ei, ei, sieh da, Kares Webmaschine. Und die alte, kleine Kommode, die schon in der Dachstube ihrer Mutter gestanden hat, als sie noch Magd war beim alten Madsen.«
Er hob eine Krücke. »Und da ihr Sessel, ihr schöner, weicher Sessel, in dem man sitzt wie in Abrahams Schoß.«
Er schlürfte hinüber, drückte den langen, eckigen Körper tief in den breiten, binsengeflochtenen Stuhl, stellte die Krücken zwischen die spitzigen Knie, grinste zum Bett hinüber und nickte: »Hab's Ihnen gesagt, mein Herr … breit für zwei.«
Der scharfsichtige Blick schweifte aufs neue umher.
»Treffliche Ehe, wo alles so friedlich beisammen steht.«
Bork zog die Brauen zusammen. »Was Neues in Skagen?« fragte er, um ihn auf andre Dinge zu bringen. Ihm schien, als sei der Alte in einer besonderen Weise erregt. Die erdgraue, eingetrocknete Haut über den Knochen des ausgezehrten Gesichtes war, seit er das Haus betreten, in einem beständigen, schwachen Vibrieren gewesen, und in den kleinen, tief in bläulichen Schatten versteckten Augen ein unaufhörliches Flackern und Flimmern.
»Was Neues?« Wie vom Blitz getroffen warf der Oberlotse den Kopf zu Bork. »O ja, mein Herr. Es gibt was Neues in Skagen!«
Er sprach nicht weiter, denn Kare hatte die Stube betreten. Sie trug auf einem Brett zwei Gläser, eine Kanne kochenden Wassers, eine Schale mit braunem Kandis und eine Flasche, auf deren Schild der scharfe Blick des Oberlotsen sogleich die Bezeichnung entdeckte: »Madras. Ostindischer Rum.«
»Recht so«, rief er, als Kare zu mischen begann, »halb Wasser, halb Rum, drei Löffel Kandis.«
Da sah er die tiefe, fast kranke Blässe ihres Gesichtes, den müden Mund und die dunkelblauen Ringe um ihre tiefliegenden Augen. Sein Blick ging fragend zu Bork. Der bemerkte es nicht. Er stand in der Nähe des Fensters, das zu den Dünen hinausging, deren nackte Scheitel gerötet waren im Schein der Sonne, die langsam im Westen versank. Kare ging um den Tisch zur Bank, setzte sich in den Winkel, legte mit übereinandergeschobenen Händen die Arme halb über den Tisch und schaute still vor sich hin.
Hastig griff Nielsen nach einem der beiden dampfenden Gläser. »Wollen Sie nicht auch trinken, Herr?« rief er hinüber zu Bork. Der wehrte ab, schweigend mit einer kleinen Bewegung der Hand. »Denn nicht!« knurrte Nielsen, hob das Glas und begann zu trinken, nicht genießerisch, mit langsamem Schlürfen, wie es seine Gewohnheit war, sondern rasch in kleinen, erregten Schlucken. Dann schob er das leere Glas hastig beiseite, griff in die Seitentasche des Ölrocks, zog ein Blatt heraus, legte es auf den Tisch und bedeckte es heftig zuschlagend mit der langen, eingetrockneten Hand.
»Hier das Neue«, rief er mit einer Stimme, die sich anhörte wie das Krächzen eines heiseren Hahnes, »das Unerhörte, nie Dagewesene, das nie Erwartete. Eine Einladung, mein Herr, eine Einladung, Kare Taneeren! Soll ich euch sagen, von wem? Ihr ratet es nicht! Seine Gnaden der Amtmann Eike von Olafsborg hat seinen Todfeind, seinen grimmigsten Hasser, den Oberlotsen Jes Nielsen, auf das freundschaftlichste ersucht, teilzunehmen an der Feier seines neunzigsten Geburtstages auf Schloß Jörring, am Sonntag, dem dritten April, anni currentis. Unterschrieben mit eigener Hand.« Er lachte kurz und verbissen und schob das Blatt zu Kare hinüber. »Eine verteufelte Handschrift, wie? Als säße ihm schon der Tod in den Fingern und das böse Gewissen im Nacken.«
»Werden Sie hingehn?« fragte vom Fenster her Bork, kam rasch einige Schritte heran und blieb stehen, mit seltsam gespanntem Blick. Flimmernd blickte der Oberlotse ihn an. »Hingehn?« fragte er feixend mit dicht zusammengedrückten Brauen, »hingehen?« Die hundert kleinen Falten des uralten Gesichts begannen zu tanzen.
»Natürlich werde ich hingehn«, sagte er scharf wie nie. »Hohn wider Hohn!« Er zog das Blatt heran und zerknüllte es langsam zwischen den knöchernen Fingern.
Eine Weile starrte er mit zusammengekniffenen Augen durchs Fenster. Draußen im dunkler werdenden Rot der niedersteigenden Sonne glommen die Hügel der Dünen wie Haufen geronnenen Blutes. Plötzlich lachte er auf, heiser wie eine Krähe. Heftig steckte er das zerknitterte Blatt in die Tasche, griff zum zweiten Glas und trank es gierig leer.
»Was ist mit dem Amtmann?« rief Bork fast schroff.
Der Oberlotse fuhr auf, stellte das Glas klirrend zurück und starrte lange zu Bork. Dann schlug er die dürre Faust auf den Tisch, daß es krachte im Holz.
»Ja, bei Gott«, rief er grimmig, »es ist Zeit, das Maul aufzutun und um die Erde zu schreien, was es ist mit mir und dem Amtmann Eike von Olafsborg.«
Es kam ein harter, heiserer Atemstoß. Dann mit vorgestrecktem, unheimlich verzerrtem Gesicht:
»Der Amtmann Eike von Olafsborg hat vor sechzig Jahren sein Weib erschlagen … Fleisch aus meinem Fleisch, Blut aus meinem Blut.«
Die beiden Menschen erschraken. Sie horchten, den Atem verhaltend, ohne ein Glied zu rühren. Kare in der Eckbank hinter dem Tisch, die Hände gefaltet im Schoß, den großen, tiefbraunen Blick unablässig auf die erregten Lippen des Oberlotsen gerichtet, Bork neben dem Webstuhl, halb zum Fenster gewandt, im Blick den Widerschein der blutgeröteten Dünen. Der Oberlotse lag verkrochen im Sessel, die verdorrten Finger um die Krückengriffe geklammert, das scharfe Gesicht in allen Zügen deutlich erkennbar, obwohl in der rötlichen Luft schon ein Hauch von Dämmerung hing.
Mit einer harten, grimmigen, zuweilen rasselnden Stimme begann er zu sprechen:
»Hört zu! So war's: Fünfundzwanzigjährig, in Kopenhagen, versprochen mit einer Handwerkertochter. Bei Gott, sie war schön! Wäre ein Weib fürs ganze Leben gewesen. Waren züchtig und keusch bis zu dem Tag, verdammt, an dem ich mein Lotsenexamen gemacht und das Steuermannszeugnis erhalten. Andern Tags mit einem Dreimastschoner in See. In Rio von ihrem Bruder ein Brief: Die Schwester wär' schwanger von mir, hätt' in Angst vor Vater und Mutter den ersten besten genommen, der sie gefreit, einen Limfjordfischer aus Söby. Müßt' schweigen davon. Bis übers Grab. Ein Schlag vor den Kopf. Geheult wie ein Hund. Verdammt durch die schlechten Häuser von Rio gelaufen, bis mir der Ekel den Hals zerfraß. Mit fünfunddreißig wieder in Skagen. Schnurstracks nach Söby. Hab' die Mutter gesehn, habe mein Kind gesehn, Mädel von neun, fein, verdammt, als hätte Gott selber sie mit seinem schönsten Engel gezeugt. Bin auf und davon. Lotse in Kopenhagen. Dann wieder auf Segelschiffen und Dampfern von Küste zu Küste. Kein Weib angerührt. Immer nur Whisky, mich zu betäuben. Verdammt, ich liebte die Mutter und liebte das Kind.«
Er stockte. Sein Atem ging tief und lang, mit scharfem Röcheln. Sein Blick stand eine Weile stier zum Fenster gerichtet, gerötet vom Purpur der Sonne.
»Kam nach Skagen zurück«, fuhr er fort. »Stand am Rande der Straße nach Jörring. Fuhr ein Wagen vorbei, ein Herr, vornehm gekleidet, schwarzbärtig, kalt und bleich das Gesicht. Neben ihm, schön, jung, blaß mit traurigen Augen, Gott steh' mir bei, mein Kind! Der Amtmann in Jörring, sagt ein Schiffer, der neben mir stand. Eike von Olafsborg, Kammerherrsohn, mit seiner Frau, Fischerstochter aus Söby. Hätt's nicht gut bei ihm. Wär' ein harter und jähzorniger Mann, der Eike von Olafsborg. Ich wieder auf und davon, rund um die Erde, dreimal, viermal … siebenmal um Kap Horn. Lebendig geblieben, verflucht, trotz Schiffbruch und Sturm. Mit fünfundsechzig wieder nach Skagen. Treff' einen Mann, den ich kenn'. Sagt, sei Stallknecht beim Amtmann in Jörring. Frag' nach der Frau. Die Frau, sagt der Knecht, ist tot. Tot? Ja, die lange Schloßtreppe hinabgestürzt, das Genick zerbrochen, tot auf der Stelle. Angesprungen von der dänischen Dogge, hätt' der Amtmann den Leuten erzählt und beschworen in Frederikshavn vor dem Gericht. Keiner in Jörring und Söby hätt' es geglaubt. Hätt' sie selber im Jähzorn mit einem Schlag vor die Stirn die Treppe hinabgestoßen mit dem Kind, das sie im Leibe trug. Ein Knecht hätt's gesehn, der plötzlich verschwunden gewesen, bestochen mit Geld, keiner wüßte wohin.« Der Greis hob die Krücken und stieß sie heftig zu Boden.
»Totgeschlagen.«
Das hagere Kinn des Oberlotsen war bis auf die Knöchel der Hände gesunken, die hart verkrampft auf den Griffen der Krücken lagen. Flackernd stierten die Augen nach unten. Rasselnd holte er Atem. Bork stand an den Webstuhl gelehnt, den Blick starr zu Boden. Kares Gesicht, tief gebeugt, lag vergraben in ihren Händen.
»Bin nach Jörring gerannt«, klang verbissen die Stimme des Lotsen, »hab' ihn gestellt, den Totschläger, den Mörder, den meineidigen Schurken, auf der obersten Stufe der Treppe, da, wo er sie niedergeschlagen. Hat vor mir gestanden, mit höhnischer Fratze, eine lederne Hundepeitsche in jeder Hand. »Mörder!« hab' ich ihn angeschrien. Verdammt, er pfiff nach der Meute und hob die Peitsche. Bin weggerannt, nicht vor dem Amtmann, verflucht, nein, vor den Hunden. Bin in Skagen geblieben. Siebzig geworden, achtzig, das Haar schlohweiß, das Gesicht zerschnitten von Seesalz, Stürmen und Tropenbrand. Bin herumgeschlichen um ihn, hab' angefangen mit meinen verdorrten Fingern, an seinem Gewissen zu kratzen, ihn mit Blicken und Gebärden auf die Folter zu spannen, damit er aufbrüllte vor Reue und Qual. Doch verdammt, er brüllte nicht auf. Hab' ihm Gift zugeschickt, Kurare, abgekratzt von den giftigen Speeren. Hat's nicht genommen. Sind in die Jahre gekommen, er neunzig, ich fast hundert, als sollte keiner ins Grab vor dem andern. Da hab' ich das letzte getan, auf daß er beichte vor Gott und den Menschen.«
Er hielt keuchend inne, begann heftig zu röcheln, immer rasselnder, bis er mit zitternden Fingern die Flasche ergriff, ein Glas füllte, an die verdorrten Lippen setzte, den beißenden Rum schlürfte, als wäre er Wasser, und das Glas zurücksetzte, so hart, daß es klirrte. Die stechend funkelnden Augen auf Bork gerichtet, der reglos neben dem Webstuhl stand, den Blick wieder zum Fenster, vor dem die einbrechende Nacht die ersten violenfarbenen Schleier aufzuhängen begann, fuhr er fort: »Hab' Gott zu Hilfe geholt. Hab' ihm den großen Fluch vorgelesen, den Fluch Gottes aus dem fünften Buch Mosis, das die Gelehrten das Deuteronomium nennen. Hab' immer auf die Stunde gepaßt, in der nach seinen Geschäften mit dem Bürgermeister von Skagen der Amtmann in Madsens Hotel am Schanktisch stand, um seinen Burgunder zu trinken. Das erstemal, vor zwanzig Jahren, hat er nur die Zähne zusammengebissen und die Faust in den Bart gekrallt, der grau war wie Asche, und ist hinausgegangen, ohne den Wein auszutrinken. Das zweitemal hat er starr auf seiner Stelle gestanden, bis ich zu Ende war. Dann hat er höhnisch gelacht, so ungeheuerlich aufgelacht, daß der Lehm in der alten Gaststube von Madsens Hotel von den Wänden gebröckelt ist. Hat den Wein durch die Gurgel gejagt und ist aus der Stube gegangen mit dröhnenden Schritten. Als ich's zum drittenmal las, ihr zwei, ihr habt es gesehn, ihr habt es gehört, seine Knie haben geschlottert, seine Zähne haben geklappert. Er stand da, eine jammernde Kreatur, zusammengebellt von höllischen Hunden.«
Der Oberlotse verschnaufte und fuhr fort mit einer Stimme, die breit und gesättigt war von Triumph. »Dreimal bin ich in Jörring gewesen in diesem Winter mit Madsens Schlitten. Jedesmal hab' ich gesehn, wie er umherschlich in seinem Park, in dicke Pelze gewickelt, von seinem Diener begleitet, der ihn führte wie einen abgeschundenen, lahmgetriebenen, niedergebrochenen und mühselig wieder auf die Beine gestellten Gaul, den man zum Abdecker schleift.«
Er hielt inne und rang nach Atem. Es war fast dunkel geworden im Raum. Menschen und Möbel waren formlose Schemen. Auf den Fensterscheiben glomm letzter blauroter Schein. Bork war zum Fenster getreten, das zur Straße hinausführte. Geisterhaft über den Bänken wogte die Brandung. Ihr Rauschen klang dumpf durch den jaulenden Wind in die schwarze Stille der Stube. Kare hinter dem Tisch, zusammengekrochen im Winkel der Bank, hörte ein Knistern wie von dürrem, raschelndem Laub, es war der Brief, den der Greis aus der Tasche gerissen hatte und zwischen den dürren Fingern zusammenknüllte und nicht aufhörte zu drücken, als wollte er ihn zu Pulver verreiben. »Werde an seiner Tafel sitzen«, hörten die beiden Menschen sein verbissenes Murmeln, »Auge gegen Auge, Haß gegen Haß, Hohn gegen Hohn. Werden mit unseren Blicken einander zerfleischen, wenn wir uns zutrinken, und einer von beiden muß daran sterben.«
Da kam durch den Wind und das dunkle Brausen der See der Knall einer Peitsche. Der alte Jes horchte auf.
»Madsen!« sagte er breit, als setzte er mit diesem Wort einen Strich unter seine Geschichte.
Mühsam, mit hörbar knackenden Knochen, die Krücken zurechtstellend, wand er sich aus Kares Sessel und ging unsicher mit kurzen, schleifenden Schritten zur Tür.
»Könnten Licht machen, Herr.«
Bork schrak zusammen. Als die Lampe ihr dünnes Licht durch die Stube warf, sahen die beiden, wie der Oberlotse mit dem Rücken zur Tür stand, die rechte Hand auf dem Drücker, in der andern die Krücken. Sein Blick ging stier zur Erde. Draußen knallte die Peitsche. Er schien es nicht zu hören.
»Als er sein Weib erschlug«, sagte er grimmig, ohne den Blick von der Erde zu heben, »hat er mit ihr sein ganzes Geschlecht niedergeschlagen, dieses verfluchte Geschlecht, das von einem zum andern den Jähzorn vererbte. Ein Urahn erschlug im Zorn seinen Vater, der ihm das Weib weigerte, das er verlangte. Sein Vater hat im Zorn seine ganze Meute von mehr als hundert Hunden mit eigener Hand einen nach dem andern erschossen, weil einer von ihnen gewagt, nach seiner Hand zu beißen, als er die Stachelpeitsche nach ihm erhob. Und seines Vaters Vater hat zwei seiner Knechte an einem Baum in seinem Park aufhenken lassen, weil sie es fertiggebracht hatten, in die Suppe zu spucken, die der geizige Koch ihnen vorgesetzt hatte. Und der letzte, der Eike, der Amtmann in Jörring, erschlug im Jähzorn sein schwangeres Weib!«
Er drückte mit einem ächzenden Laut auf die Klinke. Knarrend drehte sich in den Angeln die Tür. Doch er ging nicht hinaus. Er stand in der schwarzen Öffnung hager und düster, wie ein auferstandener Toter vor dem Tor seiner Gruft. Seine Augen glommen wie Phosphor. Die krummen Hände über den Krücken schienen vermodernde Knochen. Seine Stimme kam unheimlich und hohl wie aus Verwesung. »Blut fließt in Blut von Kindern zu Kindern, von Enkeln zu Enkeln, Gutes und Böses. Das Böse soll man zermalmen oder sich selber ausrotten mit Stumpf und Stiel.«
Sein Blick blieb noch eine Weile starr in der Luft. Dann schlich er mit dunklem, unverständlichem Murmeln hinaus, vom Lichtschein der Lampe fahrig verfolgt.
Schweigend ging Bork ihm nach, ihm zu helfen.
Als er zurückkam, sah er, wie Kares Stirn auf der Tischplatte lag und ihre Hände, hart ineinandergerungen, das Haar zerdrückten. Er hörte sie schluchzen. Es war wie ein Stöhnen, das nicht aufhören wollte und ihren ganzen Körper erzittern machte. Der Mann wagte nicht, ihr nahe zu kommen, ihr die Hand auf die Schulter zu legen. Irgendein unbestimmtes, dunkles Gefühl hielt ihn zurück, das wie Angst, wie Hoffnungslosigkeit oder dumpf und unerklärlich ein Grauen vor unbegreifbar Kommendem war.
Schwer ging er zum Fenster, machte es auf und beugte sich weit in die harsche Kälte der brausenden Nacht. Um seinen Mund war ein Zucken, Wellenschlag aus dem nie zur Ruhe kommenden Meer der Schmerzen in seiner Brust.
Weit draußen donnerten unaufhörlich die Meere. Über den Sandbänken zersprang die Brandung mit tosendem Gischt. Aus den Schluchten des Ostens heulte der Wind. Unablässig rüttelten seine Fänge an den Pfosten des einsamen Hauses zwischen den Dünen.
Nachts wurde er wach von irgendeinem Geräusch, von dem er nicht zu entscheiden vermochte, ob es wirklich war oder erträumt. Ein erstes, schwaches Dämmern schwebte im Raum. Als er die Augen aufschlug, sah er neben sich Kare, die aufrecht im Bett saß, die Arme weit über die Decke gestreckt, mit gefalteten Händen, die Augen weit auf, dunkel, fast schwarz in der verdämmernden Nacht.
»Kare«, wollte er rufen, leise, um sie nicht zu erschrecken. Doch er blieb stumm, denn er selber erschrak, als er vernahm, wie sie zu murmeln begann. Er lauschte mit stockendem Atem und hörte die Worte: »Blut fließt in Blut.«
Es dauerte eine Weile, dann sah er, wie sie die Hände heranzog, sie aufmachte, ihr Gesicht neigte und aufschluchzend verbarg.
Schwer stieg eine Ahnung herauf, die ihn seltsam beglückte, und gleichzeitig, da ihr Schluchzen nicht aufhören wollte, eine Angst, namenlos und undeutbar, wie die Angst, die ihn befiel vor wenigen Stunden, als er Kare hinter dem Tisch sah, die Stirn hart auf dem Holz, und ihr Schluchzen vernahm.
»Warum weinst du, Kare?« fragte er weich und beugte sich ein wenig hinüber und hob behutsam die Hand. Doch er wagte keine Berührung.
»Laß mich, Just«, hörte er ihre Stimme, »ich kann es nicht sagen … nein, ich kann es nicht sagen.«
»Hast du Furcht?«
»Ja.«
»Wovor hast du Furcht, Kare?« fragte er bang und voll Ahnung.
Es kam keine Antwort. Er hörte, wie sich ihr Schluchzen verstärkte. Da legte er behutsam seine Hand auf die Decke über ihren heraufgezogenen Knien.
»Du darfst dich nicht fürchten, Kare«, sagte er gütig, »nein, nein, nicht fürchten.«
Wieder kam keine Antwort. Allmählich erstickte ihr Schluchzen in einem lautlosen Weinen.
Da ließ er sie los.
Schlaflos für beide verging die Nacht. Keiner sprach bis zum Morgen.
Er wollte nach Skagen, um Piet, den Knecht, zu holen und ein paar Leute zu bitten, sein Boot zu Wasser zu bringen, denn er hatte die Absicht, am nächsten Morgen die Segel zu setzen, zur ersten großen Frühlingsfahrt trotz hohen Seegangs, weit hinauf in die reichen Fischgründe, nördlich im Skagerrak. Es war alles bereit, das Boot in Trimm, die Segel in Ordnung, die Netze sauber und stark.
Während er ging, dachte er unaufhörlich an Kare. Warum, vor wem und vor was hatte sie Furcht? Gewaltsam drängte er schwere und dunkle Gedanken zurück. »Ich will sie mit meinen Armen umschlingen«, dachte er und biß die Zähne zusammen, »ich will ihren Mund küssen, bis ihre Augen erglänzen und strahlen von Hoffnung und kommendem Glück.«
Eine Minute lang blieb er stehen, den Blick geschlossen, die Hände flach über der klopfenden Brust. Nie, seit er in Skagen war, hatte sein Mund einen so unbeschwerten und weichen Ausdruck gehabt, war sein Gesicht so frei gewesen von Ecken, Kanten und harten Linien, als in dieser Minute.
Gegen Abend, als die Dämmerung aufzusteigen begann, kam er zurück. Sie stand beim Herd. Er ging zu ihr hin, grüßte mit einem leisen Wort, setzte sich auf die Bank unter dem Fenster und sah ihr zu. Sie legte Holz ins Feuer.
Ihr Gesicht war ernst und unbewegt, ein wenig gerötet von der aufsteigenden Wärme.
Bork spürte, sie mied seinen Blick. Endlich fragte er, leise und gütig:
»Kare … was ist …?«
Da hob sie ohne Erschrecken, als habe sie die Frage erwartet, den Kopf, sah ihn lange an mit dunkel vertieften Augen und sagte mit einer Traurigkeit, die den Mann bis zum letzten Grund seiner Seele ergriff:
»Just, ich trage ein Kind«, und leiser, ein wenig zaghaft, »ein Kind von dir.«
Da hob sich Bork von der Bank, ging rasch zu ihr hin, legte seine Arme fest um ihre erbebenden Schultern und sagte mit einer Stimme, die stark und froh war wie nie, und in den Augen einen ungewohnt leuchtenden Glanz:
»Kare, ich hab' es gefühlt, ich hab' es gewußt … und ich bin glücklich gewesen.«
Da schrak sie zusammen, ihr Gesicht wurde dunkel von einer jäh aufströmenden Welle tiefroten Blutes. Sie schlug ihre Arme um die Schultern des Mannes und barg auf seiner Brust ihr Gesicht.
»Just«, rief sie verzweifelt, »ich bin nicht wert, eine Mutter zu sein!«
»Kare«, rief er erschrocken, warf seine Hände um ihre Schläfen und hob ihr Gesicht zu sich auf. Lange blieb er unfähig zu sprechen, so sehr erschütterte ihn der zerbrochene Blick unter den halbgeschlossenen Lidern.
»Dein Kind wäscht dich rein!« rief er endlich, tief aus Mitleid und schmerzlichem Drang, ihr Herz zu erlösen und gläubig zu machen.
Sie sah ihn staunend an, sah die Inbrunst in seinem Blick und das Flehen um seinen Mund und fühlte, wie stark in seiner kranken Seele die Sehnsucht war. Doch sie blieb stumm.
»Auch ich, Kare, würde ein neuer Mensch«, hörte sie seine bebende Stimme.
»Kann Gott so gütig sein?« fragte sie bang aus tiefem Atem.
Bork schwieg betroffen. Um ihren Mund war Bitterkeit, in ihren Augen kein Glanz. Er hielt sie in seinen Armen, die innig ihre Schultern umschlossen. Endlich sagte er schmerzlich und ohne Hoffnung, ihr helfen zu können: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein, hat Jesus Christus den Menschen gesagt. Glaubst du, Gott, dessen Sohn er war, würfe den ersten?«
»Just!«
Es kam staunend, fragend, wie von einer schwachen Hoffnung getragen. Er sah in ihren Augen ein Erwachen von Licht. Eine Welle von Froheit ging um sein Herz.
»Ein Kind, Kare, ein Kind!« sagte er heiß, dicht über ihrem geöffneten Mund, »freuen mußt du dich, Kare!«
Sie schaute ihn zage an.
»Wenn du es sagst«, sprach sie unsicher, noch bang, »ja, Just, dann will ich mich freuen!«
»Kare!«
Er küßte sie lange und tief.
Als sie von ihm ging, sah er ein stilles, seltsam versonnenes Lächeln, das unbewußt schien und ganz nach innen gewendet.
»Mutter!« hörte er sie sagen. Es war nur ein Hauch. Doch er drang in sein Herz.
Mit weit nach Steuerbord weggefierter Gaffel jagte die Ingrid unter starkem westlichem Wind nach Nordost. Piet am Ruder schüttelte immer aufs neue den Kopf, wenn der breit sich aufschwingende Bug hoch- und niederstieg und die zerbrechende Dünung wirr schäumende Wellen über die Steven warf. Unwillkürlich mußte er lachen:
»Teufel! Fischfang bei so einer See!«
Zuweilen plierte er unruhig zu dem schweigsamen Mann hinüber, der breit und groß neben der knarrenden Gaffel stand, niemals ins Schwanken geriet, unablässig dem Boot vorausschaute und seit der Ausfahrt nicht ein einziges Wort gesprochen, obwohl sein Gesicht, als er ins Boot gestiegen war, einen ungewohnt klaren Ausdruck gehabt hatte und im Blick seiner Augen ein Leuchten gewesen war, wie er es nie bei diesem harten, fast immer finster dreinschauenden Manne gesehen.
Als sie gegen Mittag unweit der Skagerrakhöhe waren, auf der die Hochseefischer von Frederikshavn und Lasö ihre breiten und engmaschigen, mit Steinen beschwerten Netze an roten Bojen zehn Meter tief in das Wasser senkten, wenn im Frühling vom Norden her die gewaltigen Heringsschwärme herankamen, gab Bork, plötzlich sich umwendend, das kurze Kommando zum Auswerfen der Kurre. Piet gehorchte, verlaschte das Ruder und sprang heran. Kaum berührte das Netz die wirbelnde Oberfläche des wogenden Wassers, wurde es vom schweren Gang der See so heftig gerissen, daß die Leine sich straffte, steif und hart wurde wie Eisen, und das jagende Boot so schwer zu arbeiten hatte, daß in der nächsten Sekunde die knirschende Kurre zu reißen drohte.
»Hieven!« rief Bork und mußte schreien, so gewaltig brüllte die Luft um sie her.
Piet sprang zur Kurre. Während sie beide mit allen Kräften das widerspenstige Netz aus dem kochenden Strudel heraufzubringen versuchten und Ströme von Schweiß vergossen, schrie er, mit seiner hellen Stimme den Sturm übertönend, dem deutschen Kapitän ins Ohr: »Das ist wahr, Herr … in der Navigation alle Achtung, aber im Fischfang, so wahr ich Piet Struve heiße …«
Eine jäh aufspringende und dicht vor ihren Köpfen zerbrechende Woge schlug ihm das Wort von den Lippen. Unter dem gischtenden Wasser sah er plötzlich das heraufkommende Netz, prall gestrafft, schimmernd wie von den Leibern zahllos ineinandergedrängter Fische. Er wollte brüllen vor Staunen, doch in der nächsten Sekunde zerbarst das schwer an der Leine zerrende Netz. Die zerfetzten Maschen peitschten das kochende Wasser, und der schillernde Inhalt stürzte in die schwarze Tiefe zurück.
»Verdammt!« schrie der Knecht und taumelte, von der zerrenden Wucht des Netzes plötzlich befreit, rückwärts fast bis zur Backbordkante des Bootes. Sich an der Bank aufraffend, sah er, wie Bork den Oberkörper weit über die Reling gebeugt hatte, mit beiden Händen sich festklammerte und mit bleichem Gesicht und vorquellenden Augen ins Wasser stierte. Er sprang heran, packte den Kapitän bei den Schultern und schrie ihn an. Doch Bork hörte ihn nicht. Sein Körper riß sich weiter nach vorn und schien zu stürzen. Piet schrie und hielt ihn fest. Das Boot stampfte und schlingerte schwer. Wogen donnerten gegen den breiten, gerundeten Bug, das lange Gaffelsegel, prall zum Zerplatzen, knatterte in seinen Rändern von oben bis unten. Das Fockstagsegel riß wild an den klirrenden Ringen, es ächzte und schwirrte im Klüver.
Bork stöhnte. Sein brennend bohrender Blick ließ nicht ab von der Tiefe.
Den jungen Knecht befiel eine Angst. Mit beiden Fäusten schüttelte er die Schultern des Mannes, trat und stieß ihn mit seinen Füßen.
»Herr«, schrie er verzweifelt. »Das Boot bricht kaputt, wachen Sie auf, Herr!«
Mitten im Wühlen des Sturmes fiel ihm ein, was der Krämer Twist in den Schenken und Stuben den Leuten erzählte, daß dieser Kapitän aus Hamburg ein entsprungener Tollhäusler wäre und den Sparren hätte, auf dem alten Boot des Schiffers Theedens in den schwersten Stürmen den Teufel und Gott zu versuchen, und sich nicht scheute, vor dem Vater im Himmel und allen Menschen mit einer verworfenen Frauensperson zusammenzuleben, die ihren Mann an den Balken gebracht hätte. Ein Grauen packte ihn an.
»Herr«, schrie er wimmernd, »wachen Sie auf! Wachen Sie auf!«
Da reckte Bork schwer und langsam sich auf und schaute an Piet vorbei mit unheimlich und düster flackerndem Blick.
»Mensch«, fragte er stockend, »hast du im Netz die Leiche gesehn … die weiße Leiche von einem ertrunkenen Weib?«
Piet starrte ihn an.
»Nein, nein«, rief er entsetzt und wurde bleich. »Es war keine Leiche … es waren Fische, Schellfische und Kabeljau und wieder ein großer Dorsch … ich hab' es genau gesehn.«
Ohne den Kopf zu wenden, mit weiten, fast schwarzen Augen und zuckendem Mund, sagte Bork:
»Und es war doch eine Leiche … du hast es nur nicht erkannt.«
Da nickte der Knecht wie unter Zwang, gegen den er sich nicht zu wehren vermochte. »Ja«, sagte er bang, »jetzt glaub' ich es auch … vielleicht von dem schwedischen Dampfer, der vor drei Tagen im Skagerrak untergegangen ist.«
Frierend sah er dicht vor sich das starre und bleiche Gesicht. Er hörte ihn murmeln: »Wir müssen zurück.« Er erschrak, als Bork sich plötzlich erhob, aufgereckt dastand, steil und starr, und nicht schwankte im auf- und niedersteigenden Boot. Ein Kommando fiel so ehern und klar, daß Piets Angst verging, wie weggeblasen vom Stoß eines Windes.
Wie ein Pfeil schoß er zum Ruder.
Mit gewaltigem Griff seiner Fäuste warf Bork an den nassen und schweren Schotseilen das lange Gaffelsegel herum, das knatternd und flatternd gehorchte. Mit einem einzigen Satz, von Sturm und Wogen umdonnert, wie herumgeschleudert von der ungeheuerlich zupackenden Riesenfaust Gottes, sprang Borks Boot mit schäumendem Bug von Nordost fast bis nach Südwest. Es ging ein lautes Krachen durchs Ruder. Kaum vermochte Piet es zu halten. Ein Knacken und Knirschen kam von der Stelle mitten im Boot, in der mit Klammern und Haken der Mast eingebaut war. Schwer kämpfend gegen den tosenden West, steuerbord stark übergeneigt, fast bis zur Oberkante der Reling, lag die Ingrid viele Minuten lang, ohne vorwärts zu kommen, im neuen Kurs. Bork biß die Zähne zusammen. Unheimlich spürte er, daß unbekannte Kräfte aus der Richtung des Kattegatts übermächtig dabei waren, das verzweifelt arbeitende Boot abzudrängen nach Nord oder Nordost. Mit verdoppelter Wut schnob und heulte der Wind aus West. Im Ruder krachte und stöhnte das von den zerbrechenden Wogen unbarmherzig gepeitschte Holz. Piet ächzte. Seine Fäuste, die das irrsinnig gewordene Steuer zu bändigen suchten, begannen zu bluten. Ehe Bork das Fockstagsegel hinabzerren konnte, zersprang es mit heftigem Knall. Das Gaffelsegel, das er zu reffen versuchte, hakte sich fest und war nicht loszubekommen. Mit pfeifendem Reißen zersprang der Klüver. Seine Fetzen peitschten den Baum. Der alte, blau verblichene Flögel riß sich von der Spitze des Mastes und raste zersplissen durch die höllisch brüllende Luft. Unaufhaltsam ging es nach Nord, immer weiter und weiter nach Nord.
Keuchend, den Stamm mit beiden Armen umklammernd, hockte Bork neben dem Mast, unter dem es ächzte und knirschte, wie von splitterndem Holz.
Die Nacht kam herauf und machte die Wogen schwarz und ihre Kämme unheimlich bleich, so daß es war, als huschten gespenstische Schemen irrlichterhaft durch ein donnerndes Chaos, das Wasser, Wolken und Winde düster und schauervoll ineinander verschmolz. Ganz fern, ein blasser, gelblicher Punkt, das Feuer von Skagen.
Bork stierte unablässig hinüber.
»Ich muß zurück«, dachte er verzweifelt aus einer dumpfen, unerklärbaren Not. »Was tun? Was tun!«
Da stürzte in sein schmerzendes Hirn ein Gedanke. Angestrengt dachte er nach. Plötzlich riß er sich auf. Die Gaffel herunter! Mit übermenschlicher Kraft zerrte er mit beiden Fäusten an den Rändern des widerspenstigen Segels, bis es seinem zornigen Wüten endlich gelang, es bis zur Hälfte des Mastes zu reffen. Dann rief er schallend ein Kommando zum Ruder. Stöhnend, von brüllenden Wassern geschlagen, von der tückischen Strömung aus der Richtung des Kattegatts immer aufs neue gestoßen, wand sich das schwankende Boot schwerfällig herum, bis die Spitze des langen Klüverbaumes die Richtung nach Osten zeigte.
»Kommen wir heim?« fragte Piet bang.
»Ja!« entgegnete Bork. Seine Stimme klang hart.
Die Angst in Piet kam nicht zum Schweigen.
Mühselig, vom Westwind getrieben, fast ohne Segel, nur noch ein Stück von der Gaffel am Mast, schleppte sich Borks Boot wie ein abgearbeitetes und abgeschundenes Tier über Berg und Tal. Bald waren sie aus der Strömung heraus.
Endlich, nach einer langen, tatlosen Stunde, verlegte Bork den Kurs nach Süden, um mit schwer beschädigter, halbmast gereffter Gaffel und kielrecht gestelltem Ruder einen langen, fast endlosen Schlag zu versegeln, tief ins Kattegatt hinein, weit über die Insel Lasö hinaus, die ganze Nacht, bis kalt und mit mürrischem Grau über den Inseln der Morgen zu dämmern begann, dann nach West und endlich nach Norden die Küste entlang, und schließlich im Schutz von Land und Dünen an Frederikshavn vorbei nach Norden bis zu den Sandbänken von Skagen, über denen weiß schäumend die Brandung stand, gepeitscht von stürmenden Winden.
Von einer heimtückisch heranrollenden, bleichstirnigen Brandungswoge verfolgt und gestoßen, rannte Borks Boot so hart auf den Sand von Skagen, daß es in allen Fugen krachte und schrie, die beiden Männer vornüberstürzten und der Mast aus seiner Verlaschung gerissen, wie ein gefällter, von Zweigen und Ästen entblößter Baum, knirschend und splitternd nach vorn brach, den Steuerbordsteven zerschlug und aus der zertrümmerten Bugwand zwei lange Stücke schwarzen Holzes herausstieß.
»Teufel«, schrie Piet, richtete sich mühsam auf und rieb ächzend die anscheinend zerbrochene Schulter. Bork war gegen die Backbordkante gestürzt. Schwer, mit schmerzenden Gliedern erhob er sich. Sein Körper war wie zerschlagen nach dieser Nacht. Arme und Beine erschlafft, das Gehirn dumpf, wie gelähmt.
Piet stand schon draußen und knuffte mit der geballten Rechten die linke Schulter. »Ich will nicht Piet Struve heißen«, murmelte er aus zusammengebissenen Zähnen, »wenn die nicht kaputt ist«, um gleich darauf laut lachend zu brüllen: »Nicht zerbrochen, Herr! Ende gut, alles gut!«
Da sah er, wie Bork regungslos steuerbord neben dem Boot stand und unverwandt zu den beiden schwarzen Holzsparren blickte, die abgesplittert noch in der zertrümmerten Reling hingen, wie er schwerfällig sich in Bewegung setzte, langsam zum Steven ging, das lange und schwarze Stück Holz herauszog, das weiß den Namen Ingrid trug, sich umwandte und mit vorgebeugten Schultern den Strand hinaufschritt, den schwarzen Sparren in der schlaff niederhängenden Hand.
Belastet mit dem Rest des zerfetzten Netzes stampfte Piet hinter ihm her.
Der Strand war leer. In der langen, dunklen Reihe der Boote fehlte nicht eines. Keines war ausgefahren gestern und heute.
Düster jagten die Wolken, im fauchenden West den frühen Morgen verfinsternd.
»Als wär' es noch Nacht«, rief Pitt, als vom Uhrturm der kleinen Kirche von Skagen zehn schwache Schläge herüberklangen.
Bald kamen sie in die Nähe der Straße. Zwischen den nackten Dünen lag dunkel und einsam das schwarze Haus. Über das flache Dach hinweg flogen Sandschleier wie Schwaden blaßgrauen Nebels.
»Es steigt kein Rauch aus dem Schornstein«, dachte Bork, dessen unruhiger Blick unablässig dem Haus zugekehrt war. Er blieb stehen. »Kare? War Kare krank? Schlief sie noch? War sie weggegangen, zu ihren Verwandten im Leuchtturm, weil sie die Nacht gefürchtet hatte, die einsame Nacht?« Die Unruhe in ihm wurde stärker. Er entsann sich, wie sonderbar sie gewesen war, gestern früh, als er schon Abschied genommen und dabei war, das Haus zu verlassen. Sie war ihm nachgeeilt, hatte ihn festgehalten, ihn mit beiden Armen umschlungen und seinen Mund mit einem langen und tiefen Kuß bedeckt, so inbrünstig und heiß, daß er bis ins innerste Blut das Zucken ihrer Lippen verspürte. »Sie denkt an das Kind«, hatte er in innerster Seele gedacht, »die Mutter denkt an ihr Kind.« Er hatte sie wieder geküßt und war von ihr gegangen mit einer Helligkeit in der Brust, die sich ausbreitete und seinen ganzen Körper durchdrang.
An Piet vorbei, der rasch weitergestampft war, um plötzlich gleichfalls stehenzubleiben, sah er, nur noch hundert Schritt vom Hause entfernt, wie die Tür aufgemacht wurde und ein Mann heraustrat, ein langbeiniger Mensch, der eilig zu laufen begann, in der Richtung nach Skagen. Es war Twist, der Krämer.
Bork schrak zusammen.
Dumpf ging es durch sein Gehirn: »Ein Weib wirst du dir vertrauen, aber ein anderer wird bei ihr schlafen.«
»Halt!« rief er mit einer Stimme, die hinrollte wie Donner.
Der Krämer blieb stehn, wie von einem Schlag in den Boden gebannt. Nach wenigen Sekunden standen sie dicht voreinander, Auge in Auge. Es war nicht weit vom Haus. Neben ihnen wölbte sich der bleiche, nackte Leib einer Düne in die graue, fast schwarze Luft.
»Mensch«, fragte Bork, »was hast du getan in meinem Haus?«
Seine Hände hingen nach unten, die linke krampfhaft geballt, in der rechten das lange, schwarze, zersplissene Scheit aus dem Steven des gestrandeten Boots. Das Gesicht des Krämers war bleich, unmenschlich verzerrt. Die Augen waren geschwollen und traten aus ihren Höhlen. Durch seinen hageren Körper ging unablässig ein Schlottern. Sein dünner Mund, leer von Blut, war bläulichweiß wie Kalk. Er brachte kein Wort heraus.
»Mensch«, kam es zum zweitenmal finster und drohend, »was hast du getan in meinem Haus?«
Dem Knecht, der herangekommen war, das zerrissene Netz über der Schulter, erfror das Blut in den Adern.
»Die Frau … Herr … die Frau …«, stammelte unsicher der Krämer, »die Witwe Taneeren …« Er stockte.
Borks Gesicht kam näher heran.
»Was ist mit der Frau?« fragte er zornig und zerdrückte mit übermenschlicher Kraft eine Angst, die ungeheuerlich aufsteigen wollte.
»Liegt tot im Bett … sie hat sich die Ader zerschnitten.«
»Mensch!« murmelte Piet und wurde bleich.
In Borks Adern stockte das Leben. Sein Blick erfror, sein Gesicht zerfiel und wurde grau wie Erde.
»Tot … die Ader zerschnitten …«
Er sprach es nicht aus. Sein Mund war wie Stein. Wie schwarze Blöcke wälzten sich die Worte durch die Erstarrung seines Gehirns.
Plötzlich fiel es wie ein Blitz über ihn hin. Aufrasend vor Zorn, schleuderte er die freie Hand gegen die Brust des entsetzt zurücktaumelnden Mannes. Sie verkrampfte sich eisern im Rock.
»Mann«, schrie er ihn an, und vor seinen bebenden Mund trat Schaum, »Mann … was hast du von ihr gewollt?«
Der Krämer bog sich zurück.
»Ich wollte von ihr«, keuchte er heiser, »den Mietzins holen, den sie mir schuldig war. Aber sie war schon tot.«
Bork ließ ihn nicht los.
»Schurke … beichte, was hast du gewollt …?«
Mit einer gewaltigen Anstrengung riß der Krämer sich los.
Sie standen nun zwei Schritt voneinander, beide die Schultern nach vorn, die Köpfe gereckt, die Blicke verkettet in einem furchtbaren, unheilvollen Ringen um Leben und Tod. Piet wollte schreien, doch die Kehle versagte. Er stand wie aus Stein, erfroren vor Schauder und Angst.
Da ging es wie Hohn satanisch über des Krämers gemeines Gesicht. Die leichenblassen Lippen böse gekrümmt; im Blick ein grünes, giftiges Funkeln von Haß.
»Herr … ist sie dein Weib, daß du ein Recht hast, einen andern zu fragen: Was hast du gewollt?«
Es lief kein Erzittern durch Borks Leib. Es kam kein Schrei aus der Kehle. Der eisern gewordene Mund regte sich nicht. Nur in den Augen stand düster ein Brand, unheilvoll aus der Tiefe, wie dunkel und drohend lohende Glut im Abgrund eines Vulkans. In der rechten, nach unten hängenden Hand spürte er eine Schwere, als trüge sie einen Klumpen aus Blei.
Vor ihm versank die Erde, versank das wogende Meer, versank die graue Asche des Himmels, versank das Haus zwischen den Dünen. Nur eine Fratze blieb da, Zerrbild eines Menschengesichts, triefend von Hohn wie von stinkendem Blut.
Da kam ein Stöhnen. Da brach ein schwarzes Scheit durch die Luft. Ein dumpfes Krachen erscholl. Der Krämer Twist stürzte zusammen. Knirschend unter seinem Körper entwich der Sand.
Piet rannte mit gellendem Schrei und aufgehobenen Armen wie besessen davon. Das zerrissene Netz entflog seinen Schultern.
Bork, tief nach vorn gebeugt, das Kinn auf der Brust, schritt schwer die Straße entlang an den nackten, todbleichen Dünen vorbei. Sein Haar über den Schläfen, eben noch dunkel, war weiß wie Schnee. Die Arme hingen steil nach unten. Eiskalt und starr umgriff die rechte Hand ein schwarzes Scheit. Das Ende, rot von Blut, schleifte den tiefen und zähen Sand.
Fast eine Stunde lang, in der kein Glied seines Körpers sich regte, stand Bork zu Kares Füßen. Sie lag auf dem schmalen und niedrigen Bett, das sie aus ihrem Hausrat mitgebracht hatte und an der Wand des Mittelraumes stand. Mattweiß wie Elfenbein glomm ihr Gesicht zu ihm auf, die Augen unheimlich geöffnet, glanzlos und grau wie erkaltete Asche, der bleiche Mund friedlos und traurig, als sei er erfroren in Weh, das selbst der Tod nicht hatte wegnehmen können. Christrosenweiß hing matt die Hand nach unten, dicht über dem dunklen Rot vergossenen Bluts. Borks Blick kam nicht los von diesem Gesicht, nicht los von ihrem unsäglich friedlosen Mund. Hatte dieser Mund nicht gesprochen in einer schweren bangen Nacht: Blut fließt in Blut …? Waren von diesen armen, erkalteten Lippen nicht die Worte gefallen: Ich bin nicht wert, eine Mutter zu sein?
Quälend, jeden andern Gedanken zermalmend, wand es sich durch sein Hirn: »Ich habe sie zur Mutter gemacht … die Mutter ist tot, das Kind in ihrem Schoß ist tot … großer Gott … trag' ich auch dieses!«
Er stöhnte, hob die Fäuste und drückte sie hart in die schwarzen Höhlen der schmerzenden Augen.
»Warum, Gott, hat dein Sturm mich nicht weggerissen, warum schlugst du mich nicht hinab bis zur untersten Tiefe, wo ewig Frieden und Finsternis ist?«
Es dauerte lange, bis das Stöhnen in seiner Brust erstarb. Sein Gesicht war bleich, mit hohlen Augen, gleich einer Totenmaske. In seiner Brust war Finsternis. Der dumpfe Schlag seines Herzens verhallte im Tosen des Windes, der die Wände des einsamen Hauses umschlug, wie mit Gottes zorniger Faust.
Er senkte tief den Kopf. Eine Weile noch stand er ohne Bewegung, groß, breit, umhüllt von Dämmerung, ein formloser Schemen, kein Mensch mehr, erbarmungslos ausgelöscht aus dem Lichtkreis des Lebens, wehrlose Beute unerbittlichen Schicksals.
Schwerfällig setzte er sich in Bewegung und tat zwei langsame Schritte nach vorn. Doch er blieb stehen, denn Kares großer, erstarrter Blick hielt ihn fest. Schwer trat er hin, hob mühsam die bleierne Hand und zog mit eiskalten Fingern, kaum daß er es wußte, die Lider darüber. Es war, da nun die toten Augen geschlossen, als glätteten sich die blassen, gramvollen Lippen zu einem wundersamen Ausdruck von Ruhe und Frieden. Bork sah es. Eine Weile noch blieb er stehn, erschüttert tief im Abgrund der Seele. Dann schritt er schleppend zur Tür. Ohne daß er es wußte, schob er den Riegel zurück. Von Windböen heulend gepeitscht, umschritt er das Haus. Die schweren Seemannsstiefel zerstampften den Sand. Der schwarze Südwester hing tief in der Stirn. Das lange Ölzeug preßte sich hart um den Leib. Er verschwand in den Dünen.
Wenige Minuten später bog eine Schar laufender Menschen um die Wegbiegung der Straße. Es waren Leute aus Skagen. Fischer und Schiffer, Strandwächter, der Gendarm und ein Schreiber vom Amt, aufgescheucht von den Schreckensrufen des Knechtes. Sie rannten mit dem stürmenden Wind, die Röcke wirbelten und flogen um ihre Leiber, als wären sie zerlumpt und zerfetzt. Hinter ihnen her keuchte der Schiffer Theedens, die langen, grauen Haare wirr und unbedeckt.
Entsetzt machten sie halt vor dem Toten und sahen auf seiner Stirn und im Sand das rote, geronnene Blut. Schweigend standen sie lange und stierten finster hinab auf den steif daliegenden Mann, um den nicht einer eine Träne vergoß und kein einziger eine Miene verzog. Der Schiffer Theedens, der ächzend herangekommen war, beugte den mageren Körper nach vorn, starrte in das tote, von eingefrorenem Haß grauenhaft entstellte Gesicht und murmelte dumpf vor sich hin:
»Den hat nicht der fremde Fischer erschlagen … dem hat Gott selber in seinem Zorn den Schädel zerschmettert.«
Die ihn umstanden, den Blick schwer zum Toten, nickten und schwiegen.
Ziellos trieb Bork im Meer der Dünen, ein Wrack im Sturm, ohne Mast, ohne Steuer, der Kompaß ins Wasser geschleudert, das Heck zertrümmert, hilflos den Wellen preisgegeben, die aufrasten und niederbrachen und wilden Schaum verspritzten, gestoßen und gezerrt vom Wind, der wüst aus schwarzen Wolkenschluchten brach. Grauenvoller als die kochende See wogte und schäumte vor dem irrenden Mann das sturmgepeitschte Meer der nackten Dünen. Unheimliche Öde aus Klüften und Schründen und steilen Tälern starrte ihn an. Heulend stieß der Wind in die Gipfel, entriß ihnen Fetzen fahlweißen Sandes und jagte sie dem keuchenden Mann stechend und beißend in das versteinte Gesicht, in dem die blauen Lippen lagen wie ein dünner, gekrümmter Strich und die Augen aufstanden in einer dunklen, unirdischen Glut, brennend vom Sand, der die Hornhaut zerbiß.
Düne an Düne, rauchend vom Nebelstaub aufgewirbelten Sandes. Wüste, durch die das Grauen finstert, Totenacker verscharrter Titanen, Gräberhügel, die erbeben und bersten … Tote steigen herauf … wehende Leichentücher um modernde Knochen … gespenstisch schwankend und dunstig zerfließend in der windheulenden Luft.
Durch alle Glieder des schwer hinstampfenden Mannes ging ein Erschaudern. Eine Minute lang blieb er stehen, die frierenden Augen geschlossen.
Mühselig stampfte er weiter.
Immer tiefer, immer lockerer wurde der Sand. Wie von unsichtbaren Schaufeln dem Boden entrissen, schwang er sich auf und flog und jagte, den Himmel verfinsternd, in langen, wildwehenden Schwaden davon. Sand, rasender Sand. Er drang in die Schäfte der kniehohen Stiefel, fegte durch die Ärmel des Rockes bis zu den Höhlen der Achseln, rann beißend den nackten Rücken hinab, fuhr in die Ohren und machte sie taub.
Weiter, weiter! Wohin, wohin? Er wußte es nicht.
Ein Sturmstoß, gegen den er nicht ankommen konnte, brachte ihn plötzlich zum Stehen. Eine Woge quirlenden Sandes, dem Scheitel einer Düne entbrechend, stürzte ihm fauchend entgegen, warf ihn herum, peitschte den Nacken, raste an ihm vorbei wie stechender Nebel, zerrte den breiten Südwester vom Kopf und riß ihn mit sich wie einen großen, nachtschwarzen, wildflatternden Vogel. Starr ging sein Blick den Weg zurück, den er mit keuchendem Atem heraufgestampft war, eine lange, glatte, spurenlose und ebene Fläche unheimlich rinnenden Sandes, nirgends ein Abdruck seiner schweren, eisenbeschlagenen Stiefel.
»Weg für Verbrecher«, dachte er dumpf mit grausamem Hohn, »Gott selber verwischt ihre Spuren.«
Mit gewaltigem Ruck gegen den andonnernden Wind warf Bork sich herum, weiter, weiter, hügelab, hügelauf, ein Mensch auf der Flucht, wiehernd verfolgt von Gespenstern wie von Dämonen der Hölle, die ihn mit giftigem Eifer bespien.
Plötzlich machte er halt auf dem Scheitel einer Düne, die höher war als die anderen. Irr sah er sich um. Vor ihm, unter düster und schwerleibig jagenden Wolken, die bleiche, dampfende Wüste endlos gedehnt, grauenvoll im pfeifenden Tönen des Windes und dem unheimlich dumpfen Knirschen des unaufhörlich strömenden Sandes. Kein Haus, kein Mensch, kein Strauch, kein Baum, keine Blume, kein Halm. Der Mann auf dem Gipfel wandte sich weg und sah im Osten und Norden und Westen die Meere, die ungeheuerlich rasten, mit schwarzen Bergen, die aufsprangen aus klaffend aufgerissenen Schlünden der Finsternis, weiße, berstende Wolken zum Himmel hinaufwarfen, der grau und bleiern niederhing, als wollte er alles zermalmen, was unter ihm raste, donnerte, brüllte und schrie, Dünen und Meer. Chaos aus dem Anfang des Alls, da Gottes Stimme noch nicht ertönte über den wühlenden Wassern und der nackten, steinernen Wüste der Erde.
In den Adern des vereinsamten Mannes stockte das Blut und gerann. »Ich bin nicht mehr auf der Erde«, wälzte es sich durch sein Hirn, »ich bin verbannt auf einen fremden Stern, auf dem das Chaos noch herrscht und Gras und Tier und Mensch noch nicht geboren sind.«
Vom Wind gepackt, geriet er ins Schwanken. Taumelnd, mit um sich greifenden Armen, kam er den steilen Abhang hinab und blieb stehen, wie von unsichtbaren, unwiderstehlich zwingenden Händen gehemmt und gehalten. Nach langen Minuten, oder nach Stunden, er wußte es nicht, entdeckte der regungslos dastehende Mensch, daß sein hinabstarrender Blick um einen Halm geklammert war, der aus dem flutenden Sand einsam und dürftig heraufwuchs, mit schmalen und langen Blättern, mit dürrer und tauber Ähre und immer kleiner wurde im weißen Sand, der stieg und stieg, unendlich langsam, und die spitzen Blätter verschlang, bis auch die Ähre verschwunden und nichts mehr da war als eine glimmende Woge von Sand, die unheimlich zu schwellen schien, aus unsichtbaren Rinnsalen unaufhörlich genährt.
Plötzlich erkannte der Mann, daß er selber fast bis zu den Knien im Sande stak, der zusehends wuchs, Stück um Stück, über die Kniescheibe hinweg und kriechend die Schenkel hinauf, wie Wasser um ein leck gewordenes, untergehendes Schiff.
Er stierte hinab. Sein Gesicht blieb unbewegt und hart wie Eisen. In ihren Höhlen eingefroren lagen die Augen wie Kugeln aus Stein.
»Sand, Sand … Baut um einen Toten ein Grab …«
Es war kein Grauen, das ihn befiel, dumpf ein Staunen, grausam, fast höhnisch.
Wie er heraufkam, der Sand … bleich wie Leinen, schleichend, tückisch, unablässig ein Knirschen wie von mahlenden Zähnen. Er hörte es nicht, denn der Wind um ihn her schrie gellend wie Stimmen von Geiern, die heiser waren und hungrig nach verwesendem Aas, und aus der Ferne schwer und dunkel das Tönen rollenden Donners von den Schlachtfeldern der Meere. Er fühlte fast ohne Bewußtsein, wie der heraufkriechende Sand die Fingerspitzen berührte, und über die Hände hinschwoll wie Schaum, der höher und höher stieg, die steif hängenden Arme hinauf, über die Brust hinweg fast bis zum Hals.
Plötzlich fuhr es durch sein Gehirn wie der Schlag eines Blitzes: »Ich habe einen Menschen ermordet … Der Sand … der schleichende Sand darf nicht mein Totengräber sein … verflucht der Sand, der unter Gottes Donner einen Mörder feig und verschwiegen verscharrt!« Eine halbe Minute noch starrte er über das weiße, schwellende Meer, das schon das Kinn berührte. Dann riß er plötzlich die Arme herauf, schlug sie umher und begann wild zu kämpfen. Die Hände gruben und gruben. Mit gekrümmten Knien bäumte sein Körper sich grimmig gegen den zähen und breiigen Sand, der sich zornig zu wehren schien und endlich unter dem übermächtigen Druck ächzend entwich. Keuchend, Schweiß auf der Stirn, mit mühsam befreiten, wie aus schwerflüssigem Blei heraufgezogenen Knien kroch er empor, wie ein zum Leben erstandener Toter aus der mit eigenen Händen aufgebrochenen Gruft.
Die Nacht kam herauf, mit ihr entschlief der Wind.
Nach langem, mühseligem Wandern stand Bork am Rande einer breiten, von Wagenspuren und Pferdehufen gezeichneten Straße. Aus der wogenden Kimmung der Nordsee war rund, groß und triefend gelb der Mond aufgestiegen, hatte sein weiches, glimmendes Licht über das ruhelos schwankende Meer gespült, über die flachen Dünen des Strandes hinweg bis zu den Füßen des einsamen Mannes, der unschlüssig dastand, ob er nach rechts schreiten sollte oder nach links. Der Mond stieg höher und höher, wurde kleiner und weiß und lag bald im wolkenbefreiten Himmel, darin die Sterne erwachten, aufstrahlten und funkelnd sich spiegelten im Blick des Mannes, der hinaufschaute, staunend, als sähe er, aus ewiger Finsternis tauchend, zum erstenmal Sterne. Über sein hartes Gesicht breitete Stille sich aus, die alle Falten verwischte. Es war kein Sturm mehr in seiner Brust, kein Sturm in der Luft um ihn her. Nur noch ein Tönen war da, wie Klang aus unendlichen Sphären und das dunkle, schwermütige Rauschen der See, die müde nach rasenden Kämpfen den Frieden begehrte.
Plötzlich horchte er auf. Klangen irgendwo Glocken? Er lauschte. Nein, kein Klang von Glocken, ein fernes helles Geklingel wie Schellengeläut.
Er hörte, wie mit knirschend mahlenden Rädern und stampfenden Hufen ein Wagen den breiten Sandweg heraufkam. Er blickte auf, als eine heisere, heftig erstaunte Stimme ihn traf.
»Hallo, Kapitän Bork!«
Bork gab keine Antwort. Ohne Verwunderung, ihn so unvermittelt zu sehen, erkannte er im schwer heranmahlenden Wagen den Oberlotsen Jes Nielsen, der sich mit Hilfe der Krücken aus seinem Ecksitz emporgereckt hatte, dem Knecht auf dem Führerbock ein lautes, aufgeregtes »Stopp« zugerufen und nun mit weit aufgerissenen Äuglein den Mann anstierte, der reglos am Wegrand stand, scharf beleuchtet vom höher gestiegenen Mond, über und über bedeckt mit fahl glimmendem Staub, Sand im zerwühlten Haar, Sand in den Taschen des aufgerissenen hängenden Rockes und Sand in den hohen Schäften der Stiefel.
Als sei er locker geworden, wackelte zwischen den spitzigen Schultern der uralte Kopf.
»Mensch … was stehst du da?«
Das Staunen, das sich verstärkte, machte seine brüchige Stimme dunkel und hohl.
»Mensch, Mensch«, wiederholte der Greis, »was stehst du hier … was hast du für Augen?«
Da Bork noch immer schwieg, stieß er zweimal mit seinen Krücken heftig auf den Holzboden des Wagens.
»Steig ein«, rief er unwirsch, fast zornig. »Man friert, wenn man nicht fährt.«
Schweigend, Blick und Gesicht unverändert, bestieg Bork den Wagen, setzte sich in den Rücksitz neben den Oberlotsen, der sich in seiner Ecke zurechtrückte und das breite, weiße, dickwollige Schaffell, das von den Knien gerutscht war, mit fröstelnden Fingern heraufzog bis über die Brust, aus der es beim Atmen sonderbar pfiff.
Das schwere dänische Pferd, dampfend von Schweiß, setzte sich langsam in Gang.
»Ich habe den Krämer Twist erschlagen«, hörte plötzlich der Oberlotse die schwere, dunkel tönende Stimme des Mannes, der aufgereckt neben ihm saß, mit großem, ungewohnt glänzendem Blick an dem Kutscher vorbei in die mondlichte Nacht schaute, in der am Rande des Weges mit winternacktem Geäst schmächtige, vom ewigen Wind schräg gewachsene Bäume standen, im lichten Dunst wie lange, schief in den Erdboden gesteckte Besen.
Der Oberlotse schwieg eine Weile. Dann sagte er heiser, ohne sich in seinem Schaffell zu rühren: »Ich weiß, ich weiß. Einer aus Skagen brachte die Nachricht, als wir zu speisen begannen.« Mit kleinen Augen blickte er schief zu Bork. »Auch die Taneeren ist tot … und das Kind, das sie trug.«
Als keine Antwort kam, fragte er kurz: »Geflüchtet?«
Borks Stirn zog sich finster zusammen.
»Ja …«, sagte er schwer, »vor dem Grauen. Doch nicht vor den Toten.« Und dann, nach einem Atemzug tief aus der Brust, den Blick starr geradeaus, mit einer klaren und entschlossenen Stimme: »Und nicht vor dem Richter.«
»Soso.«
Der Oberlotse starrte an Borks bleichem Gesicht vorbei und sagte plötzlich, scharf, mit heftig röchelndem Atem: »Auch der Amtmann ist tot. Gift genommen, als er uns zutrank am Ende der Tafel. Hat sich, weiß Gott, einen guten Abgang verschafft. Da sehn Sie«, er zog mit einem kurzen, unheimlichen Lachen die Hand aus dem Fell, »ihm zu Ehren halbmast geflaggt.«
Bork sah, wie um den Peitschenstiel, der lang über der Schulter des Fahrers hing, in der Mitte mit einem Schifferknoten das lange, schwarze Seidentuch angebracht war, das der Oberlotse bei festlichen Anlässen oder Begräbnissen um den verdorrten Hals zu binden pflegte.
Bork spürte ein Frösteln. Er sprach kein Wort. Eine lange Zeit blieben seine Augen geschlossen.
»Vier Tote«, murmelte Nielsen, den Blick starr zu Boden. »Die Schuldigen sterben … die Unschuldigen sterben … doch der Tod macht sie nicht gleich.«
Es war, als verzerrte sich plötzlich der alte, vertrocknete Mund zu einem bösen, triumphierenden Zug. Ein Röcheln aus der kranken Brust wischte ihn weg. Mit rasselndem Atem kroch er sich tiefer in seine Ecke und zog das Schaffell frierend bis über den hageren Hals, in dem es nicht aufhören wollte zu ächzen.
Keiner sprach mehr ein Wort.
Hoch über ihnen, fast lotrecht über den Köpfen, stand klein und weiß der runde Mond. Im weiten Lichthof, der ihn umgab, erstickten die Sterne. Dumpf zerstampften die Hufe des Pferdes den Sand, der zornig aufknirschte unter den großen, breitspurigen, eisenbeschlagenen Rädern. Unter der licht schleiernden Luft, in der kein Windhauch mehr war, schliefen die Dünen. Es wehte kein Rauch mehr aus ihren Scheiteln. Sie lagen bleich und erstarrt, wie die toten Leiber von Riesen, die nicht mehr sich bäumen, die nicht mehr atmen.
Als sie Skagen erreichten, brannte kein Licht mehr hinter den schmalen Fenstern der kleinen Häuser. Kein Mensch war zu sehn. Nur über der Tür von Madsens Hotel glomm schwach eine Laterne. Als sie anhielten vor Nielsens niedrigem Haus und das ermüdete Pferd heftig zu schnaufen begann, flog eine Eule auf und zog mit lautem Gekrächz und schwerem Flügelschlag schwarz durch die stille, mondliche Nacht.
»Sie werden noch einen Punsch mit mir trinken, sollen hören, wie es zu Ende gegangen ist mit dem Amtmann Eike von Olafsborg«, sagte der Oberlotse, als er mit beiden Krücken krumm unter der engen Haustür stand, forschend den Mann betrachtend, der unschlüssig und schweigend dem Wagen nachblickte, der langsam die Straße querte und durch die Einfahrt von Madsens Hotel mit polterndem Rollen verschwand.
Sie betraten hintereinander das Haus. Der Greis machte Licht. Eine halbe Minute später saß er verkrümmt im Winkel des breiten Sofas, über ihm an der Wand das tiefblaue Schraubengehörn der Himalajaziege, das mit seinen zierlich verschnörkelten Spitzen die altersschwarze Plankendecke berührte.
Mit dürrer Hand zeigte er auf den Schrank in der Ecke, auf dessen vorspringendem Sims Bork in buntem Durcheinander Flaschen und Gläser erkannte.
»Bitte, schenken Sie ein. Meine Finger sind steif von der kalten Fahrt durch die Nacht.«
Während Bork einfüllte, horchte der Oberlotse zur Tür.
»Die Thode schläft. Wir dürfen sprechen, solange wir wollen. Der stärkste Mann«, fügte er grinsend hinzu, »bringt sie nicht aus dem Schlaf vor früh um sechs!«
Er griff zum Glas, das Bork ihm hingeschoben, schlürfte hastig das schwere und süße Getränk, das weich über Zunge und Gaumen glitt, ließ sich ein zweites geben, ohne zu merken, das sein Gast nicht mit ihm trank. Sobald er das Glas beiseite gestellt und mit dem dünnbehaarten Rücken der Hand die Lippen abgewischt hatte, begann er zu reden, rasch, heiß, röchelnd, tief in die Sofaecke gekauert, die dürren Finger über den spitzigen Knien. Unaufhörlich vibrierte die über den Knochen vertrocknete Haut seines Gesichtes. Sein Blick ging unstet umher, bald stier zu Boden, bald funkelnd ins Weite, bald stechend zu Bork, der, an den Eckschrank gelehnt, unbewegt lauschte.
»Ging feudal bei ihm her«, sagte er mit einem kurzen, grimmigen Lachen. »Herrliche Tafel! Goldbutt und Fladstrandaustern, Renntierbraten und Limfjordschnepfen und Früchte und Wein und Punsch, und er selbst an der Spitze und ließ sich feiern. Hatte die Ehre, zu seiner Rechten zu sitzen, ich, der Oberlotse Jes Nielsen. Der Pfarrer hielt eine Rede, wie der Herr Amtmann Eike von Olafsborg mehr als sechzig Jahre lang sein Amt geführt habe, in Güte und Gerechtigkeit, zum Segen des Volkes, zum Segen seines wohledlen Hauses. Hätt' stets das Böse erkannt und bestraft und das Gute gerühmt und belohnt. Ein Mann nach dem Herzen Gottes, rief er zuletzt, und alle, die da waren, schrien und winkten. Er selber mit geschlossenen Augen im hohen Stuhl, keine Muskel zuckte in seinem Gesicht. Die Hände wie weiße Knochen im langen Bart.«
Der Oberlotse verschnaufte eine Viertelminute, schlürfte ein halbes Glas Punsch, dann fuhr er fort mit verzerrtem Mund:
»Und während die Menschen rings um den Tisch noch Skol und Vivat schrien und nicht aufhörten damit, griff der Amtmann nach einem Pokal, aus dem er seit Anfang der Tafel keinen Tropfen getrunken. Er streckt ihn dicht zu mir hin, beugt den Kopf über den Tisch und sagt mit einer schauerlich klingenden, höhnischen Stimme: ›Jes Nielsen … ich trinke dir vor!‹ Da hob ich mein Glas und sprach höhnisch wie er: ›Eike von Olafsborg … ich trinke dir nach.‹ Dann tranken wir beide und zerfraßen einander dabei mit den Augen. Plötzlich setzte er den Pokal aus der Hand, und in der gleichen Sekunde zuckte sein Körper so ungeheuerlich auf, wie ich nur einmal in einer Straße in Frisko einen Menschen habe zusammenzucken gesehen, auf den der zerrißene Draht einer elektrischen Leitung herabgestürzt war, gleich einem Blitz. Dann brach er in sich zusammen und erstarrte zu Stein in der nächsten Sekunde. Da verstummten die Menschen, da schrie der Pastor: ›Der Schlag hat den Amtmann getroffen!‹ ›Tot!‹ schrie ein anderer. Da erbleichten sie alle und schlichen hinaus, die Männer, die Weiber, der Pastor, der Lehrer, die Leute vom Amt, die Knechte und Mägde, bleich wie Gespenster, die Blicke verstört und die Lippen erstarrt.«
Röchelnd beugte der Oberlotse sich vor. Sein Blick ging stier nach unten, schien in abgrundlosen Schlünden zu bohren.
»War allein mit ihm. Sein Kopf lag im Nacken. Sein Mund stand auf wie im Krampf, umwittert von gelbem Schaum. Beugte mich hin und horchte. Kein Atemzug mehr. Ja, er war tot! Wollte die Augen ihm zudrücken, glotzten mich an, daß ich es ließ. Roch an seinem Pokal, roch nach dem Gift, dem Kurare, verdammt, es roch süß. Packt mich höllisch die Lust, den Rest durch die eigene Gurgel zu jagen, aber bei Gott, mich faßte ein Schaudern, und ich schmiß den Pokal an die Erde, daß er zerbarst.«
Der Oberlotse verstummte. Sein greisenhaftes Gesicht, triefend von Schweiß, von hektischer Röte befleckt, zerfiel zu einer Grimasse. Seine knöcherne Hand machte mit steif ausgestrecktem Zeigefinger sonderbare Bewegungen über den Tisch, kurze, gerade, abgebrochene Striche.
»Aus, aus!« kam es zischend aus den Lücken der Zähne, und Speichel floß aus den herabgezogenen Winkeln des Mundes, und die Grimasse wurde zur Fratze. »Strich unter die ganze Geschichte, Strich, Strich, Strich, aus, aus! Sechzig Jahre hat sie gedauert, das Hirn gezwickt, die Seele gezwackt und aus dem Herzen, verdammt, eine Folterkammer gemacht.«
Er fuhr noch einmal mit dem Finger lang und heftig über den Tisch, als sei die endlos lange Rechnung, die darauf niedergeschrieben war, mit blutigen Lettern bezahlt und beglichen, dann griff er gierig zum Glas, darin noch ein Rest von gelbem Punsch sich befand, setzte es an die verzerrten Lippen, spürte den schalen Geruch und schmiß es zu Boden, daß es klirrend zerbrach.
»Teufel«, zischte er heiser, »es stinkt nach dem Gift.«
Aus den Lungen pfeifend, als wäre nach fast hundert Jahren endlich seine letzte Stunde gekommen, kroch er in die Ecke des Sofas zurück.
Es kam ein langes, lastendes Schweigen, darin selbst das Rasseln in der Brust des Oberlotsen verstummte.
Langsam trat Bork zum Tisch, beugte den Kopf nach vorn und lauschte.
»Er darf nicht sterben, noch nicht«, dachte der Mann.
»Glaubst du wirklich, Oberlotse«, fragte er plötzlich mit einer dunkel und schwer hinfallenden Stimme, »daß der Amtmann Eike von Olafsborg mit einem Becher voll Gift sein Verbrechen gesühnt hat?«
Es kam keine Antwort. Bork beugte sich weiter nach vorn. »Tot«, dachte er dunkel. Doch unheimlich, als wären sie mit glühendem Schwefel gefüllt, glommen aus dem Dämmer des Winkels die Augen Jes Nielsens. Nein, noch war er nicht tot. Die hundert Jahr, die er dem Schicksal abtrotzen wollte, waren noch nicht völlig herum.
»Glaubst du das wirklich?« fragte ihn Bork aufs neue, fast drohend.
Da kam die Stimme Jes Nielsens und klang wie Hohn und Verachtung:
»Ich kann es nicht sagen. Kein Mensch kann es dir sagen. Nur Gott und die Toten können es sagen. Frag' die, wenn du es wagst.«
Wieder kam ein langes und schweres Schweigen. Borks Atem ging tief. Endlich, stockend, als holte er das, was er sprach, mühsam aus dem untersten Grund seiner Seele:
»Morgen früh will ich zum Amt. Ich habe einen Menschen getötet, der mir zuwider war. Ich habe ihn niedergeschlagen mit Überlegung und Vorbedacht. Ich bin ein Mörder. Auf Mord steht der Tod. Ich kann ihm nicht mehr entgehen. Doch eh' ich am Galgen hänge oder mein Kopf unter dem Beil des Henkers vom Rumpfe fällt … will ich reden mit dir, Jes Nielsen. Ich trage Schuld durch mein Leben, die kein irdischer Richter zu richten vermag. Du magst mich an Gott verweisen … magst mich an die Toten verweisen … ich will einen Menschen fragen, ob ich schuldig bin oder nicht. Ich weiß keinen andern als dich.«
»Sprich!«
Da fielen vom Turm der Kirche zwei Schläge, langsam und dunkel hintönend durch die windlose Nacht. Kaum war der letzte verhallt, tönte aus Thodes Kammer ein langes, klagendes Stöhnen, ein dumpfer, schmerzvoller Laut, tief aus verquälter Seele.
Bork horchte auf. Es war wieder still in der Kammer.
»Zwei Uhr«, kam aus dem Dämmer, wie mit Grauen behaftet, die Stimme Jes Nielsens. »Jede Nacht um zwei stöhnt Thode im Schlaf.« Er schwieg eine Weile, dann sprach er weiter, murmelnd, als spräche ein Mensch zu sich selber: »Als sie siebzehn war, ist ein Schiffer aus Schottland, den ein Sturm an den Strand von Skagen geschwemmt hat, in der Nacht durch das Fenster ihrer Kammer gestiegen und hat sie hergenommen, während sie schlief, und im Schlaf, ehe sie erwachte, eine halbe Sekunde nach dem Glockenschlag zwei, hat sie ungeheuerlich aufgestöhnt, so laut und klagend, daß die Mutter es hörte im Traum und nicht wußte, woher es kam. Von da an, jede Nacht, wenn die Turmuhr schlägt, stöhnt sie im Schlaf, und morgens, wenn sie erwacht, weiß sie nicht, daß sie es tat.«
Erschauern im Nacken, starrte Bork in die Luft. Sein Herz tat dunklen Schlag. Sein inneres Ohr vernahm ein Klagen, fernher einen Ruf, der den Klang seines Namens trug. Ein Schluchzen stieg in ihm auf, doch es erstickte in der von unsichtbaren Händen gedrosselten Kehle. Er senkte tief den Kopf. Er versuchte zu sprechen, doch es dauerte noch lange, ehe er sprach. Es war, als müßte sein Herz über ein Weh hinweg, das seine Zunge hemmte. Als er endlich begann, war seine Stimme grausam und kalt, erbarmungslos sein Inneres zerfleischend, von einer Entschlossenheit, die nichts verschweigen und nichts verhüllen will, die um Befreiung ringt und um das Ende.
»Ich habe das Weib, das mich liebte wie keines zuvor, in tiefstes Elend gebracht. Ich hab' sie verlassen einen Tag lang und eine Nacht, weil mein Blut mich sinnlos zu einer andern trieb. Hab' sie allein gelassen in einem Gasthaus, am Sacramento, schutzlos, obwohl ich seit langem wußte, daß ein Mann sie umstrich, von dem man sagte, daß er ein Raubtier war und ein gemeines Gewerbe betrieb. Ich kam zurück … sie war nicht mehr da. Nur aus Frisko ein Brief, ein Fetzen Papier: ›Man hat mich betäubt, ich kann mich nicht retten, man wird mich verschleppen, ich weiß nicht wohin.‹«
Er schwieg eine Sekunde, die Lippen in einer bitter schmerzlichen Biegung fest aufeinandergepreßt. Als er weitersprach, trug seine Stimme den gleichen harten und grausamen Ton, mit dem er sein Herz zerschnitt.
»Von Stund' an war ich ein gestorbener Mensch, denn ihre Liebe war Sinn und Glück meines Lebens. Ich hab' sie gesucht von Stadt zu Stadt … in verrufenen Gassen gesucht von Haus zu Haus, rastlos, ruhlos, nirgendwo eine Spur. Unablässig hörte mein Herz ihr Weinen, meine Seele ihr Klagen. Tag und Nacht aus untilgbarer Schuld schrie mein Gewissen.«
Er verstummte. Aufstöhnend warf er die Fäuste empor und preßte sie hart gegen die Augen.
»Ingrid …«
Aus der Kehle Jes Nielsens rang sich ein röchelnder, unverständlicher Laut.
Da flackerte im Zylinder der Lampe das Licht, blakte, zuckte auf und erlosch. Fahl durch die Scheiben der schmalen Fenster glomm Schein vom Mond. Nielsens Gestalt beugte sich dunkel über den Tisch. Die Lampe betrachtend, sagte er murmelnd:
»Ich weiß nicht, wo die Thode die Ölkanne verwahrt. Sprich weiter, Mann. Wir brauchen kein Licht.«
Doch es kam keine Antwort mehr, nur noch ein Schluchzen, das die gedrosselte Kehle nicht länger ersticken konnte. Aus seiner Ecke heraus, völlig im Dunklen, kam brüchig die Stimme Nielsens, und es war, als erfrören die Worte auf eiskalten Lippen:
»Gott läßt den Armen schuldig werden … dann überläßt er ihn der Pein.«
Er sah erschreckt, wie der Mann sich mit ausgestreckten Armen und krampfhaft gespreizten Fingern weit über den Tisch warf, wie damals in der Gaststube von Madsens Hotel, flehend, mit einer zerbrochenen hinsterbenden Stimme: »Jetzt richte, Mensch … jetzt sprich dein Urteil, Mensch!«
Da kam das Gesicht des Oberlotsen über den Tisch, langsam dem andern entgegen, weiß vom Licht des Mondes, wie der bleiche Knochenkopf eines Toten. Nur aus den kleinen, zusammengekniffenen Augen drang glimmendes Licht.
Bork hörte die tonlose, von keuchendem Atem begleitete Stimme: »Bin kein Gott, bin kein Toter … nichts als ein Mensch.«
Sein Blick bohrte sich fest und immer fester in die Augen des Mannes, die dicht vor den seinen brannten in einer dunklen, von übermenschlichen Schmerzen genährten Glut.
»Gott und Schicksal … Allgewalt und Unerbittlichkeit, ein einziges, furchtbares Wesen … in uns und über uns … das unser Tun und Lassen bestimmt … läßt dich schuldig werden … schickt dich durch alle Fegfeuer deines Gewissens bis an das Ende.«
Seine Stimme verlief in einem dumpfen, nicht mehr verständlichen Murmeln.
Da richtete sich Bork langsam zur Höhe. Aufgereckt stand er vorm Tisch, mit den Fingerspitzen der mondbeschienenen Hände die Tischkante berührend. In seinem Blick war stählern ein Glanz. Sein Mund war fest geschlossen. Nur um die weißen Flügel der Nase war unablässig ein Beben.
Keiner sprach mehr ein Wort.
Der Oberlotse saß ohne Bewegung, zusammengeduckt, die Finger um einen der Krückstöcke geklammert, der quer über den Knien lag. Sein Kopf hing tief zur Brust. Das dünne Haar auf dem Nacken glomm weiß wie junger Schnee im Schein des Mondes. Der schmale Mund, aschgrau, als sei er nach hundert Jahren schon Erde geworden, war fest geschlossen, ein wenig nach unten gekrümmt. Die alten Augen, sonderbar brennend, stierten zum Estrich, so scharf und so angestrengt spähend, als wollten sie dem schwarzen Abgrund, der unter ihm war, letztes Geheimnis entreißen.
Bork, der ihn so dasitzen sah, ohne das tief hinabgebeugte Gesicht zu erkennen, dachte: »Er schläft.« Mit leisen Schritten trat er vom Tisch, sah einen Sessel, grub sich hinein und saß da, die Schultern nach vorn, die Ellenbogen der Arme auf die Knie gestützt, die geschlossenen Augen fest in die geballten Hände gepreßt, die ganze Nacht, schlaflos und still den Morgen erwartend.
Wenige Monate später, am dritten Tag des Juli, morgens um neun, begann im Schwurgerichtssaal des Justizhauses in Frederikshavn die Strafverhandlung gegen den Kapitän Justus Bork aus Hamburg, zuletzt wohnhaft in Skagen, angeklagt wegen Totschlags. Mit dem Glockenschlag elf war sie zu Ende.
Das erste, was Bork erblickte, als er in Begleitung eines Wärters den nicht sehr geräumigen Gerichtssaal betrat, war auf dem langen, grünen Tisch der Richter vor dem noch unbesetzten Lehnstuhl des Präsidenten ein schwarzes Stück Holz, das auf dem breiten Ende in weißen Lettern die Aufschrift »Ingrid« trug. Mit starr werdenden Augen blieb er sekundenlang stehen. Eine rauhe Mahnung des Wärters zwang ihn, weiterzugehen die wenigen Schritte zur Bank der Angeklagten hinter einer brusthohen Barre aus starkem Holz, gegenüber den schmalen und hohen Fenstern, vor denen in drei Reihen übereinander die Geschworenen saßen, zumeist breite, wetterharte Gestalten, viele mit grauem Haar, Limfjordfischer, derbknochige Bauern, zwei Schiffer aus Skagen, Handwerker, Kaufleute und Beamte aus Frederikshavn. Der Zuhörerraum an der Schmalseite des Saales gegenüber dem Tisch der Richter war dicht besetzt, Männer und Frauen, viele aus Skagen.
Der Verteidiger kam in fliegender Robe herein, eine braune Aktenmappe unter dem Arm, trat an die Barre heran, begrüßte den Angeklagten, mit dem er lange und eindringlich sprach und die breite, starkfingrige Hand zuweilen beschwörend erhob, wenn Bork mit finster zusammengerückten Brauen heftig ablehnende Worte zu sagen schien. Alle im Saal blickten ihm nach, als er zum Tisch des Verteidigers schritt, ein hochgewachsener, starkknochiger Mann, Sohn eines großen jütländischen Bauern. Über seinen breitstirnigen, weißblonden Schädel hinweg sah Bork auf der grünlich getünchten Wand hinter dem Tisch der Richter die holzgeschnitzte, braungebeizte Gestalt des gekreuzigten Christus. Er kam lange nicht los davon.
»Krist Kyrie, komm zu uns auf die See.«
Das waren die letzten Worte gewesen, die seine Matrosen in ihrer Todesangst in die Finsternis des Himmels geschrien, als der Sturm grauenvoll die Alhambra umbrüllte.
Von einer Uhr an der Wand fielen neun metallische Schläge. Durch die Tür hinter dem Tisch der Richter kamen Männer in langen, schwarzen, weit offenstehenden Roben, der Präsident, der Staatsanwalt, die Beisitzer, die Protokollierer, zwei Referendare, zuletzt, in Zivil in langem Gehrock, der sachverständige Arzt. Gelassen und würdig setzte sich ein jeder auf seinen Platz.
Im Saal wurde es still. Eine Welle war nur das Knistern von Aktenblättern und das Scharren von Federn vernehmbar. Dann erklang eine Glocke, kurz und hell.
»Ich eröffne die Sitzung«, fiel vom Tisch der Richter das erste Wort.
Sogleich erhob sich der Staatsanwalt und verlas mit rascher und scharf betonender Stimme die Anklage auf Totschlag, von einem Blatt, das über dem Text die Krone des Königs trug.
Die Vernehmung des Angeklagten war kurz, da er fast alle Fragen, die man ihm stellte, unbeantwortet ließ. Aufrecht stand er in seinem Gatter, die Hände nach unten geballt, Gesicht und Blick unbewegt zum Präsidenten gerichtet, und sagte, wenn er nicht antworten wollte: »Ich weiß es nicht mehr« oder »Nein!«.
Auf die Frage des Präsidenten nach den Motiven der Tat sagte er ruhig und fest: »Ich habe aus Vorsatz und Überlegung einen Menschen vom Leben zum Tode gebracht, der mir zuwider war. Es war ein Mord, Herr Präsident. Darauf steht Tod.«
Als einer der Beisitzer ihn fragte, was seine Gedanken und Gefühle gewesen seien in den acht oder zehn Sekunden, in denen er nach der eidlichen Aussage des Zeugen Piet Struve in das Gesicht des dicht vor ihm stehenden Krämers Twist gestarrt habe, kam nach tiefem Atemzug die Antwort:
»Wie ich so vor ihm stand, ganz dicht, und die Grimasse seines gemeinen Gesichtes sah … da war es mir, als stürzten hundert Menschenstimmen in mein Gehör, Stimmen von Männern und Frauen aus Skagen, mit dem furchtbaren Gebot: Schlag ihn hin, mach' ein Ende mit ihm. Da schlug ich ihn tot.«
Der Verteidiger nickte befriedigt.
Als ein anderer ihn fragte, ob er das Stück Wrackholz von seinem gescheiterten Boot gerissen hätte, um es als Werkzeug zur Tat zu benutzen, blieb er sekundenlang stumm, dann sprach er in einem Ton, den Blick unverwandt auf das schwarze Stück Holz gerichtet, als hätte er sich selber vergessen:
»Nein. Ingrid stand auf dem Holz. Da nahm ich es mit.«
Kaum waren diese Worte gesprochen, da schrak er zusammen.
Der Verteidiger nickte von neuem. »Gut, gut.«
Die Zeugen aus Skagen, Schiffer, Fischer und Bürger, die mit dem Angeklagten in Berührung gekommen waren, unter ihnen der Gastwirt Madsen mit seiner Frau, sagten nur Gutes über ihn aus, von dem erschlagenen Krämer Axel Twist nur Böses. Den Königlichen Oberlotsen Jes Nielsen hatte man wegen seines hohen Alters in seiner Wohnung kommissarisch vernommen. Der Präsident verlas ein Protokoll, in dem es hieß:
»Der Angeklagte hat keinen Mord begangen. Er hat auch keinen Menschen erschlagen, sondern eine giftige Ratte – und Gott selber lenkte die Hand.«
Der medizinische Sachverständige, Professor am psychiatrischen Institut der Universität Kopenhagen, der den Angeklagten mehrere Wochen lang in der staatlichen Klinik auf seinen Geisteszustand hin untersucht hatte, legte dar, die Grunddisposition des Kapitäns Justus Bork sei geistig und psychologisch zwar nicht normal, doch nicht gemeingefährlich. Überstarke neurasthenische Sensibilität und ungewöhnlich häufige hypochondrische Anwandlungen ließen darauf schließen, daß die Tat aus einem Zustand höchster, dem eigenen Bewußtsein nicht mehr kontrollierbarer Reizbarkeit zu erklären sei. Es scheine seiner wissenschaftlichen Überzeugung nach unwiderleglich festzustehen, daß die Tat in einem Moment völliger Unzurechnungsfähigkeit begangen und als unverantwortliche Affekthandlung zu werten sei.
Der Staatsanwalt plädierte im Sinne der Anklage auf schuldig des Totschlags.
Der Verteidiger, der in seinem kurzen Plädoyer sich begnügte, auf die günstigen Zeugenaussagen und auf das Urteil des psychiatrischen Sachverständigen hinzuweisen, bat am Schluß die Geschworenen, da der Angeklagte kein Däne, sondern ein Deutscher sei, nicht zu vergessen, daß es vor Gottes Richterstuhl nur Menschen gäbe und daß auch die irdischen Richter nur vor Menschen stünden.
In seinen letzten Worten forderte der Angeklagte die Geschworenen auf, ihn schuldig zu sprechen auf Mord.
Der Wahrspruch der Geschworenen, vom Obmann verkündet, hatte den Wortlaut:
»Nicht schuldig der Tat.«
Das Gericht sprach ihn frei.
Rasch war der Saal von Menschen leer. Bork stand allein hinter der Barre, den Blick hart zu Boden.
»Frei, frei«, dachte sein Hirn mit dumpfem Hohn, »ich wollte den Tod … die irdischen Richter sprechen mich frei.«
»Sie können nun gehen, wohin es Ihnen beliebt«, hatte der Wärter gesagt, mit einem Schlag auf die Schulter und einem kurzen und rauhen Lachen.
Langsam, schwer vergrübelt, schritt Bork den Gang entlang, der Treppe zur Straße entgegen, und erschrak, als einer ihn anhielt. Dicht vor sich mit breitem Lachen sah er das Bauerngesicht des starkknochigen Mannes, der ihn verteidigt hatte.
»Glückwunsch, mein Herr«, rief er laut, daß es den leeren Gang durchhallte. »Ja, ja, unsere Geschworenen! Vox populi, vox Dei. Also auf Wiedersehen. Alles Gute. Wir sehen uns noch.«
Er schüttelte dem stummbleibenden, freigesprochenen Klienten kräftig die Hand und eilte davon.
Bork stierte zu Boden.
» Vox populi, vox Dei.«
Er lachte hart und höhnisch auf. Gott und Schicksal hatten bestimmt, ihn leben zu lassen, das war nun klar. Zu einem Leben, in dem kein Sinn mehr lag, zu einem Leben, das tot war und ohne Hoffnung.
Draußen vor dem Portal warteten Madsen und seine Frau und einige Leute aus Skagen. Fischer und Schiffer, unter ihnen Piet Struve, der Knecht. Doch der freigesprochene Mann schritt so rasch an ihnen vorbei, den Blick starr geradeaus, daß keiner ihn ansprechen oder ihm folgen konnte; verwundert, kopfschüttelnd sahen sie, wie er in einer Seitengasse verschwand.
Ziellos irrte Bork durch die grauen Straßen von Frederikshavn, halb blind, halb taub, halb ohne Bewußtsein, stieß Menschen an, ohne daß er es spürte, ließ sich einen Betrunkenen schimpfen, ohne daß sein Ohr es vernahm, und kam endlich zum Hafen, wo es unter der sengenden Mittagssonne des Juli heftig nach Fischen roch. Menschen und Tiere, Wagen und schottische Karren, alte Häuser, schwarze Schuppen, Docks, Molen, Schornsteine, Masten, Dampfer, Segelschiffe, Barkassen und Kutter und ungezählte Haufen von Schellfischen, Goldbutt, Seezungen, Schollen, Porren und Kabeljau waren unter der heißen und gärenden Luft zu blitzendem Chaos verstrickt.
Plötzlich, ohne zu wissen, wie er hineingekommen, saß er in einer Kellerspelunke zwischen Janmaaten und Weibern, aß von einem schmutzigen Teller gebratenes Fleisch und trank aus einem dicken Glas Aalborger Aquavit. Dumpf durchfuhr es sein Hirn: »Zurück nach Skagen. Zurück in das schwarze Haus zwischen den Dünen, Fischer sein, bis ein Sturm mich zur Tiefe reißt.«
Es ging ein Krampf durch die neben dem leergegessenen Teller zusammengeballten Hände. Ohnmächtig knirschte es zwischen den Zähnen.
Plötzlich schrak er zusammen. Eine Uhr über ihm hatte begonnen, Mittag zu schlagen, mit hartem, blechern rasselndem Klang. Ein Erschauern fiel über ihn hin, das schwer sein Blut durchdrang und das erschütterte Herz sonderbar pochen machte. Es war, als vernähme sein Ohr irgendwoher den Hall eines sehnsüchtigen Rufes, der tönend aufschwoll in seiner Seele und klagend im Endlosen verschwebte. Über ihm rasselte mißtönig der letzte Schlag aus der Uhr. Schwer holte er Atem. Langsam wurde er ruhig. Doch in der Brust blieb tief eingegraben, rätselvoll ein Gefühl, das sein Bewußtsein nicht zu erklären vermochte.
Viele Minuten noch saß er da, zurückgelehnt in den Stuhl, die Augen übernatürlich geöffnet, dunkel zur Ferne gerichtet.
Die Janmaaten mit ihren Weibern, die um ihn herum saßen und Schnaps tranken und unflätige Lieder johlten, verstummten und stierten zu ihm hinüber, der dasaß, wie einer, der mit offenen Augen in Schlaf gesunken oder plötzlich seinen Verstand verloren. Der Wirt trat heran, blinzelte eine Weile aus schielenden Augen zu ihm hinab, dann packte er hart die Schultern des reglos verharrenden Mannes und rüttelte ihn auf. Bork fuhr zusammen, starrte umher, erhob sich und ging rasch durch die Schenke, die ausgetretene, schmutzige Treppe hinauf, wie ein Mensch auf der Flucht.
»Totschläger«, brüllte einer hinter ihm her, ein gaunerhaft aussehender Kerl, der im Schwurgerichtsraum unter den Zuhörern gesessen, weil er in alle Prozesse lief, in denen Mord und Totschlag verhandelt wurden. Grinsend strich der schielende Wirt den Hundertkronenschein ein, der neben dem abgegessenen Teller lag.
Es war ein strahlender Tag, an dem Bork kurz nach der Mittagsstunde den kleinen Bahnhof von Skagen verließ, langsam die schmale, von flachen, haferbewachsenen Dünen begrenzte Straße hinabschritt und neben einem Telegraphenmast stehen blieb, um den Schwarm der Fremden, die mit dem Zug von Frederikshavn gekommen waren, an sich vorbeifluten zu lassen. Teilnahmlos, mit einem Blick, der abwesend, noch nicht in Skagen zu sein schien, starrte er in das Wogen an ihm vorbei. Es waren viele darunter, die wie Engländer aussahen, lange Gestalten mit hageren Gesichtern angelsächsischen Schnittes, in schwarz und gelb karierten Reisetrachten oder in weitfallenden Mänteln aus schottischem Loden, graue Wickelgamaschen um dünne Beine, die in den Kniekehlen einknickten beim ungewohnten und unbeholfenen Stapfen durch den zähen, in der stürzenden Sonne silbern flimmernden Sand, magere, sanftblonde Ladys mit spitzen Nasen und schmalen Lippen in langen, hellgelben Sommermänteln, die sie aufhoben, zugleich die Kleider erfassend und raffend, als hätten sie Angst, während des mühevollen Schreitens durch diesen so sonderbar ziehenden Sand unversehens in bodenlose Tiefe zu sinken. Zwischen ihnen Kofferträger und Leute aus Skagen. Fahrzeuge, dicht mit lachenden, schwatzenden und neugierig umherspähenden Menschen bepackt, darunter der hochrädrige Wagen von Madsens Hotel, in der Deichsel die schwere dänische Stute. Unter den stampfenden Füßen, mahlenden Rädern und stampfenden Hufen knirschte unwillig, aus seiner Ruhe gestört, der weiße, sommerlich heiße Sand.
Bork sah nichts und hörte nichts. Bewegungslos stand er neben dem Mast, in dem es dunkel surrte und gurrte, im unverwandt nach vorn gerichteten Blick zuweilen ein sonderbares Erglänzen, das aufglomm und gleich wieder tief nach innen erlosch.
Bald war die Straße leer. Als auch der lange Postmann mit seiner roten Karre vorbei war, setzte Bork sich in Gang. Das Schreiten im Sand wurde ihm schwer. Mehr als zwei Monate Haft in engstem Raum, stundenlang dumpf auf die Pritsche gehockt oder ein ruhloses Wandern von Mauer zu Mauer … er hatte das Stapfen und Stampfen auf den sandigen Wegen und Straßen von Skagen verlernt.
Nach einer halben Minute Weges begannen die flachen, halmbewachsenen Dünen vor den kleinen, ziegelrot blinkenden Häusern zu weichen. In den winzigen, plankenumstellten Gärten blühten Levkojen, Goldlack und Strandasterstauden in starken und sprühenden Farben und verströmten im schwachen Wind aus Südwest ihre würzigen Düfte. An den langen und dünnen, tiefhängenden Ästen der Eschen bebten die schmalen, spitzigen Blätter unter den sengenden Strahlen der hoch durch blauen, seidig flirrenden Himmel rollenden Sonne. Faulbeerbäume verschickten den schweren und trägen Geruch ihrer großen und weißen Blumen, die so verschwenderisch blühten, daß es aussah, als lägen zwischen den kleinen, rotdachigen Häusern und vor den breiten Gestellen voll dörrender Fische und trocknender Netze mächtige Haufen schimmernden Schnees. Schweine lagen vor ihren Koben, sich sonnend mit wohligem Grunzen.
Bork blickte an allem vorbei. Nur manchmal dachte er dunkel: »In Skagen, wieder in Skagen.« Wie fremd war alles geworden, sonderbar fremd. Fremd die Häuser, fremd der Sand, fremd unter dieser hellen und heißen Sonne des Sommers die Menschen, die ihm entgegenkamen oder neben ihren Türen auf Bänken saßen, Schiffer und Fischer, Männer und Frauen, die ihn mit größer werdenden Augen begrüßten, da sie ihn wieder erkannten, den Mann aus dem Bootshaus zwischen den Dünen draußen vor Skagen, der auf der Straße von Frederikshavn den verhaßten Krämer erschlagen hatte und freigesprochen war vorm Gericht, wie sie von den Zeugen erfahren oder in ihrer Zeitung gelesen, der Mann aus Hamburg, der schwerfällig dahinstampfte, nicht wiedergrüßte und nicht umherschaute, als sei er ein völlig Fremder, der niemanden kannte, an Madsens Hotel vorbei, ohne hineinzutreten, am winzigen Haus des Oberlotsen vorbei, der im Lehnstuhl hockte neben der Tür, die Krücken zwischen den hageren Knien, den Kopf vorstreckte, ihn vergebens mit seiner heiser röchelnden Stimme mit Namen rief und verwundert hinter ihm herstierte mit seinen kleinen, bläulich blinkenden, scharfsichtigen Augen, die nicht begreifen konnten, daß dieser Justus Bork, der doch sein Freund geworden war, sich nicht umdrehte nach ihm, sondern schwerfällig weiterschritt, die Schultern gebeugt, den Kopf nach vorn, als hätte er Mühe, vorwärts zu kommen.
Bork kam zum Vorstrand, sah die glatte, gleißende See, die langen und dunklen Streifen der Bänke, neben ihren heraufgezogenen Booten die Schiffer und Fischer, lauernd auf Wind, der nicht kommen wollte, so daß sie nicht ausfahren konnten, sah auf den Badeplätzen das bunte Gewirbel der Fremden, Malerinnen und Maler vor Staffeleien oder hockend im Sand, Skizzenbuch auf hochgezogenen Knien. Doch seine inneren Augen nahmen nichts auf. Alles fremd, alles ohne Belang. Als er von weitem das Bootshaus erblickte, schwarz, verlassen und tot zwischen den nackten, weißstrahlenden Dünen, blieb er eine halbe Minute lang stehen. Furcht schlich ihn an. War das ein Haus? War das ein Heim? Ein schwarzer, von bleichem Leinen umhangener Sarg?
Müde stapfte er weiter, erreichte das Haus, rüttelte vergebens am Drücker der Tür und ging um die Ecken mit dem dumpfen Gedanken, ein offenes Fenster zu finden. Doch keines stand auf. Ohne Besinnen zog er aus dem Haufen von Wrackholz, das an der Hinterwand aufgestaut war, einen starken, kantigen Sparren heraus, durchstieß eine Scheibe, griff durch das klirrend entstandene, spitzzackige Loch und hob den Riegel, der das Fenster verschloß. Er klomm empor, stieg über die Brüstung und stand in der Stube, unmittelbar neben dem breiten Bett aus rötlichem Sandel. Es war noch Tageshelle im Raum. Durch die Fenster drang Sonne in die stickig schwere, seit vielen Wochen von keinem Atem bewegte Luft.
Bork hatte nur den einen Gedanken: »Schlafen, schlafen … nicht mehr denken … lebenslang nicht mehr denken … schlafen, bis die Glieder erstarren, der Atem vergeht, das Blut gerinnt und das Herz stillesteht und nie mehr anfängt zu schlagen.«
Am nächsten Morgen, nach tiefem, traumlosem Schlaf, als die Sonne schon hoch über der Kimmung hing, stand er vor Kares Bett. In der gleichen Stunde, in der man sie auf dem Friedhof von Skagen zu Grabe gebracht, hatte er in Frederikshavn die Zelle betreten.
Lange stand er vergrübelt, alles vergessend, ohne Bewußtsein für alles, was ihn umgab.
Plötzlich schrak er zusammen.
Wie aus Finsternis aufsteigend, blaß wie Schemen, erkannte er Menschengesichter … Frauengesichter … schmerzlich gezeichnet von Liebe und Gram … und jäh aus dem Dunkel tauchend sein eigenes Antlitz, zerrissen von ewiger Not. Wie weggewischt von schwarzem Wind, schwanden sie hin. Nur Kares Gesicht war noch da, leibhaftig fast, starr und bleich, doch um den blassen Mund selig und friedvoll ein Lächeln.
»Du bist die erste … die Frieden gefunden hat.«
Kaum war es gedacht, stieg eine Bangigkeit auf, ja ein Erschrecken.
Schwer hob er den Blick. Es schien, als verlöre er sich dunkel zur Ferne. Und es war, als lauschte er mit Ohren und Seele, mit seinem ganzen Körper.
Plötzlich wachte er auf, sah Kares verlassenes Bett, ihre Kleider am Boden, den schwarzen Schal am Pfosten der Tür. Er wandte sich weg, ging langsam zum Fenster und sah das Meer. Glatt und blank lag es da, ein eherner Spiegel, in sanfter Biegung um die Erdkugel gelegt, der Himmel eine machtvolle Kuppel aus stählern gleißendem Blau, glasklar, von keinem Windhauch bewegt die Goldglanz wiegende Luft, und unter ihr der Strand, ein weißes Blumenfeld, glitzernd von Blütenschaum.
Bork stand in Träumen.
»Bin ich in Skagen? Bin ich in einem Land, darin es nichts als Sonne gibt, in einem Garten, in dem auf jedem Blumenkelch ein Herz voll Frieden liegt? Auf einer Insel, in einem Meer, das keine Stürme kennt?«
Er lauschte in sich hinein. War Frieden in seiner Seele? Es kam keine Antwort. Ihn fror.
Einsamkeit … Einsamkeit …
Es verging eine Woche, eine zweite und eine dritte. Das einzige menschliche Wesen, mit dem er zuweilen gesprochen, war die grauhaarige Frau, die wöchentlich an seinem Hause vorbei zu den Anpflanzern ging, um ihren Fisch zu verkaufen. Sie brachte ihm, was er zum Leben brauchte. Das erstemal war sie gekommen, um ihm den Schlüssel zu bringen, den der Oberlotse aufbewahrt hatte. Einmal hatte sie Grüße von ihm bestellt. Warum er nie nach Skagen käme, man hätte doch so manches miteinander zu sprechen, er selber könne nicht kommen, die alten Beine wollten nicht mehr und auch mit den Augen wäre es nicht mehr ganz so wie sonst. Bork hatte sie angeschaut, abwesend genickt und keine Antwort gegeben. Zweimal war Madsen mit seinem Wagen herangekommen, hatte anhalten lassen, war heruntergestiegen und hatte mehrere Male an die Haustür geklopft. Doch drinnen war alles ruhig geblieben, keiner hatte gerufen, keiner geöffnet, obwohl man Rauch aufsteigen sah aus dem kleinen, runden Schornstein mitten im Dach. Kopfschüttelnd war er weitergefahren. Beim zweitenmal, auf der Rückfahrt nach Skagen, spät in der Nacht, hatte er Licht brennen sehen in der westlichen Stube. Wieder hatte er halten lassen, war abgestiegen und hatte geklopft, einmal, zum zweiten, zum dritten Male, immer vergebens. Kein Laut war vernehmbar geworden, kein Schritt.
So lebte Bork Tag um Tag in einer sonderbaren, dumpfen Ergebung. Nie verließ er das Haus. Stundenlang saß er verkrochen hinter dem Tisch im Winkel der Bank, ohne Gedanken, in seiner Brust unablässig das rätselhafte Gefühl auf irgend etwas warten zu müssen, auf etwas Kommendes, etwas Bestimmendes, das nicht zu ergründen war. Nutzlos, darüber zu grübeln. Doch es war da, Tag um Tag, Nacht um Nacht, und wollte nicht weichen.
Am dritten Tag im August sah er durch das westliche Fenster den Postmann um die Ecke des Weges biegen. Wer aus der Welt da draußen konnte ihm schreiben? Der Postmann querte den Weg, reichte grüßend zwei Briefe durchs offene Fenster und stampfte zurück.
Bork trat zum Tisch. Zwei Briefe, der eine lang, gelb und schwer, aus Frederikshavn, der andere kleiner und weiß, mit dem Poststempel Hamburg. Er erkannte sogleich die schräge, sorgfältig gezirkelte Schrift des Hauptpastors Tobaben. Er starrte sie an, dann legte er den Brief langsam beiseite, öffnete mechanisch den ersten und zog der Länge nach gefaltete Akten heraus. Es war ein Brief des Anwalts, der ihn verteidigt hatte, und auf zehn eng beschriebenen Folioseiten die Begründung des freisprechenden Urteils. Gleichgültig, ohne zu lesen, legte er die Papiere zum Tisch und griff langsam zum Brief des Pastors.
»Was mag er wollen?« dachte er müde, »es ist doch alles zu Ende.«
Eine Beklemmung faßte ihn an. Zögernd öffnete er ihn. Ein zweiter Brief fiel heraus mit der Aufschrift: »Herrn Justus Bork, durch Vermittlung des Herrn Hauptpastors Tobaben in Hamburg.« Es war eine kleine, ungelenke, schräge und fremde Schrift. Er zauderte lange, den Brief zu öffnen. Dann, mit einer ungewohnt raschen Bewegung der Hand, riß er ihn auf, zog ein Stück bedrucktes Papier heraus, das aussah wie ein Abschnitt aus einer Zeitung, und ein kleines, weißes, gefaltetes Blatt.
Langsam, schwer glitt sein Blick über das lange, schmale, bedruckte Papier. Nach wenigen Zeilen schrak er zusammen. Sein Gesicht erblaßte. Unnatürlich weiteten sich seine Augen und wurden sekundenlang dunkel. Dann begann er aufs neue zu lesen, mit stockendem Atem.
»Husum, 20. Juli 1906.
Zur Aufhebung einer kanadischen Sklavenfarm. In Ergänzung unserer Hamburger Blättern entnommenen Mitteilungen über die Aufhebung einer Farm im westlichen Kanada, auf der Frauen und Mädchen von gewissenlosen Agenten aus allen Ländern der Erde herangeschleppt, unter der grausamen Leitung verrohter Aufseher zu schwerster Landarbeit mißbraucht wurden, können wir heute das Nachstehende mitteilen: ›Unter den befreiten Frauen und Mädchen befinden sich mehr als hundert Deutsche, darunter sieben Schleswig-Holsteinerinnen, eine aus Husum: Ingrid Lorn, eine Waise, die vor wenigen Jahren nach Amerika ausgewandert und seitdem völlig verschollen …‹«
Er vermochte nicht weiter zu lesen. Schwer sank seine Hand zum Tisch. »Sklavenfarm … Sklavenfarm …« Und dann mit tiefem Atemzug:
»Sie lebt … ist frei …«
Durch die Hand, die das kleine, gefaltete Blatt aufnahm, ging ein Erbeben.
»Ingrid ist gestorben in einem fahrenden Zug nach New York. Am 3. Juli, mittags um zwölf. Sie liegt begraben auf einem Friedhof in Hardingtown. Beate Lorn, Ingrids Schwester.«
Seiner Kehle entrang sich kein Laut, kein Stöhnen. Nur seine Augen zerbrachen zu Schutt. Der hart geschlossene Mund verkrampfte sich, als wollte er vergehen vor Weh. Das Herz in der Brust erstarrte und hörte auf zu schlagen. Dämmern füllte die Stube. Draußen kein Wind, keine Wolke. Über den nackten, friedvoll ruhenden Dünen hing glühend rot der Atem der untergehenden Sonne.
In dieser Nacht, die eine warme Sommernacht war, der Himmel voll stiller Sterne, die schweigenden Meere überflossen von weichem Glanz, in der lichtbetauten Luft nicht der Hauch eines Windes, saß im einsamen Haus zwischen den Dünen ein Mann, die Schultern tief nach vorn, das Antlitz in den Händen vergraben. Er schluchzte lautlos und konnte nicht aufhören zu schluchzen die ganze Nacht. Einmal fuhr er empor. Er sah sich in einem düsteren Keller, betrunkene Menschen an schmutzigen Tischen, Richter hatten ihn freigesprochen von Mord, einem Leben zurückgeschenkt, einem Leben ewiger Not. Über ihm hatte eine Uhr zwölf rasselnde Schläge getan. Da war ein Ruf in seine Seele gefallen und hatte es für einen Herzschlag erhellt, wundersam süß und seltsam bang.
Durch den Leib des einsamen Mannes ging ein Erschüttern.
»Sie ist gestorben in einem fahrenden Zug, am 3. Juli, mittags um zwölf.«
Der gleiche Tag … die gleiche Stunde …
Tief sank sein Kopf zu den Knien.
Wenige Tage später, in der Dämmerstunde des Abends, klopfte es an der Tür des winzigen Hauses des Oberlotsen Jes Nielsen.
Die Thode am Herd, den hölzernen Löffel in einem Topf voll kochenden Breis, wandte den Kopf und rief: »Herein!«
Bork trat in die Diele, schloß die Tür, blieb stehen und grüßte.
Die kleinen, trüben Augen aufreißend, fuhr der Greis aus seinem Sessel empor, ächzend und die eingefallenen Lippen verkneifend. Der alte, ausgetrocknete Leib schmerzte bei jeder Bewegung in allen Knochen und Sehnen.
»War auch Zeit, mein Herr«, rief er röchelnd, und im verschwommenen Blick entstand ein grünliches Flackern.
Er wollte weitersprechen, doch er verstummte beim ersten Wort, als er erkannte, wie seltsam verändert das Gesicht dieses Mannes war. Es war ernst und verschlossen wie sonst. Doch die Stirn war frei, die straffe Haut ohne Falten, der Mund, um den so oft ein Zucken gewesen war, schien ruhig geworden, die Augen dunkel und seltsam groß, wie still gemacht von einer tiefen Traurigkeit.
»Merkwürdig«, dachte der Oberlotse und bewegte langsam den hageren Kopf hin und her. »Was ist geschehen mit ihm?«
»Was führt Sie her?« fragte er endlich, da sein Gast nicht zu sprechen begann.
Schweigend trat Bork heran. Wortlos reichte er dem Oberlotsen das ausgeschnittene Stück einer Zeitung.
Während Jes Nielsen las, die Hand, die das Blatt hielt, weit von sich weggestreckt, die kleinen Augen verkniffen zu einem winzigen Spalt, begann sein Atem schwer und brüchig zu werden, um endlich fast völlig zu stocken.
Ohne ein Wort reichte er den Ausschnitt zurück.
Bork gab ihm schweigend das weiße, entfaltete Blatt mit der kleinen und schrägen Schrift.
Jes Nielsen las. Als er zu Ende war, hielt er, den Blick starr in den Erdboden gebohrt, das weiße Blatt zwischen den grauen, hart sich krümmenden Fingern. Kaum hörbar und unverständlich den beiden andern im Raum fiel ein Murmeln zum Estrich: »Gott hat's gewollt, Schicksal hat es gefügt … gut, gut, es ist das beste so.«
Als er den Kopf aufhob und das zerknitterte Blatt zurücklegte in die Hand Borks, war um seinen absterbenden Mund sonderbar eine Verzerrung. Grimm? Hohn? Oder war es die große und letzte Verachtung der todahnenden Kreatur für alles, was Gott, Schicksal, Menschheit und Dasein hieß?
Bork sah es nicht oder erkannte es nicht. Er sagte, die Stirn gesenkt, an Nielsen vorbei, so leise, daß die Thode, die lauschend am Herd stand, nicht eine Silbe vernahm: »Ich will ihr Grab sehen … will mit ihr reden.«
Er verstummte. Auch der Oberlotse blieb lange stumm. Sein Blick hing unverwandt an dem breiten Gesicht der Thode, das sich bekümmert bewegte, da sie fühlte: »Er sieht mich nicht.«
Plötzlich fuhr der Alte herum.
»Wann fährt Ihr Schiff?«
»Am zehnten August.«
»Soso! Am zehnten August!« In seinen verblichenen Augen entstand ein seltsames Schimmern. »Am zehnten August«, sagte er langsam aus der Tiefe heraus, ohne zu röcheln, »werde ich hundert. Am zehnten August wirst du dein zweites Leben beginnen. Am zehnten August werde ich sterben.«
Es fiel kein Wort mehr zwischen den beiden. Schweigend reichten sie einander die Hände. Die Augen, die sich tief und lange ineinander vergruben, die kleinen, glimmenden Augen des Alten und die großen, tiefdunklen Augen des andern sprachen das Letzte.
»Er kommt nicht wieder zurück nach Skagen«, murmelte Nielsen, als er allein war mit der Thode, und sein Blick hing groß und starr an der Tür.
»Wo geht er hin?« fragte die Thode bang und verstört, denn sie sah in seinem Blick ein Glimmen, als sähe er schon die Geister, die auf ihn warteten im Dunkel des Unbekannten.
»Geht hin … wo ein Grab ist«, sagte er langsam.
»Hilf Gott uns allen«, murmelte die Thode, und ihre weichen Wangen bebten.
In der gleichen Stunde, in der früh im Morgen Justus Bork auf einem Dampfer der Hamburg-Amerika-Linie die Reede von Cuxhaven verließ, am Zehnten des Monats, starb in Skagen der Oberlotse Jes Nielsen. Tags zuvor hatte er die Nachricht erhalten, daß sein Großneffe, der Kapitän von der Skagen, bei einem Zyklon im Stillen Ozean nördlich der Papageieninsel untergegangen und mit der ganzen Mannschaft ertrunken sei. Die Thode hatte ihn murmeln gehört: »Von morgen ab … keiner mehr da von den Nielsen …«
In der Frühe um sechs fing es an. Er wachte auf, schlug die Augen weit auf, um sie gleich wieder zu schließen. Thode, die fühlte, daß es zu Ende ging, setzte sich neben sein Bett und hielt seine erkaltende Hand. Er sprach kein Wort mehr. Sie saß stumm, rührte sich nicht und ließ keinen Blick von ihm ab. Ihr Herz klopfte wie nie. Die Hand, die sie hielt, wurde kälter, und es währte nicht lange, da war sie wie Eis, das auch der ihren alle Wärme entzog.
Da wußte sie, daß es zu Ende war, stand auf, ging über die Straße zum Bürgermeisteramt und meldete seinen Tod. Dann ging sie zurück, mit schweren Gliedern, schleppenden Schrittes, den linken Fuß nachziehend durch den zähen, sonnengleißenden Sand. Der Gastwirt Madsen, der es von einem Fenster aus sah, erschrak, denn vor der Tür ihres winzigen Hauses begann sie zu schwanken. Er sah, wie sie mit schwerfälliger Hand zum Riegel griff, sich aufrichtete, die Tür aufmachte und im Dunkel verschwand.
Beklommen ging er hinüber. Als er die schmale Diele betrat, sah er die Thode aufrecht im breiten, hochlehnigen Stuhl neben dem Bett eines Toten, die alten, verarbeiteten Hände gefaltet im Schoß. Ihr Blick war weit auf, doch kalt und starr, wie erfroren. Gesicht und Hände waren weißer wie Sand. Behutsam trat Madsen heran und rief ihren Namen. Doch es kam keine Antwort aus dem starren, fast weißen Mund. Da erkannte er, sie war tot. Er blickte ergriffen, mit klopfendem Herzen zum Oberlotsen hinüber und wieder zur Thode. Und während er zögernd die Hand hob, um über ihre farblosen, gestorbenen Augen die Lider zu ziehen, kam ihm das Wort ins Gedächtnis, das Jes Nielsen einmal gesprochen: »Ich werde mit Thode zu Tode gehen.«
Dann ging sein Blick aufs neue schwer und traurig zum toten Nielsen hinüber. Das Gesicht des Greises war wundersam bedeckt von Frieden und stiller Verklärung. Die hageren Arme lagen ausgestreckt auf der rotbunten Decke, zwischen den ineinandergelegten Händen die langen, vom gelbverblichenen Schädel gelösten Schraubenhörner seiner Himalajaziege, kreuzweis übereinander, mit ihren seeblauen, seltsam verschnörkelten Spitzen die Wand über dem schlohweißen Kopf des Toten berührend.
»Er wollte älter werden als Gott«, murmelte Madsen aus blassen Lippen, »und hat es doch nur bis auf die Hundert gebracht. Ja, ja … Gott läßt seiner nicht spotten.«
Zehn Jahre später, drei Tage und Nächte nach dem Gewitterrollen der Schlacht im Skagerrak, fand man im Sand der südlichen norwegischen Küste bei einem Fischerdorf unweit von Stavanger die Leiche eines Mannes mit hellem, über den Schläfen schneeweißem Haar, den die Stürme der letzten Nacht mit der Brandung herangespült hatten. Die Bauern und Fischer, die den Toten umstanden, der dalag mit geschlossenen Augen in einem Gesicht, das von den salzigen Wassern der stürmenden See nur wenig gelitten, wunderten sich über den stillen und schönen Frieden im Antlitz des gestrandeten Mannes.
»Es ist ein deutscher U-Boot-Matrose«, sagte der Vorsteher, als er ihn sah, denn er hatte sogleich auf dem grauen Isländer unter der Jacke das Zeichen »U 53« entdeckt. Da man nichts bei ihm fand als eine im Futter der graugrünen Bluse vernähte Tasche aus braunem, abgegriffenem Leder, darin nichts anderes war als ein winziges Bündelchen lichtblonden Haares und ein schmaler Fetzen Papier, der aus dem Rand einer Zeitung gerissen schien und verwaschene Schriftzüge trug, die niemand zu entziffern vermochte, ordnete der Vorsteher an, dem unbekannten deutschen Matrosen auf dem Friedhof der gestrandeten Seeleute das Grab zu schaufeln.
Man trug ihn ins Dorf und legte ihn in einen kleinen, schwarzen Schuppen hinter der Kirche.
Der alte Tischler, der Sarg und Kreuz zu zimmern hatte, schaute lange und sinnend in das bleiche und stille Gesicht des unbekannten Matrosen, das tief versunken schien in Schlaf. Ein schmaler Sonnenstreif aus einem Ritz im Dach glitt über die hohe, kantige Stirn und machte sie leuchten.
»Er hat einen schönen Tod gehabt«, murmelte er still vor sich hin, dann nahm er das Maß für den Sarg.
Als der Sarg in der Erde und der Sandhügel gewölbt war, sahen die Bauern und Fischer, die ihm das letzte Geleit gegeben, auf dem Querbalken des kleinen, vierkantigen Föhrenholzkreuzes, das der weißhaarige Tischler ins Erdreich drückte, die Worte:
Ein deutscher Matrose von
U53
Gott gab ihm Frieden.