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Erster Teil

 

 

»Nach innen geht der geheimnisvolle Weg.«

Novalis.

 

 

Der Wald war weit und schwieg.

Durch das leise aufwogende Meer von Baumwipfeln strich ein kühler Morgenwind und kündigte das Nahen der Königin Sonne. Da stand sie auch schon flammend und festlich über der Wiese und begann ihre Strahlen in das feuchte Dämmerdunkel zu tauchen und den Kampf mit den huschenden Schatten des verwachsenen Waldinnern aufzunehmen wie alle Tage. Sie ließ ihr goldenes Licht durch das Gezweig spielen und spinnen, funkeln und sprühen, und siehe – das Licht gebar Leben. Noch schwer vom Morgentau regten sich die Gräser am Wegrande der einsamen Fahrstraße. Schwarze Wasserlachen spiegelten zitternde Bilder von Himmelsblau und Lämmerwölkchen wider, Vogelstimmen lockten, Zweige knisterten, – nun atmete, duftete, rauschte und frohlockte der Wald.

Ein russisches Dreigespann knarrte mit einem harten Ruck über eine Eichenwurzel, die sich schwer in den Weg gestreckt hatte, und blieb unschlüssig vor einer tiefen Wasserlache stehen.

»Nu, nuka – vorwärts, ihr Täubchen! mit Gott!«

In dem schlammigen Naß versanken die Räder bis zur Achse, hoch auf spritzte das Wasser – – ein schrilles Kinderjauchzen, scharf wie der Schrei eines Falken, übertönte alle anderen Geräusche.

Das bärtige Gesicht des Kutschers verzog sich zu einem vergnüglichen Grinsen. Respektvoll rückte er an der Mütze und schielte über die Schulter zu den Insassen des Wagens hinein. »Das kleine Herrchen fürchten sich vor nichts!«

Eine klangvolle Männerstimme erwiderte: »Vor dem bißchen Wasser? Das gibt's nicht, dafür ist er auch mein Sohn.«

Akim nickte zufrieden, knallte noch ein paarmal kunstgerecht mit der Peitsche, rief »each« und »nuoh« – die Braunen griffen aus.

Der Mann in dem Wagen lehnte sich bequem zurück und ließ den zweieinhalbjährigen Buben auf seinen Knien stehen. Energisch klammerte sich das kräftige schöne Kind an den väterlichen Zeigefinger, den es als einzigen Halt gepackt hatte. Plötzlich ließ es den Finger fahren, in dem Bestreben, allein zu stehen. Die Wagenräder tauchten in eine neue Pfütze, das Kind schwankte, schrie auf und stürzte jählings nach vorn; die Fäustchen krallten sich in den Kragen des Vaters.

Ein leises dunkles Frauenlachen. »Ihr närrischen Kinder! Komm lieber zu mir, Heino, der Papa ist zu jung für dich!«

Aber der Mann packte seinen Buben mit festem Griff, wandte ihn um und setzte ihn rittlings auf sein Knie.

»Nun still, Junge. Gib schön auf die Pferdchen acht und verhalt dich ruhig. Die Mama ist müde.«

Die junge Frau mit den machtvollen grauen Augen lächelte glücklich.

»Aber gar nicht. Müde an einem so göttlichen Morgen! Ich bin nur froh. Sag', liegt der Geigenkasten auch gut? Mir war, als hörte ich die Saiten vibrieren ... diese Stöße – –«

Heinz Stürmer wandte sich um und untersuchte das Gepäck in der Wagentasche. »Wie ein Kind im Mutterarm! Ich hab' ihm noch den Plaid untergeschoben. Du sehnst dich wohl ... nach deiner Musik?« fragte er zögernd.

»Ich sehne mich nach nichts. Es ist ja alles schon da!« sprach sie mit einem verträumten Lächeln, das ihr weißes, geistreiches Gesicht überrieselte wie ein Sonnenstrahl und es seltsam verschönte. »Nur daß es bald – noch schöner werden soll – – ist schwer ... zu glauben.«

Schweigen. Mit einer Gebärde zartester Liebe hob der Mann Ihre Hand an seine Lippen und küßte sie wieder und wieder mitten in die rosige Handfläche hinein.

»Schon über zwei Jahre!« sagte er endlich. »Und die Wandlungen, und die täglichen Wunder! O Verena! Du ...!«

»Nicht ich – du selbst! Weil du hattest, ward dir gegeben.«

Er schüttelte den Kopf. Das wußte er besser. Kannte er denn nicht seine Doppelnatur? Hatte er nicht von Jugend auf an dem Fluch seiner zwei Seelen getragen? Gegeneinander gewütet hatten sie und sein Leben einmal fast gänzlich zerstört und vernichtet. Nimmersatt sein Begehren, schwach sein Wille, sein Gewissen wach und rege – mußte er nicht den Kreis der Leiden und der Leidenschaften durchlaufen? Und dann war das Unaussprechliche gekommen, das Wunder! Sie, die er Luwa zu nennen liebte. Die Seele seiner Seele, sein Weib war sie geworden.

Er sah sie leuchtend an und seufzte tief vor Glück. Du mein Friede! dachte er, du meine Einheit!

Aber er sprach die Worte nicht aus, die ihn erfüllten bis zum Rande. Ihm war, als müßte ihnen durch das Sagen etwas von ihrer Fülle und Tiefe genommen werden. Sie wußte auch so, was in ihm lebte und lohte.

»Du ... du!« flüsterte er nur.

Und sie, die das Ungeheure gewirkt, die mit der genialen Sicherheit und schöpferischen Kraft ihres Wesens es vermochte, ihn als Ganzes zu sehen, der sich stets als Doppeltes empfunden, die ihm durch ihr Verstehen Gleichgewicht, Erneuerung und Frieden gegeben hatte, da saß sie neben ihm, ihrer Schönheit unbewußt, mit Augen, offen wie das Meer, Augen voll Reinheit – sein Kamerad, seine Königin, die Mutter seines ungeborenen Kindes!

Und sie wagte es, in seinen Armen einfach und wunschlos glücklich zu sein!

Ihre Hand fuhr ihm liebkosend übers Gesicht. »Nicht an alte Sachen denken, Heini,« sagte ihre zärtliche Stimme.

Er schloß die Augen. Die Wonnen des Augenblicks auszukosten hatte er gelernt.

»Nein, an jetzt dachte ich. Deine Stimme ...« flüsterte er – »sprich noch!«

Sie lachte wieder leise. Auf ihrem Gesicht lag der Heiligenschein der Freude. »Du lieber Narr!«

»Deine Stimme hat sich auch verändert. Früher zirptest du wie ein Vögelchen, jetzt ist's wie metallischer Goldton.«

Behaglich setzte sie sich zurecht. »Weiter!« befahl sie mit einem schalkhaften Lächeln.

»Und du bist schön geworden ...«

Da kam es wie eine Offenbarung:

»Weil ich für dich schön sein will. Körper werden schön, wenn sie geliebt werden, wie Seelen auch. Du solltest das wissen, denn deine Seele ist frei geworden wie das Meer!«

Wieder versank er in ein sinnendes Schweigen. Ja, so war es. Und er gedachte der Andachtsschauer, als er ihren schlanken Leib zum ersten Male berührt hatte. Sein liebendes Ungestüm, seine wilde heiße Sinnlichkeit hatte sie durch ihre Liebe heilig gesprochen – heilig und rein waren sie geworden. Mensch, Tier und Gott in einer Person, durfte er sich ihr nahen, er, der Schöpfer eines neuen Menschen! War hier nicht Würde und Tiefe, Überschwang der Phantasie und aller Glücksmöglichkeiten, schneidende Wirklichkeit und königlicher Reichtum?

Versunken sah er sie an.

»Mütterchen ... Mutter!« flüsterte er.

»Jawohl,« meinte sie mit ruhigem Humor, »ein schönes Mütterchen! Und läßt den Kleinen auf deinem Schoß umfallen vor Schlaf! Sieh, wie sein Köpfchen hin und her schwankt. Komm, gib mir das Kind.«

Behutsam nahm sie den kleinen Heinz entgegen, bettete seinen Kopf an ihre Brust und drückte einen leisen Kuß auf seine Stirn. –

»Wie trotzig er daliegt, und wie er die Fäuste ballt!« sagte sie mit einem Ausdruck kristallener Heiterkeit. »Ein rechter Dickkopf, und bildschön dazu. Er wird dir immer ähnlicher, Heinz – hier um die Augenbrauen, und dann die famose Stirn, das bist ganz du.«

Wieder küßte sie das Kind mit feiner Zärtlichkeit.

Der Vater saß still daneben. Eine Vision der toten Mutter seines Kindes stand vor ihm auf, herb und drohend. Wieviel Leid hatte Lulu ihm gebracht, Reue und Leid!

Es zuckte in ihm, er mußte an sich halten. Verena sollte das Kind nicht so küssen, sie nicht. Doch er bezwang sich: was sie tat, war recht und gut.

»Nun?« sagte sie plötzlich, »ich wette, jemand kämpft gar mit leisen Eifersuchtsgefühlen?« Sie sah ihn forschend an mit Augen voll Geist, Güte, Glut und Leben.

»Du Allwissende!« murmelte er verlegen wie ein Knabe und fuhr dann scherzend fort: »Ich bin natürlich zu höflich, um zu widersprechen. Aber zu verdenken ist's mir nicht, wenn ich dich in Zukunft neben ein paar blühenden erwachsenen Söhnen sehe, die dich vergöttern – was bleibt mir dann noch zu tun übrig?«

Sie lächelte froh und gerührt. »Mein Guter, Goldner, Dummer! Die Zukunft ist noch lang hin. Du bleibst ja doch mein Bester, Liebster und Einziger!«

»Du, das nehm' ich aber unbedingt wörtlich!« sprach Heinz Stürmer heiter.

Wieder schwiegen sie. Der Wald hatte sich gelichtet. Über den Wipfeln der schweren, vereinzelt dastehenden Bäume schwammen im lichtblauen Himmel durchleuchtete Wölkchen dahin, schnell, als hätten sie keine Zeit, zu verweilen. Eine sonnenglänzende Ebene breitete sich zu beiden Seiten des Weges.

Verenas Gedanken spannen sich um das Kind, das geheimnisvoll und unbekannt in ihrem Schoß schlummerte.

»Wenn es nun aber ein Mädelchen wird!« sagte sie unvermittelt. »Ich sehe es kommen, du wirst es lieber haben als ich – – du gerade, du könntest ein Kind durch ein Übermaß an Zärtlichkeit schädigen!«

»Ich? ...« fragte der Mann betreten, »wieso?«

Sie streichelte begütigend seine Hand. »Ich kann es tragen,« fuhr sie mit einem seltsamen seherischen Lächeln fort, »denn meine Liebe blieb ja jahrelang unbeachtet und unerwidert – da ist also der Ausgleich. Ich will auch durchaus nichts davon missen, versteh mich wohl, aber solch kleines Kind –? unter zuviel Sonne verdorren die zarten Pflänzchen.«

Heinz grübelte diesen wunderlichen Worten nach. Kannte er nicht die intuitive Kraft Verenas? Sollte sie recht haben?

Nach einer Pause fragte er leise: »Für einen Jungen aber fürchtest du nichts?«

Strahlend brach es aus ihr hervor: »Unser Bübchen! Stark soll er sein wie sein Bruder und leuchtend. Diesem hier« – sie wies auf das schlafende Kind – »schadet ein Zuviel nichts, er braucht das.«

Heinz nickte zustimmend. »Es ist, als sei er von dir geboren worden – fabelhaft, wie er an dir hängt! Seine Mutter hat der arme Schelm ja auch kaum gekannt. Der aber wird eifersüchtig werden – in jedem Falle.«

Ihr Gesicht umwölkte sich. »Wir müssen Hand in Hand gehen, wachen und klug sein«, sagte sie still. »Kinder sind ja nicht um ihrer Eltern willen da, sondern um ihrer selbst willen. Das hat mein armer Vater leider spät gelernt. Du –« fuhr sie fort und hob die Hand: »weißt du auch, daß ich dir etwas verschwiegen hab' – schon über zwei Jahre?«

»Was denn?« fragte er lächelnd.

Sie sah vor sich nieder.

»Vater hat getobt und geflucht, als ich dich nahm. Mich bei sich behalten wollt' er, oder doch in seiner Nähe. Unfruchtbar sollt' ich bleiben oder an meinen Kindern zugrunde gehen. Ich zwang ihn damals, die grausamen Worte zurückzunehmen, aber sie waren doch einmal gesprochen und haben mich verfolgt – bis jetzt.«

»Und das – – hast du allein getragen?«

»Es war ja für dich!« sagte sie einfach.

Hingerissen küßte er ihre Hände. Ja, so war sie, ganz Hingabe, ganz Selbstlosigkeit. Die Fülle der Empfindung durchschauerte ihn, sie durchtränkte ihn mit einem großen und heiligen Rausch.

Und er sah in die blauen Waldfernen hinein, die sich auf der glänzenden Fläche aneinanderschoben. Über die sonnenfrohe Stille klang ein heimliches Zirpen und Summen. Die gesättigte Ruhe des vollen reifen Lebens empfand er zugleich als gebundene Tatkraft, und sie nahm seine Seele gefangen. In der Vereinigung, in dem wundervollen Einverständnis mit seinem Weibe ahnte er das ewige Symbol aller Religionen, das Ferne und das Nahe, den Zusammenhang mit dem Weltall, den Zusammenklang mit dem Schöpfer, mit der Urkraft selbst.

Verena mußte ihm sein Empfinden von den Zügen abgelesen haben, wie das Lebensleuchten selber saß sie da. »Ja, Gott ist in uns!« sagte sie.

Ihre Seelen fanden keine Worte mehr. Das Ineinanderweben erhabenster Empfindungen forderte Schweigen.

*

In die Silberfäden ihrer Gedanken saßen sie lange eingesponnen, während die Pferde, von den Zurufen des Kutschers ermuntert, in schlankem Trabe über die Ebene dahinstoben.

Mit verändertem Gesichtsausdruck sagte Verena: »Ich bin recht neugierig auf deinen Vater, Lieber. Wie mag er aussehen? Ob er gesund war? Warum nur hat er sich nach Mamas Tode so seltsam eingekapselt?«

Heinz zuckte die Achseln. »Wer weiß, was und wen wir da vorfinden! Ich bin auf alles gefaßt. Ein Glück nur, daß Mama ausgesöhnt starb. So hat sie wenigstens in den letzten Jahren Frieden gehabt.«

»Arme Mama!« meinte Verena wehmütig. »Wie mag sie unter dem fremden Kinde gelitten haben, das in der Küche groß wurde und deines Vaters Züge trug! Aber auch ihn konnt' ich verstehen. Welch überschäumende Lebenskraft in ihm, welch maßlose Genußsucht! Ja und wieviel naive Selbstsicherheit! Du hast übrigens viel vom Vater, Heinz. Er aber hätte nie heiraten dürfen.«

»Alle so veranlagten Männer sollten es nicht. Treue kannte er nur seinen Verhältnissen gegenüber. In einer freien Liebe hätte er vielleicht Treue gehalten. Möglicherweise. Vielleicht auch nicht.«

Verena schüttelte den Kopf. »Freie Liebe ist nur für innerlich gefestigte, reife Menschen.«

Er sah sie lachend an. »Also für uns!«

»Gewiß für uns. Warum haben wir denn eigentlich geheiratet, Heini?« fragte sie neckend.

»Eben weil wir der freien Liebe wert sind – da kommt es denn auf die Form nicht weiter an.«

Ein Lächeln, wissend und allmächtig, ruhte auf ihrem Gesicht. Sie nickte.

Und nun brach sein zurückgehaltenes Empfinden los wie ein Bergstrom und sprengte alle Dämme.

»Ist es nicht ein Unding, zu verlangen, daß ein Mann von fünfundzwanzig Jahren dasselbe Weibideal in sich trage wie ein Fünfunddreißigjähriger? Dasselbe gilt natürlich auch für die Frau. Auch in der Liebe muß es Versuche und vorläufige Erfahrungen geben, ja erst recht in der Liebe, denn sie ist das Höchste im Menschen. In allen anderen Dingen gewährt man uns gnädig eine Zeit der Entwicklung – in der Liebe aber soll, wie man das in Romanen und nur ausnahmsweise im Leben findet, alles von vornherein fest und komplett dastehen. Woher kommt denn das beständige Malheur?« fuhr er ungestüm fort. »Woher kommen die Ehebrüche und gewaltsamen Verdrängungen der früheren Liebe? Weil die Menschen nicht reif waren, als sie sich für immer verbanden, und jedes, Mann und Frau, sich nach einer anderen Richtung entwickelte. Schön und vollkommen kann sich ein Verhältnis nur gestalten, wenn Mann und Weib sich parallel, nein, mehr noch – ineinander und in ihrer Liebe fortentwickeln.«

»Du sprichst wie ein Buch, Heini,« bemerkte Verena trocken und zog ein Gesicht wie ein Gassenjunge, »und für dich trifft alles, was du sagst, buchstäblich zu, ich aber, ich habe seit meinem achten Jahr nur einen einzigen geliebt, dich. Mir fehlen also die ›Versuche und vorläufigen Erfahrungen‹, auch die Entwicklungen, die du forderst, und ich muß sagen, ich befinde mich äußerst wohl dabei.«

»Du!« rief Heinz glühend – »von dir ist hier nicht die Rede. Du stehst außerhalb. Und dennoch, wenn von Entwicklung gesprochen wird, wen anders könnte ich anführen als dich? In einer kontinuierlichen, geraden Bahn bist du vorwärts geflogen wie ein Lichtkörper. Hast du etwa keine Überwindungen hinter dir? Hättest du mich nicht damals, als ich ein zerbrochener Mensch war, aufgesucht und gefunden, wärst du nicht entschlossen, vor allem, wärst du nicht fähig gewesen, mich zu verlassen, als du fühltest, daß ich wieder zu leben versuchte – ich hätte die Göttlichkeit deiner Liebe nicht erkannt, ich wäre noch heute ein sehnsüchtig Suchender geblieben!«

Die lebendige Glut seiner Worte trieb Verena die Tränen in die Augen; rasch wischte sie sie hinweg.

»Nimm mir den Jungen ein wenig ab,« bat sie, in dem Bemühen, sich zu fassen, »er wird mir zu schwer.«

Heinz schob die Arme unter das Kind; der Kleine aber, der soeben erwacht sein mochte, rührte sich und krallte die Fäuste in Verenas Kleid.

Ruhig machte der Vater die kleinen Finger von ihr los.

»Komm, kleiner Trotzkopf, sei brav!«

»Heino bei Mama bleiben! Bei Mama a – a!« brüllte der kleine Mann und schlug mit den Händen und Füßen um sich.

»Mamas Schoß tut aber weh, Heino ist schwer und groß!« sprach Verena freundlich.

Das offene Mäulchen verstummte plötzlich, die dunklen Augen sahen sie mit einem jähen Aufleuchten des Verstehens an, und widerstandslos ließ sich der Kleine auf des Vaters Schoß heben.

Nach einer kleinen Weile wurde er unruhig und zappelte. »Sieh, sieh, dloße Blumm-Blumm!« rief er mit gespitztem eifrigen Gesicht. »Heino tothauen will Blumm-Blumm!«

»He, Bruder!« rief Heinz lachend in russischer Sprache, »mein Sohn wünscht, Ihr sollt die Schmeißfliegen totmachen, die Eure Pferde plagen.«

»Das kleine Herrchen haben offene Äuglein und ein gutes Herz,« entgegnete der Alte freundlich. Behutsam drehte er seinen Peitschenstiel um, es gelang ihm, einige Blutsauger zu zerquetschen. »Der Teufel soll das Aaszeug holen!«

Der kleine Heinz strampelte wie ein vergnügtes Fohlen. »Noch, noch!« kreischte er. »Heino auch Tutscher sein!«

»Wollt Ihr den Wildfang auch haben?« wandte sich Verena an den Alten.

Der Graubart nickte und rückte schmunzelnd an der Mütze. »Kommen Sie nur, kleiner Herr, wollen Sie die Peitsche halten?«

»Peitse halten!« radebrechte das jubelnde Kind. Und als es richtig auf dem Bocke saß, die großmächtige Peitsche in den runden Händchen, schrie es selig: »Nu is Heino Tutscher, tann Mama fahlen!« Dann lehnte es seinen braunen Krauskopf zutraulich an den Arm des Alten und sagte herzhaft: »Duter Mann!«

Damit war die Freundschaft der beiden geschlossen und besiegelt.

In Verenas mächtigen grauen Augen lag ein stilles Leuchten. Ihr Blick hing sinnend an der stämmigen Kindergestalt auf dem Bock.

Wieder tauchten die Reisenden in einen dunklen, feuchten Wald. Wie zwischen hohen, bewegten Wänden fuhr der Wagen hin. Die Bäume griffen übereinander aus wie in einem Wettkampf grüner Riesen, entwirrten sich und standen groß und drohend da. Mühsam tropften goldene Sonnenflecken durch dunkles Tannengrün, verfingen sich in dem lichten Linden- und Ahornlaub, zitterten über jungen Birken hin und blieben zärtlich in dem Blätterdach knorriger Eichen hängen. Ein luftiger Wind rauschte durch den Forst. Die Bäume wurden laut und lebendig.

»Ach die wundervolle Eiche dort!« rief Verena freudig – »hat sie nicht ihren eigenen Rhythmus, ihre eigene Bewegung? Wie sie sich mit dem Winde kämpfend und stoßend emporschraubt! – Aber die Tannen drüben mit ihren hängenden Ästen schauern nieder wie abwärts rieselnde Triolen im Dreivierteltakt – fast möchte man sagen, sie haben einen Regenrhythmus. Und dort jene Kiefern – wie Traumriesen stehen sie da, düster, geharnischt, abseits und böse – richtig zum Fürchten. Dagegen diese hellen Birken im Flatterkleidchen, wie sie so entzückend leichtfertig im Winde flirren und wehen! Ganz unwahrscheinlich märchenhaft und menschlich das alles!«

»Was ist nicht unwahrscheinlich und märchenhaft mit dir?«

Heinz schaute träumerisch in den heimatlichen wogenden Wald hinein, der den Wiederkehrenden nach langen Jahren mit lautem Rauschen begrüßte. Kannte er hier nicht jeden Steg? Er faßte nach Verenas Hand und drückte sie fest. Es war ihnen, als suchten sie nach einem einzigen kraftvollen Wort, worin ihr Wille zum Glück und zur Liebe ganz gefangen sei.

»He, Brüderchen, vorwärts!« schrie der alte Kutscher und schüttelte die Zügel. Die beiden Handpferde setzten sich in einen hitzigen Galopp.

Da lag das Dorf, wach und still, inmitten blanker, glänzender Felder und Wiesen.

Schäbige, graue Hütten mit kleinen, blinkenden Fenstern, die lange, ungepflasterte Straße, die weiße Dorfkirche mit ihren grünen Zwiebeltürmen, daneben, wie es sich gehört, die paar Kramläden und der breitspurige Krug, vor welchem schwatzende Bauern und schwerbeladene Fuhren Rast hielten. Weiter aufwärts die massiven Formen der Fabrik mit ihrem treuen Wächter, dem Hochofen.

Heinz pochte das Herz. Sein Blick suchte sehnsüchtig nach bekannten Gestalten. Weiber standen plaudernd vor den Hoftoren, kleine Kinder auf dem Arm; einige Buben hatten sich mitten auf der Straße zusammengerottet und zogen einen widerstrebenden Ziegenbock nach sich, dort torkelte ein Betrunkener und johlte – jawohl, es war ja heute wieder einmal Festtag.

Genau so und dennoch anders hatte in Heinzens Seele ein Bild der Erinnerung gestanden, das vor seinem wachen Bewußtsein in die Tiefe zurückgetaucht war – jetzt trat die greifbare Wirklichkeit wieder lebendig vor ihn hin, und er konnte es kaum glauben. So eng, so klein das alles, so wohlbekannt – und fremd! Das war sein Heimatsdorf, die Gestalten waren geblieben, nur die Persönlichkeiten hatten sich verändert. Hinweggefegt hatte die Zeit die Alten und Greisen, aus Buben waren Männer geworden, eine neue Generation wuchs kraftvoll und nichtsnutzig heran, und niemand kannte ihn wieder.

Der Wagen rasselte die Dorfstraße entlang. Mit Hurragebrüll schwenkten einige muntere Buben die Mützen – der Empfang galt dem Dreigespann, nicht den fremden Herrschaften. – Hell und festlich schlug der See sein klares Auge auf, und dort – war das zweistöckige Haus mit dem spitzen Giebel, das so trübe, nackt und grämlich dreinschaute – denn auch wirklich Heinzens Vaterhaus? Wo waren die Birken und Linden, die es früher so freundlich umschattet hatten? Wo der zarte, bunte Blumenflor des Vorgärtchens? Gerade, einförmige Gemüsebeete durchzogen es wie stramme Soldatenreihen.

Jetzt bog der Wagen um die Ecke des Gartenzaunes. Von einem Prellstein, dicht vor der Haustreppe, erhob sich eine weibliche Gestalt.

Sie mochte etwa siebenundzwanzig Jahre zählen. Große, hellblaue Augen blickten träumerisch und weltfremd aus einem ruhigen, klaren Gesicht. Gekleidet war sie dürftig, ja ärmlich und sonderbar. Sie trug ein Männerhemd mit weich zurückliegendem, halboffenem Kragen, einen Ledergurt und einen groben Rock, der ihre bloßen Füße, die in Bastsandalen steckten, freiließ. Ihr blondes, strähniges Haar war ringsherum kurz verschnitten, wie es die russischen Buben tragen. Das Sonderbarste aber waren ihre Augen – unter geraden, dunklen Brauen standen sie eigentümlich weit auseinander und gaben ihr den übersinnlichen Ausdruck, wie er auf altbyzantinischen Heiligenbildern üblich ist.

Sie hielt ein Stück Schwarzbrot in der Hand, auf der Schulter saß ihr eine Taube. Der heranrollende Wagen hatte andere Tauben verscheucht, die sie verstört umflatterten.

»Tut nichts, kommt nur wieder her!« sagte das Mädchen mit sanfter, ruhiger Stimme.

Verena drückte Heinzens Arm. »Das ist keine Bäuerin, red' sie an,« flüsterte sie.

»Ob ich Feodor Iwanowitsch Stürmer zu Hause finde?« ... fragte Heinz höflich.

»Ich weiß nicht, ich glaube schon,« gab die Fremde gelassen zurück.

Heinz sprang aus dem Wagen. »Verzeihen Sie, Sie sind keine Hiesige?«

»O nein. Ich bin Studierende der Medizin aus Moskau,« sagte die Fremde gleichmütig. »Ich lebe nur hier. Irgendwo muß man doch leben, nicht wahr?«

Ihr schlafender Mund bewegte sich wie im Traum; um ihre Lippen war ein Lächeln von gelassener Traurigkeit. Sie reckte sich zu dem kleinen Heinz empor und hob ihn vorsichtig vom Bock.

»Sieh mal, was für ein großer Kutscher du bist!«

»O Fräulein, vielen Dank!« rief Verena, die nun auch ausgestiegen war, »wie darf ich Sie anreden?«

»Man nennt mich die heilige Olga oder auch die verrückte Studentin – es kommt auf dasselbe hinaus, und ist beides ebenso wahr wie unwahr,« sagte die Fremde belanglos.

Dabei stand sie hoch, schlank und frei vor den beiden und lächelte. Es war ein merkwürdiges Lächeln von kühler Feierlichkeit und schnitt ins Herz. Der Jammer der Menschheit schien darin zu liegen und etwas, was sie zugleich weit darüber hinaushob.

Gefesselt sahen Heinz und Verena sie an. Das, was ihnen da gegenüberstand, hatte nichts mit dem, was sie kannten, zu tun, und doch empfanden beide in dieser Erscheinung ein Etwas, das ihnen von jeher bekannt war, wie ein uraltes, klagendes Lied längst entschwundener Zeiten. Einer raschen Eingebung folgend, reichten ihr beide zugleich die Hand.

Sie nahm beide Hände unschlüssig entgegen und hielt sie eine Weile in den ihren fest.

»Ich bin durch Güte nicht verwöhnt,« sagte sie herbe.

Der Kutscher nahm den kleinen Heinz auf den Arm. Wie im Banne eines schweren Traumes rissen sich Heinz und Verena von dem Mädchen los und stiegen die Treppe zur Eingangstür empor.

*

Heinz öffnete die Außentür; sie gab einen leisen, knurrenden Laut von sich, der ihm nur allzubekannt war. Fasziniert starrte er die zweite, filzverschlagene Doppeltür an, die ihn vor Jahren immer durch einen langgezogenen, rechthaberischen Quietschton von besonderer Eindringlichkeit zu reizen gepflegt. Seine Hand zitterte auf dem Türgriff – endlich drückte er zu.

Verena sah den Ausdruck verhaltener Atemlosigkeit in seinen Zügen und legte sanft ihre Hand auf seinen Arm. Die Tür ging auf – da war er, der alte, winselnde, eigensinnige Ton, noch verdrossener, noch schärfer war er geworden.

Sie standen in dem langgestreckten, halbdunklen Flur. Eine heimische Luft umwitterte den wiederkehrenden Sohn, eine längst vergessene Zeit kam ihm wie aus kühlen Brunnentiefen ferner Kindheit entgegen.

Und jetzt schlurrten unsichere Schritte. Ein alter Mann trat neugierig und fragend näher. In der leicht in sich zusammengezogenen Gestalt war etwas Fremdes, etwas Sonderbares.

»Vater ...!« sprach Heinz erstickt.

Die ehemals schönen Augen des alten Herrn wurden durchsichtig klar und hilflos, wie bei Tieren, die nicht wissen, wohin sie entrinnen sollen.

»Vater,« wiederholte Heinz, »dies ist Verena und hier ist mein Junge.«

Mit sorgenvollen, leeren Blicken betrachtete Ingenieur Stürmer die Angereisten. »Bitte, wollt ihr nicht abnehmen?« sagte er mechanisch.

Dann schien er sich verwirrt und bekümmert auf etwas zu besinnen.

Heinz überlief ein Grauen – hatten ein paar armselige Jahre vermocht, seinen schönen, kraftvollen Vater in ein wesenloses, greisenhaftes Gespenst zu verwandeln? Oder war es der Tod der Mutter?

Verena kam ihm zu Hilfe. So, als hätte sie ihren Schwiegervater vor einer Stunde verlassen, hing sie sich in seinen Arm und sagte schmeichelnd: »Du erkennst mich wohl gar nicht wieder, Papa? Ja, die kleine, dünne Verena von ehemals bin ich nicht mehr. Das macht, weil ich's so gut hab' bei deinem Heinz. Dein Sohn verwöhnt mich nur allzusehr.«

Sie hob den kleinen Heinz von dem Arm des Kutschers und hielt ihn dem Großpapa entgegen. »Das ist dein Enkelchen, Papa, gleicht er nicht ganz deinem Sohn?«

»Meinem Sohn Heinz –? Jaja, jaja ...« murmelte der Ingenieur und zog die Augenbrauen hoch. »Du mußt nämlich wissen, Hildegard, mein Kindchen, ich bin ein wenig krank gewesen ... ich glaubte, dein Söhnchen sei gestorben.«

Heinz stand da versteinert und bleich. Ein namenloser Jammer zog ihm das Herz zusammen. War es möglich, daß sein Vater seine verstorbene Schwiegertochter mit Verena verwechselte? Gab es etwas Traurigeres, als den jähen Niedergang eines kraftvollen, schönen Vaters, der in seiner Art immer ein Adelsmensch gewesen war, so leibhaftig vor Augen zu haben?

»Lieber Vater,« sagte er weich und ergriff die Hände des alten Herrn, »wie gut, daß ich dich wiedersehe!«

Unsicher sah ihn der Ingenieur an und blinzelte. »Ich muß Marja Pawlowna rufen,« murmelte er, machte hastig kehrt und trippelte in seinen weichen Pantoffeln davon. –

»Heini,« sprach Verena eindringlich, »ich fühle es, der Vater lebt unter einem Druck, in beständiger Furcht. Das wird sich alles geben, wir müssen ihn nur zu beruhigen suchen.«

»Angst – vor wem?« stammelte Heinz.

»Vor ihr – vor dieser Marja Pawlowna oder wie sie sonst heißt.«

»Und das ist also das Ende!« sprach Heinz erschüttert, »das Ende dieses überströmend kraftvollen Lebens!«

Sie legten ab, schickten den Kutscher zu seinen Pferden und traten in das Arbeitszimmer des Ingenieurs.

Das Zimmer war durch und durch verändert, die alte steife Anordnung der Möbel verschoben. Unzweckmäßig und hastig, als seien sie nur vorübergehend da, standen Tische, Stühle und Regale durcheinander. Auf dem großen Zeichentisch lag ein verstäubtes Kinderspielzeug. Verena bemerkte es und bedeckte es ruhig mit einem Bogen Zeichenpapier.

»Du sagtest ja selber, Lieber, du sähest wunderliche Dinge kommen,« sagte sie mit tapferer Heiterkeit. »Machen wir uns also auf alles gefaßt.«

Der kleine Heinz sah sich verloren und gelangweilt um.

»Heino wegfahlen!« erklärte er kategorisch.

Verena hob ihn auf den Arm. »Sieh nur, Heinzel, da ist der Papa, als er noch klein war!« Sie wies auf ein Kinderporträt an der Wand.

»Und wo is Mama?« fragte das Kind eifrig.

»Mama wollen wir zusammen suchen,« meinte Verena schnell gefaßt, »sieh, da im Saal hängen ja noch viele Bilder, paß mal auf, ob die Mama nicht mit darunter ist.«

Sie traten miteinander in den Saal. Es war der alte Raum nicht mehr. Auch hier die gleiche hastige, eigenwillige Einrichtung: kunterbunt standen Sessel und Stühle um Tische und Tischchen. Die vormals grau bekleideten Möbel waren prall und aufdringlich mit einem ziegelroten Stoff bezogen. In die dunkelste Ecke gedrückt stand das alte Klavier, so, als habe es gar nicht mehr mitzusprechen. An den Wänden hingen in glänzenden Rahmen Photographien unbekannter Personen, geschnürte Weiber mit herausfordernden Blicken, Männer, denen man den Sonntagsrock und die Feierlichkeit des Moments der Aufnahme ansah. In der Mitte einer solchen Gruppe erkannte Heinz seinen Vater, mit einem leeren, eitlen Lächeln auf den noch schönen Zügen, neben ihm eine kleine aufgeputzte Person mit stechenden, listigen Augen.

»Das ist also sie!« sagte er tonlos. »Mamas Spuren hat sie meisterhaft zu verwischen verstanden! Da wird ja wohl nichts mehr zu machen sein!«

Verena drückte ihm die Hand. »Sei tapfer, Liebling!« flüsterte sie.

Mit weit offenen Augen starrte der kleine Heinz auf die Bilder. »Mama is dar nich da!« rief er enttäuscht.

Sie setzten sich schweigend. Das Kind trippelte neugierig umher und kroch unter einen Tisch. »Ho, ßönes Fähdchen!« rief es entzückt und zog ein hölzernes Steckenpferd hervor.

Heinz wechselte einen eigentümlichen Blick mit Verena. Er empfand einen wütenden Kopfschmerz und strich sich müde über die Stirn.

Im Nebenzimmer Schritte, Geflüster und ein huschendes Rascheln von Frauenkleidern. Mit verlegenem Lächeln öffnete der Ingenieur die Tür. »Ihr seid gewiß müde und hungrig,« sagte er, »Marja Pawlowna läßt euch bitten, näher zu treten und Tee zu trinken.«

Schweigend erhob sich Heinz. Verena nahm das Kind bei der Hand und folgte.

Sie durchschritten das frühere Boudoir Frau Stürmers; es war in einen Schlafraum verwandelt. Der Ingenieur wies auf einen bunten Wandteppich über dem breiten Ehebett. »Ein Geschenk unseres hiesigen Popen!« sagte er mit kindischer Wichtigtuerei.

Trocken fragte Heinz: »Seit wann verkehrst denn du mit der russischen Geistlichkeit, Vater?« Ihn setzte nichts mehr in Erstaunen: den moralischen und gesellschaftlichen Niedergang seines Vaters hatten ihm die veränderten Zimmer ohne Worte erzählt.

Herr Stürmer räuspert sich hilflos und schwieg. Er stieß die nächste Tür auf – da stand mit einem lauernden, bösen Vogelblick eine kleine, unjugendliche Person im blauen, modischen Leinenkleide, eine komödiantenhafte Frisur auf dem beweglichen Kopf, und verbeugte sich zeremoniell.

»Mein Sohn, meine Schwiegertochter – hier Marja Pawlowna!« stellte der alte Herr schwungvoll vor. Etwas von seiner früheren ritterlichen Art lag in seiner Handbewegung.

»Sehr erfreut!« sagte das kleine Wesen, das aussah wie eine verwitterte Ranunkel, und zeigte fletschend ein großes, gelbliches Gebiß. »Es ist schön, daß Sie einmal daran gedacht haben, Ihren alten Vater in seiner Einsamkeit aufzusuchen. Bitte, wollen die Herrschaften nicht Platz nehmen?«

Über Verenas Züge rieselte ein mutwilliges Lächeln.

»Natürlich wären wir schon vor ein paar Jahren gekommen, um Papa zu sehen,« sagte sie liebenswürdig, »aber der Weg aus dem Jekaterinoslawschen ist ein wenig weit, und das Reisen mit einem kleinen Kinde, wie Sie sich denken können, beschwerlich.«

Man hatte sich inzwischen um den alten ovalen Mahagonitisch gesetzt, an welchem Heinz seine eingeschnitzten Initialen, ein Werk früherer Mußestunden, wehmütig wiedererkannte.

Das Ranunkelgesicht seufzte und schielte ausdrucksvoll zur Decke empor. »Ach ja, kleine Kinder machen viele Müh', wer weiß das besser als ich?« Wie auf den Mund geschlagen stockte Marja Pawlowna, und ihre spitze Nase begann sich langsam zu röten.

»Ihr Söhnchen ist aber doch wohl älter als unser Junge, Marja Pawlowna?«

Heinz sah Verena an, als habe er nicht recht gehört. War denn hier noch von einem zweiten Kinde die Rede?

Marja Pawlowna schluckte und blinzelte. »Ja, das heißt, unser Iwan ist ja schon fünfzehn Jahr,« erwiderte sie mit einer rauhen Stimme, der man den Entschluß anhörte, nicht mehr zu verbergen, was ohnehin offenbar war. »Er ist in Moskau, besucht das Realgymnasium und lernt. Lernt ausgezeichnet,« fuhr sie kühner und schwelgend fort. »Alle Lehrer sind mit ihm zufrieden. Wie sollten sie auch anders? Er hat eben einen guten Kopf, ganz wie sein Vater.«

»Ja, ja,« murmelte dieser gehorsam, »Iwan hat einen guten Kopf, das ist richtig, ist fleißig, sehr fleißig, macht uns Freude.«

Im Nebenzimmer ließ sich ein störrisches Kindergeschrei vernehmen.

»Petja weint!« bemerkte Herr Stürmer hilflos.

Marja Pawlowna saß wie auf Nadeln. »Eh, was ist denn dabei für ein Unglück?« fragte sie scharf. »Du mußt nicht immer Petja nachgeben, Feodor Iwanowitsch – so verzieht man nur Kinder.«

»Aber,« stotterte der alte Ingenieur betreten, »du selbst, du lässest ja Petja niemals –«

Ihr essigsaurer Blick schnitt ihm das Wort vom Munde ab. Sie nickte Verena vertraulich zu und zuckte die Achseln. »Es ist wirklich unbegreiflich, wie schwach Feodor Iwanowitsch gegen den Kleinen ist! So erzieht man sich Geißeln an seinen Kindern!« schloß sie hochtrabend.

»Kleinstadtbühnenreminiszenzen!« warf Verena Heinz leise in deutscher Sprache zu und fuhr dann, um das Gesagte zu verwischen, ebenso fort: »Bitte, dein Taschentuch.«

Heinz gab ihr das Tuch. Mißtrauisch beobachteten ihn die glänzenden, tückischen Augen Marja Pawlownas.

»Sie haben wohl nicht immer auf dem Lande gelebt?« fragte Verena harmlos.

»Marja Pawlowna war früher beim Theater!« platzte der alte Herr heraus.

»Ja, das waren andere Zeiten, freilich. Alle Halbjahr wo anders, Abwechslung, Beifall, Geschenke! Nun, man muß sich zufrieden geben, auch mit dem Landleben. Feodor Iwanowitsch zuliebe tue ich ja mein Möglichstes. Das Haushalten und Sparen ist zwar kein Vergnügen, aber man tut's. Nicht wahr, Feodor Iwanowitsch?«

»Jawohl, sparsam ist sie,« gab der alte Herr bereitwillig zu, »und Haushalten kann sie, alle Achtung! Die Leute haben ja auch einen Mordsrespekt vor ihr,« schloß er mit einem verliebten Lächeln.

Ein Zug des Leidens und der Schwäche, der Heinz nicht entging, umspielte seinen Mund.

Jetzt ging die Tür, eine Dienstmagd trat mit dem Teeservice herein. Sie richtete flüsternd eine Frage an Marja Pawlowna.

»Natürlich, Zitrone, Marmelade, alles, wie es sich gehört, und zwar flink. Sieh zu, daß Petja nicht so flennt.«

Marja Pawlowna schenkte geschäftig den Tee ein. »Entschuldigen Sie, wie war doch Ihr werter Name?« wandte sie sich an Verena.

»Hildegard Karlowna!« fiel der Ingenieur mit neuerwachtem Interesse ein.

»Nein, Papa,« sagte Verena sanft, »Hildegard ist ja gestorben. Ich bin deine kleine Nichte Verena, die Tochter deines Schwagers Hans, und Lonnys Kind. – Verena Iwanowna heiße ich mit meinem Vatersnamen,« wandte sie sich höflich an ihre Nachbarin.

»Verena Iwanowna – ein schöner Name!« lobte die kleine, dürre Person. »Jenrik Feodrowitsch, Sie haben ein außerordentliches Glück gefunden – eine so schöne, kluge Frau!«

Heinz verbeugte sich ironisch.

»Ja, ja, das Glück geht manchmal mit dem Verdienst Hand in Hand, wenn auch selten. Ist's nicht so, Feodor Iwanowitsch?«

»Ich für meine Person kann mich nicht beklagen, mein Glück habe ich gefunden,« stimmte der Ingenieur wieder gehorsam zu, »und hier sitzt es.«

Mit einer breiten, eleganten Geste wies er auf Marja Pawlowna.

Sie sah ihn mit ihren dreisten Vogelaugen an und nickte mit der familiärsten und anerkennendsten Miene von der Welt. »Ja, das ist schon mal eine Schwäche von ihm. Er ist und bleibt ein alter Schäker.«

Heinz lachte mit einem unheilverkündenden Blick hart und nervös auf. Der Ekel schüttelte ihn.

In ihren falschen Zügen kroch es. Jetzt schlug sie einen anderen Ton an. »Ach, Jenrik Fedrowitsch,« sagte sie wehleidig, »wenn Sie wüßten, was für Not ich mit ihm gehabt habe, als er so schwer krank darniederlag! Tag und Nacht in Sorge zu sein, wochenlang – das ist keine Kleinigkeit!«

»In Sorge – worum?« fragte Heinz schroff.

»Nein, wie Sie nur fragen. Ih, du lieber Gott, um sein teures Leben natürlich. Arterienverkalkung und Brustfellentzündung nannte es der Doktor, und trinken sollte Feodor Iwanowitsch nicht, und hatte doch immerzu Durst.«

»Ja, ja,« meinte der alte Ingenieur mit einem verlorenen, einfältigen Ausdruck, – »da hat sie alles, was sie wollte, mit mir anstellen können, ja, ja, so war es, meine Teuere.«

»Das glaub' ich!« rief Heinz und warf Verena einen schmerzlich vielsagenden Blick zu. »Konntest du in der schlimmen Zeit denn auch schreiben, Vater?«

»Schreiben? Wozu denn schreiben?« fragte Marja Pawlowna lauernd.

»Nur mal ab und zu eine Namensunterschrift – das ging noch gerade,« verplapperte sich der alte Herr. »Mehr hat sie ja nicht von mir verlangt.«

Nun war ja alles klar. Die Rolle, die Marja Pawlowna in diesem Hause spielte, bedurfte keiner Erläuterung. Es trat ein schwüles Schweigen ein.

Da öffnete sich wieder die Tür, und die Magd, an deren Rock sich ein kleiner Bub gehängt hatte, brachte Sahne, Zitrone, Marmelade, Brot und Butter. »Er will durchaus nicht drinnen bleiben«, entschuldigte sie sich furchtsam.

Heinz war heftig zusammengeschrocken. Herrgott, dieses Kind mußte ja kurz nach der Wiederversöhnung seiner Eltern zur Welt gekommen sein. Ob seine Mutter auch davon gewußt hatte? Und wie hatte sich Marja Pawlowna nach dem Tode seiner Mutter wieder bei dem Vater einnisten und festsetzen können? War es denn auch wirklich sein Kind?

Erstarrt blieb der Junge stehen, als er die fremden Gäste sah, und steckte den Finger in den Mund.

Der kleine Heinz aber, der sich bisher merkwürdig still verhalten hatte, trippelte sofort auf den anderen Knaben zu, zeigte ihm das Steckenpferd, das er nach sich zog, und behauptete triumphierend: »Das mein Fähd!«

»Nein, meins!« quiekte Petja entrüstet und griff darnach.

Heinzichen aber ließ nicht los. Im Nu hatten sich die beiden Kinder ineinander verkrallt und lagen kreischend am Boden. Petja riß sein Eigentum an sich und zog sich damit in eine Zimmerecke zurück, während sein stämmiger, kleiner Gegner breitbeinig auf dem Boden sitzen blieb und den Mund zum Heulen öffnete.

Die beiden Frauen suchten zu vermitteln.

»Petjenka, mein Liebling, gib doch dem Kleinen dein Steckenpferd. Du bekommst ein viel schöneres,« sagte Marja Pawlowna honigsüß.

»Lassen Sie nur, Marja Pawlowna, es ist durchaus nicht nötig.«

Mit zwei Schritten sprang Heino dazwischen und hob seinen Jungen hoch. »Still, Heino,« rief er streng, »du bekommst das Pferd nicht, es gehört dem Knaben.«

Das Kind starrte seinen Vater verblüfft an und ließ sich widerstandslos auf einen Stuhl setzen. Nach einer Weile glitt es unbeachtet von seinem Sitz, steuerte direkt auf Petja los, der sich von seinem sicheren Winkel aus damit beschäftigte, ihm die Zunge zu präsentieren, und versetzte ihm einen ordentlichen Puff. »Mäh, mäh!« äffte der kleine resolute Schelm seinem jugendlichen Oheim nach, der ein jämmerliches Geschrei ausstieß, und kletterte würdevoll auf seinen Stuhl zurück, wo er mit gutem Appetit und entsprechendem Gewissen die schönen Sachen verspeiste, die Verena ihm ins Mäulchen schob.

Die Existenz seines ungastlichen Blutsverwandten war damit für Heinzchen abgetan. Er würdigte fortan weder ihn noch das hölzerne Streitobjekt auch nur eines Blickes.

Trotz dieses überraschenden Zwischenfalles, der von den Erwachsenen weislich ignoriert wurde, zog sich die Unterhaltung mühselig dahin. Der Ingenieur saß mit einem Ausdruck erzwungener Verbindlichkeit ein wenig zusammengefallen in seinem Lehnstuhl und rauchte. Mitunter schien ihn ein Schlafbedürfnis zu überkommen, er gähnte verstohlen vor sich hin.

Heinz betrachtete seinen Vater mit bitter-schmerzlichen Gefühlen. Nein, hier war nichts zu erreichen, das stand fest. Fremd war der alte Herr seinem Sohne geworden, nicht ein einziges Mal hatte sich ein freundlicher Zug in seinem Antlitz geregt, wenn er seinen kleinen Enkel ansah. Preisgegeben war er der intriganten Frauensperson, die ihn zum drittenmal in seinem Leben und diesmal endgültig zu fesseln gewußt – verfallen schien er ihr mit Leib und Seele, mit Gut und Blut. Wo hatte er nur diese elende Komödiantin aufgelesen?

Ein würdeloses Alter, ausgesogen, ausgebeutet von raffenden Händen, und ein Tod, abgetrennt von allem, was ihm das Leben ehemals lieb gemacht hatte. Das also war der traurige Rest. Wie unentbehrlich mußte sich ihm diese Marja Pawlowna zu machen gewußt haben, da er ebenso an ihr zu hängen schien, wie er sie fürchtete. Welche Wirrsale menschlicher Seelenfäden! Welche unbegreiflichen Verirrungen!

Heinz faßte seinen schmerzenden Kopf und seufzte. Die ganze nachsichtige, liebevolle und mitleidige Überlegenheit der Manneskraft gegenüber dem ermüdeten Alter lag in seinem Ausdruck. Arme Mutter, du hättest heute eine schauerliche Genugtuung für den Kummer deines Lebens! Armer Vater, wie niedrig hast du dir deine Ziele gesteckt, wie klein bist du geworden! Ist das ein Leben? nennt man das Leben? Ach, das heißt nur existieren!

Und mit einem plötzlichen Klarblick wußte er, daß es das Leid gewesen, das ihn selbst vertieft und größer gemacht hatte, er wußte, daß er auch das Leid seines Lebens lieb hatte und es nicht wieder hergeben wollte. Er sah Verena an, wie sie da saß in ihrer heiteren Sicherheit und Ruhe, frei in ihrer harmonischen Hoheit, und er empfand seine Liebe zu ihr so tief, so mächtig, so hoch und so umfassend wie noch nie, er empfand das Glück seiner Liebe als eine Gnade, die er sich nie verdienen könne, um die er aber dienen wolle Tag um Tag und Jahr um Jahr. Ja, wenn du mich auch nicht liebtest, klang und blühte es in seiner Seele, meine Liebe zu dir wäre dennoch gesegnet und glücklich, denn sie ist das Tiefste an mir, und die tiefste Liebe ist es, welche die glücklichste ist.

Jetzt horchte er auf. Mit ihrer dunklen Stimme, die an den Ton eines Cello erinnerte, sagte Verena: »Lieber Vater, seit wann ist das sonderbare Mädchen hier, das wir im Dorf gesehen haben? Sie trug ein Männerhemd und Sandalen ...«

»Ah, die verrückte Studentin!« rief Marja Pawlowna hämisch und nun ganz in ihrem Fahrwasser. »Das ist eine ganz gefährliche Person, wissen Sie, Anarchistin sagt man und aus Moskau vertrieben. Treibt sich seit Monaten hier im Dorfe umher und will die Arbeiter lehren, keinen Branntwein zu saufen und ihre Kinder zu erziehen. Sie hat den bösen Blick, sagen die Leute.«

Verena sah an ihr vorbei. »Und was sagst du, lieber Vater?«

Der Ingenieur schien angestrengt nachzudenken.

»Sie ist nicht böse«, sagte er endlich, und unter dem Blick Marja Pawlownas zusammenfallend wiederholte er mit schüchterner Hartnäckigkeit: »Nein, böse ist sie nicht, nur konfus, närrisch, nun ja – einfach übergeschnappt.«

Mit einer hilflosen Geste, in der sich dennoch eine mitleidige Überlegenheit malte, deutete er an seine Stirn.

Ein eigentümlich anzügliches Lächeln verzerrte Marja Pawlownas Züge. »So? Und daß sie revolutionär ist und zu den Roten gehört, ist das etwa nichts? Aus dem Dorfe hinausjagen sollte man sie, der Vater Kyrill, unser Pope, hat es auch gesagt – hast du das wieder vergessen?« rief sie mit dem kreischenden Ton einer Säge – – »Sie macht die Leute aufsässig – ist das vielleicht auch nichts? Die Pest möge sie holen!«

» Wir werden sie mitnehmen«, sprach Verena mit ruhiger Bestimmtheit und sah Heinz bittend an.

Er seufzte tief auf vor Freude, daß er ihr etwas gewähren konnte. Strahlend nickte er ihr zu.

Marja Pawlowna saß versteinert. Vor Enttäuschung und Ärger ließ sie die Schultern hängen und biß sich auf die Lippe.

»Ich meine, wir brechen gleich auf, wenn wir sie heute noch sprechen wollen«, sagte Heinz und erhob sich.

»Zum Mittagessen aber seid ihr wieder da, hoffe ich?« fragte der Ingenieur mit einem Anflug von Herzlichkeit. »Wir essen in einer Stunde. Ihr bleibt doch noch einige Tage hier?«

»Das ist wohl nicht möglich, Vater«, erwiderte Heinz. »Wir reisen morgen vormittag.«

Unschlüssig sah der alte Herr den Hinauseilenden nach.

»So laßt doch wenigstens das Kind hier.«

»Bleib' beim Großpapa, gelt, Heinzel?« meinte Verena und beugte sich zu dem Kinde nieder.

»Nein!« schrie der Kleine aufgeregt – »nein! Heino mitdehen!« Und als er schon halb aus der Tür war, rief er schrill: »Das dar tein Dloßpapa!«

*

Gedankenvoll wanderten Heinz und Verena die Dorfstraße entlang. Der Vater trug seinen Buben auf dem Arm.

Verena berührte ihres Mannes Schulter.

»Heini,« sagte sie treuherzig und liebevoll, »das war ja alles vorauszusehen! Darüber müssen wir hinwegkommen. Hab' ich nicht recht?« Ihre Augen ruhten voll tiefen Wissens in den seinen. »Ich freue mich auf die heilige Olga«, fuhr sie heiter fort. »Die ist so wenig verrückt als ich und du.«

Er nickte. Die Bewegung seines Innern legte sich wie immer unter ihren Händen zur Ruhe.

»Wo wohnt die Studentin?« fragte er den ersten besten Jungen, der ihm in den Weg kam.

»Drüben im Ziegelhause, beim Gerichtsschreiber, wo die große Kiefer steht.«

»Aha, ich weiß«, murmelte Heinz. Er legte Verenas Arm in den seinen; rüstig schritten sie vorwärts.

»Der ist nicht gewachsen,« sprach er, auf den märchenhaften, alten Baum deutend, »er muß wenigstens dreihundert Jahre alt sein. So mächtig stand er schon vor dreiunddreißig Jahren da, als ich, ein kleiner Bub, am Rock meiner Wärterin hängend, spazierengeführt wurde. Der ist doch noch das Beste hier daheim.«

»Und der See? Und dein Hochofen, Lieber?«

»Das alles sehen wir niemals wieder. Zu Ende dieses Kapitel!« sprach Heinz trübe.

Sie traten an das kleine Haus aus Backsteinen heran, das sich mit seiner roten Front unter seinen hölzernen Nachbarn wichtig und beinahe stattlich ausnahm.

Aus dem halbgeöffneten Fenster schaute eine alte Frau besorgt und neugierig hervor.

»Die Studentin – wohnt hier?« fragte Heinz und berührte den Hut.

Der greise Weiberkopf nickte, eine runzlige Hand wies aufwärts.

»Ich kenne den Weg, – vor Jahren war ich einmal bei den Schreibersleuten. Komm nur, Liebling.«

Heinz stieß die Hofpforte auf; sie standen in einem länglichen Hofraum. Der Kuhstall, eine offene Scheuer, daneben kleinere Stallungen für Schafe, Schweine und Geflügel füllten die Langseite. Ein halboffenes Tor, dem Eingang gegenüber, führte den Blick auf glänzende, grüne Felder hinaus. Einige Hühner flogen erschreckt und gackernd vor den Fremden auf.

Auf die unsaubere Schwelle des lang in den Hof hineingestreckten Häuschens war ein Hufeisen genagelt. Der dunkle Flur roch nach Sauerkohl und Armut.

»Hier hinauf, warte, ich mache Licht, falle nicht.«

Heinz strich ein Zündholz an; vorsichtig erkletterten sie eine knarrende, geländerlose Treppe. »Hier die Tür.« Er klopfte energisch.

»Wer ist da? Herein!« rief eine sanfte Stimme.

Sie traten in einen kümmerlichen Dachraum.

Ein Bettgestell im Winkel, mit einer rotgeblümten Kattundecke bezogen, daneben der Schornstein, davor eine Holzbank.

Vom Fenster wandte sich ihnen die Studentin zu, ein kleines, einsames Lächeln auf dem Antlitz.

»Sie sind es!« sagte sie ohne das mindeste Erstaunen. »Kann ich etwas für Sie tun?«

Verena ging herzlich auf sie zu und faßte ihre Hand.

»Wir sind gekommen, um Sie zu fragen, ob Sie mit uns wollen ins Jekaterinoslawsche?«

»Ins Jekaterinoslawsche – weshalb?«

Die beiden Frauen sahen sich freundlich an, bis sie lachen mußten. Die Studentin lachte leise vor sich hin, dann verwundert, endlich ganz gerührt und glücklich. »Wo denken Sie hin? Ich kann ja meine Miete nicht bezahlen.«

Heinz folgte aufmerksam dem Spiel ihrer Gesichtszüge.

»Nun,« sagte er mit heiterem Humor, »das strecke ich Ihnen vor, wenn Sie es erlauben.«

Ihre Augen wurden rund und durchsichtig. »Was – was soll ich denn bei Ihnen?«

»Meiner Frau Gesellschaft leisten, im Haushalt helfen, sie pflegen, wenn –«

»Wenn unser Kindchen kommt!« schloß Verena freudig.

»Es findet sich wohl noch allerlei für Sie zu tun. Wollen Sie kommen? Wir reisen morgen vormittag.«

»Aber Sie kennen mich ja gar nicht«, sagte die Studentin wehrlos. Seltsam klein und allein klang ihre Stimme.

Irgendeine Macht gab Verena die rechten Worte ein. »Wir kennen Sie genug, um mit Ihnen zu fühlen. Wir wissen, daß Sie Liebe geben können, daß Sie in der Seele reich sind.«

Tonlos sprach die andere: »Ich bin ein toter Mensch. Zuviel habe ich verloren.«

»Bei uns werden Sie wieder leben.«

Die Augen der heiligen Olga ruhten eindringlich und prüfend auf Verena, dann betauten sie sich und wurden weit und lebend.

»Ja, ich glaube es,« sagte sie einfach.

Heinz und Verena reichten ihr die Hände.

»Also abgemacht. Auf morgen vormittag. Wir fahren einfach hier vorüber und holen Sie. Wenn Sie einen Koffer haben –«

»O nein, ich habe keinen Koffer«, sagte das wunderliche Wesen trocken.

Die beiden schritten zur Tür und sahen sich noch einmal grüßend um.

Da stand die Studentin mitten in ihrem nackten Zimmer mit feuchtem Blick und einem Ausdruck von Glückseligkeit, der die anderen erschütterte.

»Du lieber Gott!« seufzte Verena, während sie die Treppe vorsichtig hinabkletterte, »das war ein köstliches Erlebnis! Schon das allein war die Reise wert!«

Heinz umfaßte sein junges Weib im dunklen Flur und küßte es heiß.

»Ach nein, nicht hier mitten im Sauerkohldunst!« wehrte Verena lachend.

*

Sie trafen rechtzeitig zum Mittagessen ein. Der Ingenieur schien unruhig auf sie gewartet zu haben. Marja Pawlowna war voll verbissener Geschäftigkeit. Mit Genugtuung bemerkte Heinz die gute und sorgfältige Zubereitung des Essens. Selbst ein gewisser Luxus äußerte sich in allerlei Zuspeisen. Gute Weine und Liköre zierten den Tisch, dazu ein großer Blumentopf mit glühendroten Fuchsien, den Marja Pawlowna wie einen englischen Pudding mit einer Serviette bekleidet hatte. Also leiblich schien der Vater wenigstens gut versorgt zu sein.

Als der kleine Heinz sich trotzig weigerte, ein Gemüse zu essen, sagte der Großvater ganz freundlich: »So laß dem Kinde doch ein Ei geben, Marja Pawlowna«, und als der Wein eingeschenkt wurde, erhob der alte Herr mit einem halb verlegenen, halb gutmütigen Ausdruck sein Glas, verbeugte sich ein wenig gegen Verena hin und sprach: »Aufs Wohl unserer lieben Hildegard«, worauf er sich besinnend innehielt und beschämt korrigierte: »Will sagen, auf dein Wohl, Verena!«

Marja Pawlowna machte sich mit ihrem Petja zu schaffen und rutschte mit einem bitteren Lächeln unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Ihr böser Vogelblick ging rastlos lauernd von einem zum anderen. Eine heimliche Angst zitterte in ihren Zügen.

Heinz begann dem Vater von seiner Tätigkeit zu erzählen und schilderte ihm die Verhältnisse in Südrußland. »Das Volk ist viel lebhafter, beweglicher und anmutiger als hier. Die Leute sind wie große Kinder, wenn man sie richtig anpackt; man muß ihnen gut sein. Den Architekten habe ich zunächst aufgesteckt. Es lag mir vor allem daran, das Vertrauen und die Zuneigung meiner Leute zu gewinnen. So habe ich mich einfach als Werkführer auf den großfürstlichen Gütern bei verschiedenen Bauten betätigt. Dabei sah ich so allerlei, wie sehr z. B. die Landwirtschaft im argen lag. Ich begann mich damit ziemlich gründlich zu beschäftigen, zunächst theoretisch, dann praktisch auf meinen eigenen Feldern – und zu meiner großen Überraschung wurde mir die Stellung eines Oberverwalters angetragen, als der großfürstliche Oberverwalter plötzlich starb. Ich wollte zuerst nicht recht dran – die Stellung ist sehr verantwortungsvoll, wenn auch einträglich. Aber ich gab den Bitten der Leute endlich nach«, schloß Heinz bescheiden.

»Nachdem er nämlich dem großfürstlichen Verwaltungsrat klar und deutlich gemacht hatte, wie viele Gelder hätten praktischer verwertet werden können«, fiel Verena eifrig ein, »und die Herrschaften den gehörigen Respekt vor seinen Kenntnissen, namentlich aber vor seiner unbestechlichen Redlichkeit erlangt hatten. Der Fall steht übrigens einzig da. Ein undiplomierter Oberverwalter! Na, diesmal haben sie den Rechten getroffen. So sind also merkwürdigerweise auch beide Teile befriedigt, das Volk und die oberen Regionen.«

»Dazu kommt, daß meine Frau Gemahlin in den Hofkreisen mehr als rühmlich bekannt ist. Man hat ihre Kunst noch in frischer Erinnerung von Petersburg her, und um die Wahrheit zu sagen – ich bin der Mann meiner berühmten Frau, und sie ist es, der ich im letzten Grunde diese Stellung zu verdanken habe.«

»O pfui, Heinrich!« rief Verena entrüstet.

Der Ingenieur sah verdutzt von Verena zu Heinz.

»Ach so, Vater weiß ja gar nicht, daß ich Konzertkünstlerin war und zuweilen noch bin!«

»Nun, dann soll er es eben erfahren. Nicht wahr, du hattest es vergessen, Vater? – Nachher spielst du uns ein wenig vor, Liebling.«

Verena antwortete mit ihrem tiefen herzlichen Liebeslachen.

Eine wärmere Strömung floß leise und golden durch die verschütteten Beziehungen zwischen Vater und Sohn hin. Die fremde, feindselige Wirkung unedler Kräfte und Begierden begann einer wiedererwachenden Anteilnahme und herzlichen Gesinnung zu weichen, wie sie unter Menschen, die sich einstmals nahegestanden, so natürlich ist.

»Und das ist noch lange nicht alles!« rief Verena mit strahlender Heiterkeit, während ein ganz feines Rot ihren zartweißen Teint färbte – »Unser Heinz ist ein Tausendsassa! In aller Stille hat er sich zum Schriftsteller entwickelt, was sage ich? – zum Künstler. Seine Bücher kennt man in Deutschland. Freilich, wer jede Minute seines Tages zu nützen weiß, wie er –«

Sie hielt inne – der Ingenieur saß mit einem hilflosen Ausdruck da, seine Züge arbeiteten und zuckten, endlich brach er in ein wehrloses Weinen aus.

»Und ich habe nichts gewußt!« stieß er schluchzend hervor, »ich habe kein einziges Buch meines Sohnes gelesen.«

Heinz sprang auf und flog auf ihn zu. »Lieber, lieber Vater ...«

Verena saß mit feurigen Augen still und wartete.

Heinz preßte den Kopf des alten Herrn an seine Brust und streichelte ihn, wie man ein Kind streichelt.

»Ach, Vater,« sprach Verena wieder, »Freude haben wir dir bringen wollen, deshalb kamen wir. Du solltest deinen Sohn von neuem kennenlernen. Es lohnt sich der Mühe,« fuhr sie schalkhaft fort, »er ist ja der zarteste und lebhafteste Mensch zugleich, den man sich denken kann, und ich kenne ihn wie keiner. Wir dürfen schon stolz auf ihn sein.«

»Und jetzt, Vater,« unterbrach Heinz sie feurig, »jetzt wirst du's auch fühlen, weshalb wir gekommen sind. Wahrlich nicht, um dich zu beeinflussen, dich gegen deinen Willen zu bestimmen, oder dir gar geschäftlich dreinzureden, nein! Nur dir bei uns ein Heim bereiten wollten wir, dein Alter umsorgen, verschönen!«

Der alte Herr weinte und lachte durcheinander, staunte, schluckte und zitterte, gänzlich überwältigt, gänzlich in Verwirrung. »Nein, Kinder, es geht nicht, es geht wirklich nicht,« stammelte er, »seht, ich bin ein alter, morscher Baum, der läßt sich nicht mehr entwurzeln. Und hier – was sollte aus diesen werden?« Er wies auf Marja Pawlowna und Petja. »Sie gehören doch einmal zu mir.«

Marja Pawlowna saß vor Schreck versteinert da. Zu jäh war der unvorhergesehene Gefühlsumschwung des Ingenieurs über sie hereingebrochen. Aber jetzt sprang sie auf, wie eine Wölfin, stürzte vor ihm in die Knie, rang die Hände zu ihm empor.

»Väterchen! Feodor Iwanowitsch!« heulte sie, »verlaß mich nicht, du mein Wohltäter, mein Versorger! Sieh, was soll denn aus dem Kleinen werden? Und deinem Sohn Iwan? – die sind doch auch deine Kinder! Väterchen, um aller Heiligen willen, erbarm' dich unser!«

Sie küßte seine Hände, seine Knie, sie wälzte sich auf dem Boden vor ihm, wie ein verwundetes Tier. Ihr Anblick war widerwärtig und erschütternd. Mit einem Male schnellte sie wieder empor, riß den verwunderten Petja aus seinem Kinderstuhl, zerrte ihn zu dem Ingenieur hin und stieß ihn in die Knie.

»Weine, Petjenka, weine nur!« schrie sie. »Dein leiblicher Vater will dich verlassen!«

Petja bedurfte des mütterlichen Befehls nicht, entsetzt brüllte er auf.

Der alte Herr schien einer Ohnmacht nahe. Erschöpft hing sein Kopf in Heinzens Armen.

»Geht! Regt den Vater nicht auf!« befahl Heinz. »Er wird tun, was seine Pflicht ist, Euer Erbe soll Euch nicht geschmälert werden.«

Die Frau schlich geduckt beiseite, wie eine geprügelte Hündin, den verängstigten Petja an der Hand.

Langsam schien der Ingenieur wieder zu sich zu kommen. Aber ein stiller Glanz leuchtete von seinen Zügen.

»Ich bleibe hier,« sprach er matt, »aber ich danke dir, mein Sohn – auch in deiner Mutter Namen.«

Gebrochen und schwer atmend saß er da.

»Heinzel,« flüsterte Verena dem Kleinen zu, »sieh, der Großvater ist so traurig, geh', gib ihm einen Kuß.«

Mit glänzenden Augen sah das Kind sie an, trippelte freudig auf den alten Herrn zu und sagte treuherzig: »Dloßpapa, Heino Tuß deben!«

Da riß ihn der Ingenieur an sich und bedeckte ihn mit Küssen.

Der Tag verlief in stiller, friedlicher Harmonie. Marja Pawlowna hielt sich in respektvoller Entfernung.

Als der Abend nahte, nahm Verena ihre Geige und spielte, Heinz begleitete sie auf dem alten Klavier. Wie mit silbernen Schwingen, ein lichter Geist des Friedens, ließ sich die feierliche, schöne Musik vor der Seele des alten Herrn nieder und bat um Einlaß. Der Künstler in ihm erwachte noch einmal, machtvoll und gewaltig.

In tiefer Versunkenheit hatte er dagesessen, die Hand übers Gesicht gedeckt. Als der letzte Ton verhallt war, stand er schwankend auf, ging langsam auf Verena zu und zog ihre Hand andächtig an seine Lippen.

»Das war – eine Auferstehung – von den Toten ...« murmelte er.

Die gehobene Stimmung verließ ihn nicht mehr. Wohl aber schien sich Marja Pawlowna über Nacht vergewissert zu haben, daß die unwillkommenen Gäste ihr in der Tat nicht so gefährlich geworden seien, wie sie in ihrem ersten Schreck angenommen hatte. Als am andern Morgen der Wagen zur Abreise bereit stand, als Heinz sich erschüttert in die Arme seines Vaters warf, um vielleicht für immer Abschied zu nehmen, als Verena dem Großvater den Enkel entgegenhob, damit er ihn küsse, und dann selbst gerührt an seinem Halse hing – da stellte sich Marja Pawlowna mit ihrem Petja wie eine tragische Muse einer Vorstadtschmiere auf der Haustreppe in Positur und sprach schwungvoll:

»Weine nur, Feodor Iwanowitsch, weine, armer, vereinsamter Vater, und ich will mit dir weinen! Deine teuren Kinder und dein einziges Enkelchen siehst du in diesem Leben nach menschlichem Ermessen nicht wieder!«

Worauf naturgemäß keiner von den Beteiligten fähig war, seiner Rührung freien Lauf zu lassen.

*

Hatte Heinz von jeher die Fähigkeit in sich, die größten Gegensätze in seinem Innern zu empfinden, ohne sie zu vereinen, den entgegengesetztesten Persönlichkeiten und Dingen gleich verständnisvoll nahe zu stehen, so daß sein Wesen ihm selbst geteilt und als ein doppeltes erscheinen mußte, so war er seit seiner Vereinigung mit Verena, deren liebevolles und einzigartiges Verständnis ihm immer neuen Aufschwung verlieh, deren geniale Allseitigkeit ihm die Ruhe brachte, auf dem Wege zu jener wunderbaren inneren Harmonie, die der Kämpfe und Gegensätze in sich Herr zu werden weiß und jede Erfahrung fruchtbringend und lebensteigernd auf sich wirken läßt. Er hatte es gelernt, die kleinlichen Regungen egoistischen Glücksbedürfnisses zu überwinden, an sich selbst einen hohen Maßstab zu stellen, in der Flucht der Erscheinungen den Ewigkeitsgehalt zu sehen und festzuhalten. Vielleicht hätten die Leiden und Erfahrungen, die ja keinem strebenden Menschen erspart werden, die er aber kraft seiner Doppelnatur besonders schmerzlich durchleben mußte, allein genügt, um ihn bis zu diesem Grade der Reife zu führen – Tatsache war, daß er in seinem Gemüte alles, was ihn erhob und förderte, seiner Verena, ihrer heiligenden Liebe zu ihm und einer führenden allweisen Vorsehung zuschrieb. So den Blick auf das Ewige gerichtet, in einer freudigen Weltfrömmigkeit, ehrlich bestrebt, den lebendigen Zusammenhang zwischen Ursachen und Wirkungen aufzuspüren, hatte er es gelernt, sein Lebensschifflein fest und sicher durch die Wirrnisse täglicher Begebenheiten zu lenken. Gelernt hatte er es allmählich, das Gleichmaß zu bewahren, gleichviel, ob er in die Abgründe menschlicher Schicksale hinabschaute, ob er ihre lichten Höhen sah. Die Synthese seiner aktiven und passiven Natur, sich selbst, sein ewiges Selbst hatte er gefunden.

So war sein Leben eine Kette reicher, fruchtbringender Tätigkeit geworden. Eine peinlich genaue Einteilung seiner Zeit ermöglichte es ihm, auf verschiedenen Gebieten gleich kräftig wirksam zu sein und für alles und alle Zeit zu finden. Drei Tage in der Woche widmete er seinen Revisionsreisen. Während dieser langen Fahrten war sein Geist unermüdlich tätig und spann an seinen dichterischen Arbeiten fort. War er an Ort und Stelle gelangt, so befähigte ihn seine außerordentliche, inzwischen von praktischen Dingen ausgeruhte Spannkraft, auch ein Geschenk seiner Doppelnatur, die täglichen Forderungen seines Berufes zu umfassen und die notwendigen Arbeiten zu übersehen. Daheim gehörte er hauptsächlich seiner Familie, und es konnte fast scheinen, als habe er nichts zu tun. Nur wenn Verena, die als Künstlerin wohl wußte, daß jeder Stillstand einen Rückschritt bedeutet, ihre täglichen Übungsstunden einhielt, arbeitete er in seiner stillen Stube aus, woran er unterwegs gesponnen hatte, und verband und verknüpfte so die losen Fäden zu farbigen Gebilden. Die Nachmittage waren regelmäßig dem Empfange von Unterbeamten der verschiedenen Ressorts gewidmet. Da wurden Berichte entgegengenommen, durchgreifende Änderungen beratschlagt, Gesuche geprüft und Rechnungen kontrolliert.

Der Hinzutritt einer dritten Persönlichkeit in das scheu gehütete kostbare Kleinod seines Familienlebens und seiner Tätigkeit hätte sich als sehr störend erweisen können. Das gütige Geschick aber, das seit Heinzens Ehe mit Verena dauernd über ihm zu walten schien, hatte offenbar seine Freude an dieser Harmonie und fügte in der Person der heiligen Olga nur noch einen wohlklingenden Akkord zu den übrigen.

Die Studentin hatte sich mit grenzenloser Liebe an Verena geschlossen. Ihre vereinsamte, zurückhaltende Natur schien unter dem Geiste, der dieses Haus beseelte, wie eine freudige Blume aufzublühen, die allzulange im Kellerdunkel nach Licht geschmachtet hatte. Ein feiner Humor, eine trockene Selbstironie von erfrischender Wirkung traten bei ihr zutage. Ihre Schweigsamkeit verlor sich allmählich, und eine seltene Feinfühligkeit verbot ihr, jemals die Grenzen zu überschreiten, die ihr als einer ursprünglich Fremden vorgezeichnet waren. Den kleinen wilden Heinz zu umsorgen, war ihr eine Freude. Bei aller Zärtlichkeit für das Kind aber hütete sie sich wohl, die erste Stelle in seinem Herzen zu beanspruchen; sie tat vielmehr, was sie konnte, um die ausgesprochene Zuneigung des Kindes für seine junge Stiefmutter zu erhalten und zu steigern.

Ihre tüchtigen medizinischen Kenntnisse, die sie bei Gelegenheit einer Ruhrepidemie unter den Bauern mit Glück zu verwerten gewußt, hatten sie in den Augen der Bevölkerung zu einem Wunderdoktor gestempelt, dessen Gegenwart allein schon von heilspendender Wirkung sei, und so hatte sich ein neues sympathisches Band zwischen den einfachen Leuten und dem Herrenhause gesponnen, das geeignet war, die gegenseitigen Beziehungen zu vertiefen und zu verschönen.

Niemals, seit die großfürstlichen Güter von einem Oberverwalter geleitet wurden, hatte eine ähnliche Harmonie in den meisten weitverzweigten Beziehungen gewaltet, niemals war aber auch in dem alten schloßartigen Herrenhause ein Dreiklang von ähnlicher Reinheit vernommen worden, hatte es ein Zusammenwirken so verschiedener Kräfte zu einem einzigen segenspendenden Sein gegeben. Im Volksmunde, der ahnungsvoll oft das Rechte trifft, hieß man Verena »unser Seelchen«, Heinz »unsere Gerechtigkeit«, die Studentin aber auch hier wunderlicherweise »die heilige Olga«.

Der Sommer war außerordentlich heiß geworden. Das alte weiße Steinhaus mit seiner imposanten, von Säulen getragenen Front, deren prächtiger Treppenbalkon auf den Garten hinaussah, warf die prallen Sonnenstrahlen zurück und leuchtete von seiner einsamen Höhe gnädig auf die lange Dorfstraße hinab. Ursprünglich war es als Jagdschloß für einen der Großfürsten gebaut worden, nun diente es seit mehr denn fünfzig Jahren dem jeweiligen Oberverwalter zur Behausung. Tradition und Luxusbedürfnis hatten ihm den fürstlichen Charakter gewahrt. Zwei Reihen Silberpappeln schienen wie in vornehmen Wandeln den Gartenhang, der in breiten Terrassen angelegt war, hinabzusteigen. Mächtige Ahorn- und Kastanienalleen wanden sich zu beiden Seiten um das Haus und spendeten Kühlung und Schatten. In der Mitte des offenen Platzes vor der Treppenfront spielte ein von steinernen Figuren hochgehaltener Springbrunnen und ließ eine metallisch glänzende Kugel in der flimmernd heißen Luft tanzen. Silbern und steil schoß der Wasserstrahl in die Höhe, zerfiel, sammelte sich wieder in der muschelförmigen Schale und sickerte in das breite bemooste Beckenrund nieder, um das sich ein kreisrundes Beet glutroter Gladiolen herumzog. Purpurn und gewaltsam in ihrer befehlenden Pracht streckten sich rechts und links vom Fontänenrund ähnliche, von Gladiolen bestandene Polsterbeete hin und bildeten mächtige gezackte Sternenmuster. Gedämpft und harmonisiert wurde dieses Schwelgen in Purpur und Rot durch zwei langgestreckte Beete von einfarbig violetten Stiefmütterchen zu beiden Seiten der Fontäne, während diese selbst durch einen tönenden Akkord in Gelb, gleichfalls aus Stiefmütterchen, unterstrichen und in den Vordergrund gerückt ward.

Aus dem Dunkel des mit Jalousien verhangenen Hausinnern klangen die satten, langgezogenen Töne einer Violine.

Mit einem weißen kurzen Kittel bekleidet, der die stämmigen braunen Beinchen freiließ, schob der kleine Heinz energisch einen hölzernen Kinderkarren vor sich her. Der Junge war in Schweiß gebadet, sein Strohhut hing ihm im Nacken. Im Karren lagen eine Schaufel und eine kleine Harke, die sich durchaus nicht miteinander zu vertragen gewillt schienen, denn immer wieder purzelte einer der Gegenstände aus dem Wäglein und dem Kleinen vor die Füße. Ärgerlich hob er sie auf, legte sie quer nebeneinander an ihren Platz und trottete vorwärts. Aber vergeblich – wieder lagen sie am Boden. Er stand still, seufzte schwer, dachte eine Weile nach und steckte endlich Schaufel und Harke auf die Art in den Schubkarren, daß er deren Griffe zugleich mit den Handhaben des Karrens fassen konnte. »So! Nu is dut!« sagte er zufrieden. Vorwärts ging es auf einem der Kieswege, die abseits von den Terrassentreppen den Gartenhang hinabführten.

Von einer Bank, die von den überhängenden Zweigen einer Trauerweide fast versteckt stand, erhob sich die Studentin, sah dem Kleinen lächelnd nach und schob ein Buch von Heinz, in dem sie gelesen hatte, unter den Arm. Gekleidet war sie nach wie vor in der halbmännlichen Art, die ihr eigenartig und gut zu Gesicht stand. Ihre breit auseinanderliegenden Augen unter den geraden dunklen Brauen leuchteten sanft und hatten einen befreiten Ausdruck, nur der Mund in seiner keuschen Schwermut schien noch zu schlafen.

Langsam schlenderte sie auf einem Umwege dem Kinde nach, so daß sie es, ohne es zu stören, immer im Auge behielt.

Der Kleine aber begab sich stracks an den hohen eisernen Gitterzaun, dieser ruhte auf einem steinernen Unterbau; seine vergoldeten pfeilartigen Spitzen funkelten in der heißen Sonne.

Hier an der von Geißblatt bedeckten Mauer standen, tief in die Erde versenkt, ein paar Fässer voll Regenwasser, da wimmelte es von großen dickbäuchigen Fröschen.

Der kleine Heinz stand eine Weile still in Betrachtung versunken. »Ein Flosch kaput,« sagte er laut, »dar nichts zu machen!«

Eine glänzende Idee hatte ihn überwältigt. Er packte seine Schaufel und suchte in dem übelriechenden abgestandenen Wasser nach dem toten Frosch. Aber wie er sich auch mühte, immer wieder entglitt ihm das schlüpfrige Tier, das ihn mit seinem gelbweißen Bauch und den langgestreckten starren Beinen besonders zu faszinieren schien. In wilder Flucht stoben die anderen Frösche hin und her – ein tolles Durcheinander von gelben, braunen und grünen Leibern. »Ho!« rief er entzückt, »kommt nu, kommt alle!« Und mit seiner Harke nachhelfend hatte er richtig einen stattlichen Frosch erwischt und warf ihn auf den Gartenkies.

Der glotzte ihn mit einfältigen Augen an und saß mucksmäuschenstill. »Bis wohl ein Dloßpapa! Bis nu danz floh?« fragte ihn der Kleine und bückte sich, um den nassen Gesellen zu streicheln.

In einem Nu aber hüpfte der Frosch vorwärts – da lag er wieder in seinem Fasse.

»Du bis danz dumm!« erklärte Heino schwer enttäuscht. Ärgerlich schlug er mit seinem Spaten in das Faß hinein, daß das Wasser hoch aufspritzte und die Frösche entsetzt durcheinanderfuhren. Das war nun ein besonderes Vergnügen. Da stand der kleine Kerl, über und über bespritzt, und wirtschaftete munter mit Harke und Spaten im Wasser herum. Hei, wie die Frösche sich fürchteten! Er lachte laut auf.

»Heinzchen, Heino!« rief ihn die Studentin an. »Tu das nicht, du quälst ja die armen Tiere!«

Aber ehe sie an ihn herangetreten war, raschelte es in dem Geißblattgewinde. Eine große Schlange glitt gleißend durch die Blätter, hob den schmalen Kopf gegen den Knaben und zischte.

Erstaunt blieb das Kind stehen und starrte den Wurm an. »Du bis danz ßön!« lispelte es und hob spielend seinen Spaten – da fühlte es sich jäh von rückwärts gepackt und hochgehoben. Die Studentin sprang mit ihm zur Seite, riß ihm den Spaten aus der Hand und griff die Schlange an. Drei scharfe Hiebe, und sich windend und krümmend lag das Tier am Boden in den letzten Zuckungen.

»Das war ein böses Tier!« sagte die Studentin erregt, »das wollte Heino beißen. Komm weg!«

Sie ergriff das Kind bei der Hand und führte es dem Hause zu. Immer wieder wandte sich der kleine Heino nach der toten Schlange um. Er war sehr nachdenklich geworden. Tod und Todesschauer waren zum erstenmal in sein blühendes Kinderleben getreten. Das ewige Lied vom Sterben und Vergehen hatte er vernommen.

Während des Mittagessens platzte der Kleine mit seinem Erlebnis heraus: »Heino ßönes langes Tier deseht, und Olga totdemacht hat.«

»Eine Schlange,« sagte die Studentin ruhig – »drüben bei den Wassertonnen. Ich kam gerade dazu, als Heino Frösche aus dem Wasser schöpfte, um sie vor dem nassen Tode zu retten,« ein amüsiertes Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel – »und faßte das Tier noch rechtzeitig.«

Den Vater überlief's. »Giftig?« fragte er.

»Jawohl. Eine Vipernart.«

Er reichte der Studentin über den Tisch die Hand.

»Sßlange is danz ßön, Mama!« rief der Kleine strahlend und schmiegte seinen Kopf an Verenas Schulter. »Nu is abe danz tot!« fügte er bedauernd hinzu.

*

Es war Abend. In ihrem luftigen, mit hellem Stoff bezogenen Schlafzimmer stand Verena vor dem Toilettenspiegel und begann sich zu entkleiden. Langsam streifte sie ihre Ringe von den Fingern und löste ihr dunkles welliges Haar, das sie seit ihrer Verheiratung in einem griechischen Knoten aufgesteckt trug. Nachdenklich blickte sie in den Spiegel. Von zwei Kerzen erhellt strahlte er ihr schmales geistreiches Gesicht mit den mächtigen klaren Augen und dem ausdrucksvollen schönen Munde wieder; die roten Lippen hatten sich horchend geöffnet und lächelten jetzt leise.

Schritte hinter der Tür, ein kurzes Pochen. Heinz trat herein. Er umfaßte sie und sah ihr tief in die Augen.

»Lieb!« sagte er gedankenvoll, »ich erkenne mein eigen Fleisch und Blut nicht wieder. Überall die Mutter, bis in kleine und kleinste Züge hinein. Auch diese sonderbare Vorliebe für Schlangen – du hörtest es ja ... Mir steckt ein unbezwinglicher Widerwille vor ihnen im Blut, Lulu dagegen –«

Verena unterbrach ihn mit ihrem dunklen süßen Lachen. »Hast du wieder etwas, was dich drückt? Sieh, ich sehe jeden und jeden Tag nur Ähnlichkeiten mit dir heraus. Ein tapferer kleiner Kerl ist dein Junge, er weiß genau, was er will, direkt geht er auf sein Ziel los, und auch,« mit einem zärtlich-schelmischen Blick sah sie Heinz an – »auch in der Hauptsache, in der grenzenlosen Liebe zu mir ist er ganz seines Vaters Sohn.«

Wie froh und warm waren ihre Augen, während sie sich an ihren Mann herannestelte und ihre Arme um seinen Hals schlang!

Er drückte den blühenden Körper an sich, die Wolke auf seiner Stirn war noch nicht verschwunden. »Hm ja,« meinte er versonnen, »aber –«

Da bog Verena sich zurück und sah ihm stolz und forschend in die Augen. »Ich weiß nicht, was du willst,« rief sie – »war Lulu in ihrer Art nicht ein edles Weib? Gewaltsam, rücksichtslos, auch grausam – ja, aber auch feurig, stolz, von einer wilden Größe. So hast du sie mir doch geschildert, oder nicht? Sind das unedle Eigenschaften? Auf ihre Leitung kommt es an, natürlich. Ich meine, du hast gar keinen Grund zur Sorge. Deine Zartheit fehlt dem Buben freilich; um so weniger wird er vom Leben leiden müssen. Laß doch die alten Sachen endlich ruhen und glaube mir, wenn ich dir sage: ein unedles Weib zu lieben war mein Heinz niemals fähig.«

Sie glühten beide vor tiefer Zärtlichkeit. Er drückte seine Lippen in ihr duftendes, dunkles Haar.

»Heinzl wird einmal ein ganzer Mann!« fuhr sie glücklich fort, »ich hab den Jungen so lieb, nicht nur um deinetwillen, weißt du, und dennoch –« sie stockte und hing mit großen betauten Augen an ihm.

»Dennoch?« ... fragte er leise.

»Bin ich heute zum erstenmal eifersüchtig auf ihn geworden.«

»Du?« rief er staunend.

Sie lachte unbeschreiblich harmlos. »Du verstehst nicht – auf seinen Namen nur. Wie soll denn unser Bübchen heißen?«

Er seufzte tief auf vor Glück, zog sie zu einem Sessel und auf seinen Schoß nieder. An ihrer Brust barg er sein Haupt.

Spielend zog sie sein Haar durch die Finger. Eine vereinzelte weiße Locke, die sich sonderbar von seinem dichten braunen Haar abhob, drückte sie an ihre Lippen.

»Wie ich dieses Zeichen deiner Leiden liebe, Heini, nimmer gäb' ich's her.«

Der weiche seidige Glanz ihres Nackens schimmerte in dem gedämpften Licht. Trunken beugte der Mann sich vor und nestelte an ihren Gewändern. »Wie dein Herz pocht!« sagte er atemlos. »Ich darf doch?«

»Was darfst du nicht? – – Heini, wie soll es denn nur heißen? Denk', nur noch sechs Monate ...«

»Ingeborg!« flüsterte er zerstreut, von süßen Schauern überrieselt. »Verena ist nur einzig für dich!«

Freudig lachte sie auf. »Du schrecklicher Mensch – immer hat er nur Weibsvolk im Sinn. Nein, Erik soll er heißen, das gleicht doch wenigstens ein bißchen – Henrik – Erik.«

Er bedeckte ihre weiße, leise wogende Brust mit Küssen.

»O Lieb! O Schönheit, o Friede und reueloses Glück!« –

»Henrik, Erik ...« murmelte sie verträumt.

Da hob er sie hoch in die Arme wie eine heilige Opferschale und löschte das Licht –

Märchen flüstern, Träume raunen, selige Liebe lebt und leuchtet – – –

*

Die Zeit rauschte dahin, sanft und ruhig, wie ein Strom in einem gleichmäßigen, tiefen Flußbett ohne Höhlungen und Steine. Ein milder Herbst begann seine leuchtenden Farben über das ebene Gelände zu streuen. Die Abende wurden traulicher und länger, und nachts glaubte Verena manchmal die murmelnden Wellen des fernen Flusses zu vernehmen, die er an das Ufer trieb. Oder war es nur das Kreisen ihres eigenen Blutes, das nicht mehr ihr allein gehörte?

Wenn sie übte, schien es Heinz, als sänge eine neue Stimme ihre eigene Zärtlichkeit und Wonne mit in ihre goldenen Töne hinein, und er schob oft seine Arbeit beiseite und lauschte.

Eines Tages legte Verena ihre Geige früher aus der Hand als sonst und verschloß sie mit einem geheimnisvollen Lächeln. Sie suchte und kramte in ihren Schränken und kam mit einem Bündel feinen alten Linnens zu Heinz.

»Weißt du auch, was das wird?« fragte sie strahlend. »Nein? Nun, du sollst schon sehen.«

Er wußte es natürlich. Aber sein erstauntes Kopfschütteln machte sie ja froh, und so durfte er nichts wissen. Dann gab es eine lange sachgemäße Beratung mit der heiligen Olga, die übrigens auch Janina hieß. Die Frauen waren geschäftig wie die Bienen und endlich hielt Verena ihm ein putziges, winziges Dingelchen unter die Nase. »Selbstgemacht!« sagte sie stolz – »ist es nicht reizend? Fühle nur, wie weich und lind!«

Heiliges Staunen, Wunder über Wunder! Er hielt sie auf Armeslänge von sich und betrachtete sie trunken.

»Verena, Lieb, große Geigenkünstlerin – bist du noch dieselbe?«

Und sie lachte mit tiefen Kehltönen. »Jetzt werd' ich's erst ganz!«

Es kamen mitunter auch schwermütige Stunden, wo sie sich ängstlich neben ihm zusammenkauerte, wie ein furchtsames Kind. »Wenn ich aber stürbe ... Heini – – gelt, du darfst nicht verzweifeln!«

Er nahm sie in seine Arme und hielt sie fest umschlungen, so als wolle er sie nimmer wieder loslassen.

»Ich stürbe ja mit!« flüsterte er erstickt.

»So? Und Erik? Oder die arme kleine Ingeborg?« fragte sie vorwurfsvoll. Ihre großen, grauen Augen wurden düster und schwarz, und sie ruhte nicht eher, als bis er ihr heilig versprochen hatte, für ihr Kind leben zu wollen.

Aber auch der Studentin hatte sie an solchen Tagen von ihrer Angst gesprochen. Die heilige Olga verstand sie zu trösten, das mußte wahr sein. Eines Tages rief Verena mit strahlender Heiterkeit, obwohl noch Tränen an ihren Wimpern hingen: »Hören Sie, Janina, Liebste, das müssen Sie doch meinem Manne erzählen, wie Sie sich totgeschossen haben.«

»Hm,« machte Heinz lächelnd und schob ein Rechnungsbuch von sich – »das ist in Anbetracht ihrer Gegenwart schwer zu glauben.«

»Es ist aber dennoch wahr. Nun setz' dich nur zu mir und sei ganz schön still, dann bekommst du auch eine lehrreiche Geschichte zu hören. Das Sterben ist nämlich gar nicht so einfach. So, meinen Kopf darfst du in deine Arme nehmen, aber nicht die Haare zausen, hörst du!

Nun, Janina, fangen Sie an.«

Man saß in Verenas Lieblingszimmer, dem Musikraum, der sich durch seine Höhe und eine besonders gute Akustik auszeichnete. Im Verhältnis zu der Größe des Zimmers waren die Möbel nicht zahlreich. Der Flügel mit Verenas Notenpult beherrschte den Raum, an der entgegengesetzten Wand stand ein Harmonium, daneben waren Notenschränke. Nur eine Ecke war gemütlich mit gelbbezogenen Möbeln ausgefüllt, die sich von der perlgrauen Tapete vornehm abhoben. Gelbseidene Fenstergardinen dämpften das Licht zu einem warmen harmonischen Ton.

»Nun – Janina?«

Die Studentin lächelte still, setzte sich Verena gegenüber auf ein niedriges Polster, stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände.

»Es war einmal –« begann sie mit leisem Humor.

»Oh, nein!« rief Verena befehlerisch, »man fängt mit Ich an, wie sich's gehört.«

Olga schüttelte belustigt den Kopf, eine Strähne ihres blondgelben verschnittenen Haares fiel ihr ins Bubengesicht. Sie strich sie zurück, dann begann sie:

»Ich arbeitete also in Moskau in der chirurgischen Klinik, und meine Mutter war darüber entrüstet. Meine Mutter war nämlich immer über irgend etwas, was ich tat oder unterließ, entrüstet,« schob sie trocken ein, »es mochte sein, was es wollte. Kurz, eines Tages verbot sie es mir geradezu. Es sei nicht standesgemäß, nicht weiblich, behauptete sie, und wir hätten Ahnen, und sie sei eine geborene deutsche Baroneß. Lieber wollte sie mich tot sehen, lieber auf dem Operationstisch als an ihm.

Mein Leben war mir schon sowieso zur Last; meinen einzigen Freund hatte ich verloren, eine junge Schwindsüchtige, die ich pflegte und sehr lieb hatte, war in meinen Armen gestorben, mein einziger Bruder war sozialdemokratischer Umtriebe wegen verhaftet worden, meiner Arbeit, die ich noch bei Lebzeiten meines Vaters durchgesetzt hatte, sollte ich nicht nachgehen dürfen, denn meine Mutter verfiel bei dem bloßen Gedanken daran in Nervenzustände und Krämpfe; wozu war mir also das Leben nütze? Ich will nicht behaupten, daß ich meine Sache nicht auch gegen den Willen der Mutter hätte durchsetzen können, aber ich war schlaff und müde, mir fehlte jede Spannkraft. Einen religiösen Glauben irgendwelcher Art besaß ich nicht, also war die Angelegenheit einfach genug: die Welt verlor nichts an mir, ich hatte mich nicht auf die Welt gebeten, ich konnte daraus, wie und wann es mir beliebte, hinausspazieren.

Ich wohnte damals bei einer verheirateten Kusine, die mich aus verwandtschaftlichen Rücksichten bei sich aufgenommen hatte, besaß mein eigenes Stübchen und wurde nicht allzuviel gestört. Ich beschloß also kurzweg, mich totzuschießen. Da ich keinen Revolver hatte, nahm ich mir heimlich den meines Vetters. Zunächst untersuchte ich ihn gründlich. Das Ding war schon seit Noahs Zeiten geladen und sicher nicht in wünschenswertem Zustande für einen ordnungsgemäßen, sauberen Selbstmord, wie er einer Medizinerin von soundso viel Semestern geziemte. Ich nahm daher den Revolver, trug ihn in den Stadtpark spazieren und schoß die rostige Kugel an einer einsamen Stelle säuberlich in die Erde. Dann kam ich nach Hause, ließ mir mein Frühstück schmecken – ich erinnere mich, daß ich mir unterwegs Kaviar und Salzgurken gekauft hatte, die ich besonders liebte – und machte mich ans Werk, den Revolver gründlich zu putzen. Ich nahm ihn also auseinander, reinigte den Lauf mit Seifenwasser, desinfizierte ihn sowohl als die neuen Kugeln, wie eben eine gelernte Medizinerin, lud ihn und legte ihn neben mich auf die Tischplatte. Hierauf zündete ich mir eine Zigarette an und begann nachzudenken. Sollte ich meiner Mutter einen Abschiedsbrief schreiben oder nicht? Nein, ich war doch kein sentimentales Frauenzimmer. Ich unterließ es also. Nur einen Zettel an meine Kusine schrieb ich und bat sie höflich um Entschuldigung für den verursachten Schrecken. Diesen ließ ich offen auf dem Tisch liegen.

Dann dachte ich noch ein Weilchen nach und bemerkte zu meinem Bedauern, daß meine Zigarette zu Ende sei. Da klopfte es an meine Tür. Ich deckte ein Blatt Papier über den Revolver und schloß auf. Das Töchterchen meiner Kusine kam herein. Es war ein intelligentes Ding von neun Jahren, und ich mochte es sonst wohl leiden, aber diesmal kam es mir ungelegen. ›Geh fort, was willst du hier?‹ sagte ich unwirsch. ›Ich will bei dir bleiben und sehen, was du machst.‹ ›Ich kann dich aber durchaus nicht brauchen.‹

›Was tust du denn? Arbeitest du?‹ fragt das Kind neugierig.

Nun, in den letzten Minuten seines Lebens lügt man nicht. ›Nein, ich arbeite nicht,‹ erklärte ich, ›ich denke nach, und du sollst mich nicht stören. Mach', daß du weiterkommst!‹

Das Kind klammert sich eigensinnig an den Türgriff.

›Nein, ich gehe nicht hinaus. Ich will bei dir bleiben. Unten ist's langweilig.‹

›Nun, paß auf, in einer Viertelstunde ist's nicht mehr langweilig, sag' ich.‹

›So? Was soll denn passieren?‹

›Das wirst du schon erfahren. Mach' hinaus!‹

›Nein!‹ Der Fratz rührt sich nicht.

Ich stehe also auf, nehme das Mädel in die Arme und setze es einfach vor die Tür, die ich abschließe. Was das Kind doch für ein hübsches Blondhaar hat! denk' ich bei mir.

Der Balg rüttelt und stößt an die Tür mit Händen und Füßen. Das wird mir allgemach zu ungemütlich. Ich zünde also eine zweite Zigarette an und warte. Endlich wird's still. Das Kind hat sich davongeschlichen. Nun ist's Zeit, denke ich mir, packe den Revolver, entblöße mir die Brust und taste nach der Herzgegend. Es wäre doch dumm, wenn du dir einen Kleiderfetzen mit in den Leib schössest! sage ich laut. Nur noch ein paar Züge an der Zigarette, wirklich, eine gute Marke – noch nie hat mir eine so gut geschmeckt. Ja ja, wenn es die letzte ist ...

Ich stelle mich also neben den Tisch in Positur.

Im Bett sterben oder sitzend, das paßte mir nicht, das war für schwächere Leute. So drückte ich endlich los.

Ich empfand zuerst einen dumpfen Schlag, keinen Schmerz, und stolperte ein paar Schritte rückwärts. Da fiel mir ein, daß die Tür ja verschlossen sei und ich den Leuten nur unnütze Mühe mache, sie aufzubrechen. Ich gelangte also irgendwie an die Tür und schloß sie auf – bei der Gelegenheit bemerkte ich, daß die Kugel, die mich durchbohrt hatte, in die Wand gefahren war – ganz glatt und sauber.

Mir wurde sehr schwach zumute, ich fühlte, ich konnte auf einmal nicht atmen, nur ein dumpfes, rasselndes Röcheln, und Blut, Blut, strömendes Blut. Hm, jetzt sterbe ich also, ich tat mechanisch noch einen letzten Zug an meiner Zigarette – da wird die Tür aufgerissen, und blaß und schlotternd steht meine Kusine da. ›Was ist geschehen? Um Gottes willen – wie siehst du aus?‹ jappt sie.

›Ich habe mich – erschossen – – entschuldige‹, gurgle ich.

›Du – hast dich – ‹ kreischt sie.

Ich nicke ernsthaft – sie sagte nachher, ich hätte ausgesehen wie ein Gespenst – und reiße mein Kleid auseinander. In heißem Strome sprudelt das Blut hervor.

Da legt sie die Hände an die Ohren und stürzt kreischend hinaus.

Ich fiel schwer zu Boden – bewußtlos.«

Die Studentin schwieg und senkte die Brauen so tief, daß ihre Lider sich fast schlossen. »Nun, nachher hat die Kur ein wenig lange gedauert«, fuhr sie trocken fort. »Sechs Wochen. Die Kugel war dicht an dem Herzen vorbei und durch den linken Lungenlappen gegangen. Der Arzt sagte, er habe noch nie eine so hygienische Wunde gesehen. Ich glaub's ihm.«

Gespannt, ohne sich zu rühren, hatten Heinz und Verena zugehört. Nicht ein einziges Mal hatten sie die Erzählung unterbrochen. Der gleiche Respekt vor jeder Individualität war ihnen eigen.

»Lieber Gott!« seufzte Verena endlich auf, »wie froh bin ich, daß Sie leben! Nun machen Sie aber nie wieder solche Sachen!«

Innig sah die Studentin sie an. »Wie sollte ich wohl? Mein Leben ist mir ja wieder lieb geworden – durch Sie jetzt und zuvor durch ein anderes.«

Verena nickte langsam und voll Verstehen.

»Und seitdem sind Sie die ›heilige Olga‹ geworden?« sagte Heinz versonnen.

»Die unheilige Olga. Jawohl.«

Wieder Schweigen, Stille und kein Wort. Wie ein blauer, unendlicher Sommerhimmel schien sich der warme heilige Sinn des Lebens über den dreien auszubreiten. Sie wußten, sie hatten noch etwas zu vollbringen auf dieser Welt.

»Und was ... war ... das andere?« flüsterte Verena.

Die Studentin deckte die Hände vors Gesicht und seufzte.

»Das Sterben einiger Anarchisten. Durch Freunde meines Bruders war ich mit ihnen bekannt geworden. Man gestattete mir als besondere Vergünstigung für meine Familie und aus Gründen, die ich nicht übersehen kann, den Zutritt zu ihnen. Ich sah sie, redete mit ihnen, und sie starben ausgesöhnt. Ihre Kraft glaubten Sie mir – mir? – verdanken zu müssen. Gibt es eine furchtbarere Ironie? So war ich denn doch noch zu etwas nütze. Aber meine Mutter wußte auch das zu hintertreiben. Mein Bruder kam frei, er konnte ihr die Wahrheit bezeugen, sie aber duldete es, daß man mich selbst anarchistischer Ideen anklagte – was hätte ich denn sonst bei diesen Leuten zu suchen gehabt? Ich wurde aus Mangel an Beweisen ›nur‹ aus Moskau, wurde aus der Universität vertrieben. Zu Fuß und unstet wanderte ich von Dorf zu Dorf, pflegte Kranke, saß an Sterbebetten. Büßen wollt' ich und dienen – da kamen Sie –«

»Oh, Janina!« murmelte Verena – – »wer bin ich, daß ich Sie halten darf? Werden Sie auch das Wirken hier im Kleinen nicht müde?«

»Was ist groß, und was ist klein?« fragte die Studentin mit ihrem stillen Lächeln zurück. »Maulwurfsblind bin ich gewesen, jetzt bin ich sehend. In uns allen ist ein Gott daheim, und Mensch werden heißt Gott in sich erkennen, in sich wachsen lassen.«

*

Janinas Persönlichkeit und ihre Geschichte beschäftigten Verena mehr, als ihr selbst bewußt war. Die Gestalt dieses herben Wesens, das aus Gefühlstiefe zynisch werden konnte und die sprengende Menschenliebe in sich trotz aller Hemmungen immer wieder tätig durchsetzte, war ihr verständlich und merkwürdig klar. Ihr eigenes Allgefühl wurde zugleich durch Janinas Eigenart in wache Schwingungen versetzt. So war sie gleichermaßen fähig, mit ihrem Klarblick diese eigentümliche Persönlichkeit zu durchdrungen, wie auch ruhig auf sich wirken zu lassen, als sei sie ein wehrloses Kind.

Je näher die Zeit ihrer Entbindung heranrückte, desto mehr schien Verena ein Bedürfnis nach Einsamkeit zu empfinden und sich in ein Innenleben besonderer Färbung einzuspinnen. Vielleicht war es auch eine geheime Zwiesprache mit dem kleinen unbekannten Wesen, das sie in sich trug. Sie schlug die ihr sonst so liebe Begleitung ihres Mannes oder auch Janinas aus, und unternahm oft allein weite Wanderungen, von denen sie erfrischt und geheiligt wiederkehrte. Ihre Sachen und Sächelchen, besonders aber die Angebinde, die ihr ihre Künstlerschaft eingetragen hatte, unterzog sie immer wieder einer liebevollen Musterung, freute sich an ihnen wie ein Kind und ordnete sie in einer neuen Weise um.

Unter diesen Dingen war ihr vor allem eine kleine bronzene Standuhr lieb, die sie nach einem ihrer ersten Konzerte von einem begeisterten kranken Knaben erhalten hatte. Der junge Geber war inzwischen gestorben. Sie hatte ihm versprechen müssen, die Uhr täglich aufzuziehen und dabei seiner zu gedenken. Nun aber war das kleine altmodische Ding stehengeblieben, eine Feder war gebrochen, und Verena gedachte wehmütig ihres Versprechens und sah das blasse Gesicht des leidenden Knaben vor sich, das sie vorwurfsvoll anblickte. Ihr selbst fehlte das heimliche Tiktak, und es schien ihr fast wie ein Unrecht gegen ihr Kindchen, daß die Zeit, die für sein Werden und Wachsen so wichtig und bedeutungsvoll war, nicht auch an diesem zierlichen Werk sollte gemessen werden. Es war ein kleines Kunstwerk. Zwei nackte Knaben standen zu beiden Seiten des Zifferblattes einander gegenüber, mit Pfeil und Bogen bewehrt, und während der eine mit einem heiteren sorglosen Ausdruck seinen Pfeil auf die Bogensehne legte, blickte der andere düster aufwärts und schien mit sorgenvoller Miene seinen bereits abgeschossenen Pfeil zu verfolgen. Verena grübelte oft der symbolischen Bedeutung der Figürchen nach. Waren es Genien, die der Menschheit innerhalb der meßbaren Zeit Liebe und Leiden bringen sollten? Waren es einfach Verkörperungen von Schlaf und Tod, oder sollten sie das Blühen und Leben und den düsteren Tod personifizieren? In der Reizsamkeit, in die sie ihr Zustand versetzt hatte, begann sie beim Anblick des leblosen Räderwerks eine Unruhe zu empfinden, die sich fast zur Pein steigerte, um so mehr als sie auch sonst stillstehende Uhren nicht vertragen konnte und es sich zum Geschäft gemacht hatte, sie alle, so viele ihrer in dem geräumigen Hause waren, aufzuziehen.

So war es ihr eine besondere Freude, als sie zufällig hörte, ein alter jüdischer Uhrmacher, dem man große Geschicklichkeit nachrühmte, lebe auf einem kleinen Anwesen, abseits vom Dorf. Er sei ein wunderlicher Kauz und Spintisierer, hieß es, und auch sonst in allerhand Künsten wohl bewandert. So verstehe er es, Schröpfköpfe zu setzen, auch wohl einen Zahn zu ziehen, kenne heilsame Kräuter und sei ein Meister in allerlei mechanischen Verrichtungen.

An einem der Tage, die Heinz zu seinen Revisionsfahrten benutzte, hüllte sich Verena in ihren warmen Radmantel, wickelte die Uhr sorgfältig in Seidenpapier und schlug mit einem geheimnisvollen Lächeln den Weg zum Flußufer ein. Am Flusse sollte das einsame Gehöft liegen.

Es war ein frostiger, klarer Tag. Weit und glänzend lag die Ebene in der Sonne, einen lichtblauen Himmel darüber. Von mattem blauschimmernden Silber strömte der Fluß durch das Gelände; an den Ufern schien er bereits starr und erstorben. Freudig lenkte Verena ihre Schritte auf ihn zu. Sollte er denn wirklich schon zufrieren wollen? Ihre Füße wandelten über raschelnde, vom Reiffrost versilberte Blätter hin, die ein leichter Wind vor ihr aufjagte, und traten mitunter auf eine dünne Eiskruste, die knackend zersplitterte. Wirklich, also schon bald Winter!

Sie zog die frische herbe Luft in sich und lächelte zärtlich.

Mein Winterkindchen! Gelt, du wirst kräftig sein und stark wie dein Vater? Du wirst ihn lieb haben und dich mit dem großen wilden Bruder vertragen! Ein Schatten flog über ihr Gesicht. Armer kleiner Heino. Doppelt lieb werd' ich dich haben müssen, damit du nicht leidest – und ich will's auch – ach großer Gott, warum nur muß der Bub so bitter eifersüchtig sein, dazu auf seinen Vater?

Sie lachte in der Erinnerung an eine drollige Szene. Der kleine Heinz hatte gestern ihre Knie umklammert, während der große sie selbst umschlungen hielt, und jedesmal, wenn der Vater sie auf Stirn und Augen, auf Mund und Wangen küßte, drückte das Söhnchen triumphierend zwei Küßchen auf ihre Knie. Beinahe feindselig hatte er dabei den Vater angeschaut.

Verena lächelte noch immer, und doch zog ihr ein leises, geheimnisvolles Weh das Herz zusammen. Was vermochte die schwache Stimme der Einsicht gegen die ungebändigte Wildheit des Instinkts? Wie um ihr ungeborenes Kleines zu schützen, malte sie sich's aus, wie sie den Tag seiner Geburt zu einem Festtage für ihr Stiefsöhnchen gestalten wolle. Ein Pfefferkuchenherz soll ihm das Kleine mitbringen, ein Schaukelpferd und alles, was Heino sich nur wünschen mag.

»Ach Kinder, Kinder, so habt euch doch nur lieb!« Die Tränen traten ihr in die Augen. In der Inbrunst ihres Fühlens hatte sie die Worte laut vor sich hingesprochen.

Während sie so sann und träumte, war sie an den vereisten Rand des Flusses gekommen und ging nun schon eine Weile den niedrigen Hang entlang, fast ohne es zu wissen. Wie unter einer leichten Glasdecke, durch die im Zickzack brüchige Streifen glitten, schlich das Wasser am Ufer leise rieselnd und müde dahin, erst gegen die Mitte der Strömung begannen die kleinen freien Wellen leicht und launig zu hüpfen, zu schwatzen und zu funkeln, als freuten sie sich ihrer Ungebundenheit, die so bald ein Ende nehmen würde.

Das feine Rauschen weckte Verena aus ihren Träumen. Ihr Blick hing an dem Flußbilde und wurde frei und leuchtend. »Gehemmte und ungebundene Willenskraft!« flüsterte sie, »nicht Eis, – Liebe soll euch binden, verbinden!«

Sie spähte den Fluß aufwärts und gewahrte ein windschiefes Häuschen mit schwarzblanken Fensterscheiben, das unter dem rauhbewimperten Rande des Strohdachs demütig in sich zusammenzukriechen schien. Dort also wohnte der Uhren- und Zahnkünstler! Das mußte freilich ein wunderlicher Geselle sein!

Rüstig schritt Verena vorwärts; das Herz war ihr wieder frei und leicht geworden. Liebe, Liebe überwindet alles, sang und rauschte der Fluß. Liebe, das ewige Urmotiv aller Dinge, der Sphärengesang kreisender Welten, der Rhythmus, der die Geschlechter zusammenführte, der Blutsbande schuf und kostbare Freundschaften, die Wunderkraft, mit der sie in ihrem eigenen kleinen Leben sich ihren Heinz gewonnen hatte – heilige, seligmachende Liebe!

Leichter schien ihr Fuß aufzutreten, morgenfreudig ihr Blut zu pulsieren, und in ihrem Leibe fühlte sie ein Zucken, das sie mit Schauern der Andacht und Wonne durchrieselte. Ihr Kind lebte, ihr Kind gab Antwort auf die Fragen, die sie bestürmten. Sie hätte niederknien und die harte Erde, auf der sie beflügelten Fußes dahinschritt, küssen mögen. »Denn siehe, die Stätte, auf der du wandelst, ist heilig«, tönte es in ihr.

O Wunderglaube! O Glaubenswunder!

Endlich stand sie klopfenden Herzens vor der altersmorschen Tür und pochte.

Es dauerte eine geraume Weile, dann wurde die Tür aufgeklinkt. Ein kleiner dürrer Mensch mit grauem Haar und weißem Bart, einem durchsichtig fahlen Gesicht und tiefliegenden Augen unter breiten Lidern, die dem Dunkel der buschigen Augenbrauen etwas Schwermütiges gaben, stand vor ihr. Falten, kleine und große, liefen um die feurigen Augen, durchrissen die gewölbte Stirn; der lange weißgelbe Bart floß in Strähnen auf den schäbigen Kaftan nieder.

Verwundert blickte er Verena an. »Die Herrin vom Oberhofe? Mit was kann ich dienen?«

Sie zog das Paket hervor. »Ich habe eine Uhr zum Reparieren, ich hörte, Sie könnten das.«

»Nu gewiß, gewiß, wie werd' ich nicht können reparieren Uhren?« sagte der kleine Mann eifrig. »Is doch gewesen mein Leben lang mein Hauptgeschäft. Bitte, wollen Sie treten näher, Gnädige?«

Er schritt durch den dunklen Flur voraus und stieß eine Tür vor Verena auf. Sein Gang war leise und wiegend.

In einer dürftigen Kammer, in der es seltsam tickte, schnarrte und rasselte, schob er Verena höflich einen Stuhl hin.

»Da!« sagte sie und hielt ihm die Uhr entgegen, von der sie das Papier entfernt hatte.

Er griff mit den langen mageren Fingern darnach, besah sie aufmerksam von allen Seiten, öffnete das Türchen und tippte an das Räderwerk. Seine Augen begannen zu funkeln.

»Is zu machen eine Kleinigkeit,« sagte er sachgemäß, »is 'n schönes Uhrchen, Gnädige.«

»Nicht wahr?« rief Verena erfreut, »ich hab' sie vor Jahren einmal geschenkt bekommen und sie ist mir sehr lieb.«

»Wie soll sie nicht sein lieb, wenn sie is fein und kostbar und seltsam?« sagte der alte kleine Mann nachdenklich und hielt die Uhr wägend in den Händen.

Von seinem Ton, mehr noch als von seinen Worten betroffen, sagte Verena freundlich: »Sehen Sie nur die beiden Figürchen, sind sie nicht schön gearbeitet?«

»Die sind gearbeitet von einem wissenden Manne. Der Mann, der hat gekannt das Leben und hat gehabt einen nachdenklichen Geist. Man muß sein etwas, ehe man kann machen etwas.«

Verena nickte ernsthaft-unschuldig wie ein wissendes Kind.

»Sprechen Sie weiter«, bat sie zutraulich.

Der alte Jude lächelte hilflos, wie einer, der lange nicht geredet hat und mühsam nach Worten suchen muß, um auszudrücken, was ihn erfüllt. »Uhren und Menschenleben sind sich gleich – in vielem«, sagte er schwerfällig.

Verena sah ihn fragend an.

»Es ist vielleicht gut für die Gnädige, zu wissen, wie ich hab' das gemeint,« sagte er stockend, »weil die Gnädige is gesegnet und wird in kurzem wiegen ein Kindlein.« Allmählich in Fluß kommend fuhr er geläufiger fort und klopfte ein paarmal energisch mit den Knöcheln auf das Zifferblatt der bronzenen Uhr.

»Hier is zu sehen ein Kreis, und jedwede Menschenseele is zu denken als ein Kreis. Warum? Weil ein Kreis muß umfassen alles in sich, alle Kräfte und Eigenschaften, oder wenn Sie es lieber wollen hören so: die Möglichkeiten von allen Eigenschaften. In jedwedem Menschen muß stecken List und Habsucht, und Grausamkeit und Wollust, muß stecken Einfachheit und Sanftmut, Gerechtigkeit und Liebe. Nu, werd' ich haben recht oder nicht?«

Verena nickte langsam und sah den Alten lächelnd an. Beweglicher und feuriger fuhr er mit einem treuherzig-pfiffigen Ausdruck fort:

»So wie die Uhren haben die Zeiger, die Messer der Zeit, so laßt sich denken für die Menschenseele ein anderer Zeiger, ein Messer von die Eigenschaften. Schauen Sie her!« Er stellte die Uhr beiseite und nahm von einem Gestell eine der tickenden Wanduhren. In einem Nu hatte er die beiden Zeiger abgeschraubt und durch einen einzigen in der Mitte unbiegsamen Zeiger ersetzt, der nach beiden Seiten über das Zifferblatt hinausgriff. Diesen schob er langsam in die Runde und sagte: »Das Zifferblatt soll also vorstellen die Menschenseele, der Zeiger, wie ich hab' gesagt, den Messer von die Eigenschaften.

Tu ich schieben den Zeiger auf 12 – muß er weisen mit die andere Spitze auf 6. Wenn Sie wollen denken: auf der einen Seite werden liegen die nützlichen und guten Kräfte oder Eigenschaften, auf der anderen die schädlichen – so werden Sie haben getroffen das Richtige, denn jedes Licht muß haben seinen Schatten, solange es is kein absolutes Licht. Haben Sie erfaßt diesen Sinn?«

Wieder nickte Verena. Der Alte rückte nun den Zeiger langsam von 12 auf 1, so daß seine Verlängerung auf 7 stand. Listig blinzelte er Verena an und fragte: »Was werd ich haben gewonnen mit diesem Zug?«

Sie sagte vergnügt: »Was auf der einen Seite an Bösem verloren wird, muß auf der anderen an Gutem gewonnen werden – und umgekehrt.«

Der alte Jude blickte sie fast zärtlich an. »Und umgekehrt!« wiederholte er triumphierend. »Die Gnädige seien mit Weisheit gesegnet und mit einem Blicke der Klarheit wie Salomo! Wieviel is also gewonnen, soviel is auch verloren!« fuhr er mit erhobener Stimme und großen lebhaften Gebärden fort – »so is das Gesetz von die Natur. Nu will ich Ihnen aber enthüllen eine faine Wahrheit: es kann werden auch gewonnen ohne Verlust, netto, nicht brutto.«

»Wie das?« fragte Verena aufmerksam.

Fast feierlich sprach er: »Sind nicht gewandelt große und herrliche Menschen auf unserer Erde? Haben wir nicht selbst gesehen und gekannt etwelche von die Gerechten und Auserwählten? Wollen Sie machen ein Kind des Lichts aus Ihrem Kindlein? Haben Sie viel, sehr viel in Ihrer Hand. Schauen Sie her: hier von 12 bis 1 laßt sich denken, soll stehen der Neid in der Seele. Müssen Sie sich fragen in Ihrem Sinn: was is das Licht von diesem Schatten? Werden Sie finden: das Licht von diesem Schatten wird sein Ehrgeiz. So werden Sie müssen lenken den Ehrgeiz in die Seele vom Menschen, daß er wird strebsam sein und tüchtig, und nicht mehr wird brauchen den Neid. Denn ein Tüchtiger is noch nie gewesen neidisch, sondern nur ein Schwacher. So können Sie verkehren das Böse in ein Gutes. Haben Sie das erfaßt?«

Verena war aufgestanden und hielt dem alten kuriosen Kauz die Hand hin. »Das ist hübsch. Ich danke Ihnen.«

»Nichts zu danken.« Stillvergnügt schmunzelnd nahm er wieder die Bronzeuhr zur Hand und betrachtete sie liebevoll. »Die Schwierigkeit is aber natürlich groß,« meinte er nachdenklich und nickte ein paarmal vor sich hin, »zu finden das richtige Licht von jedwedem Schatten. Da is der Haken. Und die fainen Knaben hier,« fuhr er lächelnd und lebhaft fort, »was werden sie machen mit Pfeil und Bögen? Weshalb wird sain traurig und böse der eine, und gelassen und froh der andere? Gute Kräfte bringt der eine, üble der andere!

Den Zeiger aber soll haben jedweder Mensch selbst in der Hand, wenn er gekommen is zur Vernunft, daß er vernichten kann das Böse und verwandeln in Vollkommenheit. – Ja, ja, der das Bildwerk hat gemacht, is gewesen ein weiser Mann, ein tiefer Mann. Es wird mir sain eine Freude, Ihnen zu richten das Uhrwerk.«

Er sah Verena freundlich an. Sein nachdenklicher freudiger Blick wirkte auf sie wie eine ruhige Melodie des Friedens. Mit einem zarten Lächeln, das zwischen Augen und Lippen zu wechseln schien, sagte sie leise:

»Diese halbe Stunde hat mir wohlgetan, Herr – wie soll ich Sie nennen?«

»Silberstein. Moses Silberstein – und ich will Ihnen wünschen Freude und Segen an Ihrem Kindlein, und Ihnen sagen einen schönen alten Spruch: Salem Aleikum! Das will heißen: Friede sei mit dir!«

Auf seinem Gesicht ruhte eine wunderliche Stille, die sich ihr mitteilte und über sie hinfloß wie ein warmer Strom. Ihre Augen wurden feucht.

Freundlich geleitete der Alte seinen Gast durch den dunklen Flur und stieß die Außentür auf. Er blieb auf der Türschwelle stehen und sah der davonwandelnden Gestalt lange nach, bis sie kleiner und kleiner wurde, endlich nur ein schwarzer Punkt.

Salem Aleikum!

*

Über die weiße Steppe dämmerte ein wolken- und windschwerer Tag. Von jähen Windstößen erfaßt stoben Schneeflocken nieder, so dicht, daß der Himmel unsichtbar wurde, wirbelten durcheinander, tanzten und taumelten, als seien sie toll geworden. Der Wind fegte über die Schneefläche, verwehte die Spuren des einsamen Schlittens, flog über das Gefährt hin und ließ ein gedehntes, trauriges Heulen hören.

Heinz kehrte von einer Revisionsfahrt zurück. Er hatte Unordnungen in den Abrechnungen über Kornverkauf vorgefunden und war genötigt gewesen, über Nacht fortzubleiben. War auch Verena auf ähnliche Unregelmäßigkeiten gefaßt, so beunruhigte ihn doch der Gedanke an sein junges Weib, das er jetzt besonders ungern verließ, und die Anwesenheit Janinas erfüllte ihn mit dankbarer Befriedigung.

Es war ihm ein erlesener Genuß, sich jetzt während dieser stürmischen winterlichen Fahrt in den traulichen Winkel daheim am Kaminfeuer hineinzuträumen. Seltsam schöne Zukunftsbilder stiegen vor ihm auf. Er sah Verena mit ihrem Kindchen auf dem Schoß in ihrer leichten Sicherheit, ihrer freudigen Geschlossenheit wie ein lichtes Madonnenbild. Ein sanft gebieterischer Reiz, ein göttlicher Hauch jungen Mutterglücks strahlte von ihr aus, und seine heiße Lebenskraft entzückte sich an der Pracht tiefer glühender Farben. Wieder wie so oft seit seiner Vereinigung mit ihr empfand er, daß er am Herzen alles Lebens wohnte, daß seine früheren Verirrungen es waren, die seine Liebe und ihn selbst stark gemacht hatten und fähig, dem Augenblick Ewigkeitswerte zu geben und manche selig verlebte Stunde vertiefter Innerlichkeit an der Ewigkeit zu messen. Und er sang seinem Weibe ein Hohes Lied der Liebe in seiner Seele.

Ja, alles, was das Leben über ihn an Leiden, Erfahrungen und Irrtümern ausgeschüttet hatte, mochte er nicht mehr missen. Es war alles notwendig gewesen, um ihn zu festigen und zur Reife zu bringen. In die finsteren Tiefen hatte er steigen müssen, um voll inbrünstiger, verzehrender Sehnsucht den Morgenschimmer seelischer Freiheit zu gewahren. Mit sich selbst entzweien mußte er sich, um die ewige Einheit seines Selbst zu finden, das wahre höhere Ich seines zerspaltenen Doppel-Ichs zu ergreifen und festzuhalten. Nun wußte er, es ging ihm nimmermehr dauernd verloren, was auch das Geschick über ihn beschlossen haben möge. Zu reich war er geworden, um jemals wieder ganz zu verarmen. Leid konnte es für ihn geben, niemals aber mehr Verzweiflung. Die unerbittliche Gesetzmäßigkeit des Lebens, das ewige Verhältnis zwischen Ursachen und Wirkungen hatte er erfaßt.

Mit einem leisen ironischen Lächeln, aus dem die stolze Demut des einstmals Besiegten leuchtete, der die Kraft gefunden, sich abermals aufzuraffen, gedachte er seiner heutigen Wirksamkeit, seiner vielfältigen Ämter und seiner glänzenden Stellung. Jener fernen Zeit gedachte er, da er seinen Beruf aufgegeben und in die Einsamkeit geflohen war, ein gezeichneter, gebrochener, ein verachteter Mensch. Er wußte, daß er das Leben in seinen Höhen und Tiefen kennengelernt hatte, daß er stark genug geworden, um Ehren, Glanz und Wohlleben, die eine kupplerische Welt mit gleichgültiger Hand an ihn ausgeteilt, wieder von sich zu werfen.

Wie eine unerhörte Sphärenharmonie durchstrahlte ihn diese Aufwärtsstimmung, während die Schneeflocken um ihn taumelten, der Wind heulte und klagte, das Unwetter sich über ihm entlud, und ihm war, als könne er den Pulsschlag des Alls hörbar vernehmen und sichtbar sehen. Verhüllende Schleier fielen vor ihm nieder, Nebel entwichen, und er erkannte die Notwendigkeit, den Ring alles Aufwärtsstrebens da schließen zu müssen, wo es begonnen, jedoch auf höherem Plan, er erkannte das urgewaltige Aufwärtsringen aller Wesenheit, er erlebte das geheimnisvolle Königtum freiwilligen Dienens in Selbsthingabe und Kraft.

Die Pferde stolperten gegen den rasenden Schneesturm vorwärts; der Kutscher hatte sich das Haupt verhüllt und ächzte schwer. »Herr, wir haben den Weg verloren!« schrie er dumpf.

Heinz fuhr auf. Er war weit, weit weg gewesen.

»Das kann nicht sein, Terenti: Wir sind von Nikopol aus in einer geraden Richtung gefahren. Laß die Pferde ein wenig rasten.«

Das Gefährt blieb stehen. Heinz stieg aus dem Schlitten, zog die Pelzmütze tiefer ins Gesicht und blickte um sich.

Das Toben des Windes schien sich mit neuer Gewalt zu erheben und trieb den Männern harte Schneeflocken entgegen, daß sie die Augen schließen mußten. Ein hohles, dröhnendes Sausen, bald ein pfeifendes Gellen, fauchte der Sturm über die Steppe und prallte gegen die Körper einiger elender Scheunen, die wie furchtsame Schafe dicht zusammengedrängt in nächster Nähe dastanden, doch unsichtbar geworden durch die wandernden Schneeflockenwände. Wie kriechende Wurzeln verfingen sich die Stimmen des Windes in den Winkeln, pfiffen und winselten um die Ecken, in den Dachfirsten, brachen los, jammerten und wehklagten. Jede dieser Stimmen hatte etwas zu sagen, zu bekennen, bald aufzustöhnen wie eine Seele in Not, bald dumpf zu grollen, in langgezogenem Heulen über die Fläche zu brausen, wie um Hilfe zu schreien, wütend, zornig, dann wieder so flehend als sie konnten und jede mit ihrem eigenen Ton.

Und das Ganze wurde zu einer tausendfach gebrochenen Weise, zu einem gespenstigen Traumgesang, der sich verlor und wieder aufwachte, zu einer wilden furchtbaren Melodie, einem Bilde des Lebens, das selbst in seiner Ruhe tief und mächtig singt und tönt.

In wenigen Minuten hatte sich ein Schneewall vor dem Schlitten aufgetürmt, und immer neue Massen von Schnee wurden von dem rasenden Winde angefegt und stauten sich vor den zitternden Pferden, die mutlos die Köpfe sinken ließen. Mit allen Kräften, immer aber vergeblich, mühte sich Heinz durch das weiß schimmernde flutende Halbdunkel zu spähen. Sein Gehör half ihm endlich auf die richtige Spur.

»Hier, neben uns müssen die Scheunen stehen!« überschrie er den Sturm. »So klingt der Wind nicht auf der Fläche. Hinter die Scheunen also – die Gäule führen!«

Keuchend, schweißtriefend begannen sich die Männer durch die Schneemassen hindurchzuarbeiten, ein jeder ein schnaufendes Tier am Zügel. Wie ein Boot über breite Wogenkämme taumelte der Schlitten. Jeder Schritt vorwärts war eine Geduldprobe, ein Versinken bis an den Leib, ein Aufraffen und Weiterschwanken, jeder neue Schritt wurde eine Eroberung, eine Tat. Gegen weiche Mauern stemmten sich ihre Schultern und schoben sie seitwärts, um eine Bresche für die Pferde durchzubrechen, indessen neue Schneewälle ihnen entgegenwuchsen, entgegengeschleudert wurden.

Endlich tauchten die Scheunen leibhaftig und greifbar aus dem Flockengewoge. Da – da standen sie – war man denn nun geborgen?

Doch unersättlich trieben neue Wolken von Schnee vom verwehten Himmel. Ein Ozean von Schnee, lag die Ebene im fahlen Morgendämmerlicht da. Durch die weiße Öde ging ein fortgesetztes vielstimmiges Pfeifen. Himmel und Erde flossen in eines zusammen in dem stiebenden Schneewehen, das sich unter dem vorspringenden Dachfirst der Scheunen heranwälzte, herankroch, sich in die Luken und Fugen der morschen Gebäude zwängte und hier kleinere scharfkantige Anhäufungen bildete.

Heinz schüttelte den feuchten Schnee von seinem Pelz, zog die Pferde in die geschützteste Ecke und setzte sich in den Schlitten.

»Komm, setz dich dicht zu mir!« befahl er dem Kutscher, »und bilde dir ein, du lägest daheim auf der Ofenbank. Den Weg hätten wir also wieder.«

»Hochwohlgeboren hatten recht,« keuchte Terenti weinerlich, indem er sich schüttelte wie ein Pudel, »den Weg hätten wir schon, den Heiligen sei's gedankt – wie wir ihn aber befahren sollen, das ist eine andere Frage.«

»Abwarten,« meinte Heinz lakonisch und mühte sich, eine Zigarre in Brand zu setzen. Als ihm das gelungen war, steckte er eine zweite an der ersten an und reichte sie dem Kutscher. »Fassen wir uns also in Geduld.«

Und während er in der alten Scheune saß und sann, durchblitzte ihn eine andere wunderliche Ahnung: die All-Einheit alles Gewordenen leuchtete in ihm auf. Ihm schien, als sei er von Urzeiten her existierend, als habe seine unsterbliche Seele von aller Ewigkeit her nur die Form gewechselt, wie ein Kleid – – nicht nur war er ein Teil der ganzen Menschheit, nein auch in allen Gestalten der Natur, in Tieren und Pflanzen, im Gestein, in den Elementen fand er sich wieder, empfand er sein Selbst als eine Ausstrahlung des einen großen Ichs, des Urquells alles Seienden. Er war in den Dingen, er war in Gott, wie die Dinge und Gott in ihm, und eine grenzenlose süße Ruhe durchflutete seine Seele, dehnte sie aus und füllte sie mit einer befreienden Andacht. Gab es denn noch ein Ende? einen Tod für ihn? Nein, nimmermehr!

Beseligt starrte er vor sich hin, verzaubert, durchleuchtet ... Neue Gestaltungen wogten in ihm auf.

Wohl über eine Stunde mochte hingegangen sein als das Heulen des Windes nachzulassen begann. Allmählich war es heller geworden; ein fahles Licht breitete sich schläfrig über die Schneewüste hin. Heinz stieg aus dem Schlitten und spähte in die Weite. In die Schlittendecke gewickelt, duselte Terenti friedlich weiter.

Wolken, grau wie ungebleichte Leinwand, hingen am Himmel, im Osten brach ein Schimmer von Morgenlicht durch das tote Gewölk, trübe und traurig, von einem eigentümlichen gelbgrauen Ton, ohne Leuchtkraft. Die Flocken waren kleiner und trockener geworden und drehten sich unruhig wirbelnd in der Luft. Es war merklich kälter.

Prüfend übersah Heinz das weiße Gelände. Ob er heute abend daheim wäre? Es mußte versucht werden. Nichts war unmöglich.

»He Terenti, wach auf! Spann die Pferde aus. Reiten müssen wir!«

Terenti rieb sich die Augen. »Wie Herr? Der Schlitten soll hier bleiben?« –

In fünf Minuten saßen die Männer auf den Gäulen. Der mühseligste Ritt ihres Lebens begann.

*

Also hatte Verena ihren Heinz wieder. Das war die Hauptsache. Daneben gab es nichts von Wichtigkeit.

Aber am nächsten Nachmittage, als die Dämmerstunde nahte, die Verena besonders liebte, zog sie Heinz in die Sofaecke ihres licht tapezierten Schlafzimmers und schmiegte sich an ihn, er sollte erzählen. Ihre unergründlichen Augen leuchteten aus dem Weiß ihres Gesichts und hingen durstig an seinen Lippen.

Als er schwieg, seufzte sie tief auf, wie befreit.

Endlich sagte sie aus einem verwandten Gedankengang heraus: »Ja, furchtbar und doch schön! Leben wir nicht unserer Eigenart – fast bis zur Ruchlosigkeit?«

Er lächelte voll Verstehens. »Im Sinne der Welt?«

»Gewiß. Denn was verträgt sie weniger, als daß man auf seine eigene Fasson glücklich zu sein wagt? Was aber tun wir anders? Selbst gestern meine Angst um dich gäb ich nicht wieder her und würde sie mit niemandem teilen wollen.«

»Gott erhalte uns diese Ruchlosigkeit!«

»O Heinz, dieses Gottesglück, daß wir so still und abgesondert leben dürfen, daß wir unser Eigenstes hüten können vor fremden Blicken, fremden Fingern, fremder Beurteilung! Sind wir nicht Könige des Lebens?«

»Märchenkönigskinder, und unsere Seelen sind der Hoffnung und werdenden Lebens voll.«

»Hast du wieder ...?« fragte sie voll scheuer Seligkeit.

Er nickte still. »Wieder und auch – Sturm geboren ... Ich will die Geschichte meiner Schuld und deiner Liebe erzählen, Luwa.«

Sie nestelte sich noch näher an ihn heran. Über ihr Gesicht rieselte ein kindlich-heiliges Lächeln.

»Du Unermüdlicher! Unersättlicher!«

Sie lag an seiner Brust. Stille. Die Minuten tropften leise und unmerklich in die eherne Schale der Zeit. Das Leben rann zu wachem Traum hinüber.

»Aber Erik soll auch darin vorkommen,« flüsterte sie.

»Erik? Natürlich, auch Heino.«

»Wie siehst du Erik vor dir?«

Er schloß die Augen: »Warte: schlank, blond, ein wenig zart – mit deinen Augen, Lieb. Etwas Unberührtes, voll stiller Sicherheit, eine reine Kinderseele.«

»O ja!« sagte sie entzückt, »aber auch stark und gesund, nicht wahr? Seine Stimme wie ein Silberglöckchen. Wissen soll er, was er will und was er kann, und allen soll er nicht dienen, alle nicht lieben, nur die Besten, der innerste Kern seines Wesens aber soll Wahrheit und Liebe sein.«

»Du heilige Träumerin!«

Sie berührte seine Wange mit ihrem Gesicht. Ihre langen Wimpern zuckten und zitterten an seinem Mundwinkel auf und nieder wie die zarten Flügel einer Libelle.

»Du,« meinte sie lebhaft, »das Zifferblatt des alten Silberstein geht mir im Kopf herum. Die Hauptsache ist freilich ›zu finden das richtige Licht von jedwedem Schatten,‹« zitierte sie schalkhaft. »Und daß du's nur weißt, ich probiere damit an Heino herum – und es gelingt. Vorgestern zum Beispiel war der Junge eigensinnig wie ein Steppenpferd, wollte sein Abendgebet nicht sagen. Früher wäre ich heftig geworden, hätte das Kind vielleicht gestraft. Nun überlegte ich kaltblütig, was zu tun sei, und handelte nach Moses Silberstein. Eigensinn ist Überschuß an Kraft, sagte ich mir, und Kraft ist Licht, ergo – verwandeln wir den Eigensinn in fruchtbare Energie. Nachdem ich ihm also eine Weile zugeredet hatte, wobei er mich mit trotzigen Augen ansah, sagte ich: ›Nein, Heino soll gar nicht beten, denn er hat's nicht verdient!‹ Starr sah er mich an. ›Wohl!‹ schrie er. ›Das sollst du erst zeigen. Morgen räumst du alle deine Spielsachen ordentlich auf, suchst deine Bauklötze hübsch zusammen, und dann baust du mir einen schönen Turm. Ist der Turm fertig, und du bist kein einziges Mal ungeduldig geworden und hast ihn nicht wie sonst aus Ärger umgeworfen, dann darfst du morgen abend vielleicht beten, heute aber nicht mehr!‹ Damit ließ ich ihn allein. Die Wirkung war verblüffend. Du hättest ihn nur gestern sehen sollen, wie emsig er gekramt und gewirtschaftet hat! Wie geduldig baute er an seinem Turm, wie liebenswürdig war er gestern abend beim Beten!«

Heinz nahm Verenas klares Gesicht zwischen seine Hände und sah ihr tief in die Augen. »Künstlerin,« murmelte er.

»Ja,« sagte sie glücklich lachend, »da hat mir der alte Silberstein wie ein Zaubergreis im Märchen mit seiner putzigen Idee einen Zauberstab geschenkt, einen goldenen Schlüssel. Nun bin ich eine mächtige Fee. Auf mein Geheiß springen Türen und Schlösser vor mir auf, Herzen wenden sich mir zu, verwandeln kann ich Frösche in bunte Vögel und Nesseln in Rosen.«

»Kind, Kind, das alles konntest du auch vorher, ohne Schlüssel und Zauberstab, einfach durch die Macht deiner Persönlichkeit!« sagte Heinz ergriffen. »Aber deinem wunderlichen Uhrmacher gebührt immerhin volle Anerkennung. Ich möchte ihn gern einmal sehen. Hast du nicht noch eine Uhr zum Reparieren?«

»Leider nein.« Verena besann sich eine Weile, dann lachte sie harmlos wie ein Kind. »Da fällt mir was ein,« rief sie lustig, »ich breche morgen einen Zeiger an der Küchenuhr ab, dann soll der alte Herr kommen, und du wirst deine Freude an ihm haben. Er hat gewiß noch mancherlei Goldkörner in sich. Übrigens war er ja vor zwei Tagen hier und brachte mir meine Uhr, gerade wie das Wetter umschlug, war es – da hörte er mich spielen. Na, aber so was von Begeisterung hab' ich wahrhaftig noch nie erlebt. Gezittert hat er am ganzen Leibe, und die Augen, wie glühende Kohlen. Und so spielte ich denn immerzu, spielte fort und weiter und vergaß Zeit und Stunde. Zum Schluß hab' ich ihn feierlich eingeladen, einmal wiederzukommen und zuzuhören, wenn du mich am Klavier begleitest. Ich bin ihm doch eine königliche Revanche schuldig.«

»Königinnen geben keine andere.«

»Ach du!« rief sie fröhlich und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Lippen. »Aber was ich auch tun mag, immer bin ich die reicher Beschenkte. Nun mag es so sein, man muß auch lernen, königlich zu empfangen. Armen Leuten gegenüber vergißt man das nur allzu leicht, und doch ist das Allerfeinste mit schnödem Geld nimmer aufzuwiegen.«

Heinz nickte gedankenvoll. Seine Stirn legte sich in grübelnde Falten.

Sie strich darüber hin. »Was hast du, Heini, woran denkst du?«

»An Silberstein und seinen Kreis. Alle diese geometrischen Zeichen sind ja nur unzureichende Hilfsmittel, um etwas Übersinnliches zu deuten. Man macht sich die Sache leicht. Zu mechanisch ist das alles. Kreis – warum denn gerade Kreis? Bei mir zum Beispiel ist die Seele eher schon eine Ellipse, mit zwei Brennpunkten darin. Die zwei Seiten meines Wesens, hier die aktive, da die passive, die Brennpunkte – verstehst du? Immer miteinander in Wechselbeziehung und Rapport, das Bewußtsein meist wach und tätig; immer aber trieb mich das Instinktive und Unbewußte eigentlich zum Handeln.«

Sie sah ihn verständnisvoll an. »Darum bist du auch seelisch so gesund, trotz all deiner Leiden. Deine Triebe hast du so oder so ausgelebt, so ist auch nichts Verkrüppeltes in dir steckengeblieben, du bist eben ein ganzer Mensch!«

Sie schüttelte ihn voll freudiger Zärtlichkeit.

Heinz hielt sein junges Weib auf Armeslänge von sich.

»Immer noch neue Entdeckungen!« rief er in komischem Staunen. »Womit soll das enden?«

Mit ahnungsvollem Ernste aber antwortete sie: »Das endet nie, denn wir selbst, wir enden nie, auch nach dem Tode nicht. Mir sagt's ein ganz sicheres tiefes Gefühl: Wer einmal zum Bewußtsein seines höheren Selbst gelangt ist, der muß sich fortentwickeln. Es gibt noch viele Dinge für uns zu erkennen und zu tun, Heini.«

»Du meine fröhliche Wissenschaft!« rief Heinz beglückt. »Ja, bei dir ist's gut ausruhen!«

Klang ihm da nicht mit ihrer süßen Stimme ein Echo jener unaussprechlichen Dinge wieder, die ihn im Schneesturm beseligt hatten?

Er ließ sich vor ihr nieder. So zu ihren Füßen, den Kopf auf ihren Knien, von ihrer Hand gestreichelt, die Seele voll tiefer Träume, blieb er lange schweigend liegen.

*

Am andern Tage wurde nach dem alten Uhrmacher geschickt. Er kam, doch nicht allein, denn er hatte einen Neffen mitgebracht, einen unscheinbaren, kümmerlichen Menschen mit einer gewaltigen Hakennase und einem zurückweichenden Kinn, in dessen hellen Augen ein unheimliches Licht loderte und glomm.

Mit einer gewissen Feierlichkeit wies der Alte auf den linkischen Jüngling, der sorgenvoll und kindlich zugleich dreinschaute und unschlüssig von einem Fuß auf den andern trat.

»Is meiner einzigen Schwester einziger Sohn, Gnädige; hat gemacht einen langen Weg zu Fuß bis zu mir im Schneegestöber, weil ich hab' gesprochen meinem Schwager von der Gnädigen ihrer gewaltigen Kunst – – is zu gebrauchen zu nichts, nur singen tut er, nur singen will er und singen kann er – – hab' ich mir erlaubt, ihn herzuführen zu der allmächtigen Gnädigen und zu bitten um Ihr Urteil.«

Verena betrachtete den blassen rothaarigen Jüngling aufmerksam. »Wie heißt Ihr denn?« fragte sie ermutigend.

»Hm, E ... Eph ... Ephraim Rosenblüt,« stotterte das seltsame Menschenkind mit dem sorgenvollen Säuglingsgesicht.

»Seit wann singt Ihr denn so gern?«

Seine zehn Finger flogen gespreizt und ungestüm in die Höhe. »Gn ... Gnä ... Gnädige, ww ... wie ich hab' zu sch ... schr ... schreien aufgehört, hab' ich b ... beg ... begonnen zu singen.«

Verrücktes Huhn, – Künstlernatur – bis in die Fingerspitzen nervös – schloß Verena. »Kommt mit ins Musikzimmer,« sagte sie freundlich, »ich will Euch gern anhören.«

Sie rief Heinz und machte ihn mit kurzen Worten mit den Ankömmlingen bekannt.

»Stört es Euch, wenn mein Mann auch zuhört?« fragte sie den blassen Rothaarigen.

Der schüttelte vehement den Kopf. Kaum ließ er den übrigen Zeit, sich zu setzen, so stellte er sich auch schon in Positur und schöpfte tief Atem. Eine wunderliche Verwandlung ging mit dem armseligen Wicht vor: wie eine innere herrliche Spannung kam es über ihn, wie eine Lust zu fliegen – und aus der Tiefe seiner Brust schwebte breit und sanft ein Ton, ein metallischer Goldton hervor, wuchs zu einer elementaren Kraftfülle an, die den ganzen Raum zu füllen schien, und setzte um eine Terz höher mit einer eigentümlichen rhythmischen Melodie ein, die sich gegen den Takt vorwärtsbewegte und in getragenen Tönen ausklang. Eine seltsame keusche Sinnlichkeit atmete in dieser Musik, die Naturgewalt der sausenden Stimmen des Sturmwindes, die herbe Einsamkeit einer ruhelosen, wandernden Seele ...

Und während er sang, lag eine unbezwingliche Selbstfreude an seinen Tönen und die unermüdliche Neugier eines Knaben auf seinen Zügen. Als er geendet hatte, aber stand er wie ein Lebensrätsel in Person mit geschlossenem lächelnden Munde da.

Verena hatte mit weit offenen Augen zugehört. Jetzt griff sie sich an die pochenden Schläfen und flüsterte: »Woher habt Ihr die Musik?«

Wieder stand ein rothaariges, kümmerliches Etwas vor ihr, von dem goldenen Licht, das durch die gelbseidenen Fenstervorhänge leuchtete, grotesk erhellt und stotterte: »S ... se ... selbst gemacht.«

»Könnt Ihr den Schwanengesang aus dem Lohengrin?« fragte Verena mit schwankender Stimme.

Der kleine Mann nickte eifrig. Verena suchte die Noten hervor und setzte sich an den Flügel. »Bitte!« sagte sie herrisch, mit gedämpftem Ton. Ihre Augen glühten wie die des seltsamen Sängers.

Er sang, ohne auch nur nach den Noten zu blicken. Wie spielend war jeder Ton in sein Bewußtsein genagelt. Seine Stimme war jetzt ganz schmelzend und von einer wunderbaren schmerzlichen Reinheit. Alles Gewöhnliche und Lächerliche in seinem Wesen war zur Majestät geworden. Eine blutsverwandte Sympathie, die die Seele der Musik bis in die innersten Fibern bloßlegte, schien den Sänger und seine Begleiterin zusammenzuhalten.

Als er schwieg, sanken Verenas Hände kraftlos von den Tasten. Sie legte die Arme auf das Notenpult, legte das Haupt darauf und brach in Tränen aus.

Heinz nickte dem alten Silberstein, dessen Gesicht die äußerste ratlose Spannung ausdrückte, ermutigend zu und schwieg lächelnd.

Mit matter Stimme, in der gleichwohl eine eiserne Entschlossenheit vibrierte, sagte endlich Verena:

»Verzeihen Sie, zu lange habe ich keine Musik außer der meinen gehört. Sie werden sich ausbilden, denn Sie müssen. Wie ein Fisch ins Wasser, so gehören Sie der Kunst. Ich werde nach Petersburg schreiben und Ihnen alle Wege zu ebnen suchen. Über wieviel Geld können Sie verfügen?«

Er stand, das Herz im Halse, seine Augen zitterten wie vor einem Schlag. Mit einer linkischen Bewegung kehrte er seine Rocktaschen aus, ein Silberrubel rollte klappernd auf den Boden nieder. Hastig bückte er sich nach dem Geldstück.

»Also, wann könnten Sie nach Petersburg reisen?«

»Gn ... Gnä ... Gnädige, möcht ich lieber nach I ... It ... Italien!«

»Wie?« Verena traute ihren Ohren nicht. »Warum denn?«

»Aber Ephraim!« rief der alte Silberstein entsetzt.

Der Rothaarige aber sah so ehrerbietig und so halsstarrig zugleich aus, daß ein Lächeln um Verenas Mundwinkel zuckte. »Ich habe meine Kunst in Petersburg gelernt,« sagte sie einfach, »aber wenn Euch Italien glücklich macht – mir soll's gleich sein. Nur kenne ich in Italien keinen Künstler von Ruf, an den ich Euch empfehlen könnte. In Petersburg aber habe ich Beziehungen zum Konservatorium wie auch zu einzelnen Meistern.«

»W ... ww ... wann ich soll sagen die W ... ww ... Wahrheit, will ich rr ... reisen nach I ... Italien!« sagte das Männlein mit verblüffender Kaltblütigkeit. »W ... ww ... werd' ich dort sch ... schon finden die Mm ... eister alleine!«

»Bist du verlassen von Gott?« schrie der Uhrmacher wieder. »Wo is hin die Gefügigkeit? und die Demut? und der Anstand?«

Verena winkte ihm zu schweigen, stand auf und verließ den Musiksaal. Bald kehrte sie wieder, einen Beutel in der Hand. »Hier sind dreihundert Rubel,« sagte sie ruhig, »die könnt Ihr mir wiedergeben, wenn Ihr ein berühmter Mann geworden seid.«

Den kleinen Rothaarigen überlief ein Zittern. Mit glühenden Augen sah er Verena eintreten, als wolle er das Leben aus ihr trinken. Es schien, als habe er ihre Worte gar nicht gehört, nur an ihren Augen hing er. Seine Finger schlossen sich mechanisch um den Beutel. Mehrmals nahm er den Ansatz, etwas zu sagen, räusperte sich, öffnete den Mund und schwieg.

Verena gewahrte seine Verwirrung und wandte sich von ihm ab zu dem alten Silberstein. »Ich wollte Sie bitten, meinem Mann –«

»Ephraim, Ephraim!« rief der schmerzlich, »kannst du nicht sprechen ein einziges Wort von Dank?«

»Lassen Sie's gut sein, Herr Silberstein, Herr Rosenblüt hat gar nicht zu danken. Es ist ja nur meine Pflicht, der Kunst zu dienen, wo ich kann.«

Aber der Alte gab sich nicht zufrieden. Mit großen Schmerzensaugen stand er in sich versunken und schüttelte immer wieder den grauen Kopf.

Heinz sah, er war jetzt nicht in der Stimmung, sich über andere Fragen zu äußern, und wollte sich eben still entfernen, da hörte er, wie der alte Silberstein in die gedämpften Worte ausbrach: »Is nicht schön gewesen von dem Ephraim, aber man muß begreifen alles, ehe man soll richten. Hat er gehabt von klein auf nur die Leidenschaft zu singen, is er worden ausgespottet und gestoßen und geprügelt dafür sein Leben lang. Is worden ausgeprügelt alles Verwandtschaftsgefühl und alle Liebe und alle Dankbarkeit aus seinem Herzen. Hat er nur das eine festgehalten, zu werden ein Meister.«

»W ... www–werd' ich auch werden einer!« stieß Ephraim düster und verbissen hervor, und seine hellen Augen glühten wie Kohlen.

»Ich zweifle keinen Augenblick daran, Herr Rosenblüt,« sagte Verena sanft, »darf ich Ihnen aber ein Wort mit auf den Weg geben? Die Seele eines Künstlers muß sich von Liebe nähren, nicht nur zu seiner Kunst, nein, zu allem, was lebt und webt. Sonst –« sie sah ihn mit ihren machtvollen Augen gütig an und sagte weich und bittend: »Ich möchte, daß Sie ein ganz Großer werden.«

Er starrte sie an wie ein gequältes Tier, seine Gesichtszüge arbeiteten und zuckten, doch er schwieg.

»Komm, gehen wir,« sagte der alte Silberstein bekümmert, »kannst den Herrschaften nicht nehmen ihre Zeit. Leben Sie wohl, Gnädige, und Sie Herr Oberverwalter; gehen wir, Ephraim!«

Scheu und traurig wie von einer schweren Last gedrückt, schlich der alte Jude aus dem Zimmer. Ephraim riskierte noch eine linkische Verbeugung und folgte schweigend.

*

In einer wunderlichen Stimmung blieben Verena und Heinz zurück. Sie sahen einander liebevoll und lächelnd an und fielen einander in die Arme.

»O die Stimme, die Stimme!« murmelte Verena, »aber welch' ein linkischer, spröder und starker Mensch! Und welche Einsamkeit, Herrgott, welche Einsamkeit!«

Dann begann sie wieder zu weinen. Sie legte ihren Kopf an Heinzens Schulter und weinte leise und schmerzlich, wie ein müdes, erschöpftes Kind.

Ihn durchblitzte eine unbestimmte Ahnung. »Sehnst du dich ... hinaus?« fragte er flüsternd.

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht das allein, ich habe ja alles um mich und in mir, was mir am liebsten ist, aber ganz wird unsereiner die Sehnsucht doch nie los, und das ist auch gut. So alles vor sich zu haben, die ganze künstlerische Entwicklung, den ganzen mühsamen Aufstieg – die Hoffnung, die Morgenröte – das ist es!«

»Wir aber stehen vor der Erfüllung.«

»Ach ja,« seufzte sie, »ich bin ein dummes Ding, ein Nimmersatt wie du. Ich weiß ja auch, daß jede Erfüllung neuer Hoffnung voll ist.«

»Lieb, sieh mich an«, sprach Heinz einfach und ernst. »Kennst du die goldenen Worte noch, die du mir einst gesagt hast? Heute wiederhole ich sie dir: ›Du bist jederzeit frei.‹ Zieht es dich zurück zu deiner Kunst, so lebe ihr.«

Da brach sie in ein neues, schmerzlich-frohes Weinen aus.

»Du lieber Narr, du Goldner!« sagte sie mit zitternder Stimme, unter Tränen lachend, und schmiegte sich fest an ihn. »Ich bin ja noch ziemlich normal, weißt du. Zunächst hat Erik mal ein Recht auf mich und dann, mein großer Junge, und dann erst ...« sehnsüchtig blinzelte sie mit den tränennassen Wimpern, »dann darf die Kunst erst wieder mitreden. Sag', ist es nicht sogar Pflicht? Ich muß doch anfangen, für unsern Erik zu sorgen.«

Er lächelte. »Nun, dazu bin ich auch noch da. Aber Pflicht ist es einem Künstler, der inneren Stimme zu folgen, die ihn drängt und treibt. Ich habe es ja gewußt, daß ich mich einer Künstlerin anverlobte, und habe mir geschworen, nimmer deine Kreise zu stören. Du kehrst mir ja wieder, weiß ich das nicht, und sind wir nicht frei?«

In heißer Zärtlichkeit ergriff sie seine Hand und küßte sie.

»Du Großer, Guter! Du Ganzer!«

Den ganzen Tag war sie still und in sich gekehrt. Aber ein freudiger Stolz leuchtete aus ihren Augen, wenn sie ihren Mann ansah, und sie überwand das furchtsame Herzklopfen ihrer wehmütigen Sehnsucht, die sie immer wieder zu packen drohte. Eine matte Schwere lag ihr in den Gliedern; sie suchte sich darüber hinwegzutäuschen, indem sie sich geschäftig an das Aufräumen ihrer Schränke machte, denn immer noch hatte ihr Tätigkeit am besten über wechselnde Stimmungen hinweggeholfen.

Der Raum, in dem sie arbeitete, war halbwegs durch ein Fenster aus mattem Glase erhellt und vortrefflich zur Abstellung von Schränken, die sonst im Wege standen, Koffern und Truhen geeignet. Daneben lag Heinos Kinderzimmer, wo er unter Janinas Obhut seine lärmenden Spiele betrieb.

Verena war mitten in der Arbeit. Sorgfältig schichtete sie die weißen Stöße glänzenden Linnens vor sich auf, überzählte die einzelnen Stücke, ordnete sie und band das Gleichwertige zusammen. Es war ihr eigen, jede Arbeit, und sei sie auch noch so einförmig und langweilig, gern zu tun und sie dadurch aus der niederen Sphäre bloßer Pflicht zu erheben und zu adeln. Heute war ihr dabei die Einsamkeit besonders lieb. Janina, die ihr zu helfen pflegte, wo sie konnte, war ins Dorf zu einer schwerkranken Greisin gerufen worden, deren Behandlung sie übernommen hatte, und der kleine Heinz sah draußen mit dem Papa zu, wie Terenti dem milchweißen Schimmelhengst an der Longe die Gangarten eines wohlerzogenen Stallpferdes beizubringen suchte.

Ermüdet von dem Aufräumen mehrerer Schränke hielt Verena endlich inne und unterzog die Aussteuer ihres Kindchens einer nochmaligen prüfenden Musterung. Während sie liebevoll die fertigen Sächelchen vor sich ausbreitete und sie in kleinen Päckchen ordnete und zusammenlegte, überraschte sie dabei der kleine Heinz. Mit frischen, kalten Bäckchen, die von der Winterluft gerötet waren, kam er ungestüm hereingesprungen, umhalste seine Mama und rief: »So kleine Hemdchen, die sind ja viel zu klein für Heino!«

»Die sind auch nicht für Heino«, erwiderte sie mit ihrem zärtlichen Lächeln.

»Für wen denn?«

Sie nahm das runde fragende Kindergesicht, das so ernsthaft-erstaunt zu ihr aufblickte, zwischen ihre Hände und küßte es.

»Heino wird vielleicht ein Brüderchen bekommen oder ein Schwesterchen, damit er es recht lieb haben soll.«

Ein Blick des Entsetzens traf sie, ein angstvoller, hilfloser Blick.

»Heino will kein Brüderchen, auch kein Schwesterchen«, brach es endlich mit ungestümer Heftigkeit hervor.

Sie sah ihn ernst an. Ein scharfer körperlicher Schmerz lief ihr durch Leib und Rücken und zog ihr die Glieder zusammen. Sie mußte sich setzen. Schon? dachte sie voll seliger Ahnung; doch nein, das kann ja nicht sein.

»Wenn es der liebe Gott uns aber schickt, werden wir alle sehr froh sein, und Heino auch, denn mein kleiner Junge hat seine Mama doch lieb.«

»Der liebe Gott soll's aber nicht schicken, Heino will nicht!« rief der kleine Kerl außer sich und stampfte mit den Füßen.

»Aber die Mama will's!« sprach Verena fest, »und der liebe Gott will ihr eine große Freude machen.«

Düster starrte Heino vor sich hin und nagte an seiner Unterlippe. Welch' harte Entschlossenheit lag doch in diesem Kindergesicht! »Heino will ihn totschlagen!« murmelte er.

Verena erzitterte. »Wen?« fragte sie flüsternd.

»Lieben Gott. Heino selbst lieber Gott sein will, und im Himmel sitzen, mit Engelchen spielen, auf Pferdchen reiten und dar keine Menschen sterben lassen!«

Eine hilflose Kindlichkeit sprach aus dieser Vorstellungsreihe trotz der bitteren Auflehnung. Wieder fühlte Verena den ziehenden Schmerz in den Gliedern, sie bückte sich zu Heino nieder und sah ihm tief in die Augen. Armes kleines Herz voll Eifersuchtsqual und Liebe! dachte sie. Armes entthrontes Prinzlein!

»Heino,« sagte sie innig, »hast du mich lieb?«

»Furchtbar lieb!« beteuerte der kleine Mann bereitwillig.

»Wie lieb?«

Er trat zurück und breitete die stämmigen kleinen Arme aus, soweit er konnte. »So–so! Nein, noch mehr!«

»Heino, die Mama hat dich auch sehr, sehr lieb und wird dich niemals weniger lieb haben, auch wenn das kleine Brüderchen da ist.«

»Mehr noch als Brüderchen – – mehr als Papa?« fragte er hastig, von einer neuen größeren Idee gepackt.

»Nein, der Papa kommt zuerst.«

Er wandte sich ab und sah zu Boden. Seine Lippe zitterte.

»Und ... und's Brüderchen?«

»Heino,« fuhr Verena mühsam fort, »wenn du Mama so lieb hast, darfst du sie nicht traurig machen, du mußt Papa und das kleine Brüderchen ebenso lieb haben wie die Mama. Sieh, sonst kann Mama es nicht glauben.«

»Wohl!« knurrte er.

Verena schüttelte den Kopf und sah ihn bekümmert und eindringlich an.

Er hielt den Blick nicht aus. »Wohl, wohl, wohl!« schrie er leidenschaftlich und umklammerte ihre Knie.

Sie küßte ihn und lehnte ihre Wange still an sein dunkles Köpfchen.

So war der Friede abermals geschlossen worden. Und sie gelobte sich, ihre Pflichten gerade gegen dieses Kind, das ihr nicht blutsverwandt war, heilig ernst zu nehmen, es zu lieben mit aller Kraft und Treue und sich dadurch das Anrecht auf ihre leibliche Mutterschaft gleichsam zu verdienen. Da die Schmerzen ihr immer häufiger durch Leib und Rücken zu jagen begannen, fühlte sie in ihrer ahnungsvollen Freude das zwingende Bedürfnis, ihrem Stiefsöhnchen, dessen Leben bei seiner Anlage sich nun schon bald voll Kämpfe und Komplikationen gestalten würde, ein Opfer zu bringen, und sich etwas zu entziehen, was ihr besonders lieb sei.

So führte sie ihn denn in ihr Schlafzimmer, nahm die Bronzeuhr mit den beiden Knabengestalten vom Ständer und zeigte ihm, wie man das Türchen öffnen könne, zeigte ihm das tickende Räderwerk und wie man es aufziehen müsse.

»Diese Uhr ist Mama von allen Sachen und Andenken das liebste. Damit Heino aber sieht und weiß, wie lieb ihn Mama hat, so soll er die Uhr geschenkt haben, und jedesmal, wenn er sie aufzieht, daran denken, was er versprochen hat. Wenn er aber sein Versprechen vergißt, muß Mama sie ihm wieder fortnehmen.«

Nie vergaß Verena das glückselige verzückte Gesicht des Bübchens, wie es das kostbare Geschenk behutsam in den dicken Händchen tragend stolz und freudestrahlend aus dem Zimmer trippelte.

So war es auch diesmal gelungen, das ungebärdige Löwenjunge durch die Blumenketten zarter Liebe zu fesseln und zu zähmen.

Als Heinz nach einer kurzen Weile in ihr Zimmer trat, fand er Verena bleich und mit schmerzverzerrten Zügen auf der Chaiselongue in einen warmen Schal gehüllt. »Lieber,« flüsterte sie, »ich glaube, meine Stunde ist nahe.«

Er erschrak heiß, beugte sich zu ihr nieder und berührte ihre Stirn; sie war feucht. »Weiß Janina schon?«

»Sie ist ausgegangen. Ängstige dich nicht. Komm her, ich will dich noch einmal allein sehen!«

Er kniete vor ihrem Lager nieder, sie nahm sein Gesicht in ihre kalten Hände und betrachtete es lange und aufmerksam.

»Von dir und für dich ...« sagte sie leise. »Küsse mich, Heinz, und hilf mir, wenn ich feige werde. Ich bin kein Held, weißt du, und ich mache durchaus nicht den Anspruch, mich musterhaft zu benehmen.«

Er nahm sie in seine Arme und küßte sie. Alle Fluten der Liebe strömten in diesen Augenblick zusammen.

Etwas Leuchtendes, Kindliches, Göttliches strahlte ihm aus ihren tiefen Augen entgegen.

»So!« seufzte sie, »es ist so schön zu wissen, daß in meiner Seele jedes letzte Winkelchen offen vor dir daliegt. Alles, alles dein!«

Ein reißender Schmerz hatte sie wieder gepackt. Sie wimmerte leise vor sich hin und krümmte sich wie ein angeschossenes Tier.

Heinz stürzte zur Tür – in diesem Augenblick trat Janina ein.

Ein Blick und sie verstand. Heinz packte ihre Hände und drückte sie heftig, außer sich vor Erregung. »Helfen Sie!« befahl er.

Sie beugten sich über Verena und suchten sie von der Chaiselongue zu heben. »Ich kann noch gehen ...« flüsterte sie mit bleichen Lippen.

In wenigen Minuten war sie zu Bett gebracht worden wie ein Kind. Janina hatte sich eilends zum Doktor begeben.

Und nun begann die große Arbeit, die schwere Lebensarbeit des Weibes.

Die große Arbeit begann, und es ward Verena nichts davon erspart. Bettelarm und machtlos stand der Mann daneben, eine Welt von einsamer Pein in der Seele. Wie Fieberschauer durchschüttelten ihn ihre Leiden mit heißen Ängsten; wie das Rauschen schwerer schwarzer Flügel war es über ihm – eine traumhafte Unwirklichkeit und doch das Allerwirklichste von der Welt. Seine heiße Lebenskraft hätte er für sie dahingeben mögen, tropfenweise sein Blut für sie hingeben, und konnte doch nichts als ihre Hände festhalten, ihren zuckenden Körper stützen und ihr sinnlose abgerissene Liebesworte zuraunen. Aus dunklen elenden Augen starrt ihn die Qual seines Weibes fragend an, und er ist hilflos – hilfloser als ein Kind. Ist es nicht der Widerstand einfacher Menschlichkeit, wenn der Mann es ist, der in der Qual und dem Mitleide seiner Seele verzagt und verzweifelt, während das Weib, krank und müde wie eine dünne Lebensflamme, weiterglimmt und leidet – leidet durch ihn und um ein Drittes? Sind es nicht Stunden wie diese, die reif machen, den Sinn des Lebens zu fassen? In den Ruhepausen kurzen taumelnden Vergessens durchblitzen ihn solche Gedanken, dann reißt ihn das Ringen, das ohnmächtige Aufbäumen der geliebten Glieder in die wache Wirklichkeit zurück.

Und die Qual währte einen Tag und eine Nacht. Was half es, daß der Arzt versicherte, es gehe alles gut und ordnungsgemäß? Mit erzwungener Gemessenheit starrte Heinz ihn an und lachte ihm bitter ins Gesicht. War es ordnungsgemäß, daß ein zartes Weib, sein Glück, sein Reichtum, sein Alles sich wand und schrie wie ein gefoltertes Tier?

Als der zweite Tag sich seinem Ende neigte, war es Heinz, als dröhnten Bahnzüge hohl und hart über seinem Haupte hin, und er hörte jedes Ächzen, jeden Jammerlaut Verenas wie einen einzigen fortlaufenden Ton. Einmal sah sie in sein überwachtes Antlitz, das sich voller Furchen mühsam zusammenkrampfte, um die Fassung zu bewahren – sie strich ihm über die Stirn und flüsterte: »Du Armer, du sollst nicht so leiden ...« Eine hundertfache Liebe sah ihr aus den elenden Augen, der arme, feine Mund war so verändert, so bleich und so still, und Heinz sank in die Knie und weinte.

Aber wieder mußte eine verzweifelte Nacht dahinschleichen – wie ein zuckendes Häufchen Glieder lag Verena da, ein einziges gurgelndes Schreien durchschnitt den Raum, und da hatte Heinz seine Geburt eher vollendet als sie: war es nur ein Gedanke? War es ein verzehrender Wunsch? Stammelten seine trockenen Lippen die ungeheuren Worte, hatte er sie mit Bewußtsein gesprochen? Hörte er sie nur?: »Ein Ende der Qual und des Lebens – – ein Ende ...«

Nicht die lachende Zukunft auf milchweißen Pferden, nicht das singende schimmernde Glück – ein Ende, nur ein Ende!

Der Wunsch ward zum Willen, der Wille zum Flehen. –

Und ehe er sich's versah, hatte ihr gewaltiger Lebens- und Liebeswille sich noch einmal zusammengerafft – –

Sich aufbäumend preßte sie sich mit einem Ausdruck der Liebe, die selbst das Gesicht des Arztes erbleichen machte, an Heinz heran, erstickte den letzten furchtbaren Schrei und stöhnte: »Sieh ... solche Macht hast du ... über meine Seele!«

In demselben Augenblick bohrte sich der schwache spitze Schrei eines neuen Wesens durch die atemlose Stille.

Es war das Leben.

*

In dem roten Kaminzimmer träumte die Dämmerung und hüllte den Raum in ein schwebendes geheimnisvolles Dunkel. Ernsthaft und düster nickten die paar Familienbilder von den Wänden; die alten Möbel dehnten sich und schienen in die Finsternis hineinzuwachsen. Nur wenn sie von dem flackernden Schein des Kaminfeuers getroffen wurden, zuckten sie hastig auf und krochen wieder zu ihrer ursprünglichen Gestalt zusammen.

Verena saß am Kamin, den kleinen Erik an der Brust. Das weiße Kleid umfloß sie mit ruhigen Falten, ihr leidendes Gesicht erschien in dem grellen Feuerschein rosig. Ein Schimmer ernsten Mutterglücks, ein seltsamer Ausdruck von Milde und Wissen leuchtete in ihrem Antlitz.

Heinz kauerte auf einem Polsterstuhl irgendwo im Dunkeln. Er konnte sich nicht satt sehen an dem Bilde vor ihm. Die unbegreifliche Wirklichkeit seines Glücks, das er bereits verloren gewähnt, hatte ihn in allen Tiefen aufgewühlt und erschüttert. Kaum wagte er daran zu glauben. Und angesichts dieser weißen Erscheinung, die so fein und durchsichtig geworden war, angesichts dieser Hände, die so etwas Geistiges hatten und des Ausdrucks von Erfahrung und Wissen in den geliebten Zügen, fühlte er seine Liebe zu einer Glut und Zartheit hinanwachsen, deren er sich bisher nie fähig geglaubt. Seine Hände unter ihre Füße zu breiten, ihren Weg mit Hintansetzung seines Selbst freudig und schön zu gestalten, ihren künstlerischen Aufstieg zu fördern, und sei es auch durch lange und häufige Trennungen, erschien ihm wie ein Glück ohnegleichen. Das zarte Kind, das sie ihm geboren hatte, liebte er schon jetzt mit einer Hingebung, vor welcher die gemütliche und ein wenig derbe Vaterfreude an dem kleinen Heinz verblaßte und fast bedeutungslos wurde. Nur die Furcht, das gebrechliche Wesen zu verletzen, hielt ihn davor zurück, es in seine Arme zu nehmen. Wenn es aber auf Verenas Schoß oder in seinem Bettchen sicher ruhte, streichelte er es vorsichtig mit einem Finger, oder wagte es, die weichen blonden Härchen mit dem seltsamen Schauer zu berühren, der einen angesichts eines Heiligtums überkommt. Er wußte, zu teuer war dieses Kind erkauft worden, und er gelobte sich, sein Weib nie wieder einer so grauenvollen Marter auszusetzen. Wurde das Kleine gebadet, so stand der Vater in einer Art scheuer Ergriffenheit dabei und betrachtete versunken die zappelnden Gliederchen, die sich wohlig dehnten und reckten, eine entzückte Zärtlichkeit in der Seele. War es doch ihr Fleisch und Blut, das da durch ihn lebte, ein Teil ihres Geistes, war sie ihm doch selbst wie durch ein Wunder erhalten und wiedergeschenkt worden! Verena lächelte ruhig zu seinen stummen Ekstasen und hob oft warnend die Hand. »Heinz, Lieber, denken wir daran, wir haben ja zwei Kinder!« Aber was sie auch sagen mochte, zu tief hatten die Erschütterungen, hatte der jähe Umschwung aus Todespein zur Seligkeit in ihm nachgewirkt, seine Natur bedurfte dieser schmerzhaft-inbrünstigen Hingabe an sein wiedergewonnenes Glück, um sich ins Gleichgewicht zu setzen, und er mußte die süße und verklärte Herrlichkeit der Gegenwart voll auskosten, ebenso wie er den bitteren Trunk seiner Leiden bis auf den letzten Tropfen zu leeren gezwungen gewesen war.

So brach er auch jetzt in die trunkenen Worte aus: »Gibt's ein Herrlicheres? Ist das nicht das ewige Lebenblühen selbst? Sind das nicht festgehaltene Ewigkeitsmomente?«

»Heini, Lieber,« erwiderte Verena mit trockenem Humor und sah mit ihren mächtigen Augen lächelnd ins Dunkel hinein, »du hast ja unzweifelhaft recht, aber wir müssen unsern Erik doch taufen lassen.«

Ihre Worte trafen. Ihn erfaßte das unbezwingliche Bedürfnis einer fast schmerzhaften Heiterkeit. Er mußte in sich hineinlachen wie ein Knabe, der durch die feine Ironie alles Geschehens und Erlebens aus der Höhe schwunghaften Empfindens wieder in die Tatsächlichkeit des Alltagslebens zurückgerissen wird. Er lachte bis zu Tränen, stand auf und trat noch immer lachend aus dem Dunkel zu ihr. Hier, in dem flackernden Licht des Kaminfeuers, ließ er sich mit einer ritterlichen Gebärde auf ein Knie nieder, ergriff ihren schlanken Fuß und küßte ihn zärtlich.

Sie sah ihn lächelnd an. »Du toller Junge!« sagte sie leise.

» Madonna mia! Anbetungswürdigste aller Frauen, Einzigste und Süßeste! Euer Wille ist mir Befehl. Welchen von den beiden Geistlichen der deutschen Kolonien soll ich zu diesem Behufe bemühen? Den dicken Paterfamilias Julius Graupenhahn, der immer so große Worte macht, oder den kleinen engbrüstigen Siegfried Schulz mit seinem hübschen leeren Lockenköpfchen? Ihr seht, ich bin zu allem bereit, und die Wahl ist ebenso schwierig wie interessant.«

»Aber Heinz, du ausgelassener Kerl!« sagte Verena lachend, »so rede doch einmal verständig. Zu welchem von den beiden Herren hast du das meiste Zutrauen?«

Er streckte sich lang vor ihr auf den Boden, stützte die Ellenbogen auf den Teppich und das Kinn in die Hände. Nachdenklich blinzelte er zu ihr empor.

» Die Frage ist nicht minder schwierig. Pastor Graupenhahn ist, soviel ich weiß, wegen zu großer Intimität mit seinen Konfirmandinnen hierher in die Stille versetzt worden. Er erfreut sich hierzulande eines gewissen Ansehens und einer suggestiven Gewalt über weibliche Gemüter, redet wuchtig und ist voll sittlichen Schwergewichts. Vielleicht wird er nächstens sogar Propst.«

»Den nehmen wir nicht!« entschied Verena gelassen und voll kühler Entrüstung.

»Der andere – ach, du lieber Gott! Multipliziere eine Null mit tausend Nullen – sie bleibt doch immer nur, was sie war. Dieses Kalb Gottes hat ja wohl noch nirgends böswillig ein Wässerlein getrübt. Es ist züchtig und ehrbar und verlobt. Voll moralischer Entrüstung trappelt es durch Amt und Leben – auf allen vieren natürlich. Neulich hat es ein schwangeres Mädchen in der Kirche öffentlich an den Pranger gestellt und es zur Kirchenbuße gezwungen.«

»O pfui!« rief Verena, »den nehmen wir auch nicht.«

»Das konnt' ich mir denken. So bleibt uns nichts übrig, als nach Jekaterinoslaw zu schreiben und den dortigen Pastor herzubitten.«

Verena hob ängstlich die Hand. »Bitte, ich will nichts von seiner Vergangenheit wissen.«

Heinz sah sie mit einem warmen Lächeln ironisch an. »Davon weiß ich auch nichts zu sagen. Man spricht nämlich allzuviel von seiner Gegenwart. Er hat eine geschiedene Frau geheiratet und soll ungemein glücklich mit ihr leben.«

»Das ist der Rechte. Laß ihn kommen, Heinz.«

*

Und so geschah es. Heinz reiste in den nächsten Tagen in die Gouvernementsstadt, um sich dem Pastor Stein persönlich vorzustellen. Er fand in ihm einen freudigen und feinen Menschen, der von der Heiligkeit seines Amtes tief durchdrungen, dennoch Andersgläubigen eine reine menschliche Güte und Toleranz entgegenbrachte. Die Taufhandlung wurde auf den achtundzwanzigsten Februar, einen Montag, nachmittag festgesetzt, denn am Sonntag hatte der Pastor in seiner Gemeinde zu tun.

Als Heinz aus dem Sprechzimmer des Geistlichen kam, trat ihm ein hagerer, hochgewachsener Greis entgegen und blieb einen Augenblick überrascht vor ihm stehen.

» Ah, mais quelle satisfaction! Mon cher monsieur Stürmer, charmé de vous voir!«

Eine zittrige blasse Manschettenhand fuhr in die Westentasche, klemmte ein Monokel in das linke Auge, dann streckte sie sich langfingerig und fein Heinz entgegen.

»Graf Rahden, ich staune! Wie? Hier in der Provinz?«

» Mais oui, sehen Sie, die Petersburger Hofluft bekommt mir nicht mehr so recht.« Vertraulich legte der alte Herr die Hand auf Heinzens Schulter. »Haben Sie etwa Eile? Ich darf mir vielleicht erlauben, Sie ein wenig zu begleiten. Wie befindet sich Ihre hochverehrte Frau Gemahlin? Was macht die große Kunst? Bekommt der Gnädigen das Landleben? Sehen Sie, ich für mein Teil, ich habe nie aufgehört, dem göttlichen Genie Ihrer Gattin zu huldigen und ihr meine tiefste Verehrung zu Füßen zu legen. Ah, les beaux jours, où elle nous inspirait par sa musique divine! Ils sont passés, fugitifs comme la pensée, la gloire, l'amour ... tout passe dans ce monde, tout casse, tout lasse ... hélas!«

» Non pas toujours l'amour, verehrter Graf,« widersprach Heinz lächelnd. »Der Zweck meines Besuchs hier ist vielmehr der Art, daß unserem Bunde durch Pastor Stein eine neue Bestätigung unseres dauernden Glücks zuteil werden soll. Ich bin nämlich seit vier Wochen Vater.«

Das glattrasierte welke Höflingsantlitz des vormaligen kaiserlichen Zeremonienmeisters nahm den Ausdruck intensivsten Interesses an. Mit einer eleganten Geste gerührter Überraschung faßte er Heinzens Hände und schüttelte sie vehement:

» Ah, mes félicitations, cher monsieur Stürmer, et toutes les bénédictions divines sur la tête chérie de cette petite!« Der alte Herr sprach die As wie ä.

Heinz verbeugte sich höflich. »Verzeihung, Graf Rahden, wir haben einen Sohn.«

» Oh la la! Wie konnte ich das überhören?« ächzte der alte Herr bekümmert und fuhr sich mit der feinen Hand über die Stirn. »Ja ja ja, man wird alt, mein sehr verehrter Herr Oberverwalter, man wird alt, und die Sinne funktionieren nicht mehr tadellos wie ehemals.«

Mitleidig sah Heinz den alten Aristokraten an, der vormals bei Hofe eine Rolle gespielt hatte. Ob ich Verena den kuriosen Kauz mitbringe? dachte er und schon sprach er auch die Worte der Einladung aus.

»Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, Graf, wäre es ganz reizend von Ihnen, mich in unser Heim zu begleiten, ich glaube, meine Frau würde sich sehr freuen ...«

»Äh, äh!« hüstelte der erfreute Greis, »wirklich eine außerordentliche Freude für mich. J'en suis extrêmement touché, mon cher monsieur Stürmer. Ich gestehe, – ich weiß oft nicht, was ich mit meiner Zeit anfangen soll, bin ein einsamer Mensch geworden, sozusagen ein Anachoret. Mitte März gedachte ich sowieso auf mein Gütchen in Taurien zu reisen. Wenn ich indessen auf acht Tage Ihr Gast sein darf –«

»Aber Sie sind uns tausendmal willkommen.« Heinz faßte ihn unter den Arm und schritt mit ihm ins Vorzimmer.

»Hm, gestatten Sie mir noch fünf Minuten Unterredung mit unserem sehr geschätzten Herrn Seelsorger,« meinte der Graf und zog geheimnisvoll ein Päckchen Traktate aus der Rocktasche. »Ich habe da nämlich so eine kleine Privatleidenschaft, der ich huldige – parole d'honneur – nur drei Minuten und ich stehe zu Ihrer Verfügung.«

Elastischer, als Heinz es dem Siebzigjährigen zugetraut hatte, verschwand der Graf in der Amtsstube des Pastors und kehrte mit dem Ausdruck höherer Geisteswürde zurück. Ein krankhaft schwärmerischer Tiefsinn sah ihm aus den hellen Augen, die aus dem verstorbenen Gesicht wie verbrannter Zunder schauten, in dem noch ein Fünkchen glimmt.

So brachte denn Heinz zum erstenmal auf längere Zeit einen Gast in die kostbar gehütete Einsamkeit seines Heims. Der alte Graf war nicht anspruchsvoll, es ließ sich mit ihm leben. Ihm hatte die langjährige Routine der Hofwelt gegeben, was den geistreichen Beobachter des Lebens durch sein Verstehen alles Menschlichen so schätzenswert macht – die Fähigkeit, sich über nichts zu wundern und die vornehme Zurückhaltung jeder Äußerung. Zwar war er weit davon entfernt, das Leben zu verstehen, er stand ihm sogar ziemlich kritiklos gegenüber, er nahm es aber einfach hin, als von einer höheren Hand gegeben. Nach einer wilden Jugend und nach einem Mannesalter voller Leidenschaften hatte er sich einem wunderlichen Okkultismus ergeben, der fortan sein Wesen beherrschte. So glaubte er steif und fest, daß er keines leiblichen Todes sterben werde, und in dieser Voraussetzung machte er Verena am Abende nach seiner Ankunft das Anerbieten, der Pate ihres Söhnchens zu werden.

Man hatte sich wie gewöhnlich abends um das Kaminfeuer gesetzt und war heiter und freundschaftlich gestimmt. Dennoch geriet Verena bei dem überraschenden Vorschlag in eine gewisse Verlegenheit. Mit der ihr eigenen Anmut und Freundlichkeit ergriff sie die Hand ihres alten Verehrers und sagte ehrlich:

»Lieber Graf, Sie sind überaus gütig und wir danken von ganzem Herzen, gestatten Sie der Mutter aber auch Ihnen ein Bedenken zu äußern: wir sind ja alle sterblich, und wenn wir Eltern dahin müssen, möchten wir unser Kindchen in der Obhut eines Menschen wissen, der uns voraussichtlich überlebt.«

» Ah, je comprends, ce n'est que naturel!« sagte der alte Herr und zog die weißen Augenbrauen mit einer Miene nachsichtiger Überlegenheit hoch. »Aber meine verehrteste gnädige Frau, das ist es ja gerade, weshalb ich mir erlaubte, Sie um diesen Vorzug zu bitten – ich werde ja überhaupt nicht sterben.«

»Wie ...?« Heinz und Verena glaubten ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. »Sie scherzen, lieber Graf.«

»Nein, es ist so. Je vous assure. Ich scherze durchaus nicht.« Mit der kindlichsten Heiterkeit, die man sich denken konnte, fuhr er mild und triumphierend fort: »Ich werde ganz gewiß nicht sterben, sondern dann, wenn ich alle Pforten der Erleuchtung, die mir noch verschlossen sind, durchschritten habe, und es gibt deren noch viele, – werde ich« – er versuchte sich ein Härchen, das sich an seiner rasierten Oberlippe ketzerisch hervorgewagt hatte, mit der wohlgepflegten Hand säuberlich herauszuziehen – »werde ich in dieser meiner Körperlichkeit entrückt werden, wie Elias, mais oui, madame, comme ce grand et noble prophète.«

Erstarrt sahen ihn die beiden an.

»Ja, die Sache ist sehr einfach, rien de plus simple: einige Stufen der Erleuchtung habe ich sozusagen erreicht, andere hoffe ich noch zu erreichen. Die Leiter ist lang, meine lieben Freunde, sehr lang, steil und mühsam. C'est qu'il faut cultiver la patience. Wenn die letzte der verschlossenen Pforten sich aber vor mir auftut, und das muß sein, denn wenn etwas, so habe ich meine Geduld kultiviert, jawohl kultiviert, meine Geliebten –« jetzt hatte er endlich das Härchen aus der Oberlippe gezogen und betrachtete es mit zärtlichem Interesse, »dann« – er hielt inne, lächelte wunderlich und ein wenig leer, »dann werde ich eben entrückt,« schloß er verbindlich.

Heinz und Verena verharrten im Schweigen.

Der Graf besann sich eine Weile, drückte die Augen ein und fuhr fort: »Darum habe ich ja auch von Zeit zu Zeit einige kleine Dispute mit unserem verehrten Seelsorger gehabt, sans conséquences d'ailleurs,« er machte eine elegante abwinkende Handbewegung, »denn das muß ich doch besser wissen, sollt' ich meinen. Unsere Familiengrabstätte habe ich anderen Leuten abgetreten – warum auch nicht? Man tut den Leuten doch gern einen Gefallen, nicht wahr? Meine liebe selige Frau, wie auch meine Kinder, die mir in die Ewigkeit vorangegangen sind, die werden ja jetzt in ihrem verklärten Zustande genau wissen, daß sie mich, wenn ich reif geworden bin, in meiner leiblichen verklärten Gestalt zu erwarten haben. Davor ist mir gar nicht bange. Denen bedeutet der Verkauf dieses Fleckchens Erde ganz und gar keine Schädigung, denn er birgt ja nur ihre körperlichen Hüllen – und was ist der bloße Leib?« Er zuckte geringschätzig die Achseln und starrte versunken vor sich hin. Plötzlich schien er zu erwachen. »In mir also, verehrteste holde Frau,« er verbeugte sich anmutig zu Verena hin, »hätten Sie einen Paten für Ihr Söhnchen, wie Sie ihn auf der Welt nicht so leicht wieder fänden, ich sehe es demnach als ein besonderes Omen an, daß mich mein lieber junger Freund getroffen und in sein Heim geführt hat.«

Was blieb Verena anders übrig, als dem wunderlichen alten Kauz zu willfahren? Sie gehörte nicht zu jenen eisernen Naturen, die sich niemals biegen und beeinflussen lassen. Dazu hatte sie ein viel zu umfassendes Verständnis für die Eigenart, ja auch die Absonderlichkeiten eines jeden. So brachte sie es auch jetzt nicht übers Herz, dem Grafen seine Bitte abzuschlagen, wenngleich sie dabei nicht ganz zufrieden mit sich war. »Ich hätte wahrhaftig viel lieber den alten Silberstein als Eriks Paten gesehen, da er wenigstens viel jünger ist,« sagte sie später lachend zu Heinz, »aber ein Jude kommt ja leider nicht in Betracht. Was sind die Grenzen unserer Religionsformen doch so eng! Anstatt einfach den Menschen dem Menschen zu nähern, richtet jede Art Religion emsig Mauern und Wälle auf, damit man sich nur ja nicht als Mensch begegne. Das wird einmal anders werden müssen, Heini, glaubst du nicht? Sie haben ja auch von ihrem Standpunkt aus recht, denn nur Absonderung schützt und erhält, aber ich kann auch nichts dafür, daß ich das wehmütig empfinde. Sind wir doch vor allem zunächst Menschen, und dann erst Christen, Juden oder Heiden. Nun gut wenigstens, daß wir Janina als Patin haben, sie wird voraussichtlich die ›Entrückung‹ unseres wunderlichen Heiligen überleben. Und weißt du, Heinz, da fällt mir noch etwas ein,« fuhr sie mit Humor fort, »der alte Herr ›mäg‹ nur mit einem klingenden Beitrag für Moses Silbersteins Neffen herausrücken. Heiligkeit verpflichtet mehr noch als Adel, dächt' ich. Ich will ihn jedenfalls dazu veranlassen.«

Heinz fand den Plan sehr verständig. Verena wußte denn auch dem alten Grafen die Angelegenheit so hübsch darzustellen, daß er willig einen größeren Beitrag zeichnete. Sie war überglücklich, und da sie sich einen aparten künstlerischen Genuß davon versprach, die beiden alten Männer, die durch Rang, Stellung, Wesen und Lebensauffassung so ungeheuer verschieden waren, einmal zusammenzubringen, so wurde der alte Silberstein auf einen der nächsten Abende zu kommen beordert, nachdem Verena vorsorglich die Küchenuhr wieder einmal eines Zeigers beraubt hatte.

*

Wieder saßen die Hausgenossen am Kaminfeuer, auch Janina hatte sich ihnen zugesellt, da trat der alte Jude ein wenig schüchtern zur Tür hinein und verbeugte sich tief.

Im Schein des gedämpften Lampenlichts bemerkte Verena, daß er seinen Anzug sorgfältig gebürstet hatte. Kein Stäubchen auf seinem langen Kaftan. Der weiße Bart strömte ehrwürdig auf seine Brust nieder, die Augen leuchteten eigen.

»Sie haben mich lassen rufen, Gnädige,« sagte er leise mit einer wohlklingenden Stimme, »und ich bin gekommen. Jedesmal, wenn ich bin gekommen in dieses Haus, hab' ich mitgenommen einen Segen. Es ist ein gesegnetes Haus.«

Verena stand auf und trat ihm entgegen. »Lieber Herr Silberstein,« sagte sie mit kindlicher Herzlichkeit, »ich freue mich, Sie zu sehen. Nachher will ich Ihnen auch meinen kleinen Sohn zeigen. Setzen Sie sich ein wenig ans Feuer her. Sie werden auf dem langen Wege gefroren haben.«

»Mir ziemt nicht diese Ehre!« erwiderte der alte Mann und blieb respektvoll stehen. »Aber es wird mir sein eine gewaltige Freude zu sehen das junge Reis von Ihrem Hause. Mehr als ich kann sagen.«

Janina erhob sich und drückte den Alten mit sanfter Gewalt auf ihren Sessel nieder. Ruhig holte sie sich einen Stuhl.

»So ist's recht, Janina!« rief Heinz. »Das also, lieber Graf, ist der Oheim unseres jüngst entdeckten Kunsttalents.«

Mit frommer Gleichgültigkeit nickte der Graf ein paarmal vor sich hin und rieb sich fröstelnd die Hände.

Heinz lehnte sich erwartungsvoll in seinen Sessel zurück. Deutlich fühlte er das Besondere, den innersten Nerv, das was eines Menschen eigenstes Wesen ausmacht, dieses alten Juden heraus und war in einem Zustande erregter Lebendigkeit auf das Kommende gespannt.

Verena las ihm seine Stimmung aus den Augen. Mit der ungekünstelten Natürlichkeit ihres Wesens wandte sie sich an den Uhrmacher: »Ihr Rezept muß aber gut sein, Herr Silberstein, denn ich habe es nun schon mehrmals mit Erfolg auf unseren Wildfang, unser ältestes Söhnchen, angewandt. Das will schon etwas sagen, denn der Junge ist ein rechter Schwerenöter!«

»Vergessen Sie nicht, lieber Silberstein, daß meine Frau von unserem Buben ungefähr alles verlangen darf, was sich verlangen läßt,« rief Heinz lebhaft, »ihr zuliebe würde er es vielleicht lernen, an den Wänden emporzulaufen, wenn sie es wünschte.«

Der alte Mann beugte sich gefesselt vor, seine Augen leuchteten.

»Is kein Wunder für den, welcher kennt die Gnädige, aber auch sonsten würde es sein die natürlichste Sache der Welt. Diese Anhänglichkeit is zu suchen im Geschlecht. Wird also sein das Geschlecht der Hauptgrund.«

Verena sah ihn nachdenklich an und schüttelte leicht den Kopf.

»Das Geschlecht«, fuhr der alte Uhrmacher fort, »muß sich anziehen wie Magnet und Eisen. Liebt der Vater die Töchter mehr als den Sohn, so wird lieben die Mutter umgekehrt den Sohn. Ebenso die Kinder. Is eine alte Geschichte, daß die Töchter hängen mehr am Vater, die Söhne mehr an der Mutter – von klein auf. Es kann auch sein anders, aber dann wird sein weniger ausgeprägt das Geschlecht. Haben wir doch gesehen sanfte, stille Jünglinge mit Herzen wie von Wachs, und Jungfrauen mit Mannesmut und -kraft. Jede starke Anhänglichkeit aber is eine Kraft. Wird gehemmt eine Kraft, muß sich verkehren und umwenden die Kraft. Hab' ich doch viel gesehen und gemerkt in meinem Leben. Wird irgendwo einer Pflanze unterbunden eine Ader, wird der Saft schießen in einen anderen Zweig. Alles muß leben und treiben in der Natur. Überall tun wirken die Kräfte. Is ein Kind worden geliebt zuwenig wie mein Neffe Ephraim, so hat es selbst keine Liebe mehr übrig für die Angehörigen, so geht seine Liebe und sein Trachten und Wollen über in ein anderes. Is ein Kind worden geliebt zuviel, wird es werden schwach und hinfällig vor der Zeit in seinen Kräften. Zwischen zuviel und zuwenig zu halten das Maß ist eine große Kunst. Und darum, wo nicht wird geübt diese Kunst, muß es kommen wie es kommt, und wird verkehrt der Segen in ein Übel.«

Der Alte hatte zuerst ruhig gesprochen, aber immer lebhafter war sein Mienenspiel geworden, immer entschiedener und schwingender seine Gebärden. Jetzt, wo er schwieg, sank er in sich zusammen und schüttelte demütig den Kopf.

Heinz und Verena ließen den Sinn seiner Worte noch in sich nachklingen. Ehe sie aber etwas erwidern konnten, fuhr Janina auf und sprach mit einer wilden Entschiedenheit: »Ja, so ist es, das ist die bittere Wahrheit.«

Und wie aus dem Schlafe erwachend sagte der Graf mit einem schweren Seufzer: »Ja, denn die Welt ist voller Sünde und Bosheit. Die Sünde aber kommt vom Teufel.«

»Oder Unverstand«, murmelte Janina halb für sich.

Jetzt ergriff Heinz das Wort. »Wenn es den Eltern aber auch gelingen sollte, das rechte Maß zu halten und die unheimlichen Kräfte in ihren Kindern durch rechte Leitung zu guten Kräften umzubiegen, zu verwandeln und zu veredeln, wenn selbst Gefühl und Verstand, Bewußtes und Unbewußtes gleichwertig wirkten, so bliebe noch immer ein Rest übrig, der nicht in unserer Hand liegt, denn das Leben ist ein lebendiger Organismus, kein Mechanismus.«

»Welcher Rest?« fragte der Uhrmacher zaghaft.

»Das Reich der Gnade von oben!« rief der alte Graf mit heiterer Selbstzufriedenheit.

»Die Ironie des Lebens!« sprach Verena still. »Denn das Leben hat immer und unter allen Umständen recht. Es spielt mit uns und lacht uns zuletzt doch alle aus, trotz unserer Weisheit und Mühen.«

Heinz lächelte liebevoll und sah Verena froh und gerührt an. Sein Blick war durchdringend und feurig. »Wir müssen auch unsererseits lernen, mit dem Leben zu spielen – in einem höheren Sinn, die Schwere des Stoffes zu überwinden, nachdem wir zuvor gelernt haben, uns selbst zu beherrschen und zu entwickeln. In diesem Spiel ist Kraft, Freiheit, Reinheit und Frömmigkeit. Mit andern Worten das uralte: ›Werdet wie die Kindlein.‹ Wer dann so weit gekommen ist, sein eigenes Leben mit all seinen Schmerzen und Erfahrungen wie ein fremdes genießend zu betrachten, zu betrachten wie ein Schauspiel, sich daran zu erfreuen wie an einem Kunstwerk, der ist frei, der weiß sich eins mit den wirkenden Kräften des Universums, der ist auf dem Wege, das Leiden und selbst den Tod zu überwinden. Und dann,« schloß er mit einem anmutigen Ausdruck von Schelmerei, »dann lacht er zuletzt. Wenn auch unter Tränen!«

»Bravo, Heinz!« rief Verena freudig.

Der alte Jude saß, die Hände auf den Knien, weit vorgebeugt und lauschte mit dem intensivsten Interesse.

»Hab' ich nicht können fassen alles, wie es meint der Herr Oberverwalter, aber es is gewesen ein gutes und ein faines Wort, und hab' ich gehabt recht zu sagen: dies Haus is ein gesegnetes Haus.«

Wie von einer eigenen Macht getrieben, erhob der alte Graf plötzlich seine dünne und zitternde Greisenstimme und sprach in singendem Tone: »Es sind mancherlei Kräfte, aber es ist ein Gott, der da wirket alles in allem.«

Eine Stille kam langsam ins Zimmer und breitete sich über den fünf Menschen aus. Draußen begannen wirbelnde Schneeflocken an die Fenster zu schlagen.

Aus einem der Nebenzimmer ertönte ein leises Kinderweinen. Verena schreckte auf und eilte hinaus.

Bald kehrte sie wieder, ihr Kind in den Armen.

Der kleine Erik lag ganz still, die blauen Augen waren weit aufgeschlagen und sahen ernsthaft unbewußt nach oben, wie mit reiner kühler Fläche ein stiller See. Die winzigen Händchen, zu Fäustchen geballt, zuckten leise hin und her.

Ehrfurchtsvoll stand Moses Silberstein auf und betrachtete das Kind, das aus seinem weißen Linnenzeug hervorschaute wie eine rosige Pfirsichblüte.

»Soll es leben lange und glücklich!« sagte er leise. »Soll es erhalten und fortpflanzen den Stamm seiner Väter und werden ein weiser und inniger Mensch!«

Verena schlug den Blick tief und voll zu dem alten Uhrmacher auf. »Möge es uns gelingen, den Zeiger seines Wesens recht zu lenken!« sagte sie weich. »Ich danke Ihnen für Ihre Worte, Herr Silberstein.«

Er verbeugte sich und wandte sich zum Gehen. »Is ein gesegnetes Haus ...« murmelte er in sich hinein, öffnete die Tür und verschwand.

Verena legte das Kind in Janinas Arme und eilte ihm nach. »Noch einen Augenblick!« rief sie, »Herr Silberstein! Hier noch ein Beitrag für Ihren Neffen von dem Grafen. Haben Sie schon Nachrichten?«

Mit zitternder Hand nahm der alte Mann das Geld entgegen. »Der Herr laßt regnen über Gerechte und Ungerechte – gleichermaßen, und die Gnädige hat vergeben dem Ephraim seinen störrischen Sinn. Geschrieben hat er – hab' ich nicht gewagt zu erzählen von ihm. Hat er gefunden in der Stadt Florenz seinen Meister und hungert er sich ab, um zu bezahlen die teuren Stunden. Muß er für die halbe Stunde bezahlen zwanzig Franken und ißt er nur Polenta und Brot. Ein Glück nur, daß er hat gefunden eine kleine Anstellung als Geschäftsdiener und Laufbursche in einem deutschen Hause!«

»Das hätte er in Petersburg bequemer haben können,« meinte Verena mit einem leisen Lächeln, »aber lassen Sie's nur gut sein, Herr Silberstein, seine Kunst erringt er sich doch, und das ist die Hauptsache. Wie heißt denn der Meister?«

»Hat er gehabt einen unaussprechlichen Namen: Ca – Car –, kann ich mich nicht mehr besinnen darauf.«

»Nun, grüßen Sie ihn von mir und leben Sie wohl. Ich meine, Ihre Familie wird noch einmal stolz auf den Ephraim sein dürfen.«

Der alte Mann lächelte verwirrt, hüstelte und schluckte. Dann eilte er die Treppenstufen hinunter.

Verena sah ihm auf das Treppengeländer gestützt freundlich nach. Ihre Gedanken kehrten zu ihrem Kinde zurück. »Soll es werden ein weiser und inniger Mensch!« hatte ihr alter jüdischer Freund gesagt, welch' hübsches Wort war das und wie traf es den Kern ihres eigenen Empfindens! Nicht Ruhm wünschte sie für ihren Sohn. Die Dornenkränze des Ruhms wollte sie neidlos ihrem Heino überlassen, der hatte die breiten Schultern, hatte den richtigen Schädel dazu. Ihr Kind sollte leichtfüßig, ungehemmt und freudig durch das Leben wandern; nur geliebt sollte es werden, ach ja, geliebt!

Wie sie ihre kleine Bronzeuhr an ihr Stiefsöhnchen vergeben hatte in der dunklen Ahnung, durch diese symbolische Handlung Segen und Glück auf ihres Kindes Leben herabzuziehen, so war ihre Mutterliebe dazu bereit, auch auf den Ruhm, der ihre eigene Laufbahn überstrahlte, zugunsten Heinos zu verzichten. Wieder und wieder gedachte sie ihres Gelöbnisses, Heino nimmer hintenanzusetzen, ihn zu lieben mit allen Kräften, ihn nie empfinden zu lassen, daß ihr kleiner Erik ihrer Seele doch noch näherstand. Das war am Ende doch nur natürlich. Redete denn nicht das Blut seine gewaltige Sprache?

*

Als der Tag der Taufe herankam, fiel es Verena schmerzlich aufs Herz, daß sie keine frischen Blumen hatte, um den Tauftisch zu schmücken. Mit Efeu und Myrten hatte sie das weiße Tischtuch bekränzt, aber es fehlten die buntfarbigen Kinder des Sommers. Der alte Graf ging mit erhobener Miene geheimnisvoll hin und wider, machte sich persönlich mit dem nochmaligen Aufputzen der schon spiegelblanken Kandelaber und des Kruzifixes zu schaffen, und trug feierlich die große Hausbibel herbei. Um die Mittagszeit überbrachte ein Bote zu Pferde aus der Gouvernementsstadt eine Pappschachtel, Verena öffnete sie freudig – aus grünen Mooshüllen blickten ihr zarte Rosenknospen entgegen, doch waren sie welk und kraftlos, der Winterfrost hatte sie getötet. Die Sendung war eine Aufmerksamkeit des Grafen. Um ihn nicht zu kränken, ordnete Verena die erfrorenen Blüten, stellte sie in warmes Wasser, sichtete und wählte. Am Ende ließ sich doch noch einiges gebrauchen, und so wurde der Tauftisch, den man im Musikzimmer hergerichtet hatte, doch noch schön und festlich.

Der Täufling in seinem weißen Festkleidchen schlief, quer über Verenas Bett gelegt, ruhig der feierlichen Stunde entgegen. Mit gerunzelter Stirn und den Daumen zwischen den Zähnen, stand der kleine Heinz daneben und betrachtete das Brüderlein. Der neue Samtanzug schien ihm eine gewisse Unbehaglichkeit zu verursachen, oder war es die festliche Stimmung des Tages? Janina ging geschäftig hin und wider, und ab und zu trat Verena in ihrem weißen Kleide zu den Kindern, sah nach dem kleinen Schläfer, zupfte Heinos Spitzenkragen zurecht, glättete sein Haar, oder ließ ihn an den halbwelken Rosenknospen im Gürtel riechen.

»Mammi, hat Heino auch so ein schönes Kleid angehabt zur Taufe wie –?« er zog seinen rotgebissenen Daumen aus dem Munde und deutete kurz und störrisch auf den Bruder.

Sie kniete neben ihm nieder und sah ihm in die düsteren Kinderaugen. Was ging in diesem kleinen Schädel vor? Sie erriet es, und sie log, freilich aus Liebe, aber sie log. Was sollte sie auch sagen? Als sie das Kind genommen hatten, war es am Sterbelager seiner Mutter gewesen, und den ganzen Wust des Nachlasses hatten sie Lulus Schwester überlassen mit Ausnahme des Nötigsten an Kinderzeug.

»Noch schöner war's!« log also Verena mit der unnachahmlichen Überzeugung und Treuherzigkeit grundwahrhaftiger Menschen, »und rote Schleifchen hatte es.«

»Warum hast du das nicht dem Erik angezogen?«

Der forschende große Kinderblick sah sie unerbittlich und ernsthaft an.

»Es war nicht mehr da – die – Motten haben es gefressen«, dichtete Verena tapfer weiter, aber sie wurde sehr rot.

»Verena, wo bist du?« ertönte Heinzens Stimme hinter der Tür. »Der Pastor ist da!«

Sie drückte einen reuigen Kuß auf Heinos Stirn und riß sich von ihm los.

Hinter der Tür hörte er sie mit ersticktem Ton zu dem Papa sagen: »Ach, Heinz, ich schäme mich schrecklich, soeben habe ich gelogen, und das an Eriks Tauftag!«

Dann verhallten beider Schritte.

Befremdet und einsam blieb Heino zurück. Gelogen hatte die Mama, warum denn? Was hatte sie denn gesagt? War es das vom Kleide? Seine Gedanken blieben nicht an dem Gegenstande haften, aufmerksam und bitterböse starrte er das Kleine an. Das bewegte die Lippen im Schlaf, als ob es sauge. Und blitzschnell fiel ihm ein, daß dieser aufgeputzte Erik wieder an Mammis warmer Brust liegen werde und trinken, und ach, das mußte gut sein, er selbst durfte das nie.

Immer wenn der Kleine trank und die großen Schlucke ruhig und regelmäßig in ihn hinabglucksten, stand Heino neidisch dabei mit pochendem Herzen. Dieser dumme Erik ... da lag er in seinem weißen Spitzenkleidchen, schnalzte, und saugte – – und sein eigenes war von Motten gefressen worden, so hatte die Mama gesagt. Aber nein, sie hatte ja gelogen – er hatte es selbst gehört, und sie schämte sich ... Heino erschrak und begann vor Schreck und einer unbestimmten Angst und Erregung zu zittern. Seine Hände krampften sich in das gestickte Kleidchen des Brüderchens, zerrten hastig daran und zerknitterten die weiten, bauschigen Falten. Er hatte am Ende gar kein schönes Taufkleid gehabt – mit roten Schleifen, flugs fiel ihm ein häßlicher, grauer Leinenkittel ein, den er nicht leiden mochte. Dahinein hatte man ihn sicher gesteckt.

Und er zupfte und zerrte an dem Täuflingsgewande, zog aus Leibeskräften – es war eine Wonne, daran zu reißen – da rührte sich das Köpfchen auf dem Steckkissen und begann langsam, langsam, quer über das Bett näher zu rutschen; der kleine Körper rückte stoßweise vorwärts, die blauen Augen öffneten sich weit, zuckend verzog sich das Mäulchen, wirr und ängstlich flatterten die Fäustchen hin und her, schon fühlte Heino die aufwärtsgestreckten Beinchen hart an seiner Brust, noch ein Stück und das Brüderchen würde am Boden liegen – da gellte ein verstörter Klageschrei durch die Stille, und Heino blieb versteinert stehen.

»Nicht schreien ...« lispelte er furchtsam, »nicht schreien ... Erik ...«

Ein verspäteter Sonnenstrahl glänzte plötzlich auf und fiel schräg und leuchtend in das Zimmer. Scheu und erschrocken standen alle Gegenstände ringsum und horchten auf das jämmerliche Schreien. Im Nebenzimmer ging eine Tür ... wie eine Wildkatze stürzte Heino auf die andere Seite des Bettes, packte den Kleinen kurzerhand beim Kopf, an den Achseln, bei den weiten Ärmeln und zerrte ihn halbwegs in die vorige Lage zurück.

Rot und keuchend schauderte er in sich zusammen, die Schlafzimmertür ging auf – da stand der Papa und hinter ihm Janina, beide verstört und weiß.

Nie hatte Heino den Papa so furchtbar gesehen.

Mit zwei Sätzen war der Vater bei ihm, hielt ihn an den Schultern gepackt und rüttelte ihn.

»Was hast du Erik getan? Antworte!«

Heino war zumute, als müßten seine Augen vor Entsetzen aus dem Gesicht springen, als seien sie ganz starr und hart geworden wie Glas, er kniff die Lippen zusammen, hing den Kopf und schwieg.

Janina war mit dem schreienden Kleinen aus dem Zimmer geeilt.

»Antworte!«

Heinz hörte seine eigene Stimme wie aus weiter Ferne, aber es war ein Klang darin wie das sausende Geräusch einer mähenden Sense, trotz des gedämpften Tones.

Das Kind duckte sich, zitterte und schwieg.

Der Griff des Vaters wurde eisern. Mit einem Male fühlte sich Heino hochgehoben und auf das Bett gestellt. Nun war er im Banne dieser Augen, die er fürchtete. Er schloß die Lider, nur einen Augenblick sah er zwischen den unsicher blinzelnden Wimpern in ein verzerrtes, kreideweißes Gesicht. War das sein Vater ...?

»Was hast du Erik getan? Sieh mich an!«

Die Stimme klang heiser und gebrochen. Die zwei Augenpaare stierten ineinander, voll Qual und Not.

»Nur ... gezogen ...« stammelte Heino, »am Kleide, und dann wieder zurück.«

Ein befreites Aufatmen. Janina steckte den Kopf zur Tür herein. »Dem Kleinen fehlt nichts, Herr Oberverwalter«, sagte sie beruhigend.

Und nun brüllte Heino los aus vollem Halse, die entsetzten, halb eingekniffenen Augen wie ein hypnotisiertes Tier noch immer starr auf den Vater gerichtet.

Mit einem Ausdruck von Abneigung packte Heinz seinen Ältesten am Kragen, hob ihn vom Bett und stellte ihn auf den Boden.

»Wer ein Kleineres und Schwächeres ängstigt und quält, ist schlecht und feige«, sagte er voll Trauer. »Beschützen solltest du dein Brüderchen, nicht quälen. Und du willst die Mama liebhaben und kannst sie so kränken!«

Damit ließ er Heino stehen, schritt zur Tür, zog den Schlüssel ab und verschloß die Tür von außen. Heino hörte es deutlich, wie der Schlüssel umgedreht wurde.

Er war also eingesperrt. Ein lähmender Schreck fuhr ihm in die Glieder. Steif und starr stand er da und horchte. Er horchte so angestrengt, daß sein Herz ganz laut wurde und hörbar zu hämmern begann. Dann fühlte er plötzlich, daß er sich bewegen müsse. Er warf sich an die Tür und hing sich an den Türgriff, sein Gewicht zog die Klinke nieder, aber die Tür war und blieb geschlossen. Ungestüm begann Heino daran zu rütteln, er schlug mit den Fäusten an die Türwand, er trat mit den Füßen dagegen, er gebärdete sich wie ein störrisches Füllen, tobte und stöhnte. Endlich begann er verzweifelt zu schreien, zu zetern.

Er schrie vor Zorn und Wut, seine Stimme überschlug sich und wurde ganz spitz und kreischend. Sonst, wenn er so schrie, bekam er Hiebe, das wußte er wohl. Heute aber rührte sich nichts, niemand kümmerte sich um ihn, und so gab er sich diesem wütenden Geschrei aus voller Seele hin. Allmählich fühlte er, wie er müde wurde, sein Schreien klang nur noch ganz schwach und heiser wie das Krächzen eines kranken geängstigten Vogels – da hielt er inne, schöpfte tief Atem, steckte den Daumen in den Mund und sah sich mit verglasten Augen um. Es war totenstill.

In die seltsame Stille des Hauses klang ein feierlicher Ton und schwoll langsam an, Gesang. Heino hatte noch nie einen Choral singen hören. Er setzte sich erschöpft auf den Boden, legte das Ohr an das kühle Parkett und lauschte.

»Mammi ... Musik ...« lispelte er. Das kam also von der Taufe, denn Mammi hatte ihm erklärt, daß dabei gesungen werden sollte. Getragen und festlich schwebte der Gesang daher, stieg aufwärts und füllte alle Räume, füllte auch sein störrisches kleines Herz. Warum konnte er nicht mit dabei sein? Er seufzte schwer und dachte nach – ja, wenn er den Erik nicht vom Bett zu ziehen versucht hätte! Dann ...! Warum hatte er es eigentlich getan? Darauf wußte er sich keine Antwort. Angestrengt lauschte er – nun schwiegen die sanften Töne, und Heino hörte eine Männerstimme laut reden. Das war nicht der Papa, auch nicht der Onkel Graf, das mußte also der fremde Pastor sein. Was hatte der nur soviel zu erzählen? Heino gab sich unsägliche Mühe, etwas zu verstehen, aber die Stimme hob und senkte sich feierlich – er mußte an den Wind denken, wenn er an Herbstabenden um das Haus tönte, ein Wort aber konnte er nicht unterscheiden. Sicherlich erzählte der Pastor Mammi, daß Heino seinen Bruder Erik nicht leiden konnte. Der Pastor war also ein böser Mann. Nachdem Heino das festgestellt hatte, wurde ihm alles gleichgültig und er starrte stumpf vor sich hin. Er war schläfrig geworden. Da fiel sein Blick auf Verenas Bett – wie, wenn er sich auszog und dahineinlegte? Der Erik lag so oft bei der Mama, und er durfte das nie, er sei schon zu groß dazu, hieß es. Ach, und nirgends mußte es so gut sein wie in Mamas Bett, auf ihren Kissen, wo sie immer lag. Gedacht, getan, er begann sich mühsam den Anzug, die Höschen aufzuknöpfen: ein Knopf, und noch einer, und wieder einer – da stand er, ein kleiner Hemdenmatz mit nackten Beinen. Nun noch die braunen Knöpfstiefel – das war ein schwieriges, ungewohntes Werk, er mußte sich auf den Boden setzen, aber er brachte es richtig zustande.

»Ganz allein, bravo!« sagte er laut in gehobener Stimmung. »Mamali, nu sei auch nicht bös wegen Erik!« fügte er leiser hinzu.

Dann zog er die Decken zurück und kroch mit einem Gefühl unendlichen Wohlbehagens in Verenas Bett. Zärtlich hielt er das weiche Kissen umfaßt und streichelte es. Ein zarter Veilchenduft strömte ihm leise entgegen. Ja, hier war es gut. Bald fielen ihm die Augen zu.

Wieder füllte ein langgezogener Gesang die Stille, stieg auf mit weißen, glänzenden Flügeln, nahm den schlafenden Heino sanft in seine Arme und trug ihn hoch empor, höher, immer höher ...

*

Vier Tage nach Eriks Taufe traf ein Brief mit schwarzem Siegel aus Alexandrowka sin. Er lautete:

»Hochgeehrter Jenrik Feodorowitsch!

Im Auftrage meiner Mutter schreibe ich an Sie, um Ihnen mitzuteilen, daß unser Vater Feodor Iwanowitsch Stürmer am 28. Februar um vier Uhr nachmittags sanft gestorben ist. Vor acht Tagen schon bekam ich eine Depesche in Moskau, die mich nach Alexandrowka rief. Der Vater war bei meiner Ankunft sehr schwer krank, aber noch bei Bewußtsein. Immer hat er von Ihnen geredet und viele gute und große Worte gesagt. Sein Wunsch war, daß ich Sie einmal aufsuchen sollte, wenn Sie es erlauben, denn die Mutter versteht ja doch von Schulangelegenheiten nicht viel, und der Vater wünschte, daß Sie sich einmal bei meinen Lehrern nach mir erkundigen möchten, und daß auch Petja später in eine passende Schule kommt. Wir ziehen jetzt alle drei nach Moskau, und die Mutter gedenkt bei einem einzelnen Herrn in Stellung zu gehen. Wenn Sie vielleicht ein besonderes Andenken an Vater wünschen, so teilen Sie es mir bitte auf einem aparten Zettel mit, denn wenn die Mutter auch selbständig alle Dinge beschließt, so gibt sie doch unserm Dorfgeistlichen, Vater Kyrill, alle Briefe zu lesen, und ich möchte nicht, daß die beiden darüber viel reden und beraten. Hochgeehrter Jenrik Feodorowitsch, bitte seien Sie mir nicht böse, daß ich unbekannterweise Ihnen so offen zu schreiben wage, ich weiß ja nur zu gut, daß ich kein Recht darauf habe, weil ich unehelich geboren bin, aber ich kann ja nichts dafür. Es quält mich oft, ich habe auch in der Schule großen Kummer damit und darf es doch niemandem sagen. Jetzt, wo Vater tot ist, bin ich ganz einsam.

Ihr Sie hochachtender
Iwan Gurin.«

Als Heinz den Brief gelesen hatte, blieb er lange vor seinem Schreibtisch sitzen, stützte die Stirn in die Hand und sann.

»Zu heißes Blut hattest du, Vater ...« murmelte er vor sich hin, »und jetzt ist dein Blut erstarrt. Hat dich der Tod verstanden, lieber Vater, und verstandest du den Tod?« – – –

Nach einer langen Weile sah er wieder in die schülermäßigen, klaren Schriftzüge hinein.

»Armer Junge! Armer, heimatloser Bruder, dir kann geholfen werden!«

Dann ging er mit dem Briefe zu Verena.

*


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