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Hannikel liebkoste sein Söhnchen leidenschaftlich, und nachdem er es in seinen Armen mürbe gedrückt und ihm tausend und aber tausend Küsse gegeben hatte, ließ er sich von ihm berichten. Der kleine Kobold war, als die Jagdaussichten bedenklich zu werden angefangen hatten, auf einen Baum gestiegen. Nachher hatte er sein Versteck verlassen und war so glücklich gewesen, den Schimmel einzufangen, der unversehrt und unbekümmert im Walde lustwandelte. Die Hunde wußte er ebenfalls in Sicherheit gebracht; die Großmutter, die alte Geißin, hatte sie zum Stillschweigen gebracht und sie mitgenommen. Die ganze Bande war glücklich entschlüpft, bis auf die drei Gefangenen und Feddricho, von welcher niemand zu sagen wußte, wo sie hingeraten sei.
»Wenn ich sie je überm Rhein wieder antreffe,« sagte Hannikel, »so soll's ihr schlecht gehen. – Und nun!« rief er nach einer Weile, indem er sich auf einen Weidenstumpf setzte und dem Gefangenen ein Zeichen gab, vor ihn zu treten. Die anderen schlossen erwartungsvoll einen Kreis um die beiden und schraubten die Hähne wieder an ihre Gewehre an. »Zuvörderst,« begann der Hauptmann, »wer ist das Frauenzimmer, das sich für einen Junker ausgegeben hat?«
»Das weiß niemand besser als ich!« rief Duly, vorlaut aus dem Kreise heraustretend. »Die Feddricho hat mir's endlich vertraut, wenige Augenblicke, ehe wir überfallen wurden.«
»Nun?« sagte Hannikel zu ihm gewendet. »Wer ist sie, und warum hat sich der Herzog persönlich in ihre Angelegenheiten gemischt?«
»Sie ist sein Schatz!« antwortete Duly. »Sie hat mit ihm getrutzt und ist ihm mit unserer Hilfe durchgegangen. Jetzt werden sie wieder gut Freund miteinander sein.«
Hannikel war wie von einer Viper gestochen aufgesprungen. Auch der anderen Zigeuner hatte sich eine allgemeine Bestürzung bemächtigt. Sie sahen sich wechselseitig an, als ob sie sich sagen wollten, was ihr Hauptmann angerichtet habe.
»Ist's wahr?« fragte Hannikel den Gefangenen. »Doch was brauch' ich lang zu fragen?« setzte er hinzu. »Der Schuß, den Er gekriegt hat, ist die kürzeste Antwort. Ist's nicht so?«
»Ich denk' es auch,« erwiderte Heinrich. Obgleich er durch den Schlag, der ihn betroffen hatte, wie zerschmettert war, so besaß er doch noch so viel Besinnung, um dem Märchen, das die Zigeunerin aus Irrtum oder aus List aufgebracht hatte, nicht zu widersprechen; denn ein dunkles Gefühl sagte ihm, daß der Eindruck desselben manche gefährliche Frage für den Augenblick abschneiden werde.
So war es auch. Hannikel warf einen scheuen Blick nach dem Dickicht, als ob der Herzog, der inzwischen mehr erfahren, schon wieder aus dem Walde hervorgebrochen käme. »Wir brechen auf!« rief er. »Der da muß uns jedenfalls etliche Tage begleiten, damit er unsere Spur nicht verraten kann, wenn es ihn gelüsten sollte, sich wieder wohl dran zu machen.«
Der Abzug, der eher einer Flucht glich, wurde unverweilt angetreten. Hannikel schickte sein Söhnchen mit dem Schimmel auf einen besonderen Weg, wo es seiner Schlauheit überlassen blieb, sich durchzuschlagen; er selbst aber machte sich mit einem Teil der Bande auf den engsten Waldsteigen davon; einen anderen stellte er unter Dulys Führung; der Gefangene wurde dem Stammler und einigen handfesten, wohlbewaffneten Zigeunern anvertraut. »Morgen früh in der Wolfsschlucht!« befahl der Anführer, während die Bande sich trennte.
Jetzt scheint die eine Erdenhälfte tot,
Und böse Träume schrecken hinterm Vorhang
Den unbeschützten Schlaf! Die Zauberei beginnt
Den furchtbar'n Dienst der bleichen Hekate,
Und aufgeschreckt von seinem heulenden Wächter,
Dem Wolf, gleich einem Nachtgespenste geht
Mit groß, weit ausgeholten Räuberschritten
Der Mord an sein entsetzliches Geschäft.
Macbeth, nach Schiller.
Nach einer Stunde angestrengten Wanderns kam Heinrich mit seinen Begleitern auf einen ausgehauenen Platz heraus, wo ein einsames Brünnlein durch eine hölzerne Röhre murmelte. Die dünne Mondsichel ging eben unter und nahm Abschied von der waldumgebenen Stelle. Hier machten die Zigeuner Halt, um ihrem Gefangenen, der sich ermüdet fühlte, eine kurze Ruhe zu gönnen. Dann ging es eilig weiter, bis sie den Wald hinter sich hatten und in die Ebene hinabstiegen, wo abermals ein wenig gerastet werden mußte. Der Neckar rauschte durch die dunkle Gegend. Sie gingen eine Strecke aufwärts, bis eine Brücke sie hinüber führte. Dann kamen sie an schlummernden Ortschaften vorbei, wo manchmal ein Hund mit kurzem Bellen die Nachtgestalten begrüßte. So ging es stundenlang in stummer Eile fort, die nur von Zeit zu Zeit durch einen Augenblick des Ausruhens unterbrochen wurde. Endlich erstiegen sie waldige Hügel und näherten sich einer langen schattenhaften Wand, die zuletzt als eine Bergreihe kenntlich aus dem Dunkel trat. Durch Wald und Heide erreichten sie den Fuß des Gebirges. Schon begannen die Gipfel der Berge sich heller zu färben, als die Wanderer in eine kleine Schlucht hinabstiegen, die ihnen noch rabenschwarz entgegengähnte; ein Waldbach floß in ihrem Grunde und verriet sich durch sein Geräusch und seine eiskalten Ausdünstungen. Heinrich sah in die Finsternis hinein und blieb zaudernd stehen; seine Begleiter faßten ihn an den Händen und zogen ihn mit freundschaftlicher Gewalt hinab. Er fühlte sich bis ins Mark durchfröstelt und drängte sich mit ihnen zu dem Feuer, das bereits lustig brannte und die versteckte, überbuschte Vertiefung schaurig beleuchtete. Der Schlupfwinkel lag ganz im Wald verborgen, einsam, gespensterhaft, zu unheimlichen Werken auffordernd, ein Aufenthalt der Unken, die ihren eintönigen Ruf durch die Nacht erschallen ließen.
Hier war der Sammelpunkt, welchen der Zigeunerhäuptling den Seinigen angewiesen hatte. Die Ankömmlinge waren nicht die ersten, sie trafen einen Teil der Bande, der vor ihnen eingetroffen war, schon um das Feuer gelagert.
Alles legte sich jetzt zum Schlaf, aber nicht lang, so begannen die Weiber über den feuchten, frostigen Aufenthalt zu klagen. »So geht auf den Gaisbühl,« sagten die Männer, »wir sind ja jetzt auf sicherem Boden angelangt.«
Der Gefangene, der vor Frost zitterte, wurde den Weibern in ihre Obhut gegeben. Er schwankte erschöpft hinter ihnen her. Zwei Männer mit Gewehren schlossen als Wache den Zug. Auf einem engen Pfade, der nur in der Höhe an der Lichtung der Bäume kenntlich war, gingen sie durch den Wald, der sich nach einer halben Stunde öffnete und einen stillen, auf dem Rücken eines Hügels gelegenen Hof erscheinen ließ. Nachdem sie eine Weile geklopft hatten, kam ein Knecht mit einer Laterne, der ihnen gähnend, aber geduldig die geräumige Scheune aufschloß, auch ohne Widerrede zugab, daß sie ein Feuer darin anmachten, das seine Flammen unbekümmert zwischen Heu und Stroh umherzüngeln ließ; denn bei den Bauern und Hofbesitzern stand der Zigeuner von jeher im Glauben, daß er Gewalt über das Feuer habe.
Heinrich warf sich ins Heu und ließ die andern schwatzen und lachen, aber lang hoffte er vergebens einen ununterbrochenen Schlaf zu finden. Die heftigen Begegnisse und Anstrengungen der letzten Tage hatten ihn übermüdet. Dazu hatte er lange gefastet, und jetzt begann das stumpfe Gefühl der Leere in ein nagendes überzugehen. Er mußte an den Vikar zurückdenken, dessen Erzählung sich bei vollen Schüsseln mit einem gewissen graulichen Behagen hatte anhören lassen. Nachdem er oft aus unruhigen Träumen aufgefahren war, fiel er endlich mit Tagesanbruch in einen Schlummer, der ihm das Beste gewährte, was es jetzt für ihn geben konnte, Vergessenheit.
Er erwachte betäubt und mit stechendem Kopfschmerz. Die Scheune war leer, aber an der Türe lehnte ein Zigeuner, der jede seiner Bewegungen beobachtete. Unwillig warf er sich auf die andere Seite, und das Bild seiner Lage trat in greller Klarheit vor ihn. Der Schuß aus einer vielleicht blind geladenen Pistole hatte ihm Kopf und Herz beinahe ganz zerknickt, denn er hatte ihm gesagt, wessen er sich vom Herzog und von der Welt, der Gesindestube der Herren dieser Erde, zu versehen habe. »Er hat mich verstoßen,« sagte er zu sich, »was kann ich anfangen, wo mich hinwenden? Wo Gesetz und Ordnung sich der Menschenmacht bequemt, von da ist mein Fuß verbannt, mein Name ist gestrichen. Ich kann nicht rückwärts, nicht vorwärts. Er hat mir alles Wesen genommen, ich bin wie ein Gespenst, zum Schweben und Schweifen verdammt, bin wie diese Schandgesellen, die mich mit sich schleppen, vom geebneten Wege weit verwiesen.«
Er erhob sich und trat ins Freie hinaus. Man ließ ihn ruhig gewähren, aber ein paar Zigeuner mit Stutzbüchsen hielten sich stets in seiner Nähe. Die Sonne stand in Mittagshöhe. Er fand sich am Fuße von waldigen, lichtgrünen Gebirgen; nicht allzu ferne tauchte zwischen Obstbäumen ein grauer großer Kirchturm auf, der ihm bekannt schien. Die eigentümlich abgeplatteten Berge in der Nähe und einen schlanken Bergkegel in geringer Entfernung meinte er gleichfalls schon gesehen zu haben. Aber er wandelte in einem stumpfen bangen Traume, der ihn nichts erkennen ließ.
Nun aber erwachte der Hunger mit unwiderstehlicher Gewalt in ihm, so daß er schmerzlich verwundert die Macht der ersten unmittelbaren Naturgefühle erkannte und dem gemeinen Manne seinen oft gerügten Mangel an Sinn für das Höhere zu verzeihen begann. Er mußte etwas zu essen haben, jedes andere Dichten und Trachten ging in diesem tyrannischen Bedürfnis unter, und er wandte sich deshalb nach dem Hofgebäude zurück. Es schien ein altes Anwesen aus den Zeiten geistlicher Herrschaft zu sein, das durch die geöffnete Türe eine niedrige Halle mit hölzernen Säulen erblicken ließ, worin einige der Mädchen, vor der heißen Mittagssonne geschützt, sich belustigten. Vor dem Hause standen Tische und Bänke, die ihm anzeigten, daß hier gewirtschaftet wurde. An einem der Tische saßen Zigeuner, unter welchen sich Nottele und Postel befanden. Er setzte sich in ihre Nähe, und da er sah, daß jeder dieser Gäste, wenn er sich etwas aus der Wirtschaft reichen ließ, das Geld vorher auf den Tisch legte, so hielt er es für geraten, dasselbe zu tun, da er nicht mehr Vertrauen beanspruchen konnte als die Gesellschaft, mit der er gekommen war. Er griff in die Tasche, aber seine Börse war nicht an der gewohnten Stelle; er suchte rechts und links, sie war nicht mehr da. Kein Zweifel, man hatte sie ihm gestohlen. Zu dieser unangenehmen Überraschung aber gesellte sich im gleichen Augenblicke ein großer Schrecken, denn erst jetzt kam ihm auch seine Brieftasche wieder in den Sinn. Wer ihm die Taschen nach der Börse durchsucht hatte, dem konnte zugleich die Brieftasche in die Hände geraten sein, welche die herzogliche Vollmacht enthielt, und wehe ihm, wenn diese den Zigeunern bekannt wurde! Das verhängnisvolle Papier hatte ihm nicht den mindesten Nutzen gebracht, und nun sollte es ihm vielleicht noch verderblich werden. Mit erzwungener Gleichgültigkeit blickte er auf und bemerkte, daß Nottele grinsend zu ihm herübersah. Offenbar war dieser einfältige und doch schlaue Bursche, der ihn gestern in seiner Bewußtlosigkeit gepflegt hatte, sein Dieb. Um kein Späherauge auf die gefährliche Spur, falls sie noch unentdeckt sein sollte, zu lenken, ließ er vom Suchen ab, stand auf und ging in die Halle, um dort seine Forschung womöglich unbeachteter fortzusetzen. Ein Gelächter schallte ihm nach. In der Halle fand er die Mädchen und einige jüngere Männer der Bande versammelt, welche zu dem Jammergeschrei einer alten Fiedel tanzten. Heinrich setzte sich auf die Bank an der Wand und sah ihnen zu, während er mit übergeschlagenen Armen verstohlen nach der Brieftasche fühlte. Sie war noch da; einer tiefen Tasche anvertraut, war sie besser verwahrt gewesen als die Börse. Er atmete auf, da er hoffen konnte, daß dieser Diebstahl ihm fernere Durchsuchungen ersparen werde. Aber freilich sah er sich durch denselben auch jedes Mittels beraubt, für jetzt sein Leben zu fristen. Es war ein rascher Wechsel, der ihn von einem Zustand in den anderen warf. Das Gefühl seiner unglücklichen Lage war vom Hunger erstickt worden, den Hunger hatte die Liebe zum Leben besiegt, und jetzt, da die Gefahr für das Leben abgewendet schien, trat der Hunger wieder in seine Rechte ein. Was sollte er machen? Sollte er die Gauner, die ihn gefangen hielten, um Brot bitten? Oder gar seinen Dieb um ein Darlehen ansprechen? Sein Auge fiel auf eine Türe, die in eine Art von Küche oder Speisekammer führte. Er trat hinein und entdeckte auf den ersten Blick einen noch unberührten Schinken, der an der Wand hing; nicht weit davon lag ein breites frischgeschliffenes Messer, das ihm einladend winkte. Noch bedachte er sich einen Augenblick, aber im nächsten rief er trotzig aus: »Soll ich denn verhungern, so lang es in der Welt noch genug zu essen gibt? Die mich geplündert haben, mögen für mich einstehen!« – Er ergriff das Messer und schnitt, ohne sich irgend zu übereilen, ein gutes Stück von dem Schinken ab, das er gierig verzehrte. Er wurde nicht satt, und doch hatte er einen Widerwillen, weiter zu essen; Hunger und Elend hatten ihn halb krank gemacht. Er untersuchte das Gelaß, ob er nicht seine Brieftasche irgendwo darin verbergen könne, aber er fand keinen tauglichen Ort, auch hatte die Kammer keinen anderen Ausgang als den, durch welchen er hereingekommen war. So sah er sich genötigt, das gefährliche Besitztum zu behalten; denn hätte er auch hoffen können, mit einem der Hofbewohner einen Augenblick unbelauscht zu reden, der Feigherzigkeit solcher Leute, bei welchen die Zigeuner ab- und zugingen, wagte er sich nicht anzuvertrauen.
Er kehrte in den kleinen Saal zurück, setzte sich wieder und sah gleichgültig dem Tanze zu. Einige Stunden waren so vergangen, als Postel im Saal erschien. Auf einen Wink von ihm brachen alle auf. Die anderen draußen hatten sich gleichfalls fertig gemacht, und der ganze Trupp setzte sich in Bewegung, wobei der Gefangene wieder, wie früher, unter genaue Aufsicht genommen wurde.
Sie waren schon eine Strecke von dem Hofe entfernt, als ihnen die Wirtin mit heftigem Schelten nachgelaufen kam. »Ihr Lumpenpack, ihr nichtsnutziges!« schrie sie, »probiert's und kommt mir noch einmal in mein Haus! Ihr Diebsgesindel!« fuhr sie fort, und ein Strom von ähnlichen Ehrentiteln rauschte ihr über die geläufige Zunge.
»Was ist's, was ist's denn?« fragten die Zigeuner.
»Was ist's?« äffte sie mit zornigem Hohne nach. »Was es ist? Meinen Schinken habt ihr angeschnitten und weggefressen, ihr schwarzgelbe Galgenvögel!«
»Das hat niemand von uns getan,« erwiderte Postel ruhig. »Eure Katze wird ihn gefressen haben.«
»Meine Katze! Ich möchte auch wissen, wo die gelernt hätte, mit dem Messer umzugehen!«
»O, Ihr habt besondere Katzen, die mehr können als Brot essen.«
»Du Schlingel, du betrogener Halunke, was willst du damit sagen? Macht euch fort, ihr Hexenleute! Ich will euch gern den Schinken erlassen, wenn ich euch nur nicht mehr vor Augen sehen muß.«
»Hexenleute!« rief Postel lachend. »Ich will Ihr was sagen, es ist nicht mehr lang bis zum 1. Mai, und wenn ich ein Hexenmeister bin, so hoffe ich alsdann bei Tanz und Schmaus und Lichterglanz auf deinem grünen Plätzchen mit Ihr zusammen zu sein die ganze Nacht. Wer wüßte den Weg zur Frau Näget besser als Sie? Also auf Wiedersehen da droben!«
Er deutete bei diesen Worten nach einer am Abhang eines nahen Berges gelegenen Ebene, die er als den Blocksberg der Umgegend bezeichnen zu wollen schien. Die andern stimmten in sein Gelächter ein und machten sich von dannen, während die Wirtin ein reiches Wörterbuch von Schimpfreden hinter ihnen her blätterte.
Sie gingen nach der Wolfsschlucht zurück, wo sie beinahe die ganze Bande versammelt trafen. Dieselbe war beschäftigt, ein Reh zu verspeisen und den Becher unter sich kreisen zu lassen. Obgleich der Ort so unheimlich aussah wie in der vergangenen Nacht, so waren doch alle lustig und guter Dinge; denn seit der Flucht aus dem Schönbuchwalde hatten sie keine Verfolgung mehr zu bestehen gehabt und fühlten sich, ihren Reden nach zu schließen, an dieser Stelle so ungefährdet, wie wenn sie sich in einem fremden Lande befänden. Hannikels Söhnchen hatte sich ebenfalls zu ihnen gesellt; der Junge hatte den Schimmel auf einem benachbarten Dorfe untergebracht und spielte nun mit schön getigerten Pilzen, die über Nacht aufgeschossen waren. Nur die Großmutter fehlte noch; sie war nicht mehr gut zu Fuß und hatte die Hunde vorausgeschickt.
Der Hauptmann ließ sich jetzt auch von Postel Bericht erstatten, und dieser verfehlte nicht in seinem Rapport die Geschichte von den Mißhelligkeiten wegen des gestohlenen Schinkens vorzubringen.
»Wer hat den Schinken genommen?« fragte Hannikel, indem er sich mit gerunzelter Stirn umsah.
»Ich,« erwiderte Heinrich vortretend, »ich hatte Hunger.«
Hannikels Stirn entwölkte sich, er sah ihn mit lustiger Überraschung an und brach in ein donnerndes Gelächter aus. Die andern lachten unter den tollsten Gebärden ganz ausgelassen mit; Nottele schlug ein Rad und wälzte sich am Boden.
»Er wird reif,« schrie Hannikel, »er wird reif. Gleich heute darf er mit.«
Wenzel bot ihm ein Stück vom Reh; Heinrich lehnte es ab.
»Immer besser!« rief Hannikel. »Er macht sich, es schmeckt ihm schon nichts mehr als Gestohlenes.«
»So war's nicht gemeint,« versetzte Heinrich. »Ich dachte nur, wer mich beerbt habe, der könne auch für mich bezahlen.«
»Da-das ist keine A-Arbeit,« sagte Nottele, »für einen la-la-lachenden Erben.«
»Was sollen diese Ausdrücke bedeuten?« fragte Hannikel den Gefangenen mit richterlichem Ernst.
»Bloß, daß mir meine Taschen geleert worden sind,« antwortete dieser ruhig.
Hannikel schnaubte. »Ich rat' Ihm,« schrie er, »keinen Verdacht auszusprechen, den Er nicht beweisen kann.«
»Er ist bei ehrlichen Leuten,« rief Duly, »die bezahlen, was sie schuldig sind.«
»Ich spreche nichts aus,« sagte Heinrich, »als daß ich gestern meine Börse noch hatte und daß sie mir heute fehlt.«
»Der Träumer wird sie bei der Bataille verloren haben,« versetzte Hannikel. »Übrigens mit dem Bezahlen hat er recht. Solche Geschichten dürfen nicht vorkommen, am wenigsten hier. Dieterle, da hast du Geld, geh auf den Gaisbühl und bezahle den Schinken. Sag dem Gaisbühler, dein Vater wolle nicht, daß man von seinen Leuten Verlust und Ungelegenheiten habe.«
Der Bube eilte fort. Hannikel gab dem Gefangenen einen Wink und entfernte sich etwas von den anderen mit ihm. »Nun, Kamerad,« sagte er, seinen langen schwarzen Bart in die Hand nehmend, »man wird doch wohl zu honett sein, sich von uns verhalten zu lassen?«
Heinrich lachte bitter. »Ich habe mich nicht in die Gesellschaft eingedrängt,« erwiderte er, »und man kann mich leicht abschütteln, wenn man will. Meine Rechnung will ich indessen gerne berichtigen, ich weise sie auf den Stammler an, der am besten wissen wird, was gestern, während ich meiner nicht mächtig war, mit meinen Taschen vorgegangen ist.«
»Nehmt Euch in acht!« entgegnete Hannikel und hob den Finger auf, »der Nottele läßt nichts auf sich sitzen. Ich glaub's auch nicht von ihm, dem Fontin würd' ich eher so was zutrauen. Übrigens nur nicht aufgebraust! Die Umstände sind nicht danach. Was hat man denn jetzt vor?«
»Ich bin geächtet,« antwortete Heinrich, und der hoffnungslose Ton, womit er diese Worte aussprach, ging ihm von Herzen.
»Man hat die Augen zu hoch erhoben,« sagte der Zigeunerhauptmann, »und dafür hat man eins vor den Kopf bekommen. Wir zwei hätten eigentlich ein Hühnchen miteinander zu rupfen wegen der Sache, und ich verstehe sonst in derlei Dingen keinen Spaß, aber weil wir gewissermaßen Leidensbrüder sind, so will ich für diesmal ein Auge zudrücken. Ich habe Mitleid mit Euch, Eure Aussichten sind für immer ruiniert. Wollt Ihr Euch noch einmal eins auf den Pelz brennen lassen? Gebt acht, das nächste Mal trifft er besser. Bleibt bei uns. Wir gehen für einige Zeit in ein anderes Land. Das Vorurteil, das bei uns gegen die Deutschen herrscht, braucht Ihr nicht zu fürchten, wenn Ihr unter meinem Schutze steht. Es hat zwar seine Gründe, ist aber doch eine Dummheit, denn die Racker sind nicht so leicht zu entbehren, nur muß man ihnen scharf auf die Finger sehen, damit sie keine Stänkereien machen. Bei uns könnt Ihr Euer Brot ehrlich verdienen und braucht nicht den Hungerleider abzugeben. Ihr seid ein Studierter und könnt mit der Feder umgehen. Was gibt es nicht bei uns zu schreiben! Brandbriefe und Attestate und Pässe, und wie das Zeug alles heißt! Ich pflege etwas weiter zu denken als die anderen, und deshalb hab' ich mir schon längst gesagt, wir sollten einen solchen Mann unter uns haben. Die Welt liest jetzt allenthalben Zeitungen, und da so schlechte Gerüchte über uns verbreitet sind, so könntet Ihr Aufsätze in die Zeitungen schicken und dadurch unter der Menschheit eine bessere Meinung von uns erwecken. In kurzer Zeit würdet Ihr bei uns allen in der größten Achtung stehen. Und um Euch dieses Leben noch angenehmer zu machen, könntet Ihr meine Stieftochter heiraten, die ja doch sozusagen wieder Witwe ist. Sie ist hübsch, hat Feuer, und ich hätt' ihr schon längst etwas Apartes gegönnt, denn sie verdient einen Mann, der ein wenig mit den Weibern umzugehen weiß. Ich bin überzeugt, ihr würdet glücklich miteinander sein.«
Er schwieg und sah ihn auffordernd an. Nachdem Heinrich ihm eine Weile in das Gesicht gestarrt hatte, erwiderte er kurzweg: »Ich will's bedenken.«
»Gut!« sagte Hannikel und wandte sich barsch, »bis morgen hat man Bedenkzeit, dann sprechen wir aus einem anderen Tone. – Wo ist denn die Ursula?« rief er, zu den andern zurückkehrend; »ich habe sie ja seit unserem Abzug aus dem Jägerhäuschen nicht gesehen.«
Statt der Antwort zeigte Nottele nach dem Rande der kaum haushohen Schlucht, wo eben die überhängenden Zweige der jungen Buchen auseinandergebogen wurden und auf dem schmalen Fußsteig ein Mädchen erschien. Es war die Vermißte. Sie ließ ein buntes Tuch zum Gruße flattern und war alsbald wieder verschwunden, aber die knackenden Zweige verrieten, wie sie flink und kräftig den Abhang herunter eilte.
»Wenn man den Teufel an die Wand malt, so ist er auch schon da,« stotterte Nottele.
Das Mädchen brach wie ein Reh aus dem Gebüsch hervor und flog ihrem Vater an den Hals. Auf ihrer Stirn war eine frische, blutige Schramme.
»Und woher dann so schnell?« fragte Hannikel. »Du hast dich ja ganz außer Atem gelaufen.«
Sie setzte sich auf den Boden, einen scheuen Blick auf Heinrich werfend; ihre Augen, die jüngst, von Leidenschaft erhellt, in einem schönen, durchsichtigen Braun geglänzt hatten, flimmerten heute in einem nebligen Grau. Sie sah eine Weile vor sich hin, dann wandte sie sich plötzlich in der Zigeunersprache an ihren Vater und redete erst zaghaft und leise, dann immer lauter und heftiger, bald weinend, bald scheltend, bald beschwörend, auf ihn ein. Heinrich verstand nur, daß der Name Tony mehrmals in ihren Reden vorkam. Sie schien jedoch keine starke Beschwörung nötig zu haben, denn ihre Worte hatten sichtbar heftig auf die Bande gewirkt. Hannikel zog seine niedere Stirn auf eine greuliche Weise zusammen, sein Bruder Wenzel hatte das finstere Schweigen, das ihm sonst eigen war, mit einer wilden Fröhlichkeit vertauscht, und die andern drückten lärmend eine grimmige Freude aus. Duly gab dem Wenzel seinen Hirschfänger und empfing dafür ein Terzerol von ihm. Dann schnitten sie sich dicke Stöcke, und die funkelnden Augen, womit sie diesem Geschäfte oblagen, ließen auf ein übles Vorhaben schließen.
»Was mögen sie im Schilde führen?« dachte Heinrich. »Tony wird doch nicht so albern sein, sich in ihre Hände zu geben.«
Hannikel sah nach der Sonne, die allmählich gegen den Rand der Schlucht heruntersank. Er sprach einige Worte, und die Bande setzte sich wieder ruhig umher, um den Becher noch einmal die Runde machen zu lassen.
Ursula, mit welcher ihr Vater einen Augenblick leise gesprochen hatte, trat zu dem Gefangenen, der, stets beobachtet, auf der Seite stehen geblieben war. Sie warf einen ihrer langen Blicke auf ihn und redete ihn dann deutsch an. »Sind Sie bös?« fragte sie.
Er lachte unmutig in sich hinein. Es ist doch eine wie die andere, dachte er; wenn sie gut Wetter haben wollen, so beginnen sie mit der Frage, ob man böse sei. – »Ich muß es wohl sein,« antwortete er laut, »sonst würde mir nicht so viel Böses widerfahren.«
»Ich bin auch bös,« sagte sie.
»So?«
»Nicht auf Sie,« setzte sie hinzu.
»Auf wen denn?« fragte er mechanisch.
»Würden Sie's nicht auch sein,« entgegnete sie ausweichend, »wenn man Sie verschwätzte und hintendrein mißhandelte?«
»Ist dir so was geschehen?«
Sie sah vor sich hin. »Ich wollte nur fragen,« sagte sie nach einer Weile.
»Sahst du Tony in letzter Zeit?« hob er wieder an.
»Welchen?«
»Nun, den andern kennst du ja nicht. Ich meine deinen Verlobten.«
»Ach der?« sagte sie gleichgültig, »der will nichts von mir und ich nichts von ihm.«
Sie blieb bei ihm stehen. Da ihre stumme Haltung ihn zum Sprechen aufforderte, so sagte er nach einer Weile: »Was hast du denn an der Stirn?«
Sie wurde rot, und ihre Augen verdunkelten sich. »Ich bin in ein Glas gefallen,« sagte sie zögernd.
Er fragte nicht weiter. Sie schwieg ebenfalls, als ob sie nicht wüßte, wie sie ihm beikommen sollte, und blickte ihn von Zeit zu Zeit unschlüssig an.
Der Hauptmann winkte jetzt, und mit wildem Ernst in den Gesichtern erhob sich die Bande. Sie stiegen die Schlucht hinauf und verteilten sich dann nach verschiedenen Seiten. Hannikel, Wenzel, Duly und Nottele nahmen den Gefangenen in die Mitte und bildeten eine besondere Abteilung, an deren Spitze sich Ursula stellte. Sie gingen leise und eilig durch den Wald, in einem Bogen, der die untergehende Sonne in ihren Rücken brachte. Molche krochen ihnen in Menge über den Weg. Ein blutiger Widerschein zitterte noch am Himmel, als sie aus dem Walde traten; die roten Streifen erblaßten allmählich, und die wachsende Sichel, schon tief am Horizonte stehend, warf ein schwaches, dämmerndes Licht auf die Gegend. Die Berge waren zur Rechten unbedeutend in die Ferne gerückt, und eine Ebene verlief sich vom Walde aus weit hin in den grauen Schatten. Am Saum des Waldes, wo ein verlassenes niedriges Hirtenhäuschen stand, wurde Halt gemacht.
Heinrich suchte sich vergebens zu enträtseln, was diese Anstalten bedeuten sollten. Er war aber auch wenig fähig zum Nachdenken, denn er fühlte sich auf einmal krank, der Kopf schmerzte ihn heftig, ein jäher Schwindel überfiel ihn, und während er sich, wie erblindet und wankend, an Duly hielt, befreite sich sein Magen durch einen gewaltsamen Ausbruch von der schnellverschlungenen ungehörigen Speise. Duly, den er dabei wider seinen Willen verschwenderisch bedachte, brach in gräßliche Flüche aus.
»Willst du still sein, du dumme Bestie?« rief Hannikel, »ich drehe dir den Hals um.«
»Ei zum Teufel!« entgegnete Duly mit gedämpfter Stimme: »du magst ihn dem da zubinden! oder laß ihn sein Herz in deinen Busen ausschütten.«
Die anderen lachten leise. »Da sieht man,« sagte Hannikel, »daß unrechtes Gut nicht gedeiht.«
Heinrich konnte kaum noch aufrecht stehen; der Fieberfrost schlug seine Zähne aneinander, während ein schneidender Wind am Walde herauffuhr.
»Horch!« sagte Hannikel. Wenzel warf sich nieder und legte das Ohr an den Boden; die anderen lauschten mit vorgestreckten Köpfen nach der Ebene hin.
Wenzel gab ein Zeichen. »Hinein ins Schafhäusle mit diesem da!« flüsterte Hannikel, »ihr beide links, wir rechts auf die Seite! Und du, Mädchen, auf deinen Posten. Nottele, vergiß nicht! Wenn du dich brav hältst, so bekommst du die Legart.«
Die Zigeuner verschwanden, und Heinrich wurde von dem Mädchen durch eine niedrige Öffnung ohne Türe in den finsteren engen Raum hineingeschoben. Er hielt sich an einem Querbalken, an den er beim Eintreten den Kopf gestoßen hatte, und kämpfte mit seinem körperlichen Zustand und mit der Erwartung der Dinge, die da kommen sollten.
Die Zigeunerin ging indes langsam eine Strecke gegen die Ebene hinab. Nach kurzer Zeit vernahm man Tritte und das Knurren eines Hundes. Eine Gestalt erschien, nach dem Häuschen heraufschleichend. »Pst!« wisperte sie von weitem und traf mit dem Mädchen zusammen. Man hörte sie in der Ferne miteinander reden. Dann gingen sie dem Häuschen zu.
»Du rechnest einem auch gar keinen Gefallen an,« sagte das Mädchen vernehmlich, während sie näher kamen. »Ich mußte mich doch vorher von meinen Leuten losmachen, sonst wär' ich dir weiter entgegen gegangen. Von dir hat man für seine Freundlichkeit nichts als Vorwürfe und noch etwas mehr. Du bist gleich so grob; wenn man dir alles zu lieb getan hat, so schlägst du einem noch dafür das Glas in den Kopf. Du hättest's verdient, daß ich dir einen rechten Possen spielte.«
»Pah!« erwiderte eine männliche Stimme, »du hast nicht alles getan, du bist eine eigensinnige Hexe. So ein Weibsstück muß hübsch geschmeidig sein, sonst geb' ich keinen Heller drum, und nicht so empfindlich! Tut's denn noch immer weh? Wie, sei vernünftig!«
Er hatte den Arm um ihren Hals geschlungen, und sie kamen immer näher. Heinrich hatte auf die Stimme gelauscht, mit einer Spannung, vor welcher das Gefühl seiner Unpäßlichkeit beinahe verschwunden war. Tonys Stimme war es nicht, und er atmete hoch auf.
Indem begann der Hund unruhig zu werden und endlich zu bellen.
»Was ist das?« rief sein Herr mit beklommener Stimme: »ist jemand in der Nähe?«
»Wer wird wohl auch da sein, lieber Tony!« antwortete das Mädchen, »du hast nichts zu besorgen.« Sie lockte den Hund und suchte ihn zu beruhigen. Heinrich beugte sich leise zu der Öffnung der Hütte hinaus und wußte nun, wen er vor sich hatte, denn er konnte in der Dunkelheit sogar die militärische Tracht seines Beleidigers unterscheiden. Seine Stimme hatte er ebenfalls erkannt. Es war Tony, der Grenadier, dem er die üble Nacht in Sulz verdankte, und der, verräterisch hierher bestellt, ein Opfer seines Übermutes und weiblicher Rachsucht, hier seinen Feinden in die Hände lief. Denn ehe Heinrich sich besinnen konnte, ob und wie er zu retten sei, sah er auf allen Seiten Gestalten vom Boden auftauchen, die den Verratenen umringten.
»Das für deinen Verrat!« rief Hannikel und drückte eine Pistole auf ihn ab. Der Grenadier hatte ebenfalls eine aus dem Gurt gerissen. Man hörte zwei Hähne schnappen; beide hatten versagt.
»So, du bist's?« schrie Duly, das Gewehr losdrückend, das er von Wenzel erhalten hatte. Auch dieses versagte.
»Rache für Mantua!« brüllte Wenzel und ging ihm mit dem Hirschfänger zu Leibe, wurde aber von dem grimmig heulenden Hunde zurückgehalten.
»Gib den Feuersegen heraus!« schrie Nottele, ohne diesmal zu stottern, und drang mit hochgeschwungenem Knüttel auf den Unglücklichen ein.
Dieser verlor den Mut, als er die Zahl seiner Gegner mit jedem Augenblicke wachsen sah. Er wandte den Rücken und verließ sich nur noch auf die Schnelligkeit seiner Fersen. Duly setzte ihm mit gewaltigen Sprüngen nach, packte ihn und wollte ihn zu Boden reißen, wurde aber abgeschüttelt, und Flucht und Verfolgung wälzte sich unter lautem Toben weiter.
Es kam zu Heinrich herangehuscht und zog ihn in die Hütte zurück. »Nur still, still!« rief Ursulas Stimme, »sonst müssen Sie auch mittun. Mein Vater hat's geschworen. – Sie haben einander den Schuß gestellt,« fuhr sie leise und unruhig fort.
»Du lockst die Männer, um sie zu verraten?« sagte er und suchte sich loszumachen.
»Er hat mir ein Glas am Kopf zerschlagen, der Undankbare!« rief sie, »und ich hatte doch ihm zuliebe vergessen, daß er ein Feind der Meinigen ist.«
»Hussa, hetz, hetz!« rief die Stimme des Buben, der mit den Hunden seines Vaters quer über die Ebene rannte. Die Jagd toste längs des Waldsaumes hin mit dem Gebrüll der Männer, mit dem Toben der Hunde. Da hörte man einen Streich fallen; es klang, wie wenn ein Topf zerschlagen wird, und ein gräßlicher Todesschrei gellte von dem Kampfplatz herüber.
Heinrich schauerte zusammen. Das Mädchen klammerte sich zitternd an ihn und flüsterte: »Gott sei seiner armen Seele gnädig.«
»Ungeheuer! Mörderin!« rief er und schleuderte sie mit wildem Abscheu von sich, so daß sie den Kopf an das Gemäuer des Hirtenhäuschens stieß.
»Faßt ihn! nieder mit ihm!« schrie sie, plötzlich verwandelt, mit ausbrechender Wut: »Faßt den Verräter! laßt ihn nicht entkommen!«
Heinrich hörte Geräusch und Stimmen im Walde, seine Sinne verwirrten sich, und er floh die Ebene hinunter. Er hörte einend Hund hinter sich und jagte wie ein gehetzter Hirsch mit großen Sätzen über den unebenen Boden hin. Der Hund kam näher und näher, er schnappte nach ihm, da wich der Boden unter dem Flüchtling, und er rollte mit Erde und Steinen einen Abhang hinab. Der Hund heulte ihm mit getäuschter Begierde nach.
Heinrich hatte einen Augenblick das Bewußtsein verloren. Ein Schmerz im linken Arm, und Wasser, das ihm den Mund benetzte, brachten ihn wieder zu sich. Er richtete den Kopf empor, bewegte den verletzten Arm ungehindert und erhob sich wankend vom Boden. Der Mond war untergegangen; das schüchterne Licht der Sterne zeigte ihm, daß er in einen Bach gestürzt war, der mit tiefem Bett, obwohl seichtem Wasser die Ebene durchschnitt. Er war auf eine aus dem Rinnsal hervorragende Kiesbank gefallen und deshalb wenig naß geworden; dafür hatte ihm der Fall die Glieder unsanft zerstoßen. Es war still in seiner Nähe. Niemand verfolgte ihn mehr. Er stieg an einer niedrigeren Uferstelle wieder herauf und sah sich alsbald genauer um.
Die graue Dämmerung, die sich herabgelassen hatte, erlaubte ihm nicht, weit zu sehen, aber bald hörte er lange Seufzer, die vom Mordplatz her durch die Gegend zitterten; sie klangen über alle Beschreibung traurig und grauenhaft. Dazwischen hörte er einen Hund winseln; dann vernahm er wieder ein Gewirr zorniger Stimmen, worauf jedesmal ein noch tieferes Stöhnen erfolgte.
Unser Freund war nicht zum Helden erzogen worden; doch hatte er in den letzten Tagen zweimal in die Mündung einer Pistole geblickt, ohne den Rücken zu wenden. Jetzt aber, bei diesen Lauten, überfiel ihn ein tödlicher, gespenstischer Schrecken; es war ihm, als ob er selbst gemordet werden sollte. »Ich bin zu schwach! Ich bin zu feig! Ich kann ihm nicht helfen!« murmelte er mit erstickter Stimme und schlug die Hände vor das Gesicht. Ein Seufzer aus der ganzen Tiefe eines verzweifelnden Herzens tönte jetzt herüber, die scheidende Seele des Ermordeten schien in ihrer Todesangst kalt an ihn heranzusausen; er tat einen Schrei und rannte blindlings davon.
Halb bewußtlos irrte er umher, strich über einen großen Weideplatz, an einem Pferch vorüber, unter mächtigen, vielhundertjährigen Eichen hin, die, ernsten Wächtern gleich, vereinzelt auf dem Rasen standen, dem Flüchtling aber mit ihren Wurzeln manches üble Hindernis in den Weg legten, sah endlich ein Licht und eilte darauf zu. Erst in nächster Nähe erkannte er den Hof, auf dem er heute gewesen war, und kam leise vor das Fenster, um zu sehen, ob er nicht Hilfe aufbieten könne.
Die Stube war voll von Zigeunerinnen, die sich's wohl sein ließen; mit Grauen erkannte er unter ihnen das Weib des Grenadiers, unbefangen schwatzend und lachend. Auch einige Männer waren dabei. Vielleicht wußten sie alle um die Untat, wie hätte er dem treulosen Volke vertrauen können, bei welchem Buhlerei und Verrat Hand in Hand ging? Als aber ein Hund anschlug und in geringer Entfernung andere antworteten, als er die bekannten, verabscheuten Stimmen der Mörder immer näher und näher vernahm, da besann er sich nicht länger; er fühlte, daß jetzt sein eigenes Leben auf dem Spiele stehe, raffte instinktmäßig seine Kräfte zusammen und begann von neuem zu fliehen.
Er lief an dem Gehöfte hinab; ein Fußweg führte ihn zwischen Bäumen hindurch, über Felder hin. Der Nachtwind strich hinter ihm drein, er glaubte Klagegeschrei und Todesseufzer um sich her zu hören, und im Nacken folgte ihm ein beständiges Atmen und Keuchen. »Faßt ihn!« er hätte darauf schwören mögen, so deutlich klang der Ruf in sein Gehör.
Er sprang über Gräben, die er erst entdeckte, wenn sein Fuß ihren Rand betrat. Nach langem Laufen, da er Weg und Steg verloren hatte, prallte er gegen ein Gehege; er eilte daran entlang und fand ein gewundenes Gäßchen, das ihn zwischen zwei hohen Hecken sacht bergunter führte.
Das vermeintliche Geräusch in seinem Rücken verlor sich im Rauschen eines Wassers, das er vor sich hörte. Der Weg, den er verfolgte, führte ihn zu einer Brücke, und kaum hatte er diese überschritten, so tauchte eine Stadt mit Mauern und Türmen in der Dunkelheit vor ihm auf. Eine zweite Brücke führte über einen breiten Graben zu einem Tor. Er stürzte darauf zu, aber es war geschlossen. Ein Schauer überrieselte ihn. Drinnen waltete bürgerliche Ordnung und Sicherheit, während er hier draußen jedem Frevel der gesetzlosen Bande, die ihn nacheilend überraschen konnte, preisgegeben war. Aber er getraute sich nicht, Lärm zu machen. Dem Ermordeten Rettung zu bringen, war jetzt zu spät, und was wartete hinter diesen Mauern auf ihn selbst? Erfühlte sich überall geächtet, innerhalb und außerhalb der Welt des Gesetzes. Am liebsten hätte er sich vor allen lebendigen Wesen verborgen, als ein Mensch, welchen der Mächtigste im Lande, der, dem alle gehorchten, durch seine Behandlung für ein wildes Tier erklärt hatte.
Er verließ das Tor, obgleich er vor Kraftlosigkeit zu taumeln anfing, und ging längs des Grabens hin, der mit einer niedrigen Schutzmauer eingefaßt war. Auf einmal gewahrte er in der Grabenmauer ein offenes Türchen, jenseits des Grabens einen runden Turm mit schwarzen Schießscharten, und wie vom Traum an einen bekannten Ort gebracht, half er sich die Treppe hinab, die in den Graben führte, ging über einen Steg aus zwei Balken, zwischen Schilf und Wasserpflanzen hindurch, stieg eine Stufe hinauf und stand vor dem Turme. Er suchte die Türe. Auch diese war geschlossen. Der kalte Nachttau erneuerte die Schmerzen in seinem Arme, und wieder glaubte er den gräßlichen Todesschrei und das Schnauben der Hunde zu vernehmen. Fast bewußtlos rüttelte er an der Pforte, bis er endlich, seine letzte Kraft erschöpfend, am Fuß des Turmes in Betäubung sank.
Ich weiß mich trefflich mit der Polizei,
Doch mit dem Blutbann schlecht mich abzufinden.
Faust.
Heinrich erwachte aus einem bleiernen Schlafe so müd und zerschlagen, daß er sich anfangs nicht zu rühren vermochte. Er fühlte, daß er in einem weichen Bette lag; er öffnete die Augen und ließ sie wieder zufallen; er öffnete sie noch einmal und hatte eine wunderbare, unerwartete Erscheinung. Sein Blick fiel auf ein Fenster, das dem Bette gegenüber war; das Fenster ging auf die nahe Rückseite eines Hauses, wo ihm ein anderes Fenster entsprach, und in diesem lag – noch einmal schloß und öffnete er die Augen – der Bürgermeister von Reutlingen, der mit besorgter Miene auf ihn heruntersah. Er fühlte sich um ein paar Jahre zurückversetzt, in jene Nacht, wo er den lieben alten Freund durch sein langes Lesen beunruhigt hatte. »Hab' ich denn das Licht zu löschen vergessen?« dachte er mit innerem Vorwurf und erhob sich halb im Bette. Da fuhr der Bürgermeister mit einer freudigen Gebärde auf und verschwand. Heinrich sprang heraus, die Betäubung war von ihm gewichen. Er eilte, sich anzukleiden, aber sein linker Arm, der mit Tüchern umwunden war, hinderte ihn, und so war er kaum zur Hälfte fertig, als der gute Alte schon im Zimmer stand.
»Gott sei Lob und Dank,« rief er, »daß Sie wieder bei Sinnen sind! Was haben Sie uns für einen Schrecken gemacht! Wie sind Sie denn in diese Verfassung gekommen?«
Heinrich unterbrach ihn mit Gegenfragen. »Haben Sie Mitleid mit meinem noch schwachen Kopf,« sagte er, »und erklären Sie mir, durch welches Wunder ich zu Ihnen und in Ihr freundliches Haus geraten bin.«
»Das ist bald gesagt, aber zuerst geben Sie mir die Hand und seien Sie mir herzlich willkommen!« rief der Bürgermeister. Dann fuhr er fort: »Ich war gestern in der Vorstadt in einer Nachtvisite, die durch etliche Gespenstergeschichten über die Gebühr verlängert wurde. Als ich nun mit dem Gevatter Svndikus und noch einigen anderen heimging und wir unseren gewöhnlichen Weg über den Graben und durch den Turm nehmen wollten, da sehen wir etwas auf der Staffel am Turme liegen. Mein Gevatter wäre fast vor Schrecken in den Graben gefallen. Wir glaubten einen wildfremden Menschen zu sehen, Gott verzeih' mir's, wir hielten Sie für betrunken. Nun leuchtet Ihnen einer ins Gesicht, und jetzt war das Erschrecken an mir, wie ich meinen Herrn Vetter erkenne. Ei du frommer Gott, wie waren Sie dahin gekommen? Sie rührten sich nicht; wir trugen Sie in mein Haus und weckten den Herrn Vetter Physikus, der an Ihnen geschmiert und gerieben und geblutigelt hat nach Herzenslust! Denn jetzt sah man erst, daß Ihr linker Arm tüchtig verstaucht war. Endlich machten Sie die Augen starr auf und sahen mich an; dann fielen Sie zurück und fingen – nichts für ungut! – herzinniglich zu schnarchen an, was ein sehr gutes Zeichen war und dem Physikus höchlich gefiel. Dieser Schlaf hat ohne Unterbrechung bis soeben fortgedauert, und wir haben jetzt drei Uhr Nachmittags. Also guten Morgen, lieber werter Herr Vetter! Was macht Ihr Arm? Und wie sind Sie um Gottes willen, sagen Sie mir nur –«
»Herr!« rief ein junger Mensch und machte die Türe halb auf, »eben kommt die Nachricht, daß der Zigeuner endlich gestorben ist. Sie haben ihn fast bis zur Stadt gebracht.«
»Der arme Schelm!« rief der Bürgermeister. »Es ist doch gar zu viel Jammer in der Welt. Heute früh wurde beim Schafhäusle ein Zigeuner gefunden, der von seinen Mordgesellen des Nachts gottlos zugerichtet worden ist. Der Herr Gevatter Syndikus und der Herr Vetter Physikus haben alle Hände voll zu tun bekommen. Der bejammernd werte Mensch muß eine Katzennatur gehabt haben; er ist fast noch lebend ins Fondenhaus gebracht worden.«
»Ich Unglückseliger, daß ich ihm nicht Hilfe senden konnte!« rief Heinrich und schlug die Hände zusammen.
»Sie?« rief der Bürgermeister.
»Ja, ich! – Ich war dabei.«
Der Alte trat mit Entsetzen zurück, nahm ihn aber gleich wieder bei der Hand und sagte: »Nein, Sie sind kein Übeltäter.«
»Das bin ich nicht. Und dennoch müssen Sie sich bedenken, ob Sie mich in Ihrem ehrenwerten Hause dulden wollen; denn ich bin nicht bloß bei dem Herzog von Württemberg in Ungnade, sondern ich komme geradewegs vom – Hannikel und seinem Gelichter her.«
»Herr, vergib ihm die Sünden seiner Jugend!« rief der Bürgermeister, die Hände zusammenlegend.
»Ich habe nichts mit ihrem Tun gemein gehabt!« rief Heinrich, »und doch – mit äußerster Beschämung gesteh' ich's Ihnen – auf dem Hofe da draußen hab' ich, von der Not getrieben, die Küche beraubt, weil die Gauner mir all mein Geld genommen und mich ohne Nahrung gelassen hatten.«
»Weiter nichts als das?« rief der Bürgermeister aus vollem Herzen lachend, »nun, es ist auch schon zuweilen einem ehrlichen Manne passiert, daß er die Zeche zu zahlen vergaß.«
»Auch hab' ich's wieder gebüßt,« sagte Heinrich erheitert; »denn mein Magen war ehrlicher als ich, er behielt die gestohlene Speise nicht bei sich.«
»Wären Sie doch vorgestern auf dem Gaisbühl gewesen!« rief der Bürgermeister, »da hätten Sie mich angetroffen mit ein paar Herren von Ulm und sollten eine gesegnetere Mahlzeit gehabt haben. Aber was schwatz' ich lang? Wenn ich Sie ansehe, so muß ich vermuten, daß Ihre Fasten noch nicht zu Ende sind. Wie? Haben Sie seitdem nichts zu sich genommen?«
»Nein,« sagte Heinrich, »aber der Schlaf hat mich sehr gestärkt.«
»Gott verzeih' mir meine Sünde! Wir wollen dieser Stärkung gleich eine kräftigere nachschicken. Kommen Sie, kommen Sie!«
Er nahm ihn am Arme, zog ihn durch die Werkstatt ins Haus und setzte Küche und Keller in Bewegung. Bald drang köstlicher Speisengeruch ins Zimmer; ihm folgte ein Mädchen mit Schüsseln, blank von außen, dampfend von innen, und zuletzt kam Gretchen, welche die Aufsicht in der Küche geführt hatte. Sie trug ein Kind auf dem Arme, eines unter dem Herzen und reichte dem Gast mit jungfräulichem Erröten die Hand. Er sprang auf und vergaß Essen und Trinken über die Begrüßung des hübschen mädchenhaften Weibchens. Der Bürgermeister aber trieb sie lustig scheltend hinaus; er dachte an das eine, was not war, und wünschte ungestört mit ihm reden zu können. Dann sprach er das Tischgebet für ihn und nötigte den gemüterschütterten, frostdurchschauerten, zerschlagenen, hungerverzehrten Landstreicher zu dem zwischenzeitigen Mahle nieder. Kein kräftigeres war ihm jemals gekocht worden; er gewann mit jedem Bissen an Gesundheit und Lebensröte, und der Reutlinger Wein, den ihm sein Wirt, wiewohl etwas vorsichtig, dazu einschenkte, übertraf an wundertätiger Kraft die berühmtesten Flaschen mit Siegel und Umschrift; er flößte ihm eine Fülle von neuen Hoffnungen ein und gab den Dingen, die vor seinen Augen lagen, eine zuversichtlichere und freundlichere Farbe.
Heinrich ließ endlich Messer und Gabel sinken, nahm noch einen herzhaften Schluck aus dem zinnernen Becher, worin ein Löwe, auf drei Bergen stehend, eingegraben war, lehnte sich dann, angenehm ermattet, in den Großvaterstuhl zurück, schloß die Augen ein wenig, erhob sich vertrauensvoll zu dem ehrwürdigen Angesicht des guten Greises und begann nun eine lange Beichte, worin er das Fräulein nach Kräften, sich selbst aber nicht im mindesten schonte.
Der Bürgermeister, dessen Leben zwischen einfachen Sorgen und harmlosen Freuden abgelaufen war, schlug die Hände mehr als einmal zusammen. »Was sind doch die Menschen!« rief er endlich aus, als Heinrich geendigt hatte. »Mir geht es über mein Verständnis, und der liebe Gott muß selber mitleidig drein sehen, wie sie so wunderlich durcheinander rennen und wollen weiß nicht, was? und weiß nicht, wie? Und wie bei allen den großen Absichten und mächtigen Wünschen und weislichen Anschlägen am Ende so gar nichts herauskommt. Wenn ich's ehrlich sagen soll, aber Sie müssen mir's nicht übelnehmen, so dauert mich eigentlich keins von allen als das arme Papier, das ihr miteinander über den Schwarzwald spazieren getragen habt; das hätte im Kabinett Seiner Durchlaucht gute Ruh' haben können. Ach Herr, führ' uns gnädig zu dir!«
Heinrich mußte unwillkürlich lachen. »Der Erfolg ist hier allerdings ein harter Richter,« sagte er, »aber versetzen Sie sich einmal recht in das Innerste eines Menschen –«
»Ei was!« unterbrach ihn der Alte, »ich habe keine Lust dazu, ich sitze gut genug in meinem eigenen Logis. Ein jeder warte seines Berufs. Statt bei Pfarrern auf der faulen Haut zu liegen und überflüssige Pfiffe und Ränke gegen das Jungkerle auszuspinnen, hätten Sie mit ein paar couragierten Mannen darauf losgehen und sie gleich beim Krips nehmen sollen. Hätt' man sie nur mir in Verwahrung gebracht, ich wollt' ihr den Kitzel vertrieben haben. Was glänzende Zirkel! Was Überdruß! Beten und arbeiten und Zirkel Zirkel sein lassen, das führt weiter als so eine Landläuferei. Arbeiten können auch die vornehmen Frauenzimmer am Hofe; wenn sie's aber nicht verstehen, so können sie gute Bücher lesen, worin mehr geschrieben steht als im Mummelsee. Ich bin auch einmal am Mummelsee gewesen und will jetzt erst recht glauben, daß böse Geister drin wohnen, sonst wären keine solche Narreteien dort vorgefallen. Sie machen mich noch ganz bös, Gott verzeih' mir's, Sie haben mich auf dem Gewissen! Geben Sie mir die Hand und trutzen Sie nicht!«
»Wer wird gegen solch ein väterliches Herz empfindlich sein! Auch haben Sie recht, vollkommen recht. Aber, alter Herr, sind Sie nicht auch jung gewesen?«
Der Bürgermeister lachte und wurde ein wenig rot. »In meinen Gesellenjahren,« sagte er, »hab' ich auch dumme Streiche gemacht; aber, Herr Vetter, so arg hab' ich's nicht getrieben.«
Er stieß mit ihm an, und beide lachten herzlich miteinander, bis zuletzt Heinrich mit einem Seufzer sagte: »Wenn ich nur wüßte, wie es jetzt mit mir werden soll. Zum Herzog kann ich nicht mehr zurück, ich sehe noch immer seine Pistole vor mir.«
»Daß ihm's Gott verzeihe!« rief der Bürgermeister eifrig. »Da sind zwei Schutzengel vor der Mündung gestanden, der seine und der Ihre. Aber, Herr Vetter, ich will Ihnen was sagen: vielleicht hat er seinen Ärger hinausgeschossen.«
Heinrich mußte trotz seiner mißlichen Aussichten von neuem lachen.
»Lachen Sie nur, es liegt doch eine Wahrheit drin!« sagte der Alte, selbst in das Gelächter einstimmend. »Einmal in einem Herbst hätte es fast ein Unglück gegeben, denn sie sind mit dem Herbstschießen ganz närrisch und unverständig bei uns. Da schießt nun meiner Vatersschwester – nein! meines Mutterbruders Enkel, und läßt in der Dummheit den Ladstock drin, so daß er mein Gretle fast an den Kopf trifft; er hat ihr die halbe Haube mitgenommen. Es war ein sichtbares Wunder Gottes, daß ihr's nichts getan hat. Ich aber im größten Zorn auf ihn los und kriege ihn, wie er eben das andere Gewehr auch abschießen will. Ich reiß' ihm die Pistole aus der Hand, und – eigentlich wollt' ich ihm eine Ohrfeige geben, aber im Zorn und Ungestüm schieß' ich alter Kindskopf selber die Pistole los, so daß alles zusammenlacht, und ich muß selber mitlachen und konnt' ihm nichts mehr tun, so schnell war mit dem Knall mein Ärger hinausgefahren. Lachen Sie, so viel Sie wollen, aber in solchen Dingen ist ein Mensch wie der andere, und mag leicht sein, so ist für Sie mit dem einzigen Knall das ganze Gewitter verflogen. Jedenfalls aber bleiben Sie fürs erste bei uns, und das soll Ihnen gerade so bekommen, wie einem kalten Magen eine warme Suppe bekommt.«
Und so geschah es auch. Der Abend wurde in traulicher Geselligkeit zugebracht. Gretchen erschien mit ihrem Manne, der den Gast als alten Bekannten, und jetzt ohne Eifersucht begrüßte. Und als nach Untergang der Sonne auch der Syndikus, von seiner Magd mit der Laterne begleitet, sich herzu fand, da war es dem heimatlosen Pilger, als ob in diesem anheimelnden Kreise die Zeit still gestanden wäre. Die Veränderung mit Gretchen abgerechnet, war alles noch wie vor ein paar Jahren. Die Alten waren nicht älter geworden, selbst das Gespräch berührte mitunter dieselben Gegenstände und mit denselben Worten wie damals. Während er sich unter fruchtlosen, undankbaren Mühen, nichtigen Wünschen abtummelte, hatten diese Menschen ihr stilles Glück genossen.
Er suchte zeitig sein Lager und hatte seit langer Zeit zum ersten Male wieder das Gefühl, das der friedliche Bürger jeden Abend genießt, wenn er seine Decke über sich zieht.
Als er den anderen Morgen aufstand, fiel sein Blick auf ein altertümliches Rasierzeug, das auf dem Tischchen lag. Auch ein Spiegel hing darüber, den er gestern nicht gesehen hatte. Er warf einen Blick hinein und fuhr erschrocken zurück. Jetzt konnte er sich's erklären, warum der Sulzische Substitut so schnell mit ihm ins reine gekommen war, warum Matthäus ihn hatte »menschlich machen« wollen, warum er selbst bei den Zigeunern eine geringschätzige Behandlung erfahren hatte. Nicht nur sein Gewand, er selbst sah von Grund verdorben aus; dazu hatte sein Bart in den letzten Tagen ungebührliche Stoppeln getrieben, welche abschreckend auf dem fast aschgrauen Grunde standen. Er sah einem Vagabunden so ähnlich, daß er sich nur wundern mußte, wie er hier so freundlich und zutraulich aufgenommen war. Eilig fuhr er mit der Sense über das Stoppelfeld, und als nun der Boden, den es bedeckt hatte, zum Vorschein kam, sah er zwar durchfurcht und geackert, aber doch nicht ganz fahl und herbstlich aus.