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Früh am nächsten Morgen klopfte es derb, und vor der Türe stand das strohgelbe Ungeheuer mit seinen groben Nagelschuhen, den Rucksack aufgeschnallt und den Bergstock in der Hand.
Du willst mich also nach den Seen von Colbricon führen, Marco? fragte sie, und der Junge nickte stumm, aber die finstere Miene, die er vornahm, war augenscheinlich nur Verlegenheit, denn es gingen ungewollte Strahlen von Gutmütigkeit hindurch. Belustigt von diesem Schauspiel, setzte sie ihrerseits die liebenswürdigste Miene auf. Vielleicht, daß sich das Scheusälchen bezaubern ließ und menschlich wurde.
Unverweilt schlüpfte sie in ihren kürzesten und schlechtesten Rock, um mit dem ungleichen Kameraden in die Berge zu steigen. Zwar die Seen von Colbricon sollte sie jenes Tages nicht erreichen, dazu bedurfte es der Vorbereitung, aber sie wanderte unter Marcos Führung quer durch moosige Waldgründe, wo heimliche Quellen murmelten, sprang über Wildbäche, arbeitete sich zu ihrem eigenen Verwundern über rauhes Steingeröll hinaus, und unter einem hängenden Garten von Alpenrosen rastete sie um sich einen großen Strauß zu binden. Und während ihr Herz vor Anstrengung klopfte, sank ihr Geist in wohlige Selbstvergessenheit.
Gleich beim Auszug hatte sie Marco aufgefordert, ihr »Tante« und »Du« zu sagen, was dem kleinen Caliban so fremdartig erschien, daß er zunächst die Anrede gänzlich vermied. Aber die Sängerin beharrte in ihrer Bemühung und machte ihn nach und nach zutraulicher. Als sie am ersten Rastort ein Stück Schokolade hervorzog und kameradschaftlich mit ihm teilte, wunderte sie sich selbst über das dankbare Aufleuchten, das bei dieser kleinen Freundlichkeit über das Gesicht des verwahrlosten Knaben ging und es ganz unerwartet verschönte. Mit so treuherzigen Augen konnte man doch wohl das Tier nicht sein, für das Marco im Hause galt. Ware es wirklich nicht möglich gewesen, den kleinen Wilden zum Menschen zu erziehen? Sie wurde neugierig, in die unerforschten Gründe dieses Seelenlebens einzudringen. Er schien noch mit engerem Band an die Natur geknüpft als andere Menschen und daher auch mit ihren Kräften und Heimlichkeiten vertrauter. Er kannte alle Anzeichen am Himmel, einem winzigen weißen Wölkchen sah er an, daß es sich zur Regenwolke verdichten würde, vor der er sie zeitig in Sicherheit brachte. Auf dem Heimweg, der sie an einem einsamen Gehöft inmitten einer grünen Matte vorüberführte, geschah gar etwas Merkwürdiges; dort stellte sich ihnen ein großer Hund so drohend in den Weg, daß Marianne heftig erschrak, aber der Knabe bat sie stehenzubleiben und zu warten, bis er mit dem Hund geredet habe. Da sah Marianne mit Staunen, daß er zu dem aufgeregten Köter hinging, ihn vertraulich am Nackenfell packte und ihm ein paar Worte zumurmelte, als wenn er Seinesgleichen wäre, worauf das Tier sich beruhigte und [58] sein Mißfallen an ihrem Vorübergehen nur noch durch leichtes Knurren ausdrückte.
Von jenem Tage an war der strohhaarige Junge ihr ständiger Begleiter, und es schien fast, als ob er auf diese Rolle stolz wäre. So oft ein sonniger Morgen aufging, erschien er vor ihrer Tür, sie zum Spaziergang abzuholen. Unter ihren Schuhen hatte er gleich mit Kennermiene die stärksten ausgesucht, um sie kräftig besohlen und benageln zu lassen, und sie ihr des Abends schweigend vor die Tür gestellt. Diese Maßregel erwies sich als sehr notwendig, denn meist befand man sich mit ihm nach kurzem inmitten einer weglosen Wald- oder Steinwildnis, wo er einer unsichtbaren Markierung zu folgen schien, so genau kannte er die Richte. Dann ging es bergauf mit Schweißperlen auf der Stirn, und wenn das Steigen ihr beschwerlich wurde, streckte ihr der vorangehende Junge gleichmütig seinen Bergstock hin und zog sie nach. Er lehrte sie, wie man am sichersten die Füße setzt, und zeigte ihr den richtigen Gebrauch des Alpenstocks.
Isa hatte nicht zu viel gesagt, einen besseren Führer konnte man sich in der Tat nicht wünschen. Die ungefüge Kraft, die zwischen vier Wänden nur Schaden stiftete, war hier außen an ihrem Platz. In den reißenden Wildbach walzte er mächtige Steinbrocken, daß sie trockenen Fußes hinüber konnte. Wenn sie sich warm gegangen hatte so stopfte er ihre Tuchjacke, ihre Handschuhe, und was sie irgend überflüssiges am Leibe trug, in seinen ohnehin schon schweren Rucksack, denn so hatte er die Bergführer, seine bewunderten Vorbilder, tun sehen. Blieb sie im Sonnenbrand seufzend stehen; Marco, die Hitze halt' ich nicht mehr aus, so holte er aus der tiefsten, wasserlosen Schlucht einen Klumpen dunkler feuchter Walderde, den er ihr zur Kühlung um das Handgelenk legte. Wenn sie am Mittag sich im Lärchenschatten niederließen, dann kamen aus Marcos plumpem Rucksack die schätzbarsten Dinge zum Vorschein, an deren Nützlichkeit Marianne zuvor nicht gedacht hatte, ein großes Stück Schwarzbrot nebst Butter, kaltem Fleisch und einem ganzen Haufen Äpfel. Mit einem großen blanken Jagdmesser zerschnitt er fein säuberlich Fleisch und Brot und legte der schönen Tante die Stücke auf großen grünen Blättern vor. Dann blieb er unbeweglich sitzen und sah zu, wie sie mit schlanken weißen Fingern appetitliche Stücke zum Munde führte. Erst wenn sie fertig war, begann auch Marco zu essen und verschlang mit ungeheurer Geschwindigkeit den ganzen Rest. Daß er aus einer Kürbisflasche nicht unbeträchtliche Mengen Rotwein zu sich nahm, sah sie ungern, konnte es ihm aber nicht abgewöhnen. Sie selber trank nur Quellwasser, das er ihr mit dem Gummibecher schöpfen ging. Blieb er zu lange aus, so wurde ihr in der schweigenden Einöde unbehaglich. Wenn dann sein großer Kopf mit dem breiten lachenden Mund und den strohgelben Haaren zwischen Gestrüpp und Steinen wieder auftauchte, erschien er ihr oft gar nicht wie ein menschliches Wesen sondern wie ein komisch aussehender aber gutartiger Gnom, der – in ihre Dienste getreten war, um sie zur sicheren, von keiner Tücke bedrohten Herrin dieser Einsamkeiten zu machen.
Auf solche Wandertage folgten herrliche Nächte voll tiefen, traumlosen Schlafs. Ihre Unruhe sank nach und nach wie in einen tiefen blauen Bergsee. Noch wußte sie nicht, was da werden sollte. Es war ihr, als säße sie mit beigelegten Rudern in einem Boot und ließe sich von einer leichtbewegten Wasserfläche schaukeln. Völlig kampf- und willenlos durchglitt sie die Tage und wollte gar nichts mehr, als von irgendeinem Rasensitz der Vorhöhen zu der schneeflimmernden Palakette hinaufschauen, aus Marcos Rucksack eine Stärkung empfangen und sich von dem gutmütigen Waldgnom betreuen lassen. Zuweilen summte sie unbewußt im Gehen eine Melodie vor sich hin und erschrak freudig über den wiederkehrenden Vollklang ihrer Stimme, wie man ein Kleinod, das noch nicht getragen werden darf, einen Augenblick im Lichte funkeln läßt, um es schnell wieder einzuschließen. Dann blieb der Caliban stehen und horchte hochauf.
Auch mit dem Jungen ging eine Veränderung vor, seit er etwas zu bedeuten anfing. Er gab seine starre Verschlossenheit auf, und sein Deutsch, dem es nur an Übung gefehlt hatte, wurde täglich geläufiger. Zu Hause blickte er finster und störrisch wie immer, aber kaum, daß sie die Ehrlandsche Villa im Rücken hatten und miteinander in der Einsamkeit des Rodatals aufwärts stiegen, so brauchte es nur einen Anstoß um ihn gesprächig zu machen, und Marianne gewann aus seinen Reden die Überzeugung, daß es ihm keineswegs an Verstand fehlte, daß er nur für viel einfachere und ursprünglichere Zustände geschaffen war als die, worein ihn die Geburt gestellt hatte. Der häßliche Junge kannte und liebte das Schöne. Als er einmal einen prächtig schillernden Käfer gefangen hatte und bewundernd streichelte, war er sehr erstaunt, daß Marianne ihn bat, dem Tierchen nichts zuleide zu tun.
Warum sollt' ich ihm etwas zuleide tun, es ist ja so schön. Ich tu überhaupt keinem Tier etwas zuleide, das schwächer ist als ich, denn siehst du, das wäre eine Schlechtigkeit.
Du bist ein guter Junge, antwortete sie freundlich, und das ungewohnte Lob erfüllte ihn mit tiefer staunender Dankbarkeit, Gleich darauf entlockte ein Busch herrlich [61] blauer Glockenblumen, der sich aus der Felswand schwang, seiner Begleiterin einen Ausruf; da hing er schon wie eine Fledermaus in das bröcklige Dolomitgestein verkrallt um sie ihr zu brechen und kam mit einem Regen stürzender Steine herabgeprasselt, nachdem sie auf seinen Warnungsruf das Weite gesucht hatte. Sie schalt ihn wegen seiner Waghalsigkeit, aber er lachte nur, denn er sah es jedem Stein von weitem an ob er tragfest war.
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