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Es war ein ungewöhnlich langer und harter Frost über Florenz gekommen. Die Berge trugen ununterbrochen ihr weißes Winterkleid und nun war auch in der Stadt ziemlich starker Schnee gefallen, der allem Brauch zuwider liegen blieb. Am Abend zuvor war Florenz noch wie sonst zu Bette gegangen; beim Aufwachen erkannte es sich selbst nicht mehr. Totenstille in den Straßen, die unter einem weißen Bahrtuch begraben liegen, Omnibusse und Droschkenkutscher haben ihre Fahrten eingestellt, die Schuljugend macht sich Ferien, und wen nicht dringende Geschäfte hinaustreiben, der setzt heute den Fuß nicht vor die Thüre. Die Sonne, die man sonst in solchen Fällen sorgen ließ, versagte diesmal ihre Schuldigkeit, und so wußten sich die Väter der Stadt keinen Rat, als am Nachmittag gegen den Eindringling die Feuerspritzen aufmarschieren zu lassen, aber dieser hatte nun die Bosheit, sich unter den Händen der staunenden Pompiers in Glatteis zu verwandeln.
176 Freilich Via Calzajuoli und Piazza Signoria hatten gut lachen über diesen Schildbürgerstreich, dort schufen ja der immer weiter fallende Schnee und die Tausende von Menschenfüßen den harten Boden doch bald wieder zu flüssigem Leim, aber die äußeren Stadtviertel waren auf ein paar Tage fast vom Verkehr abgeschnitten. Besonders die Via della Scala glich einem langen Laken, dessen fleckenlose Weiße kaum auf beiden Seiten des Trottoirs durch spärliche Fußstapfen unterbrochen war. Nur von Zeit zu Zeit tauchten ein paar Gassenjungen da und dort an den Ecken auf und versuchten, ob sich das kalte weiße Ding nicht zu festen Klumpen ballen lasse, womit man die wenigen Vorübergehenden belästigen könne. Aber auch diesen wurde der Spaß bald zu frostig, und sie verschwanden wieder, woher sie gekommen.
Aus dem vergitterten Parterrefenster eines unschönen, grauen Hauses tönte ununterbrochenes Rasseln einer Nähmaschine. Wer von den Vorübergehenden zufällig nach jener Seite blickte, der sah einen schwarzen hochgekämmten, mit gelben Metallnadeln besteckten Mädchenkopf über die Maschine gebeugt, hohe, schmale Schultern und den langen, leicht gewölbten Rücken, der die florentinische Rasse kennzeichnet. Richtete sich jedoch der Kopf zufällig gerade in die Höhe, so blickte man in ein paar hübsche, schwarze Augen von rundlicher Form mit stark geschwungenen Brauen darüber und in ein volles, blasses Gesicht von angenehmen Zügen, 177 überflüssig mit grobem Reismehl bestreut. Später als der kurze Tag zu sinken anfing, drückte sich das blasse Gesicht von Zeit zu Zeit an die Scheiben und spähte mit einem Ausdruck von Aengstlichkeit die lange, leere Straße hinab, die heute nicht wie sonst durch das Pfeifen und Rasseln der Straßenbahn belebt war, denn die Tramwaygeleise waren besonders freigebig mit Wasser bedacht worden und deshalb vor Glätte unbenützbar. Dies dauerte aber nur eine Sekunde, dann verschwand der Kopf wieder, und das Rasseln der Nähmaschine begann aufs neue.
Wer nun geglaubt hätte, daß das hübsche Mädchen nach einem Geliebten ausblicke, der würde sich gewaltig geirrt haben. Cherubina besaß zwar, wie es sich für eine zwanzigjährige Florentinerin ihres Standes schickt, den üblichen Bräutigam, aber nach diesem aus dem Fenster zu spähen, wäre ihr niemals in den Sinn gekommen; auch wußte sie ganz gut, daß er um diese Zeit noch in der Schusterwerkstätte seines Meisters saß. Auf wen aber wartete sie denn? Sie spähte die Straße hinab, ob ihre Mutter noch nicht zurückkomme, denn die hübsche Cherubina war allein in der dämmernden Wohnung, und sie fürchtete sich.
Weil sie sich fürchtete, hatte sie die Maschine an das Fenster gerückt und sich selber so gesetzt, daß sie der Thür den Rücken kehrte. Diese Thür ging nämlich auf einen dunklen Gang, der nach einer langen, steilen Treppe führte, und zu dieser 178 Treppe hatten sie vor drei Wochen die tote Cesira heruntergetragen.
Die Cesira war all die Jahre her ihre Freundin gewesen, seitdem Cherubinas Vater aus Gründen, die sich der Oeffentlichkeit entzogen, in der Stille von seinem Posten im Zollamt entfernt und dadurch mit seiner Familie genötigt worden war, diese billige Parterrewohnung in einem der ältesten Häuser der Via della Scala zu beziehen. Die beiden Mädchen hatten gute Nachbarschaft gehalten, obgleich Cherubina nie vergaß, daß der Umgang doch unter ihrem Stande war, denn die Teresa, Cesiras Mutter, die immer ohne Hut ging, mußte sich als Flicknähterin ihr Brot in fremden Häusern verdienen, und des Vaters Name wurde nie genannt, aber deshalb wußte ja doch alle Welt, daß er bei dem berüchtigten Bombenprozeß auf Lebenszeit in das Zuchthaus von Volterra gekommen war und dort Muße hatte, über die Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände mittelst Sprengstoffs nachzudenken. Dann hatte die Cesira einen Mann genommen, ein unverhofftes Glück, obwohl er nicht mehr jung und Witwer war. Aber nicht länger als ein Jahr hatte die Freude gedauert, da begann die Cesira zu husten und schwand ihrem Mann unter den Händen weg wie eine brennende Kerze. Auf der Brust war sie von jeher schwach gewesen, und die Ankunft des Kindes hatte ihrer Gesundheit einen Stoß gegeben, von dem sie sich nicht mehr erholte. Da brachte der brave Gioacchino die Cesira zu 179 ihrer Mutter zurück, denn er selber konnte sie nicht pflegen, weil er den ganzen Tag auf dem Kutschbock saß, und vor dem Spital fürchtete sich die Kranke so schrecklich, daß sie lieber auf der Straße gestorben wäre.
In dieser schweren Zeit da zeigte sich's denn, was es heißen will, Hausgenossen zu haben, wie die Cherubina und ihre Mutter. Die beiden thaten für die Unglückliche, was das Evangelium vorschreibt, und sie hatten manche Nacht am Bette Cesiras gewacht, wenn die Teresa vor Erschöpfung sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, und die arme Schwindsüchtige an ihrem Husten zu ersticken glaubte. Das waren schwere Stunden gewesen: so oft die Cesira einen Männertritt auf der Treppe vernahm, klammerte sie sich mit ihren mageren Händen am Bettrand fest und jammerte, daß sie nicht im Spital sterben wolle. Sie werde ihnen ja gewiß die Pflege lohnen, denn sie wolle den lieben Gott im Himmel um ein Terno für ihre Mutter bitten, und die Hälfte davon solle die Cherubina für ihre Aussteuer haben. Dann weinte sie wieder und zählte die Tage bis Weihnachten und flehte, der liebe Gott möchte sie doch nicht vor dem Christfest sterben lassen, obgleich die Kapaunen in Reis, die an diesem Tag auch bei der Teresa nicht fehlten, für ihren armen Magen schon viel zu schwer waren.
Aber nicht immer war sie so traurig, oft faßte sie wieder Lebensmut, besonders wenn sie mit 180 Cherubina von dem schönen, dunkelblauen Kaschmir sprach, den ihr Gioacchino zum Namenstag gekauft hatte und den sie noch hoffte, im Mai bei den Pferderennen in den Cascinen zu tragen. Mit der Cherubina, die das Kleid zu machen bekam, besprach sie noch Schnitt, Ausputz und alles: einen breiten, blauen Plüschstreifen auf den Rock, Aermel und Kragen von Plüsch wollte sie haben, und es sollte nach Gioacchinos Willen an nichts gespart werden. Zuweilen sprachen sie auch von dem Kleinen, der bei einer Amme auf dem Lande war und den die Mutter seit seiner Geburt nicht mehr gesehen hatte: ein armseliges, schwächliches Ding war es gewesen und es wäre ihm zu gönnen, daß der Himmel das arme Waislein zu sich nähme, ehe es mutterlos in die Welt hinausgestoßen würde.
Mitunter hatte die Sterbende ihre großen, schwarzumränderten Augen ängstlich auf Cherubina geheftet und gefragt: »Wirst du zu mir kommen, wenn ich tot bin?« – aber Cherubina hatte mit Schaudern geantwortet: »Ach nein, du weißt ja, daß ich mich vor den Toten fürchte, nicht um tausend Franken ginge ich in ein Zimmer, wo eine Leiche liegt.« – Dann wie der Winter vorschritt, war es schlimmer und schlimmer mit ihr geworden und als Weihnachten herannahte, sah man, daß die Cesira nur noch wenige Tage vor sich hatte.
Und nun die Not, bis sie sich glücklich dahin bringen ließ, die Sakramente zu nehmen, sie wollte nicht sterben, sie sei noch lange nicht so weit.
181 »Was, sterben? was fällt dir ein?« sagte der Priester. »Du bist jung, du kannst wieder gesund werden. Nimm den Heiland in dich auf, so kann dir die Gnade widerfahren.« –
So hatte man sie mühsam überredet. Sie erlebte noch die Weihnachtsfeiertage und als die vorüber waren, fing sie noch einmal an, wie sie schon als Kind zu thun pflegte, die Tage bis zum nächsten Christfest zu zählen, aber sie war schon so schwach, daß sie nicht mehr aufrecht im Bett sitzen konnte. Da mußte man ihr das neue Kleid über die Stuhllehne hängen, es war prachtvoll geraten, und die ganze Nachbarschaft kam es zu bewundern; sie winkte ihren Mann zu sich ans Bett und sagte mit schwacher Stimme:
»Ich hab' es lebend nicht tragen dürfen, laß es mich im Sarge tragen.« –
Und Gioacchino hatte unter Thränen »Ja« genickt und ihr seine Hand darauf gegeben. Dann war sie so sachte und allmählich in der Sylvesternacht ausgelöscht, daß man nicht wußte, ob sie das neue Jahr noch erlebt hatte oder mit den letzten Atemzügen des alten entschlummert war. Und Gioacchino hatte sein Wort gehalten. Cherubina war zwar nicht dabei gewesen, als sie die Cesira zu ihrem letzten Feste ausputzten, aber die Mutter hatte ihr nachher alles erzählt, wie man die arme Tote in den engen Leib gepreßt hatte und ihr auch die neuen Schuhe und die durchbrochenen Strümpfe angezogen, und wie die Wangen viel zu blaß waren 182 für das leuchtende, blaue Kleid, so daß eine Nachbarin lief und ein wenig rote Schminke brachte, worauf sie dann rosig unter all den Kerzen aufblühte wie eine Braut. Und als sie schon im Sarge lag mit der halben Guirlande um den blonden Kopf, – denn die ganze Guirlande, die bis zu den Füßen reicht, dürfen nur die Mädchen tragen – da hatte Gioacchino sich eine Schere geben lassen und hatte lautschluchzend drei oder vier Schnitte in das neue Kleid gemacht, – die Cherubina überlief es kalt bei der Vorstellung, – mitten durch den wundervollen Plüschbesatz hindurch, denn man konnte ja nicht wissen – da oben in Trespiano wird so viel gestohlen, und die arme Tote sollte im Besitz ihres neuen Kleides nicht gestört werden. Dann am Abend waren die weißen Kuttenträger gekommen und hatten sie auf dieser Treppe hinunter getragen, an der die Cherubina von da an nur noch mit abgewandtem Gesicht vorüberging. Im Dunkeln mochte sie den Gang schon gar nicht mehr betreten, und ihr Arbeitstisch mußte in den langen Stunden, wo sie allein zu Hause saß, immer so stehen, daß sie die Thür nicht im Auge hatte. Sonst war die Straßenbahn, die alle zehn Minuten vorüberfuhr, ihr Trost gewesen, denn das Gepfeife und Gerassel war gewiß dazu angethan, Geister zu bannen, aber bei der Totenstille, die heute über der Straße lag, war ihr schrecklich unheimlich, gerade wieder so unheimlich, wie in der ersten Zeit, nachdem man ihren Vater hinausgetragen, in dessen 183 Zimmer sie so lange den Fuß nicht mehr zu setzen gewagt hatte.
Wie, wenn es nun der Cesira einfiel wiederzukommen, wie sie so oft angekündigt? Daß sie den Weg noch kannte, hatte sie in verflossener Nacht bewiesen. –
Eben als Cherubina dieses dachte, traf sie von hinten her ein kalter Luftzug in den Nacken, die Thür war aufgegangen, und das Mädchen fuhr mit einem Schrei nach dem Fenster. »Hasenfuß!« sagte eine freundliche Stimme, und neben der Gestalt, die sich jetzt zu der weitgeöffneten Thür hereinschob, konnte keine Gespensterfurcht mehr aufkommen. Eine kleine, runde Frau mit vor Kälte rotem Gesicht kam zum Vorschein und wehrte das Mädchen, das ihr entgegenflog, so vorsichtig von sich ab, als ob sie von Glas wäre.
»Du hast dich wieder gefürchtet, Gänschen! Wirst du denn nie gescheiter werden?« sagte sie mit einer wohllautenden Stimme, und begann sich langsam aus einem weiten Mantel und dunkeln Umschlagetuch loszuschälen.
»O Mama, wie spät Sie heute kommen!« klagte Cherubina.
Dieses »Sie«, das sie sich von den Kindern geben ließ, und eine tadellos reine Aussprache waren so ziemlich das einzige, was die Signora Palmira Pampaloni, Witwe des einstigen Zollbeamten, aus früheren, besseren Verhältnissen gerettet hatte.
184 »So zünde doch die Lampe an,« sagte sie jetzt, indem sie ein paar Schneeflocken aus ihrem Umhang schüttelte und diesen über einer Stuhllehne glatt strich.
Cherubina entfernte sich und kam nach wenigen Sekunden mit der angezündeten Petroleumlampe zurück, die sie behutsam auf den Tisch stellte, und sagte dabei, wie es Brauch ist: »Guten Abend!«
Die kleine Frau stand jetzt mit weit abstehenden Röcken mitten im Zimmer und nestelte mit noch steifen Fingern an ihrer Unterkleidung, wobei Cherubina ihr behilflich sein wollte, jedoch die Mutter erlaubte es nicht. Sie war endlich einer Taschenöffnung im Unterrock habhaft geworden und begab sich breitspurig nach der anstoßenden Küche, wo sie sorgfältig auszupacken begann. Zuerst zog sie einen winzigen strohumbundenen Fiaschetto mit goldglänzender Flüssigkeit hervor und untersuchte beim Schein der offen bleibenden Thür den Papierstöpsel, um sich zu überzeugen, daß nichts von dem feinen Luccheseröl ausgelaufen sei. Dann konnte man hören, wie sie ein paar Hände voll Kohlen unter den Herd warf. Eine kurze, dicke Stearinkerze war durch die Gesellschaft der Kohlen ein wenig beschmutzt und mußte mit einem Läppchen gereinigt werden. Die Tasche des Oberkleids, die gleichfalls in der halbdunklen Küche entleert wurde, enthielt ein Ei, ein Stück Papier mit etwas Butter und ein längliches Päckchen, das die Frau fast zärtlich streichelte und rasch beiseite legte. Dann 185 stülpte sie die Tasche vollends auf den Küchentisch um und schob die herausgefallenen starkduftenden Kaffeebohnen auf ein Häufchen. Als sie nun in die Stube zurückkehrte, um den inzwischen abgestreiften guten Rock in den Schrank zu hängen, sah sie um ein bedeutendes schlanker aus.
Alsdann band sie auf dem großen Tisch des Wohnzimmers gemütsruhig ein znsammengeknüpftes buntes Taschentuch auf und brachte daraus die Reste einer Mittagsmahlzeit, ein paar Zeuglappen, die ihr beim Kehren in die Hände gefallen waren, nebst ihren eigenen Einkäufen zum Vorschein. Dies war sozusagen der rechtmäßige Teil ihrer Ladung, der vor den Augen der Tochter geborgen werden konnte, wogegen sie nie ohne eine Regung von Unbehagen ihre Kontrebande in Cherubinas Gegenwart auslud.
Und doch war das Mädchen von lange her daran gewöhnt, die Mutter nicht mit leeren Taschen nach Hause kommen zu sehen, und hatte sich wohl überhaupt nie etwas dabei gedacht. Sucht doch auch der Vogel für seine Jungen Atzung, wo er sie findet. Und überdies, wozu hat der liebe Gott die Fremden erschaffen?
Es war ja gewiß nicht um die fünfzehn Lire monatlich, daß Palmira Pampaloni, Witwe eines Exbeamten, sich auf halben Dienst bei der deutschen Dame mit dem unaussprechlichen Namen und ihrem kranken Sohn auf dem Corso Vittorio Emmanuele verdungen hatte, so gut auch dieser Zuschuß ihren 186 kleinen Einnahmen zu statten kam. Wenn sie ihr Standesgefühl überwand und sich nun schon seit einer Reihe von Jahren zu allen feinen und groben Dienstleistungen bei der Signora Carolina bequemte – von morgens acht bis vier Uhr abends und oft noch länger –, so war es, weil in einem Haushalt bei Fremden, wäre er auch noch so bescheiden, gar manches für den eigenen abfällt, und die Pampaloni hatte außer der Cherubina noch für zwei andere Kinder zu sorgen, für Pietro, den Aeltesten, der ein geschickter Marmorarbeiter war und nur zum Nachtessen und Schlafen nach Hause kam, und für den guten, fleißigen Rafaellino, den sie ihr in diesem Frühjahr unter die Soldaten gesteckt hatten. Und für ihre Kinder hätte die Pampaloni auch das Uebermenschliche gethan; nur vor zwei äußersten Schritten bebte sie zurück: dem Tragen des Marktkorbes und dem Ausgehen ohne Hut, denn dadurch wäre sie nicht nur ihres Standes verlustig gegangen, sondern hätte auch die Zukunft ihrer Kinder gefährdet. Deshalb hielt sich die Pampaloni aus eigenen Mitteln einen kleinen Jungen aus der Nachbarschaft, der für einen Soldo täglich die schweren Einkäufe nach Hause trug, und daß sie sich für diese Ausgabe bei der Verrechnung schadlos hielt, wird ihr kein vernünftiger Mensch übel nehmen. Im übrigen versah sie ihren Dienst trefflich und hatte von der dankbaren Herrin dafür noch die Erlaubnis erhalten, alle Speisereste und sonstigen Abfall in dem bewußten Tüchlein nach 187 Hause zu tragen. Von dem Dasein und Inhalt der beiden tiefen Taschen dagegen brauchte die Signora Carolina nichts zu wissen.
Nachdem sie sich die steifen Finger an dem Kohlenbecken ein wenig gewärmt hatte, kehrte die gute Frau in die Küche zurück, blies das unter der Asche glimmende Kohlenfeuer wieder an und wedelte eifrig mit dem großen Strohfächer.
Cherubina schloß unterdessen die Nähmaschine und setzte sich mit einem zusammengehefteten Aermel an den Tisch zur Lampe, wobei sie das Kohlenbecken wieder unter ihren Stuhl stellte. Ihre Gespensterfurcht war jetzt ganz von ihr gewichen und das Behagen wuchs noch, als bald darauf der angenehme Geruch geschmorter Zwiebeln aus der halboffenen Küchenthüre hereindrang.
Während das Essen sich selber vollends fertig kochte, saß Palmira in wohligem Ausruhen bei der Tochter am Tische und weil sie sich doch immer etwas zu thun machen mußte, trennte sie mit einem kleinen Scherchen das gestickte Monogramm aus einer feinen Damastserviette. Es ist unnötig zu sagen, daß diese Serviette, ein schätzbarer Beitrag zu Cherubinas Aussteuer, gleichfalls aus dem Haushalt der deutschen Dame stammte. Freilich war es keiner von den Gegenständen, die Palmira beim Fortgehen vor den Augen der Signora Carolina in ihr Tüchlein band. Wer nun aber glauben würde, die Palmira habe sich durch ihre mütterliche Zärtlichkeit hinreißen lassen, in einem 188 unbewachten Augenblick dieses Stück aus dem Weißzeugschrank ihrer Herrin zu nehmen und in einer ihrer tiefen Taschen nach Hause zu tragen, der würde dadurch beweisen, daß er die Frau Palmira und ihre Ehrbegriffe wenig kannte. War sie auch durch harte Schicksale zum Dienen herabgewürdigt worden, so hatte sie doch ihr Zartgefühl zu bewahren gewußt und sie unterschied sehr genau, bis wie weit es zulässig ist, sich fremdes Gut anzueignen und wo das Unehrenhafte solcher Handlungsweise beginnt. Soweit die Dinge eßbar waren oder sonst einem unmittelbaren Bedürfnis dienten, sah sie kein Unrecht darin, von dem Ueberfluß anderer Gebrauch zu machen. Ein Ei, etwas Oel, eine Hand voll Kohlen, das konnte ja Signora Carolina gar nicht spüren; auch eine Cigarre dann und wann, wenn sie gerade offen herumlagen, war noch erlaubt, – ihr Pietro verstand sich so gut auf feine Cigarren, und es waren ja doch geschmuggelte. Hatte sie je einmal zu tief in die Vorräte ihrer Dame gegriffen und fühlte sich etwas schwül im Gewissen, so brachte sie am andern Morgen dem kranken Signorino eine köstlich erblühte, wie aus Wachs modellierte Kamelie oder eine Handvoll duftender Nelken mit, die ihr Neffe, der Gärtnergehilfe, heimlich in den Treibhäusern seiner Herrschaft abschnitt, – und das Gleichgewicht war wieder hergestellt. Daß sie von allen Einkäufen ihre Prozente hatte, versteht sich von selbst und hieß nur ein Versehen der Weltordnung 189 im allerbescheidensten Maße ausgleichen. Aber diese Grenze hätte sie nicht überschritten und wäre ihr die königliche Schatzkammer offen gestanden.
O, die Frau Palmira hatte feste Grundsätze, und sie bedurfte ihrer auch, denn täglich trat wenigstens ein- oder zweimal die Versuchung an sie heran in Gestalt einer gewissen rotbraunen Lederbörse, welche Signora Carolina beständig zu verlegen pflegte, und welche die Palmira ihr jeden Tag suchen helfen mußte und auch gewöhnlich an irgend einem unerwarteten Ort, zwischen den Betttüchern oder unter einem Möbel zum Vorschein brachte. Aber in den sechs Jahren, daß sie ihr diente, hatte der Signora noch niemals auch nur ein Soldo aus der rotbraunen Börse gefehlt. Ja was das siebente Gebot betrifft, so konnte Palmira Pampaloni einmal am Tage der Abrechnung ihrem Schöpfer ruhig in die Augen blicken.
Zu der Serviette nun war sie auf die einfachste Weise von der Welt gekommen. Da sie für die Signora Carolina auch die Wäsche besorgte, – und durch bessere Behandlung hatte sie ihr das feine Linnen so geschont, daß es viele Jahre länger vorhielt, als unter anderen Händen – so war es geschehen, daß sich die Signora am letzten Montag verzählt und ihr eine Serviette mitgegeben hatte, die nicht auf dem Wäschezettel stand. Die Serviette war ihr also ohne ihr Zuthun zugefallen, und sie konnte sie mit um so besserem Gewissen zurückbehalten, als sie ja auch das Waschen für 190 dieses Stück der Signora Carolina nicht in Rechnung brachte. Dieser friedliche Gedankengang malte sich in einem behaglichen Lächeln auf dem runden Antlitz der guten Frau Pampaloni.
Die Tochter machte sich ganz nahe an sie heran und sagte:
»Bleiben Sie heute vollends zu Haus, Mama?«
»Ich werde doch bei der Hundekälte nicht spazieren gehen. Aber warum fragst du?«
Cherubina sah sich im Zimmer um, drückte sich noch näher an die Mutter und antwortete:
»Ich möchte Ihnen was erzählen, aber ich muß gewiß sein, daß Sie mich nicht mehr allein lassen, es ist so schauerlich.«
»Erzähl' nur, Hasenfuß.«
»Sie wissen doch, daß die Teresa vorletzten Sonntag in Trespiano oben war, um sich die Nummer und das Maß vom Grab der Cesira zu holen?«
»Natürlich weiß ich's, Pietro hat ja das Marmorkreuz schon in Arbeit genommen.«
»Nun, auf dem Heimweg – sie hat mir's nach der Hand erzählt – wollten ihr die beiden Zahlen gar nicht mehr aus dem Kopf und sie mußte sich immer fragen: Sind nicht das am Ende die Nummern, die mir die Cesira versprochen hat? – Na, wenn's nichts nützt, so schadet's nichts, denkt sie, und trägt einen halben Franken ins Lotto. Der Frank war denn auch richtig verloren.«
191 Die Pampaloni nickte mit überlegenem Lächeln vor sich hin.
»Die nächste Woche wollte sie noch einmal spielen, denn die Zahlen gingen ihr noch immer im Kopfe herum. Aber da kam die Not dazwischen mit dem armen Wurm, dem Kind der Cesira, das der liebe Gott in seiner Barmherzigkeit zu sich nahm, und über all dem Geläuf aufs Municipium und dem vielen Stempelpapier, was die Herren vollschmierten, – denn Gioacchino ließ sie ja wie immer alles allein besorgen – vergaß die Teresa abermals zu setzen, was denn auch kein Schade war, denn die Nummern kamen ja doch nicht heraus.«
»Wohl, wohl,« sagte die Mutter.
»In der letzten Nacht nun,« fuhr das Mädchen mit gedämpfter Stimme fort, »wie die Teresa so daliegt und schläft – ach Mutter, hören Sie nicht, wie das schlürft auf dem Gang?«
»Mäuse sind's,« sagte die Pampaloni gleichmütig.
»Ja also,« hub Cherubina zaghaft wieder an, »die Teresa lag in tiefem Schlaf, da ging mit eins die Thüre auf, und herein kam die Cesira, ganz und leibhaftig, wie sie im Leben ausgesehen, und war nichts Fremdes noch Unheimliches an ihr wahrzunehmen. Ihr Kind hatte sie auf dem Arm, das lag, als ob es schliefe.«
»›Bist du es, Cesira?‹ sagt die Teresa und sitzt im Bette aufgerichtet. ›Ja, wie geht dir's denn, daß du so lange fortgeblieben bist?‹«
192 »›Gut,‹ antwortete die Cesira mit ihrer freundlichen Stimme. ›Da siehst du, daß ich mir mein Kind doch geholt habe.‹«
»›O so komm' doch näher, daß ich dich umarmen kann,‹ flehte die Mutter, und streckte die Arme nach dem Scheinbild aus.«
»Aber dieses wich weit zurück und sagte:«
»›Laß mich, Mutter, du weckst mir sonst das Kleine auf; sieh' nur, wie schön es schläft,‹ dann fuhr sie fort:«
»›Hör' wohl auf das, was ich dir sage. Ich bin gekommen, um mein Versprechen wahr zu machen. Zwei hast du schon und fünfundzwanzig lege ich dir hier auf die Schulter.‹ Dabei näherte sie sich dem Bette, berührte mit dem Finger die Schulter der Teresa, die kein Glied rühren konnte, und fing an langsam abzuzählen, bis sie auf fünfundzwanzig gekommen war. Dann ging sie auf die Thüre zu und sagte noch von der Schwelle zurück:«
»›Vergiß es nicht und denk' auch an das, was ich der Cherubina versprochen habe.‹ – Denken Sie, Mutter, das sagte sie klar und deutlich mit diesen Worten: ›Denk auch an das, was ich der Cherubina versprochen habe.‹«
Der guten Frau Pampaloni war die Serviette entfallen, und sie staunte mit offenem Mund.
»Nun und dann?« fragte sie nach Luft schnappend.
»Ja, dann war die Teresa wie gelähmt in ihrem Bette liegen geblieben, und erst als es acht 193 Uhr schlug, kam sie wieder zu sich und merkte, daß sie doch wohl geschlafen und geträumt hatte, denn sonst würde sie nicht die Aufstehenszeit verpaßt haben; Sie wissen ja, wie pünktlich die Teresa auf dem Platz ist. Sie konnte noch eine ganze Weile den Weg nicht in ihre Röcke finden, und als sie schließlich herunter kam, sah sie so weiß aus wie diese Serviette und wankte herum, als wäre sie noch immer im Traum. Sie waren schon lange fort, Mama, und wir redeten zusammen von dem Traum oder der Erscheinung und was die Cesira wohl habe sagen wollen. Aber die Teresa meint, da könne gar kein Zweifel sein: ›Zwei hast du schon,‹ das bedeute die beiden Nummern, die sie schon vordem im Kopfe gehabt, und fünfundzwanzig hat ihr die Cesira auf die Schulter abgezählt, langsam und deutlich, damit die Zahl ihr im Gedächtnis bleibe, und das, sagt die Teresa, gebe gerade ein Terno. Aber Pietro, der dazu kam, lachte uns aus, Sie wissen ja, Mutter, was er für ein Freigeist ist, und er sagte wieder solche Sprüche, wie: ›Ach was, Träume sind Schäume‹ und ›Der Zufall regiert die Welt‹ und ›Glaubt ihr denn, ihr dummen Weiber, der liebe Gott, wenn es einen gibt, habe nichts besseres zu thun, als euch Lottonummern zu schicken?‹ und was so seine Spöttereien sind, aber am End' versprach er doch den Einsatz für die Teresa zu besorgen, denn die hätte nicht gewußt, wo aus und ein, und hatte es auch eilig, auf ihren Platz zu kommen. Aber 194 denken Sie, Mutter, so fest glaubt sie an die Nummern, daß sie ihm zwei Franken zu setzen gab, beide auf Terno und wenn sie gewinnt, so ist mein die Hälfte.«
»Weißt du die Nummern noch?« fragte die Mutter eilig. »Ich lauf' schnell ans nächste Lottobureau, und sehe, ob sie heraus sind.« –
»Dann geh' ich auch mit,« rief Cherubina und sprang nach Hut und Mantel. »Allein bleibe ich hier um keinen Preis.«
Noch während sie redeten, war von der Straße her ein Summen und Schwirren von vielen streitenden Stimmen gedrungen, aber von den Frauen nicht beachtet worden. Jetzt wälzte sich der Lärm ganz nah', die Nachbarn rissen Thüren und Fenster auf, man vernahm fragende, klagende, tröstende Stimmen und dazwischendurch ein Gebrüll und ein Gewinsel wie von einem verwundeten Tier.
Mutter und Tochter sahen sich erblassend an und eilten ans Fenster. Draußen war es stichdunkel, aber so viel ließ sich doch erkennen, daß der Auflauf sich durch den tiefen Schnee auf ihr Haus zu bewegte, und daß die Leute eine jammernde, lautschreiende Frau in ihrer Mitte führten.
»Was mag der Teresa zugestoßen sein?« sagte die Cherubina, der gleich eine Ahnung durch das Herz zuckte, und öffnete die Thüre, denn schon strömte die Menge – Männer, Frauen, Kinder – in den Hausflur herein, und voraus schwankte, 195 von dem kräftigen Arm einer Wache gehalten, die Teresa, die mit lautem Geschrei die Luft zerriß.
Sie wurde auf einen Stuhl niedergelassen, wo sie wie eine Erstickende nach Atem rang. Viele von den Leuten waren nachgedrungen und umstanden sie mit lärmenden Aeußerungen der Teilnahme, unter den Vordersten erblickte Palmira ihren Pietro, der sich von der Menge widerwillig hatte über die Schwelle schieben lassen und jetzt halb trotzig, halb bestürzt an der Kommode lehnte. Die andern, durch die achtunggebietende Gegenwart der Wache zurückgehalten, drängten sich vor der offengebliebenen Thür und redeten alle laut durcheinander. Am wildesten geberdete sich Gioacchino, der neben der Teresa stand. Er schüttelte die Arme gegen Pietro und ließ ein ganzes Arsenal von Schimpfwörtern los, daß man hätte glauben können, sämtliche florentiner Droschkenkutscher seien in seiner Person beisammen. Pietro ließ stumm und verbissen alles über sich ergehen, nur als die Worte »Dieb« und »Beutelschneider« fielen, machte er mit erhobenem Arm einen halben Schritt, wurde aber gleich durch eine Bewegung der Wache wieder zur Ruhe gebracht. Die kleine, tapfere Frau Pampaloni dagegen sprang entrüstet auf Gioacchino zu und schüttelte seinen Arm; sie lasse sich ihren Sohn nicht schlecht machen und noch dazu im eigenen Haus, er solle sich anständig melden, wenn Pietro ihm was schuldig sei, und im übrigen – dort sei die Thür.
196 Gioacchino wollte antworten, berichten, aber die Nachbarn rissen ihm das Wort vom Munde, alle redeten gleichzeitig auf die Frau Palmira ein. Doch diese hatte kaum die ersten Worte gehört, als sie die Hände vors Gesicht schlug und mit einem dumpfen Laut an die Wand sank.
»Kurz nach vier Uhr wars,« erzählte Gioacchino, »da kam die Teresa außer Atem auf die Piazza Santa Maria Novella gerannt, wo ich Station habe, und schreit mir schon von weitem zu, sie habe ein Terno gewonnen. Meine erste Frage war nach dem Schein, denn ich hatte gleich so eine Ahnung, daß nicht alles in Ordnung sei. Sie habe ihn nicht, antwortet sie, der Herr Pietro habe ihr die Besorgung gemacht. – Accidente! schrei ich und herunter vom Bock, und Wagen und Pferd im Stich gelassen –«
»Dafür sollet Ihr in Strafe kommen,« brummte die Wache – »aber ich hab's ja nicht gesehen.«
»So rennen wir zusammen nach der Rotonda,« fuhr Gioacchino fort, »und unterwegs schwatzt mir die Teresa den Kopf voll, was sie alles mit dem Geld anfangen wolle, und wenig fehlte, so hätte sie gesagt: ›Wie viel Schulden hat der italienische Staat? – Ich kann sie bezahlen.‹ – Aber in der Werkstätte war er nicht, und wo denkt ihr, daß wir den saubern Herrn schließlich fanden? Drüben am Lungarno stand er unter einem ganzen Rudel Gassenjungen, da hatte er aus Schnee das Standbild des Ministerpräsidenten gemacht in Lebensgröße und 197 ihm eine der neuen Regie-Cigarren in den Mund gesteckt. Danach warf die ganze Bande mit Schneeballen und schrie: ›Wohl bekomms!‹ – He, Wache, ist das nicht etwa auch strafbar, den Ministerpräsidenten mit Schneeballen – he?«
»Von Schneeballen steht nichts in meiner Instruktion,« murmelte die wohlwollende Wache.
»Es war gewiß das erste Mal, daß Herr Crispi seine eigenen Cigarren rauchte,« meinte einer aus dem Haufen, und bei dieser Anspielung auf die öffentliche Kalamität des Tabakwesens fingen alle Anwesenden zu lachen an.
»Ich also eile auf ihn zu,« fuhr Gioacchino fort, »und sage ganz höflich: ›Herr Pietro, geben Sie uns gütigst den Schein.‹ ›Welchen Schein?‹ antwortet er ganz fremd, ›ich weiß von keinem Schein‹ und will wieder zielen, da fasse ich ihn am Arm, und schreie ihm in die Ohren: ›Den Empfangsschein vom Lotto! Wo haben Sie ihn? Heraus damit! Die Teresa hat gewonnen!‹ Er aber, der Freche, stößt mich vor die Brust und schreit: ›Laßt mich in Frieden mit Euren Narreteien, ich weiß von keinem Schein!‹ und die andern fallen auch ein und sagen ihm: ›Geben Sie den Empfangsschein, Sie hören ja, die gute Frau hier hat gewonnen.‹ Da stellt er sich noch, als ob ihm jetzt erst ein Licht aufginge, greift sich an den Kopf und murmelt: ›Ich habe ja gar nicht gesetzt, ich hab's vergessen.‹«
Was weiter geschehen war, das erzählte die Wache, 198 welche Pietro unter den Fäusten des herkulischen Kutschers weggerissen hatte. Jetzt fuhr die Teresa, die bisher wie stumpfsinnig vor sich hingestarrt und nur leise gewimmert hatte, plötzlich wie eine Rasende in die Höhe, schlug sich mit beiden Fäusten wiederholt vor die Stirn unter tierischem, ganz unartikuliertem Schreien und ruhte nicht eher mit Toben und Wüten, als bis sie, Schaum vor dem Mund, zusammenbrach.
Pietro hatte noch dazu gelogen, als er seine Versäumnis mit Vergeßlichkeit zu entschuldigen suchte. Es war sein unverantwortlicher Leichtsinn und weil er keinen Glauben hatte, – nicht einmal an das Traumbuch, von der Kirche ganz zu schweigen, sagten die Betschwestern in der Nachbarschaft. Er war gewohnt, die Achsel zu zucken, wenn die Rede auf übernatürliche Dinge kam, und hatte die Teresa von Anfang an über ihren Wahn, daß ihre Tochter aus dem fabelhaften Jenseits wiederkehren und ihr ein Terno bringen werde, verspottet. Als er nun aus seiner Werkstätte in der Rotonda nach dem nahen Café Svizzero zum Frühstück ging, wollte er allerdings noch die paar Schritte zum nächsten Lottobureau machen, um der Teresa den Gefallen zu thun, obwohl das Geld nach seiner Meinung weggeworfen war. Doch da sah er drinnen zwei andere Marmorarbeiter mit dem schönen Oreste sitzen, einem liederlichen Kerl, der aber durch Modellstehen schweres Geld verdiente, und die drei riefen 199 ihn zu einer Partie Briscola herein. Die Karten waren von jeher Pietros Leidenschaft gewesen, er konnte der Lockung nicht widerstehen und hatte dann richtig in Zeit einer halben Stunde die beiden Franken der Teresa verspielt.
Dies war der erste Schritt auf der Bahn des Verderbens. Von nun an hatte Pietro keine gute Stunde mehr im Haus. So oft ihm die Teresa im Flur begegnete, spuckte sie vor ihm aus, denn Gioacchino nährte in ihr den ungereimten Verdacht, daß Pietro den Schein unterschlagen und den Gewinnst für sich selbst erhoben habe. Seine Schwester, die sich mit geschädigt fühlte, ging stumm und blaß wie der fleischgewordene Vorwurf an ihm vorbei und richtete das Wort nicht mehr an ihn, nur die Mutter fand, daß man ihrem armen Pietro Unrecht thue, denn das Schicksal habe es einmal nicht anders gewollt. Daher warf sie einen stillen Haß auf die Teresa, deren verdächtigende Reden ihr hinterbracht wurden, und eines Abends, als sie ihr unter der Hausthür begegnete, stellte sie sich breit vor die einstige Freundin hin.
»Wenn Ihr Euch noch einmal einfallen laßt, meinen Pietro einen Dieb zu schimpfen, so gehe ich auf die Quästur, das merkt Euch. Die zwei Franken, die Ihr ihm gabt, habt Ihr zurückbekommen, und weiter ist er Euch nichts schuldig.«
»Ja, Ihr habt das Früchtchen so weit gebracht mit Eurem Verhätscheln,« antwortete die Teresa, die jetzt auch giftig wurde.
200 »Oho, Ihr solltet nicht so aufbegehren, er hat die Sonne wenigstens noch nicht in Würfeln gesehen, wie gewisse Leute,« gab die Pampaloni zurück, wobei sie auf die vergitterten Fenster der Züchtlingszellen anspielte.
»Ha, es sitzen nicht alle fest, die nicht sauber sind unterm Brusttuch. Mein Mann hat wenigstens keine Staatsgelder veruntreut, er leidet für seine liberalen Ansichten.«
»Was wollt Ihr sagen mit den Staatsgeldern?« rief Frau Palmira mit zornfunkelnden Augen und trat hart auf die Teresa zu, die sich die Treppe hinauf zurückzog und noch herunter rief:
»Genug, ich weiß, was ich sagen will, und andre Leute wissen's auch.«
»Puh, ich habe Mitleid mit Eurem schwachen Kopf, sonst würde ich anders mit Euch reden,« rief die Pampaloni ihrer Gegnerin die Treppe hinauf mit verächtlicher Geberde nach.
Aber als sie ihr Zimmer erreicht hatte, da verlangte die Natur ihre Rechte, und Frau Pampaloni fiel in den Armen ihrer Tochter in einen Nervenkrampf.
Das hatte sie nun davon, sie, eine Beamtenwitwe, daß sie unter ihren Stand herabgestiegen war und sich freundnachbarlich mit einer so geringen Person abgegeben hatte.
Das war der Dank für die durchwachten Nächte und für die mancherlei guten Bissen aus dem Haushalt der Signora Carolina, die sie der kranken 201 Cesira zugesteckt. Das Gedächtnis ihres verstorbenen Mannes anzugreifen, eine Familie zu verunglimpfen, in der strengste Ehrenhaftigkeit die Richtschnur alles Handelns war! Aber so geht's, wenn man sich mit ungebildeten Menschen einläßt, denn nicht umsonst sagt das Sprichwort: »Am rußigen Kessel wird man schwarz« und »Schuster bleib bei deinem Leisten.« – – Freilich wußte man ja, daß die Teresa da oben nicht mehr ganz richtig war, seitdem sie sich den Kopf so acht- bis neunmal nacheinander an die Wand gerannt hatte in ihrer Verzweiflung.
Das versäumte Terno bildete noch wochenlang den Lieblingsklatsch der Nachbarschaft, und jedermann schien dem armen Pietro aufsäßig geworden zu sein. Die alten Betschwestern ließen ihn nie an ihren Thüren vorübergehen, ohne ihn mit anzüglichen Redensarten zu verfolgen:
»Nun, Herr Pietro, sagt Ihr noch immer ›Träume sind Schäume und der Zufall regiert die Welt‹?«
Nein, Pietro sagte es nicht mehr, jenes Ereignis hatte sein Gemüt verwandelt. Er wußte jetzt, daß man dem Zufall auch die Thüre öffnen kann, und wollte um jeden Preis das verscherzte Glück wieder einfangen. Schlafend und wachend träumte er nur von Nummern, er studierte die »Cabbala« oder das Traumbuch, und all sein Erwerb wanderte Woche für Woche ins Lotto. In jedem Ereignis suchte er ein Zeichen, alle auffallenden 202 Gegenstände übersetzte er an der Hand des Traumbuchs in die entsprechenden Nummern und spielte darauf. Wenn er auf der Straße einen Kapuziner sah, so bat er ihn um ein »Estratto« oder »Terno«, ging er zufällig an einem Blödsinnigen vorüber, so sagte er: »Da hast du einen Soldo, sag mir drei Zahlen.« Ja, er war so einfältig, daß er einem Betrüger aus Mailand auf den Leim ging, der unter dem Namen Frate Cabbalistico auf der vierten Seite des »Secolo« drei unfehlbare Lottonummern gegen Posteinzahlung von fünf Franken versprach. Aber die Glücksnummern lassen sich nicht erjagen, sie fallen dem Nichtsahnenden zu; deshalb schlenderte Pietro fleißig umher, damit das Glück auch Gelegenheit habe ihn zu treffen, falls es etwa draußen vorüberginge. Er hätte es jetzt schon für eine Sünde gehalten, sich jeden Morgen in aller Frühe in der Bildhauerwerkstätte einzustellen wegen der lumpigen sechs Franken im Tag. Was er zum Leben nötig hatte, fand er zu Hause bei der Mutter, die ihren Pietro doch nicht darben lassen konnte und die sich heimlich eine dritte Tasche ins Kleid nähte, um seinen Bedürfnissen zu genügen. Das Geld zum Spielen borgte er bald da bald dort, und am Samstag Abend, wenn die Nummern in allen Lottobureaus ausgestellt waren, spülte er seine Enttäuschung mit Wein hinunter, den er gleichfalls auf Borg bekam. Da war es sogar schon so weit gekommen, daß ihn die Schutzleute eines Abends in halb bewußtlosem Zustand nach Hause 203 brachten, und den Tag darauf hatte der Chronist des »Fieramosca« nichts Eiligeres zu thun, als seinen Lesern mitzuteilen, daß ein gewisser P. P., Sohn des verstorbenen L. P., wohnhaft in der Via della Scala, sich einen Rausch getrunken und den Vorübergehenden Aergernis gegeben habe. Es sei tief zu beklagen, daß solche Vorkommnisse im Lichte des neunzehnten Jahrhunderts und in Florenz, der Wiege der Gesittung, überhaupt noch möglich seien. Nach diesem Ereignis hatte sich die gute Frau Pampaloni mehrere Tage nicht mehr unter die Leute getraut, denn wenn der »Fieramosca« auch so rücksichtsvoll gewesen war, nur die Anfangsbuchstaben zu nennen, so wußte ja doch die ganze Stadt, daß ihr Pietro als Betrunkener in der Zeitung gestanden hatte. Ja, es war kein Zweifel mehr, seit jenem unseligen Terno war der gute Stern von ihrem Hause gewichen.
Doch es standen ihr noch andere Ueberraschungen bevor. In der untersten Schublade ihrer Kommode, deren Schlüssel schon lange abgebrochen war, lag ganz versteckt unter Cherubinas Aussteuerwäsche ein alter baumwollener Strumpf, der die Ersparnisse der Frau Pampaloni barg: was ihr die Signora Carolina an Weihnachten schenkte, was sie nach besonders glücklichen Marktgängen zurücklegte, überhaupt alles, was sie als Nebenerwerb betrachtete, pflegte sie in diesem Strumpfe aufzuheben. Cherubina trug ihr Erspartes auf die Post, die jährliche Interessen zahlt, aber die Mutter hatte keinen 204 Glauben an solche neumodischen Einrichtungen und besonders dem Staat traute sie nicht über die Straße, der hat ja doch nichts zu thun als armen Leuten das Geld aus der Tasche zu nehmen. Darum schien ihr der Schatz daheim bei weitem am sichersten. Jetzt mußte sie sich entschließen, den langverwahrten Notpfennig anzugreifen, denn seit Pietro nichts mehr verdienen mochte, guckte der Mangel zu allen Thüren herein, und jetzt, wo es in den Sommer ging und alle besseren Leute die in einen Siedekessel verwandelte Stadt verließen, war auch Cherubina meist ohne Beschäftigung.
Als sie die Schublade aufzog, fand sie den Inhalt – die mit rotem Band gebundenen Bett- und Tischtücher – durchwühlt, und der Strumpf war leer.
Die Kniee versagten ihr vor Schreck, aber sie war keinen Augenblick im Zweifel über den Thäter. Ebenso schnell war sie bei sich einig, daß kein Mensch von der Schande erfahren durfte, nicht einmal Cherubina, denn was man nicht weiß, ist ja so gut, als wäre es nicht geschehen. Aber ihm eindringlich ins Gewissen reden, das wollte sie. Doch sie wartete in jener Nacht vergeblich auf seine Rückkehr, und erst in der Frühe, als sie schon zum Ausgehen fertig war und eben noch in der Küche das Herdfeuer anblies, um den Kaffee zu wärmen, hörte sie, daß der Schlüssel in der Hausthür gedreht wurde, und herein schwankte Pietro, in dem fahlen Morgenlicht so blaß wie eine Leiche.
205 Die Mutter sah gleich, daß er nicht in der Verfassung war, eine Predigt anzuhören, sie führte ihn am Arm in seine Kammer, wo er vor ihren Blicken zusammenklappte wie ein Taschenmesser. Er hatte offenbar über Nacht stark getrunken, und die Aufregung war jetzt schon dem rührseligen Stadium gewichen. Er lag mit dem Kopf auf den Knieen der Mutter, während ihm lautes Schluchzen die Brust erschütterte wie einem Kind.
»Es ist nur um euretwillen,« heulte er, »euch wollte ich glücklich machen, Mutter, eure Achtung und Liebe wieder gewinnen – oh, oh – ich habe kein Glück – kein Glück« –
Er schluchzte fort, während seine Mutter ihn zu Bette schleppte, und fühlte sich ganz als Opfer seiner Kindesliebe.
Im Spätherbst sollte Cherubina Hochzeit halten. Die Nähmaschine rasselte den ganzen Tag hinter dem kleinen, niedrigen Fenster über der Straße, um noch das letzte Stück der Aussteuerwäsche fertig zu bringen. Antonio, der Bräutigam, erschien jeden Abend nach Schluß der Werkstätte, sein Sträußchen im Knopfloch, um in Gegenwart der Mutter einen anständigen Diskurs mit seiner Braut zu führen. Sie saßen auf Stühlen vor der Hausthüre und genossen die Abendschwüle. Der Bräutigam blies den beiden Frauen den Rauch seiner »Toscana« ins Gesicht und spuckte fleißig dazu aus, indem er von Zeit zu Zeit einen zärtlichen Blick oder Seufzer mit Cherubina tauschte. Die Mutter saß zwischen 206 den beiden, wie es der Brauch verlangt, und hielt das Gespräch in Gang, während ihre Gedanken in der Stille bei ihrem Pietro waren.
Dieser hatte sich in der letzten Zeit musterhaft betragen; die dicke Wachskerze, welche die Pampaloni am Tage nach jenem unliebsamen Auftritt der Santissima Annunziata brachte, war wahrlich nicht umsonst geopfert. Er arbeitete für einen fremden Bildhauer auf dem Viale mit großem Fleiß an einer Marmorgruppe, und sein neuer Brotherr hatte versprochen, ihn nächstes Jahr mit sich zu nehmen, weit fort an einen Ort mit unaussprechlichem Namen, der hoch oben im Norden lag und wo Pietro mit seiner Geschicklichkeit ein reicher Mann werden konnte.
Ueber diesen neuen Hoffnungen war das Lotto ganz in den Hintergrund getreten.
Da stellte sich eines Abends ein Mensch von herabgekommenem Aussehen und fremder Aussprache im Hause der Pampaloni ein und fragte nach ihrem Sohn. Die Frau, die gleich nichts Gutes ahnte, verweigerte die Auskunft, aber der Fremde wußte den Weg in das Atelier am englischen Friedhof zu finden, und am Abend, als es dunkelte, hängte er sich dem heimwärts schlendernden Pietro an. Dem erzählte er, daß er durch fortgesetztes Studium und Nachtwachen ein untrügliches »philosophisches System« entdeckt habe, mittelst dessen man in kurzer Zeit reich werden könne, und daß er zu Fuße damit vom Tessin herüber gewandert sei, weil ihm die unverständigen Gesetze der Schweiz 207 nicht gestatteten, seine Erfindung zu verwerten. Pietro, der sich immer gern an tönenden Worten berauschte, horchte schon bei dem »philosophischen System« hoch auf und verlor gleich den Kopf, als er hörte, daß es sich um eine aus den neunzig Nummern des Lotto gebildete Zahlenarabeske handelte, die in mehrmaligen Verschiebungen durchgespielt, am Ende einen ungeheuren Gewinnst ergeben mußte. Der Fremde kam eben von Neapel, wo er das Glück auf eigene Hand versucht hatte, aber in letzter Stunde waren ihm die Mittel ausgegangen, er konnte das Spiel nicht vollenden, da ihm niemand das Geld leihen wollte. Wut und Verzweiflung warfen ihn aufs Krankenlager, und als er nach Wochen das Spital verließ, war das neidische Glück an ihm vorübergeflogen und schlug ihm noch aus der Ferne ein Schnippchen, denn es wirbelte ihm in einem alten Zeitungsblatt den Beweis zu, daß seine Nummern in jener Unglückswoche wirklich herausgekommen waren. Er wickelte eine beschmutzte Nummer des Corriere di Napoli aus der Tasche, damit Pietro sich durch den Augenschein überzeugen könne. Dem war schon die Einbildungskraft mit der Vernunft davon gelaufen, und ehe sie die Porta San Gallo erreichten, hatte er sich mit Leib und Seele dem Tessiner verschrieben.
Als die Pampaloni ihren Sohn in Gesellschaft des Fremden vorübergehen sah und die Zahlen hörte, die zwischen beiden hin und herschwirrten, hatte sie ein Gefühl, als thue sich der Abgrund vor 208 ihr auf. Sie schlich den beiden heimlich bis zum Café Svizzero nach und sah drinnen ihren Pietro sitzen, der sich heftig das braune Haar zerwühlte und mit gerunzelter Stirn auf einen Papierfetzen starrte, den er eilig mit Zahlen vollschrieb, während der Fremde neben ihm mit beiden Ellbogen auf dem Tische lag und eine Schüssel Risotto auf Pietros Kosten mit solchem Ernst und Eifer hinunterwürgte, als käme er aus einer belagerten Stadt. Ein Fiasco Rotwein stand zwischen ihnen, und Pietro führte zuweilen wie im Traume sein Glas zum Mund, dann krallte er die Finger wieder in das braune Kraushaar, und dicke Schweißtropfen fielen auf das Papier, das er anstarrte, als habe er einen Feind vor sich. Der falsche Brillant an seiner zuckenden Hand schoß blaue Strahlen, die sich der armen Mutter wie Dolche ins Herz bohrten. Hätte sie mehr Phantasie besessen, so würde sie den Versucher an seiner Seite mit dem buschigen, roten Haar für die leibhaftige Verkörperung des Bösen angesehen haben, doch für eine solche Vorstellung war ihre Sinnesart zu nüchtern. Aber ihre Lippen bewegten sich wie von selbst und, als ob ein Unglücksvogel aus ihr spreche, mußte sie immerfort leise vor sich hinsagen: »das nimmt ein böses Ende.«
Als Pietro nach Hause kam, gab es eine Scene. Aber diesmal kroch der Sohn nicht wie sonst unter Versprechungen, die er nicht halten konnte, zu Kreuz, sondern er setzte den Vorstellungen seiner Mutter eine ihm sonst unbekannte, sanfte Festigkeit entgegen. 209 Er ließ sich sogar herbei, ihr das untrügliche philosophische System des Fremden zu erklären, aber was verstehen Frauen von Philosophie?
Die Pampaloni wiederholte nur immer flehentlich aber mit dummer Hartnäckigkeit: »Ach Pietro, Pietro, denk an dein Versprechen,« bis der Sohn die Geduld verlor und mit der Faust auf den Tisch schlug:
»Ich habe nie versprochen, mein Geld nicht in Zins zu geben.«
Da dachte die Mutter einen letzten Trumpf auszuspielen, sie trat dicht vor Pietro hin, sah ihm starr in die Augen und sagte bedeutsam:
»Hast du schon vergessen, wohin dich deine Spielwut geführt hat?«
Aber der Vorwurf wirkte nicht, Pietro schlug ein höhnisches Gelächter auf und antwortete:
»Mutter, seien Sie nicht zu streng. Woher kommen denn die Cigarren, die ich jeden Tag auf meinem Nachttischchen finde?«
Die Mutter schlug beide Hände vors Gesicht und sank in einen Stuhl.
»O Pietro – ist das der Dank? – Ich that es um deinetwillen« –
»Gut, und ich thue es um euretwillen,« war Pietros ungeduldige Antwort, »mag ein Hund so länger im Taglohn arbeiten, und sich von den Abfällen fremder Herrschaften nähren. Ich will mich und euch reich machen – ja, das will ich.«
Unaussprechliche Gedanken drängten sich im Geiste 210 der Mutter, aber sie rangen sich nicht zur Klarheit durch; Pietros Vorwurf blieb auf immer als etwas Ungeheuerliches und Unverständliches in ihrer Seele zurück.
Sie brachte der Madonna abermals eine Kerze, noch dicker und schwerer als die erste, aber die Kraft des Wunders war erschöpft. Pietro spielte, und sein Unstern wollte, daß er erst ein paar Scudi gewann. Die nächste Woche verdoppelte er den Einsatz und verlor, die Woche darauf wiederholte sich dasselbe und so fort, bis das ganze System durchgespielt und Pietro um den Ertrag der letzten arbeitsamen Monate ärmer war. Da ließ er sich von seinem Brotherrn einen Vorschuß geben und begann wieder von vorne, denn es ist ja nicht gesagt, daß Nummern schlecht sind, wenn sie nicht gleich das erste Mal herauskommen; nur daß er jetzt schon mit einer viel höheren Summe anfing, er mußte ja nicht nur gewinnen, sondern auch das Verlorene wieder einbringen. Doch das Lotto kümmerte sich nicht um Rechnungen und Kombinationen, es warf seine Nummern heraus, wie die blinde Laune es wollte – gerade und ungerade, ohne zu fragen, ob sie mit dem System des armen Pietro stimmten, das doch auf dem Papier aufging wie ein Rechenexempel in der Schule. Zuweilen neckte das Glück den verzweifelten Spieler, indem es ganz nah an seiner Nase vorüberstrich, so daß seine Nummern nur annähernd, oder auch genau, aber in veränderter Reihenfolge herauskamen. In Pietros Adern raste ein Fieber, 211 den Mißerfolg schlug er gar nicht an, er war überzeugt, daß das System sich erst beim dritten Mal bewähren werde, aber er hatte kein Geld mehr, und niemand wollte ihm borgen. Der künftige Schwager, an den er sich in seiner Not wandte, zuckte bedauernd die Achseln, sein Brotherr verweigerte einen ferneren Vorschuß, ehe der erste durch Arbeit gedeckt sei. Und immer ging sein böser Geist neben ihm in Gestalt des Tessiners und beteuerte, wenn er bis zum nächsten Samstag zweihundert Franken aufbringe, so sei ihrer aller Glück gemacht. Der Qualgedanke ließ Pietro nicht mehr aus seinem Bann, die zweihundert Franken wurden ihm zur Zwangsvorstellung, sie schwebten ihm körperhaft vor, wie der Dolch Macbeths, er meinte sie des Nachts auf seiner Decke liegen zu sehen in Gestalt eines abgegriffenen Bankbillets, aber der Samstag rückte näher und näher, ohne daß er ein Mittel fand, das Geld zu erhalten. Er wußte, daß seine Schwester auf der Post noch eine Summe liegen hatte, die ungefähr seinem Bedürfnis entsprach, aber Cherubina hatte von jeher jede Anspielung auf diese Summe kurz und trocken abzuschneiden gewußt. Pietro wehrte sich eine ganze Woche lang gegen die Versuchung, die von der unverschließbaren Kommode ausging, aber als es Samstag wurde und der Stundenzeiger gegen Mittag vorrückte, da konnte er sich nicht mehr halten. Sollte er denn wegen eines kleinlichen Bedenkens sein eigenes und der Seinigen Glück verscherzen? Er benutzte eine kleine Abwesenheit der 212 Schwester und brachte das Sparkassenbüchlein an sich, mit dem er auf die Post rannte. Dort hatte er einen Bekannten an der Kasse, den er auch ohne Cherubinas Unterschrift überrumpeln zu können hoffte. Aber der Zufall wollte, daß dieser sich einen Augenblick entfernt hatte; sein Stellvertreter drehte das Büchlein um und um, sah Pietro scharf an und sagte:
»Sie sind doch nicht Cherubina Pampaloni?«
»Cherubino, Cherubino,« berichtigte Pietro entschlossen.
Während nun der Beamte, der etwas kurzsichtig zu sein schien, das Heftchen seinen Augen näher führte, kam eben der Kassier zurück und begrüßte den Ankömmling mit einem lebhaften:
»Ah, Herr Pietro! Wie geht's? Geht's gut? – Danke, mir auch.«
Als der andere den Namen Pietro hörte, sagte er zwar kein Wort, doch er drückte die Augen ein, blinzelte seinen Vorgesetzten an und zog sich vom Schalter zurück.
Aber das Spiel war schon verloren. Der Kassier hörte die Erfindung, die Pietro trotz seiner Verwirrung noch geläufig genug vortrug, mit Wohlwollen an und bedauerte nur, daß die Kasse im Augenblick leer sei. Pietro möge sich in einer Stunde wieder herbemühen und auch die Unterschrift der Schwester mitbringen – nur der Ordnung wegen.
Es schlug zwölf Uhr, als Pietro wieder auf der Piazza stand, das Sparkassenbüchlein in der Hand.
213 Noch eine Stunde, so waren die Lottobureaus geschlossen und sein Glück unwiederbringlich verscherzt. Er wollte schon im Zorn das nutzlose Büchlein von sich schleudern, da fiel ihm seine Mutter ein, die doch immer zu ihm gehalten hatte. Er rannte atemlos auf den Corso Vittorio Emmanuele ins Haus der Signora Carolina, wo ihm die Mutter bestürzt über sein Ungestüm die Thür öffnete. »St!« sagte sie, »unsre Signora fühlt sich heute sehr unwohl« – und zog den Sohn in die Küche.
Dort erst gewahrte sie das Büchlein in seiner Hand.
»O, Pietro!« sagte sie vorwurfsvoll und brachte vor Kummer sonst kein Wort hervor.
Aber der Sohn redete heftig auf sie ein, daß sie ihm die Unterschrift der Schwester schaffen müsse, noch vor Abend könne er die Summe zurückzahlen, wenn er nicht binnen einer halben Stunde das Geld habe, so gehe er in den Arno.
Während er noch sprach, öffnete sich die Küchenthüre, und Signora Carolina erschien im Morgenrock auf der Schwelle.
Sie hielt einen Zweihundertfrankenschein der Nationalbank in der Hand und sagte in ihrer sanften Weise:
»Palmira, geht doch gleich und laßt mir den Schein wechseln, ich habe Eile.«
Pietro hatte sich bei ihrem Eintritt gefaßt und höflich den Hut gezogen, denn seine guten Manieren verließen ihn nie, aber seine Augen warfen beim Anblick des Scheins verdächtige Strahlen.
214 »Ich werde ihn wechseln lassen, Signora,« sagte er zuvorkommend, während diese schon wieder die Thüre hinter sich schloß, und wollte den Schein vom Küchentisch nehmen, aber seine Mutter kam ihm zuvor und riß das Papier an sich.
»Den Schein her!« rief er mit heiserer Stimme und rang mit der Mutter, die ihn mit Gewalt zurückstieß.
»Willst du im Zuchthaus enden?« flüsterte sie mit erstickter Stimme.
Ein stummer, verzweifelter Kampf entstand. Pietro gewahrte nicht, daß er der eigenen Mutter die Kehle zudrückte, er hörte nur den Schlag der Uhr, die drei Viertel auf Ein Uhr verkündete. Die Kräfte der alten Frau ließen nach, der Schein entglitt ihren Händen, die nach dem Hals fuhren, sie stöhnte: »Hilfe! Hilfe! Er erwürgt mich« und taumelte dem herbeigeeilten Signorino in die Arme.
Der Kranke warf sich ungeachtet seiner Körperschwäche auf den Angreifer, der soeben mit seinem Raub die Thüre gewinnen wollte, aber Pietro versetzte ihm einen Riesenfaustschlag auf den Kopf, daß er zu Boden stürzte und regungslos liegen blieb. Während ihm Geschrei und Tritte folgten, gewann Pietro das Freie, rannte keuchend und ohne Hut, noch immer von seiner fixen Idee gehetzt, zum nächsten Lottobureau, das schon geschlossen war. Dort erst kam er zur Besinnung, er sah mit Entsetzen den Schein in seiner Hand und sagte noch atemlos zu zwei Carabinieri, die ihm entgegen getreten waren:
215 »Verhaften Sie mich, ich habe einen Menschen erschlagen.«
* * *
Die Mandelbäume blühten schon, als Pietro seine Strafe abgebüßt hatte.
Unterdessen war neues Kreuz über die Pampaloni gekommen. Der Signorino hatte sich zwar von jenem Schlag erholt, ohne weiteren Schaden zu nehmen, aber Signora Carolina vermochte es trotz ihrer Herzensgüte nicht über sich, die Mutter eines solchen Sohnes länger in ihrem Dienste zu behalten, und Palmira verließ reichbeschenkt, aber unter Schluchzen ein Haus, aus dem sie zwar im Lauf von sechs Jahren vieles hinweggetragen hatte, dem sie sich aber doch durch Bande der Gewohnheit und Dankbarkeit verknüpft fühlte. Sie mußte in einen viel geringeren Dienst treten, denn der harte Winter war gerade vor der Thür und die Familie ohne Haupt und Stütze. Sie trug jetzt den Marktkorb selbst und dachte nicht mehr an ihre Stellung, man konnte ihr sogar ohne Hut auf der Straße begegnen, ja es war am Ende gar kein Unterschied mehr zwischen ihr und der Teresa, so tief hatte der Kummer um den Sturz ihres Lieblings ihr Gemüt gebeugt.
Auch war die Heirat Cherubinas zu Wasser geworden. Er wolle warten, bis der Schwager in Freiheit sei, hatte Antonio zartfühlend auf Palmiras Drängen geantwortet, aber sein Benehmen wurde 216 so diplomatisch, daß man einsah, er wolle mit einer Familie, die die Jettatura auf dem Hals hatte, nichts weiter zu schaffen haben.
Die Cherubina sagte kein Wort, aber sie ging herum wie ein Schatten. Da kam eines Abends, als das Mädchen allein war, die Teresa verstohlen über die Treppe gehuscht – denn in Anwesenheit der Frau Palmira betrat sie das Zimmer nicht – und raunte der Cherubina zu:
»Er geht jeden Tag mit einem Sträußchen im Knopfloch am Fenster der Elvira vorüber. Ich mußte es dir sagen, damit du weißt, wie du dran bist.«
Darauf hin hatte Cherubina den Bräutigam in einem erzürnten Schreiben zur Rede gestellt und ihn aufgefordert, sich persönlich zu verantworten, aber er regte sich nicht. Sie verfaßte noch mit Hilfe einer schreibekundigen Vertrauten, die auch in der Romanlitteratur bewandert war, eine Reihe von Schmähbriefen, worin sie drohte, ihn und die Rivalin zu erdolchen, aber auch dieser gehobene Stil vermochte die erloschene Flamme seiner Liebe nicht mehr anzublasen.
Da er fortfuhr zu schweigen, räumte die praktischere Mutter die Aussteuer zusammen und speicherte sie in dem entlegensten Winkel des Hauses auf. Das zweischläfrige Bett mit der schön gesteppten Decke und dem in langen Winternächten gehäkelten Spitzenüberwurf – das einzige Stück Hausrat, was nach toscanischem Brauch die Braut dem Bräutigam zubringt, – wurde abgeschlagen und 217 wanderte zum Möbelhändler zurück. Doch von Stunde an versank das Mädchen in Trübsinn, sie saß halbe Tage auf einem Fleck, ohne zu arbeiten, verweigerte die Nahrung, und ihr Aeußeres zerfiel sichtlich.
Frau Pampaloni führte sie nicht nur zu den bekanntesten Quacksalbern und Wunderärzten, sondern auch zu den wissenschaftlichen Autoritäten, aber Wissenschaft und Magie waren gleich machtlos: Cherubina vermochte ohne Antonios Liebe nicht zu leben. Die unglückliche Mutter wußte nicht mehr, an welche Thür klopfen, und entschloß sich in ihrer Not zu einer neuen Spende für die Madonna. Da sie aber der Santissima Annunziata noch wegen der letzten Fehlbitte grollte, trug sie diesmal ihre Kerze in den Dom und flehte zur heiligsten Empfängnis, daß sie des Mädchens Gedanken von dem Unwürdigen abwende; sie wolle ihr dafür, so bald sie wieder bei Geld sei, ein silbernes Herz stiften. Cherubina kniete daneben und durchkreuzte insgeheim das mütterliche Gebet, indem sie der Heiligen noch viel größere Gelübde that, damit sie ihr den Antonio zurückführe: wenn die Kerze unter den Händen des Kirchendieners gleich hell aufflammte, wollten beide es für ein Zeichen der Gewährung ansehen. Aber sei es, daß der Docht zu kurz war, oder daß die Madonna nicht wußte, welches von den beiden Gebeten erhören, das Licht schwankte ängstlich im Luftzug, und als der Diener nachhelfen wollte, verlöschte es ganz. Cherubina schlug mit einem Schrei 218 zu Boden und mußte unter Zuckungen aus der Kirche getragen werden. Von da an öffnete sie den Mund nur noch zu Wein- und Lachkrämpfen, und ihr Zustand verschlimmerte sich so, daß die Aerzte auf Ueberführung ins Irrenhaus drangen, aber die Mutter wehrte sich aus allen Kräften. Sie wollte sich ihr letztes Kind nicht auch noch vom Staate rauben lassen, und mit Hilfe einer wunderthätigen Nonne, welche in die Zukunft zu blicken vermochte und daselbst allem bösen Schein zum Trotz Cherubina an Antonios Seite sah, gewann man so viel Einfluß über die Kranke, daß sie vom Bette aufstand und wieder Nahrung zu sich nahm. Aber da sie in all dieser Zeit keine Arbeit mehr abgeliefert hatte, zerstreute sich die Kundschaft, und der zerrüttete Haushalt der Pampaloni ging vollends aus dem Leim.
In solcher Verfassung fand Pietro die Familie bei seiner Rückkehr.
Er sah bleich und gedunsen aus, sein schönes Haar war geschoren, die Bewegungen schwerfällig, und ein skeptisches Lächeln stand bleibend um seinen Mund.
»Ich hab' es jetzt ergründet, es ist alles nichtig,« sagte er zu seiner Mutter, »Cabbala und Philosophie, hohl, hohl wie ein ausgeblasenes Ei« – er ahmte verächtlich die Geberde des Ausblasens nach. – »Das große Nichts regiert die Welt.«
Noch im Gefängnis hatte er erfahren, daß der Tessiner ihn betrogen hatte, da die Nummern, um deretwillen er beinahe einen Mord begangen, doch 219 nicht herausgekommen waren, und mit diesem Glauben war der letzte Faden gerissen, der ihn an eine sittliche Weltordnung knüpfte. Aber nicht sich und seine Leichtgläubigkeit klagte er an, sondern die Ungerechtigkeit des Schicksals und der menschlichen Einrichtungen. Fortan sah er in der Gesellschaft nur eine große Räuberhöhle, wo bei jedem Tritt Versenkungen drohen, und ein Gimpel, wer da glaubt, daß der gerade Weg der beste sei, und ehrliche Arbeit zum Wohlstand führe! – Jeder gegen den andern und der Staat gegen alle!
Solche Sprüche hatte er im Gefängnis von anderen Sträflingen gelernt und führte sie nun immer im Mund, ohne zu fragen, ob sie auf seinen Fall paßten, denn er war dort in eine Gesellschaft von Weltverbesserern geraten, die ihn in die anarchistische Weltanschauung einweihten, und da sein Weizen in der Cabbala und Philosophie nicht hatte blühen wollen, versuchte er sich jetzt in der Sozialpolitik. Hatte er sich zuvor verpflichtet geglaubt, seiner Familie durch einen großen Wurf den Wohlstand zu bringen, so schrieb er jetzt die ganze Menschheit in sein Schuldbuch, was noch bequemer war und ihn der kleinlichen Lebenssorge überhob. Er ließ sich von der Mutter füttern, lungerte den ganzen Tag vor der Hausthüre herum und setzte den Nachbarn in freien Vorträgen das Recht auf Brot und Arbeit auseinander. Da kam es häufig zu erregten Wortgefechten, die jedoch niemals ins Gefährliche ausarteten, wiewohl man den Lärm straßenweit hörte, 220 weil es jedem weniger um die Sache zu thun war, die er verfocht, als um die Gelegenheit sich im Reden zu üben. Aber Pietro trumpfte alle nieder, und Frau Pampaloni pflegte mit kummervoll gefalteten Händen zu sagen: »Hätte er nur studieren können, er wäre Advokat und Deputierter geworden bei seinem Genie.«
Darüber war der Juni gekommen, Florenz raffte sich aus seiner sommerlichen Lethargie auf und rüstete mit aller Macht für die Garibaldifeier. In jedem Hause sorgte man für Beflaggung und Beleuchtung, auch die Aermsten wollten nicht zurückbleiben, »denn,« sagte Pietro, »ein Volk, das seine großen Männer nicht ehrt, verdient nicht, daß es ihm wohlergehe.« Er selbst hatte seine Trägheit abgeschüttelt und rannte mit Pinseln und Farbenschalen Treppen auf und ab. Sein Kunsttrieb war wieder erwacht, er malte ein Transparent mit dem Löwen von Caprera, bestrich Fahnenstangen und verteilte die Näpfchen mit Oel in schönen Arabesken über die ganze Façade des Hauses. Auch in Cherubina war Leben gekommen, sie hatte rote Garibaldinerblusen und dreifarbige Fahnen zu nähen und vergaß ein wenig ihren Liebesgram. Das Schönste aber war, daß auf diesen Tag auch die Teresa ihren Groll fahren ließ und wieder einmal in die Parterrewohnung herunter kam wie in alten Zeiten. Ja, sie ließ sich sogar von Pietro ihre Oelnäpfchen füllen und an den Platz bringen, denn sie waren ja doch alle Italiener.
221 Auch die gute Frau Pampaloni hatte der Freudentaumel ergriffen, sie zog mit ihrer Tochter und der wiedergefundenen Teresa durch die beleuchteten Straßen, alle drei Arm in Arm und fest zusammengedrängt, damit der wogende Menschenschwarm sie nicht trenne. Trotz der atemraubenden Enge wurde auch kein Hut beschädigt und kein Sträußchen zerknickt. Niemand stieß und drängte, niemand trat dem Nachbarn auf den Fuß, alle hielten die Ellbogen an den Leib gepreßt, und die kleinsten Kinder konnten sich ohne Gefahr zwischen den Beinen der Erwachsenen bewegen. Florenz bewährte einmal seinen Ruf, die Stadt der Artigkeit zu sein. Wenn die zusammengeknäuelte Menschenmasse irgendwo das Vorwärtskommen sperrte, so trippelte jung und alt stehend den Takt der Garibaldihymne mit, die straßenauf und -ab über die Häupter der Menge hin mit ihren starken Flügelschlägen rauschte, alle Füße sich nach ihrem Takt zu regen, alle Herzen nach ihrem Takt zu schlagen zwang. Wenige dachten zwar an die weltgeschichtliche Bedeutung dieser roten Hemden und zerlöcherten Fahnen, aber unbewußt lag es über den Massen wie eine brüderliche Freude, eine selige Weltversöhnung, die sich in ungeheurem Jubelgeschrei Luft machte, als ein schwarzlockiger Bursch im roten Hemd sich an dem neuenthüllten Standbild emporschwang und einen Kuß auf seinen ehernen Mund drückte. Sogar die Polizei lernte an jenem Tag an Menschenwürde glauben, denn es war während der Feststunden, obwohl die meisten 222 Häuser unbewacht standen, in der ganzen Stadt kein Diebstahl begangen und kein Einbruch versucht worden.
Auf dem Heimweg begegneten die drei Frauen den schwarzen Brüdern der Misericordia, die im Schnellschritt mit einer wachstuchverhüllten Trage aus einer dunkleren Seitengasse nach den flammenden Häuserzeilen von Borgognissanti einbogen. Die Menge öffnete einen weiten Durchgang, und Frau Palmira wandte rasch die Augen ab, denn sie mochte sich nicht daran erinnern lassen, daß es auch heute Kranke und Unglückliche gab. Kein Zucken ihres feinfühligen Mutterherzens sagte ihr, daß es ihr Pietro war, ihr Schmerzenskind, das die schwarzen Brüder sterbend vom Pflaster weg nach dem Spital von Santa Maria Nuova trugen.
Wie der Streit entstanden war, das wußten die Beteiligten nachher selbst nicht mehr. Der Wirt aus der nahen Osteria konnte nur angeben, daß Pietro, schon als er die Stube betrat, nicht mehr fest auf den Beinen gewesen. Ein paar Droschkenkutscher und der schöne Oreste hatten ihn an ihren Tisch gerufen, wo sie gemeinsam einen Fiasco leerten. Man hatte ihn mit allerhand Schraubereien gehänselt und wollte ihn veranlassen, seine Weltverbesserungstheorien zum besten zu geben, aber Pietro in seiner gehobenen Stimmung nahm die Spässe übel. Doch erregter war das Gespräch erst geworden, als sich auch jener rothaarige Tessiner dazu fand, der seinen Handel mit Glücksnummern noch 223 immer so schwunghaft trieb. Da waren beleidigende Worte gefallen und als Pietro mit einem Stuhlfuß auf den gänzlich betrunkenen Oreste eindrang, der die Partei des Schweizers genommen hatte, war der Wirt eingeschritten und hatte die Herrn ersucht, ihren Streit im Freien auszumachen. Aber kaum hatte er seine Lichter gelöscht, als ihn lautes Geschrei auf die Straße rief, und er kam eben recht, um den verwundeten Pietro in seinen Armen aufzufangen.
Wer den Stoß geführt hatte, konnte niemand sagen, aber er war gut gezielt. Als der Spitalarzt die Wunde untersuchte, stand es deutlich auf seinem Gesicht: Der ist geliefert! – und er gab sich auch keine Mühe, diese Ueberzeugung zu verbergen. Pietro verfolgte mit zusammengepreßten Lippen und halb geschlossenen Lidern alle seine Bewegungen, aber er sprach kein Wort.
Im Morgengrauen standen Mutter und Schwester am Bette des Sterbenden, und ihr Jammern übertönte noch die wilden Delirien eines Typhuskranken, der im Bette nebenan lag. Einer der Krankenwärter war der Palmira Brudersohn, und durch ihn hatten die beiden Frauen den Zutritt erwirkt; auch die Teresa war mitgekommen und schluchzte auf der Schwelle.
Pietro atmete schwer, aber er hatte noch ein Wort zu sagen. Seit er die Nummer zu Häupten seines Bettes gesehen, waren alle seine Gedanken auf Einen Punkt gespannt, sie hatten die ganze Nacht 224 hindurch mit dem Tode gerungen und arbeiteten noch auf seinen halb erstarrten Lippen. Die Mutter bog sich über ihn, um dieses Wort zu erhaschen, sie konnte ihn lange nicht verstehen, dann aber fuhr sie schreiend zurück und warf sich in die Arme der Teresa.
Jetzt rief der Sterbende durch einen Blick die Schwester heran und flüsterte mit äußerster Anstrengung in ihr Ohr:
»Spielen! – Blut – bringt Glück! – Ihr müßt spielen auf meinen Tod.«
»Pietro! Pietro! rede nicht so!« schluchzte die Schwester, »du wirst ja wieder genesen. – Ach Pietro, wie soll ich denn zu den Nummern kommen?«
Die andern verstummten und traten näher an sein Bett.
Pietro machte mit dem Kopf eine halbe Wendung nach dem Täfelchen über seinem Bette, er seufzte, denn das Sprechen verursachte ihm unsägliche Mühe.
»Das ist Nummer sieben,« sagte der Wärter, der auch herangetreten war.
Pietro nickte.
»Und weiter?« flehte die Schwester. »O Pietro, gieb uns die Nummern, und Gott wird dir's lohnen.«
»Gib die Nummern, mein Sohn,« sagte der Kapuziner, der Pietro in der Nacht das Viaticum gegeben hatte und jetzt eben wieder durch den Saal schritt. »Gib die Nummern deiner armen bedrängten Familie und erwirb dir das Paradies.«
225 Es war ganz still geworden in dem langen Saal, wo die verlöschenden Lämpchen neben den eisernen Bettgestellen flackerten und die Dämmerung einen fahlen Schein auf die falben, getünchten Wände warf. Selbst der Fieberkranke schien die Schwere des Augenblickes zu empfinden, denn er hatte seinen lauten Gesang auf eine Weile eingestellt. Von rechts und links hoben sich bleiche, eingefallene Gesichter von den Kissen und lauschten andächtig nach dem Lager Pietros hinüber.
»Sechsundvierzig,« flüsterte dieser jetzt vernehmlich, daß man es durch den halben Saal hören konnte.
»Das bedeutet eine Stichwunde,« erklärte die Teresa den andern, stolz auf ihre Wissenschaft.
»Und dreizehn!« setzte der Sterbende hinzu, und man konnte sehen, welche Ueberwindung es ihm kostete, die verhängnisvolle Zahl auszusprechen.
Die Mutter schrie abermals laut auf, die andern murmelten die drei Zahlen durcheinander, die Köpfe der Kranken fielen zufrieden auf die Kissen zurück.
In diesem Augenblick war der dienstthuende Arzt eingetreten.
»Was soll der Unfug?« sagte er barsch. »Was haben die Weiber hier zu schaffen? Sorgt, daß sie sogleich entfernt werden.«
»Sieben, sechsundvierzig, dreizehn,« war die verwirrte Antwort des Aufsehers.
226 Der Spitalarzt machte mit der Hand unbarmherzig ein Zeichen nach der Thür.
Aber im Weiterschreiten schrieb er schnell die Nummern in sein Taschenbuch.
Die Frauen wurden durch die Wärter hinausgeführt, wie sehr auch die unglückliche Mutter sich dagegen stemmte, und noch ehe sie die Straße erreichten, wo noch im Morgendämmern singende Gruppen mit der Garibaldihymne vorüberzogen, hatte Pietro sein junges Leben verhaucht.
Ein paar Tage später machte eine wundersame Begebenheit durch alle Blätter die Runde: Pietro hatte im Tode sein Versprechen, daß er das Glück der Familie gründen wolle, wahr gemacht, seine drei Nummern waren herausgekommen! Die Freudenbotschaft brachte die ganze Via della Scala auf die Beine, die Nachbarschaft drang im Haus der Pampaloni ein, die noch tief in ihren Gram versunken war, und nötigte der ganzen Familie Ricinusöl auf, »per levarsi la gran passione«, um sich von dem großen Schmerz zu befreien, wie die Florentiner sagen.
Cherubina nahm ihren Antonio, dessen Reue ihr schon durch die Nonne verbürgt war und nun auch durch ihn selbst bestätigt wurde, zum Gatten. Sie sind jetzt wohlhabend, Frau Palmira geht wieder sorgfältig gekleidet und im Hut; den Dienst und die tiefen Taschen hat sie aufgegeben. Aber ihre Haltung ist gebückt und ihr Haar gebleicht, heimlich zieht sie's ihrem Liebling nach. Die Kinder dagegen 227 leben im Schlaraffenland, sie haben das Höchste erreicht, was sie sich von menschlicher Glückseligkeit denken können, sie sind »Signori« geworden, das heißt: sie essen gut, sie trinken gut, gehen immer schön gekleidet, fahren sogar am Sonntag in den Cascinen und brauchen nichts zu arbeiten, solang der Glücksseckel, der nicht unerschöpflich ist, ausreicht. Antonio schlendert, die Cigarre im Mund, nach dem Café hin und zurück und ist glücklich, denn er weiß, daß ihn die ganze Nachbarschaft beneidet, Cherubina sitzt den ganzen Tag mit Reismehl bestreut am Fenster, sieht die Leute vorübergehen und ist gleichfalls glücklich. Verflossenen Allerseelentag sind sie alle zusammen zu ihrem Pietro nach Trespiano hinausgewandert, und nachdem den Pflichten der Pietät genügt war, hielten sie ein vergnügtes Festmahl vor den Kirchhofmauern ab, denn drinnen auf den Grabsteinen zu tafeln, wie es die geringen Leute thun, das ginge gegen ihr Gefühl und ihren Stand. Die Teresa, für deren Existenz auch gesorgt ist, war mit dabei, sie aßen kaltes Huhn, Salat und Eier, tranken einen Fiasco Rotwein dazu und waren so guter Dinge, daß sich auch der stille Pietro drunten in seinem Grabe über das Glück der Seinigen gefreut haben muß.