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Die Hexe vom Hochgebirge ist an die Ufer des Löfsees hinabgekommen. Man hat sie dort gehen sehen, klein, rundrückig, im Fellkittel und mit silberbeschlagenem Gürtel. Weshalb ist sie aus den Wolfshöhlen in die Behausungen der Menschen hinabgekommen? Was sucht die Alte aus den Bergen in den grünen Tälern?
Sie geht betteln! Sie ist auf Gaben erpicht trotz ihres Reichtums. In den Bergschluchten hat sie große weiße Silberbarren versteckt und auf saftigen Wiesen tief drinnen zwischen den Bergen grasen ihre große Herden von schwarzen, goldgehörnten Kühen. Und doch geht sie in Holzschuhen und in einem fettigen Pelzwams, dessen bunte Kante eben noch zu erkennen ist durch den Schmutz der Jahrhunderte. Sie stopft ihre Pfeife mit Moos und bettelt von den Ärmsten. Der Teufel mag einem solchen Weibe geben, das nie dankt, das nie genug bekommt!
Alt ist sie. Wie lange ist es her, seit der helle Glanz der Jugend über dem breiten Gesicht mit der braunen Haut gelegen, die vor Fett glänzt, über der flachen Nase und den schmalen Augen, die unter dem Schmutz leuchten wie glühende Kohlen unter grauer Asche? Wie lange ist es her, seit sie als kleines Mädchen auf dem Zaun vor der Sennhütte saß und mit den Tönen ihres langen Horns dem Hirtenknaben Antwort auf seine Liebesmelodien sandte? Mehrere hundert Jahre hat sie gelebt. Die Ältesten können sich der Zeit nicht entsinnen, da sie nicht durchs Land ging. Ihre Väter haben sie alt gesehen, als sie selber noch jung waren. Und sie ist noch nicht tot! Ich selber habe sie ja gesehen.
Mächtig ist sie, die Tochter der zauberkundigen Finnen; sie fürchtet sich vor niemand. Ihre breiten Füße hinterlassen keine ängstlichen Spuren auf dem Kies des Weges. Sie schwört den Hagel herauf, sie lenkt den Blitzstrahl. Sie kann die Kühe irreleiten und die Wölfe auf die Schafe hetzen. Sie kann viel Böses tun, aber nur wenig Gutes. Es ist am besten, sich gut mit ihr zu stehen. Bettelt sie dir deine einzige Ziege ab, so gib sie ihr, sonst stürzt dein Pferd oder dein Haus brennt, sonst wird deine Kuh krank oder dein Kind stirbt, sonst bringt sie die sparsame Hausfrau um Sinn und Verstand.
Willkommen ist sie nie; und doch ist es am besten, sie mit lächelndem Munde zu empfangen. Wer weiß, um wessentwillen sie gekommen ist? Ihr Zweck besteht nicht allein darin, sich ihren Bettelsack füllen zu lassen. Böse Vorbedeutungen folgen ihr auf den Fersen; Füchse und Wölfe heulen unheimlich in der Dämmerstunde, und das ekelhafte rote und schwarze Gewürm, das Eiter speit, kommt aus den Wäldern und kriecht bis an die Türschwelle.
Stolz ist sie. Ihr Kopf umschließt der Väter mächtige Weisheit. So etwas erhebt den Sinn. Starke Runen sind in ihren Stab geritzt; sie verkauft ihn nicht um alles Gold des Tals. Zauberlieder kann sie singen, sie kann Zauberschüsse über den See abfeuern und Sturmknoten schürzen.
Was denkt sie, die aus der Finsternis der Wälder, von dem gewaltigen Hochgebirge herabkommt, was denkt sie von den Leuten im Tal? Für sie, die an Thor glaubt, an den Riesentöter, sind die Christen dasselbe, was zahme Hofhunde den Wölfen sind. Doch kommt sie häufig von den Bergen herab, um sich ihre Zwergsitten anzuschauen. Die Menschen schaudern vor Entsetzen, wenn sie sie sehen, aber die starke Tochter der Wildnis geht sicher zwischen ihnen dahin, sicher bei ihrem Entsetzen. Die Heldentaten ihres Stammes sind nicht vergessen, sowenig wie ihre eigenen. Wie die Katze sich auf ihre Krallen verläßt, so verläßt sie sich auf die Weisheit ihres Herzens und auf die Kraft, die in den Zaubergesängen der Götter liegt. Kein König ist seiner Macht sicherer als sie des Schreckensreiches, über das sie herrscht.
So ist die Hexe durch viele Ortschaften gewandert. Jetzt ist sie nach Borg gekommen, und sie zaudert nicht, auf das Grafenschloß zu wandern. Durch die Küche geht sie nur selten. Sie steigt geradeswegs die Terrassenstufen hinan, sie setzt ihren breiten Holzschuh auf die blumenumhegten Kieswege, so ruhig, als wanderte sie den Sennpfad hinan.
Und es trifft sich gerade so, daß Gräfin Märta auf die Terrasse hinausgetreten ist, um sich an der Pracht des Junitages zu erfreuen. Auf dem Kiesgange unterhalb der Treppe sind gerade zwei Mädchen auf dem Wege zum Vorratshause stehengeblieben. Sie kommen aus der Räucherkammer, wo der Speck im Rauch hängt, und sie tragen die frischgeräucherten Schinken auf einer Stange zwischen sich. »Will die gnädige Frau Gräfin die Schinken einmal besehen und riechen, ob sie stark genug geräuchert sind?« fragt eins der Mädchen.
Ei, seht doch diese braune glänzende Schwarte, diese dicke Fettschicht! Dieser frische Duft von Wacholderzweigen, der den Schinken entströmt! Das ist ein Festschmaus für Götter! Den muß die Hexe haben! Sie legt ihre Hand auf die Speckseiten.
Die Tochter der Berge kennt kein Bitten oder Betteln. Ist es nicht die Folge ihrer Gnade, daß die Kräuter wachsen, daß die Menschen leben? Frost und Unwetter und Hochflut – alles vermag sie zu senden. Deswegen geziemt es sich nicht für sie zu bitten oder zu betteln. Sie legt ihre Hand auf das, was sie wünscht, und es gehört ihr.
Aber Gräfin Märta weiß nichts von der Macht der Alten. »Weg mit dir, du Bettelweib!« ruft sie.
»Gib mir den Schinken«, sagt die Wolfsreiterin aus dem Hochgebirge.
»Sie ist verrückt!« ruft die Gräfin und befiehlt den Mägden, mit ihrer Last ins Vorratshaus zu gehen.
Die Augen der Hundertjährigen flammen vor Zorn und Begierde. »Gib mir den braunen Schinken«, ruft sie, »oder es wird dir übel ergehen.«
»Lieber gebe ich ihn den Elstern als so einer wie dir!«
Da erbebt die Alte vor Zorn. Sie hebt ihren Stab mit den Runen in die Höhe und schwingt ihn wild. Ihre Lippen stoßen wunderliche Worte aus. Das Haar steht ihr zu Berge, die Augen sprühen Funken, ihr Antlitz verzerrt sich.
»Dich selbst sollen die Elstern essen!« schreit sie schließlich.
Und dann geht sie, Flüche murmelnd und den Stab schwingend. Sie wendet ihre Schritte heimwärts; weiter nach Süden wandert sie nicht. Jetzt hat die Tochter der Wildnis den Zweck erfüllt, um dessentwillen sie aus den Bergen herabgestiegen ist.
Gräfin Märta bleibt auf der Gartentreppe stehen und lacht über ihr verrücktes Gebaren, aber das Lachen soll gar bald auf ihren Lippen verstummen. Denn da kommen sie! Sie kann ihren eigenen Augen nicht trauen. Sie glaubt, daß sie träumt, aber da kommen sie, die Elstern, die sie fressen sollen.
Aus Park und Garten kommen sie auf sie herabgesaust, Elstern zu Dutzenden mit ausgestreckten Klauen und gierigen Schnäbeln, bereit, auf sie einzuhauen. Sie kommen mit Lärmen und Schreien. Schwarze und weiße Flügel flimmern vor ihren Augen. Sie sieht wie im Schwindel hinter diesem Schwarm alle Elstern aus der ganzen Gegend heranfliegen, sieht den ganzen Himmel voll schwarzer und weißer Flügel. Die Metallfarben der Federn schimmern in der scharfen Mittagssonne. Die Schwanzfedern brausen wie bei kämpfenden Raubvögeln. In dichteren und dichteren Kreisen umfliegen die Ungetüme die Gräfin und zielen mit Schnäbeln und Krallen nach ihrem Gesicht. Sie muß auf die Diele fliehen und die Tür hinter sich schließen. Sie taumelt gegen die geschlossene Tür, atemlos vor Angst, während die schreienden Elstern draußen flattern und fliegen.
Damit war sie aber abgeschlossen von der lichten Schönheit des Sommers, von allen Freuden des Lebens. Für sie gab es hinfort nichts mehr als geschlossene Türen und herabgelassene Rouleaus, für sie gab es nur Verzweiflung, Angst, Verwirrung, die an Wahnsinn grenzte.
Auch diese Erzählung mag wie Wahnsinn erscheinen, aber wahr muß sie doch wohl sein. Es leben Hunderte von alten Leuten, die die Geschichte kennen und bezeugen wollen, daß die Sage so lautet.
Die Vögel ließen sich auf dem Geländer der Terrasse und auf dem Dache nieder. Sie saßen da, als warteten sie nur darauf, daß die Gräfin sich zeigen sollte, um sich über sie zu stürzen. Sie schlugen ihre Wohnung im Park auf und da blieben sie. Es war unmöglich, sie vom Hof zu verjagen. Schoß man auf sie, so ward es nur schlimmer, denn für jede, die fiel, kamen zehn neue geflogen. Zuweilen entfernten sich wohl große Scharen, um Futter zu schaffen, aber es blieben stets zuverlässige Schildwachen zurück. Wenn sich Gräfin Märta nur zeigte, wenn sie nur zu einem Fenster hinaussah oder die Gardine einen Augenblick zur Seite zog, wenn sie es nur versuchte, auf die Treppe hinauszugehen, gleich waren sie da. Der ganze fürchterliche Schwarm kam mit lärmendem Flügelschlag auf das Wohnhaus zu gefahren und die Gräfin mußte in ihr innerstes Zimmer fliehen.
Sie hielt sich im Schlafzimmer hinter dem roten Saal auf. Ich habe das Zimmer oft beschreiben hören, so wie es in dieser Schreckenszeit aussah, als Borg von Elstern belagert war. Schwere Vorhänge vor Türen und Fenstern, dicke Teppiche auf dem Fußboden, schleichende, flüsternde Menschen!
Im Herzen der Gräfin wohnte der leichenblasse Schrecken. Ihr Haar war ergraut. Ihre Haut war voller Runzeln. In einem Monat war sie eine alte Frau geworden. Sie konnte ihr Herz nicht stählen gegen diesen entsetzlichen Zauber. Laut schreiend fuhr sie aus ihren nächtlichen Träumen auf, in dem Wahn, daß die Elstern über sie herstürzten. Sie weinte den ganzen Tag über dies Schicksal, dem sie nicht entgehen konnte. Sie scheute die Menschen aus lauter Angst, daß der Vogelschwarm jedem Eintretenden auf den Fersen folgen würde, und saß gewöhnlich stumm da, die Hände vor dem Gesicht, sich in ihrem Lehnstuhl hin und her wiegend, krank und verstimmt durch die eingeschlossene Luft, um dann plötzlich mit Schreien und Klagen aufzuspringen.
Keines Menschen Leben konnte härter sein. Wer wird die Ärmste nicht beklagen?
Ich habe jetzt nicht mehr viel von ihr zu erzählen und das, was ich erzählte habe, ist nicht gut gewesen. Es ist mir fast, als schlüge mir das Gewissen. Sie war doch gutmütig und lebensfroh, als sie jung war, und viele ergötzliche Geschichten von ihr haben mein Herz erfreut, wenn sie hier auch keinen Platz gefunden haben.
Aber es geht so, obwohl diese Arme es nicht wußte, daß die Seele stets hungert. Von Tand und Spiel kann sie nicht leben. Bekommt sie keine andere Nahrung, so zerreißt sie gleich einem wilden Tier erst andere und dann sich selber.