Selma Lagerlöf
Eine Herrenhofsage
Selma Lagerlöf

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Fünftes Kapitel.

Mutter Anna Stina war eine alte Frau, die tief im Walde wohnte. Sie pflegte in das Pfarrhaus zur Aushilfe zu kommen. Wenn dort gebacken und gewaschen wurde, kam sie stets wie gerufen hinter den Hügeln hervor. Sie war aber auch eine gute und kluge Frau, und sie und die kleine Ingrid waren immer sehr gute Freunde gewesen. Sobald nun das Mädchen wieder irgend eines Gedankens fähig war, beschloß sie, bei ihr Hilfe zu suchen.

»Höre,« sagte sie zu dem Dalekarlier, »wenn Du auf die Landstraße hinaus kommst, mußt Du in den Wald einbiegen. Dann gehst Du geradeaus, bis Du an ein Gatter kommst, dort wendest Du Dich nach links. Dann gehst Du wieder geradeaus, bis Du an eine große Sandgrube kommst. Von dort aus siehst Du ein kleines Häuschen vor Dir liegen; dorthin sollst Du mich bringen, und dort werde ich Dir vorspielen.«

Der kurze, harte Ton, den sie annahm, während sie ihm dies befahl, tat ihr selbst in den Ohren weh. Aber sie konnte nicht anders, sie mußte so sprechen, wenn er ihr gehorchen sollte. Ach, sie war wohl gerade die rechte dazu, einem anderen Menschen zu befehlen, sie, die nicht einmal das Recht hatte, zu leben!

Nein, von nun an würde sie nie wieder glauben können, daß sie ein Recht habe, zu leben! Darin lag ja das Schreckliche dieses Erlebnisses. Nun war sie sechs Jahre lang in dem Pfarrhause gewesen und hatte sich nicht einmal soviel Liebe erwerben können, daß man sie dort ins Leben zurückwünschte. Wer aber von niemand geliebt wird, hat kein Recht zu leben.

Sie hätte freilich nicht sagen können, woher sie wußte, daß es sich wirklich so verhielt, aber sonnenklar war es ihr. Sie erkannte es daran, daß in dem Augenblick, wo sie hörte, daß man sie nicht liebe, eine eiserne Hand nach ihrem Herzen gefaßt und es zusammengedrückt hatte, wie um es zum Stillstehen zu zwingen. Ja, es war das Leben selbst, das vor ihr verschlossen wurde. Und gerade als sie sich vom Tode abwandle und die Lebenslust hoch und keck in sich aufflammen fühlte, gerade da wurde ihr das, was einem das Recht gibt zu leben, entrissen!

Das war schlimmer als ein Todesurteil, ja viel grausamer als ein gewöhnliches Todesurteil. Ingrid wußte, womit es zu vergleichen war, mit einem Baum, der nicht auf die gewohnte Weise gefällt wird, indem man nur den Stamm absägt, sondern so, daß man ihm die Wurzeln abhaut, ihn selbst aber in der Erde stehen läßt, damit er nach und nach absterbe. Da steht dann der Baum und kann nicht begreifen, warum er weder Nahrung noch Saft mehr bekommt. Er kämpft und strebt, um zu leben, aber die Blätter werden immer kleiner, er treibt keine neuen Schößlinge mehr, die Rinde fällt ab. Und er muß sterben, weil er von seiner Lebensquelle abgeschnitten worden ist. So ist es, er muß sterben.

Endlich setzte der Dalekarlier den Sack auf den Stufen einer kleinen Hütte nieder, die mitten im wilden Walde stand.

Die Haustür war verschlossen, aber sobald Ingrid aus dem Sack heraus war, zog sie den Schlüssel unter der Türschwelle hervor, schloß auf und trat ein.

Sie kannte das Häuschen und alles, was sich darin befand, ganz genau. Es war nicht das erstemal, daß sie hierher kam, um Trost zu suchen, nicht zum erstenmal, daß sie zu der alten Mutter Stina kam und ihr sagte, sie könne es daheim nicht mehr aushalten, weil die Pflegemutter so hart gegen sie sei, und sie wolle nicht wieder zurück ins Pfarrhaus.

Aber jedesmal, wenn sie zu der Alten gekommen war, hatte diese ihr verständig zugesprochen und sie beruhigt. Sie hatte ihr dann einen schauderhaften Kaffee gekocht, der nicht aus einer einzigen Kaffeebohne, sondern nur aus gerösteten Erbsen und Cichorie bestand, der aber doch Ingrid immer neuen Mut einflößte. Und schließlich brachte Mutter Anna Stina sie so weit, daß sie über alles miteinander lachte und so aufgeheitert wurde, daß sie durch den Wald und über die Hügel vergnügt nach Hause lief.

Diesmal jedoch hätte es Ingrid wohl schwerlich geholfen, selbst wenn Mutter Stina daheim gewesen wäre und ihren schauderhaften Kaffee gekocht hätte. Aber die Alte war drunten im Pfarrhaus bei Ingrids Leichenschmause, denn die Pfarrerin hatte nicht versäumt, alle dazu einzuladen, die die Tochter lieb gehabt hatten. Das kam wohl auch von den Gewissensbissen.

Aber in der Hütte der alten Anna war alles wie sonst. Und als Ingrid das Kanapee mit dem hölzernen Sitz und die Katze und die Kaffeemaschine sah, fühlte sie sich zwar keineswegs getröstet oder aufgeheitert, empfand aber doch, daß sie sich an einem Orte befand, wo sie ihrem Kummer freien Lauf lassen durfte.

Es war ihr eine Erleichterung, an nichts weiter denken zu müssen, sondern ungehindert weinen und klagen zu dürfen.

Sie eilte auf das Kanapee zu, warf sich auf den harten Sitz und weinte, wer weiß wie lange.

Unterdessen saß der Dalekarlier draußen auf der Staffel, denn er wollte der Katze wegen nicht gerne hineingehen. Er dachte, Ingrid werde herauskommen und ihm vorspielen. Die Geige hatte er schon lange herausgenommen. Da Ingrid aber nicht kam, fing er selbst an zu geigen.

Er spielte weich und leise, wie es seine Gewohnheit war; die Töne drangen kaum bis zu dem Mädchen in der Hütte.

Ingrid aber fühlte einen Fieberschauer nach dem anderen durch ihren Körper rieseln. Gerade so war es gewesen, als sie krank wurde, deshalb glaubte sie, die Krankheit breche von neuem aus. Und es wäre wohl auch am besten für sie, wenn das Fieber sie wieder ergriffe und wirklich tötete.

Da drang das Geigenspiel zu ihr herein. Sie richtete sich auf und sah sich mit verwirrten Blicken um. Wer spielte da? War es ihr Student? War er jetzt endlich gekommen?

Aber bald wurde es ihr klar, daß es der Dalekarlier sein mußte, und mit einem Seufzer legte sie sich wieder nieder.

Sie konnte dem nicht folgen, was gespielt wurde. Aber sobald sie die Augen schloß, bekam die Geige die Stimme des Studenten. Ingrid verstand auch, was er sagte. Er sprach mit ihrer Pflegemutter und verteidigte sie; er sprach ebenso schön, wie damals mit Herrn und Frau Blomgren. Ingrid brauche sehr viel Liebe, sagte er. Das sei es gewesen, was ihr gefehlt habe. Deshalb habe sie nicht immer ihre Arbeiten fertig gemacht, sondern sich durch Träume zerstreuen lassen. Aber niemand wisse, wie sie sich für den, der sie wirklich lieb hätte, aufopfern könnte. Für den würde sie Kummer und Krankheit und Verachtung und Armut ertragen. Für den würde sie stark sein wie ein Riese und geduldig wie ein Lamm.

Ingrid hörte ihn ganz deutlich sprechen, und es kam Ruhe über sie. Das war ja alles wahr. Wenn die Pflegemutter sie nur geliebt hätte, dann würde sie gesehen haben, wessen Ingrid fähig war. Da sie aber Ingrid nicht lieb hatte, war diese wie gelähmt gewesen. Ja, gewiß, das war alles wahr.

Nun fühlte sie keine Fieberschauer mehr, sie hörte nur ruhig zu, was der Student sagte. Zwischendurch schlief sie wohl auch, denn sie glaubte einmal ums andere, sie liege im Grabe, und immer war es der Student, der kam und sie aus dem Sarge hob. Sie lächelte und schalt ihn darüber.

»Nun, wo ich träume, da kommst Du immer,« sagte sie.

»Ja, immer bin ich es, der kommt und Dir hilft, Ingrid,« erwiderte er. »Das weißt Du recht gut. Ich hebe Dich aus dem Grabe heraus, ich trage Dich auf meinen Schultern, ich spiele Dich zur Ruhe. Immer bin ich es.«

Was sie aber stets wieder störte und aufweckte, war der Gedanke, daß sie aufstehen und dem Dalekarlier vorspielen müsse. Sie richtete sich mehrere Male auf, um es zu tun, hatte aber nicht die Kraft dazu.

Sobald sie auf das Sofa zurücksank, träumte sie, sie säße zusammengekauert in dem Sack, und der Student trage sie durch den Wald. Immer war er es.

»Aber Du warst es nicht,« sagte sie zu ihm.

»Freilich war ich es,« entgegnete er und lächelte über ihren Widerspruch. »Du hast ja in all den Jahren täglich meiner gedacht, da wirst Du doch begreifen, daß ich nicht anders konnte, als Dich aus dieser großen Gefahr erretten.«

Das fand sie auch ganz selbstverständlich, und sie fing an einzusehen, daß er recht hatte, und daß er es wirklich war.

In diesem Gedanken aber lag nun eine solche Seligkeit, daß sie von neuem erwachte. Und die Liebe durchzitterte ihr ganzes Wesen; es hätte nicht wirklicher sein können, wenn sie den Geliebten tatsächlich gesehen und gesprochen hätte.

»Warum kommt er denn nie im Leben?« sagte sie halblaut. »Warum kommt er immer nur in Träumen?«

Sie wagte nicht, sich zu rühren. Dann wäre das Liebesgefühl entflohen. Ihr war zu Mute, als habe sich ein scheuer Vogel auf ihre Schulter gesetzt, und sie fürchtete, ihn zu verscheuchen.

Wenn sie sich bewegte, würde der Vogel davonfliegen und der Kummer wieder Macht über sie bekommen.

Als sie endlich völlig erwachte, war es dämmerig in der Hütte. Sie mußte also den ganzen Nachmittag und Abend geschlafen haben. Denn um diese Jahreszeit trat die Dämmerung erst um zehn Uhr ein.

Das Geigenspiel hatte auch aufgehört, der Dalekarlier war wohl seiner Wege gegangen. Mutter Anna Stina war aber noch nicht heimgekehrt. Sie blieb gewiß die ganze Nacht fort.

Doch das beunruhigte Ingrid nicht. Sie sehnte sich nach nichts weiter, als sich wieder niederzulegen und weiterzuschlafen. Denn sie fürchtete sich vor dem Kummer und der Verzweiflung, die über sie hereinbrachen, sobald sie erwachte.

Aber da wurde sie etwas gewahr, das ihr zu denken gab. Wer hatte die Türe zugemacht? Wer hatte Mutter Anna Stinas großes Tuch über sie gebreitet? Und wer hatte ein Stück trockenes Brot neben sie auf die Bank gelegt?

Hatte er all dies für sie getan, er, der »Ziegenbock«?

Einen Augenblick war es ihr, als sehe sie den Traum und das Leben nebeneinander stehen und sich überbieten, sie zu trösten. Der Traum stand sonnig und lächelnd da und goß die Seligkeit der Liebe über sie aus, um sie zu erheitern. Aber auch das arme, rauhe, harte Leben kam mit einem kleinen Scherflein der Freundlichkeit, um ihr damit zu zeigen, es meine es nicht so böse mit ihr, wie es den Anschein habe.

 


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