Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war auf dem Hinterdeck eines großen ausländischen Dampfschiffs, wo Menschen aus den verschiedensten Weltgegenden versammelt waren. Die meisten waren Engländer oder konnten wenigstens Englisch sprechen, aber es gab auch unter den Reisenden einige, die Französisch sprachen, und diese waren durch die Sprache zusammengeführt worden und bildeten meistens eine Gruppe für sich. Da saßen also ein paar ältere Franzosen, ein Offizier und ein Konsul, ein paar belgische Damen, eine italienische barmherzige Schwester, ein alter französischer Geistlicher und ein junger Pariser, der irgendein Künstler zu sein schien, Maler oder Bildhauer, oder was er sonst sein mochte.
Eines Abends saßen die beiden älteren Herren beisammen und sprachen von den Engländern. Sie machten eine kleine Studie über sie, so wie Franzosen es zu tun pflegen, und verglichen sie in sehr liebenswürdiger und amüsanter Weise mit sich selbst. Aber plötzlich mischte sich eine der Damen ins Gespräch.
»Nein, meine Herren,« sagte sie, »Sie haben noch nicht erwähnt, worin der wesentlichste Unterschied zwischen den Engländern und Ihnen besteht.«
»Ach,« sagte der alte Herr, den man Konsul nannte, »den allerwesentlichsten Unterschied, haben Sie ihn etwa herausgefunden?«
»Ja, ich habe ihn herausgefunden. Er besteht darin, daß sie alle einen inneren Beruf haben. Fragen Sie nur, dann werden Sie schon hören. Alle hier an Bord haben einen inneren Beruf. Einer will uns Kaninchen züchten lehren, ein andrer, niemals Fleisch essen. Dieser Herr beabsichtigt, die Türken zu bekehren, und der dort drüben will ein Lufttorpedo erfinden.«
»Nun, und wir,« sagte der Konsul und warf einen raschen Blick auf seine Reisegefährten, »uns fehlt es doch auch nicht an Menschen mit innerem Beruf.«
»O doch,« sagte die kleine Belgierin, »Ihr bleibt in dem Stand, in dem Ihr geboren seid, oder Ihr werdet, was Eure Eltern wünschen, daß Ihr werden sollt. Ihr laßt Euch vom Leben leiten. Aber diese andern wollen das Leben und uns alle ins Schlepptau nehmen und uns führen, wohin sie wollen.«
»Nun ja,« sagte der Offizier, »Sie mögen recht haben, Madame, aber ich ziehe es vor, unter Leuten ohne inneren Beruf zu leben. Sie sind unerträglich, diese Leute, die stets mit einer Mission umhergehen.«
»Schwester Agnes,« rief der Konsul und wendete sich an die barmherzige Schwester. »Sie haben ja so viele Französinnen in Ihrer Gemeinschaft. Haben Sie gefunden, daß ihnen der innere Beruf fehlt?«
»Leider, Monsieur Bartout,« sagte die barmherzige Schwester und lächelte, »leider kann ich Ihnen nicht zu Hülfe kommen. Ich glaube nicht, daß wir deshalb schlechtere barmherzige Schwestern sind, aber es sind nicht viele unter uns, die deshalb Kranke pflegen, weil es der innere Beruf ihres Lebens ist. Wir sind meistens froh, uns dieser Sache widmen zu können, weil alles andre uns gescheitert ist.«
»Und Sie, Herr Abbé?« fragte Bartout und wendete sich an den Geistlichen.
»Ach, ach,« erwiderte der alte Mann, »es ist so lange her. Ich bin all mein Lebtag Priester gewesen. Aber ich glaube, es war der Abbé Vertois in meiner Heimat, der meinem Vater riet, mich ins Seminar zu schicken.«
Monsieur Bartout wendete sich nun an den jungen Franzosen.
»Ich für mein Teil, Monsieur,« sagte der junge Künstler, »mißtraue dem inneren Beruf. Er führt nur auf Irrwege. Ich arbeite mit Farben und Pinsel, weil dies mir das natürlichste ist. Ich will Ihnen sagen, in meiner Familie sind wir alle ein bißchen Maler.«
Nach dieser Äußerung vergaß man ganz, daß man zu Anfang des Gesprächs von einem Vergleich zwischen den Franzosen und den Engländern ausgegangen war. Und anstatt dessen begannen alle, von Anlagen und Beruf zu sprechen, und man führte mehrere Beispiele dafür an, in was für eigentümliche Verhältnisse Menschen gerieten, wenn diese zwei Dinge nicht übereinstimmten.
»Ich habe immer versucht, mich von allen Hirngespinsten fernzuhalten und das zu tun, wozu ich veranlagt bin,« sagte der Offizier. »Niemand benimmt sich so töricht wie jemand, mit dem seine ›Mission‹ durchgeht.«
»Ich kenne einen großen Schriftsteller,« sagte eine der Damen, »der sein Leben für verfehlt ansah, weil er nicht Ballettmeister geworden war. Er behauptete immer, dies wäre sein wahrer Beruf gewesen, unglücklicherweise wurde er verhindert, seiner Eingebung zu folgen.«
»Dies erinnert mich an meinen armen Freund Pater Meunier,« sagte der Geistliche, »er fühlte sich berufen, als Missionar nach China zu gehen, und er tat es auch, aber er mußte sich doch geirrt haben, denn drüben ließ er sich zum Buddhismus bekehren.«
»Der innere Beruf ist der größte aller Gaukler,« sagte der Maler. »Er treibt nur seinen Spott mit uns Menschen.«
Bartout allein kämpfte dafür, wie herrlich es sei, auf Grund jenes höheren Zwanges zu handeln, den man inneren Beruf nennt.
»Aber, Monsieur, ich erinnere mich jetzt, daß ich eine Ihrer Landsmänninnen kannte, die einen inneren Beruf hatte,« sagte die Krankenpflegerin. »Er hatte wohl nichts mit der Krankenpflege zu schaffen, doch immerhin . . . wenn Sie gestatten, will ich Ihnen ihre Geschichte erzählen. Sie war eine unserer allerbesten Pflegerinnen, sie gehörte dem Verband lange, bevor ich hinkam, an, und sie lehrte mich meine Obliegenheiten.«
»Schwester Olive,« begann die barmherzige Schwester, »war eine Französin, aber so anders als alle Französinnen, die ich gesehen habe, daß ich sie zuerst für eine Deutsche oder eine Schweizerin hielt. Eine Französin sollte nach meiner Meinung entweder eine schöne, rundliche Dame mit olivenfarbenem Teint und spielenden, braunen Augen sein oder auch klein, zart, verfeinert, förmlich nur ein Hauch. Schwester Olive hingegen war groß, etwas hager, nicht schön, aber kräftig und munter, mit einem Gesicht, zu dem man Zutrauen fassen konnte.
Und noch mehr verwunderte mich ihr Aussehen, als ich allmählich erfuhr, daß Schwester Olive eine Größe gewesen sei, eine Berühmtheit, daß sie einmal Mademoiselle Olive Miteau geheißen, in einer glänzenden Wohnung gewohnt, mit eigenen Pferden kutschiert und mit allen hervorragenden Leuten in Europa verkehrt habe.
Schwester Olive war Schauspielerin gewesen, bevor sie barmherzige Schwester wurde, und zwar eine große und merkwürdige Schauspielerin, die alle Menschen kannten, wenigstens alle Menschen in Paris. Sie war ja freilich nicht eine von jenen gewesen, die die ganze Welt durchreisen und solche Größen sind, daß sie sich an einem Tag in San Francisco zeigen müssen und am andern in Petersburg, aber sie hatte es so gut gehabt, als sie es sich nur wünschen konnte. Das ganze Publikum hatte sie so gern, die Theaterkritiker wußten selten etwas Ungünstiges über sie zu sagen, sie verdiente viel Geld, und sie trat im Théâtre français auf.
Als ich Schwester Olive sah, fiel es mir, wie gesagt, schwer, zu glauben, daß dies möglich gewesen war. Ich dachte ja gleich an die modernen Stücke mit allen ihren verfeinerten jungen Frauengestalten, und es erschien mir ganz unglaublich, daß Schwester Olive eine junge Pariserin hätte spielen können. Sie hatte etwas gar zu Kantiges, keine Schminke und keine Toiletten hätten Schwester Olive verführerisch und bezaubernd machen können. Aber ich erfuhr bald, daß Schwester Olive nie solche Gestalten gespielt hatte, sondern ihre Stärke war darin gelegen, aus dürftigen Rollen, die kein andrer haben wollte, kleine Meisterwerke zu machen. Sie spielte Dienstmädchen und alte Frauen, sie war Gastwirtin und Portiersfrau, Grünzeughändlerin und Bäuerin. Und sie stellte alle diese bescheidenen Typen so glaubwürdig und rührend dar, so liebevoll und künstlerisch, daß es ihr gelungen war, die Mitgliedschaft am Théâtre français zu erringen.
Schwester Olive war sehr fleißig gewesen und hatte sich nie geschont, man zählte sie seinerzeit zu den allerunentbehrlichsten Kräften des Theaters. Ihre Stellung war eigentlich besser als die der andern, denn obgleich sie niemals so viel Lob erntete wie die große Primadonna, hatte sie anderseits ihre gegebenen Rollen, die ihr niemand streitig machte. Niemand intrigierte, um ihr zu schaden, sie war eine gute, ehrliche Kollegin, und alle hatten sie lieb.
Sie gestand es später selbst oftmals zu, daß sie eine ausgezeichnete Stellung gehabt habe, und daß sie unrecht getan habe, die Torheit zu begehen, die sie zwang, sie aufzugeben. Sie starb, als sie sechzig Jahre alt war, aber sie hätte ihre Stellung am Theater gewiß bis zu ihrem Ende behalten können. Sie war noch immer beweglich und kräftig und hatte ein prächtiges Organ. Sie hätte noch ganz gut treue Dienerinnen und Bauernweiber und brummige alte Tanten spielen können. Niemand würde es besser gemacht haben als sie.
Aber das Unglück war, daß Schwester Olive eine bestimmte Idee hatte, und das war etwas, wonach sie sich sehnte, was sie ihr ganzes Leben lang erstrebt hatte, und wovon sie nicht lassen konnte.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie die ganze Zeit über einsah, daß es etwas Törichtes war. Aber Schwester Olives Gedanken hatten sich all ihr Lebtag in dieser Richtung bewegt, und sie konnte ihnen nicht Einhalt tun. Es war so, als hätte man versucht, einem fallenden Stein zuzurufen, er solle still halten und schwebend in der Luft verbleiben.
Es verhielt sich nämlich so, daß Schwester Olive keine geborene Pariserin war, sie war in der Normandie aufgewachsen als die Tochter eines Bauern. Sie hatte ihre Kindheit und ihre erste Jugend unter Bauern und ungebildeten Leuten verbracht. Bis zu ihrem siebzehnten Jahre hatte sie weder eine Stadt noch ein Theater gesehen.
Aber einmal, als sie erwachsen war, nahmen ihre Eltern sie zu einem Markt in Caen mit, und Vater Miteau zeigte sich da so freigebig, daß er sie und ihre Mutter sogar ins Theater einlud.
So sah Schwester Olive ihr erstes Stück, und das Stück war Hernani, des großen Viktor Hugo Hernani.
Von dem Augenblick an, wo der Vorhang in die Höhe ging, war Schwester Olive ganz der Erde entrückt und weilte mit ihrer ganzen Seele auf der Bühne. Nichts erschien ihr dort fremd, sie begriff vom ersten Moment an alles. Sie suchte sich nur zu entsinnen, wo sie alles das schon einmal gesehen hatte.
Da, während sie im Theater saß, erschien es ihr ganz wunderbar, daß sie Olive Miteau war, das Landmädchen, das unter grünen Apfelbäumen auf einem Bauernhof aufgewachsen war. Es kam ihr vor, als wäre das, was sie sah, ihre wahre Heimat. Und sie sah das Schauspiel gar nicht so, wie andre es sehen, sondern sie lebte darin mit, von Anfang bis zu Ende. Sie war die ganze Zeit die schöne Spanierin Donna Sol, sie wurde von Hernani und von Kaiser Karl dem Fünften geliebt; und als Graf Lunas Horn am Hochzeitsabend ertönte, da fühlte sie sich ebenso zerschmettert, als wenn Hernani ihr selbst entrissen worden wäre.
Nach diesem Abend im Theater in Caen hatte Schwester Olive nur mehr einen Gedanken: alle Wünsche und alle Sehnsucht des armen Bauernmädchens richteten sich darauf, zum Theater zu kommen und die Donna Sol zu spielen.
Es ist ja schwer zu verstehen, wie sie sich von Hause losmachen konnte, aber Schwester Olive ließ sich durch nichts hindern. Sie überwand Vater Miteau und ihre Mutter und ihre Liebe zur Heimat und den Widerstand eines jungen Mannes, der auf sie und ihre Mitgift wartete. Und so kam es, daß sie, die nie etwas andres gelernt hatte, als zu kochen und Zider zu brauen, sich einer herumreisenden Theatergesellschaft anschloß.
Während des ganzen ersten Jahres, bis sie gelernt hatte, das Pariser Französisch zu sprechen, bekam Schwester Olive nichts andres zu tun, als die Bühne zu kehren und die wirklichen Schauspielerinnen zu bedienen. Es war keine leichte Aufgabe für eine angehende Donna Sol, den Samt der Thronsessel, die auf der Bühne stehen sollten, zu bürsten oder die Toilette der Primadonna instand zu halten. Aber Schwester Olive trug alles mit dem ihr eigenen guten Humor, und alle ihre Kameraden gewannen sie lieb. Sie wünschten ihr alle, bald auftreten zu können. ›Ach, wenn Sie nur einmal eine Rolle für unsere arme Olive finden könnten,‹ pflegten sie zum Direktor zu sagen.
Und endlich bekam Schwester Olive eine Rolle, doch nicht eine, wie sie sich gewünscht hatte. Sie hatte eine Königin spielen wollen, aber man ließ sie als Müllerin auftreten. Sie sollte grob und roh sein, in dürftigen Kleidern und weiß von Mehlstaub. Schwester Olive pflegte zu erzählen, als sie diese Rolle bekam, wäre ihr der Mut gesunken und sie habe zu weinen angefangen. Sie hatte früher, als sie noch Treppen und Fußböden kehrte, nie geweint.
Doch die Primadonna selbst ließ sich herab, Schwester Olive zu trösten, und sagte ihr, sie solle froh sein, daß sie nun endlich vor das Publikum käme. Sie könnte es nie bis zur Donna Sol bringen, wenn sie nicht als Müllerin anfangen wollte. Sie, die Primadonna, hätte als Schusterjunge begonnen.
Schwester Olive lernte also die Rolle und spielte sie, so gut sie es verstand. Und als sie sie gespielt hatte, weinte sie zum zweitenmal. Es war ihr ganz vortrefflich gelungen. Die Zuhörer hatten applaudiert und die Kollegen sie zu ihren Anlagen beglückwünscht. Ja, darauf müßte sie sich werfen, das könnte sie, eine alte, routinierte Schauspielerin hätte es nicht besser machen können.
Aber Schwester Olive weinte, sie hatte keine Lust, sich wegen ihrer Müllerin loben zu lassen, etwas in ihrem Innern sagte ihr, daß dies ihrer Donna Sol im Weg stehen würde.
Und Schwester Olive hatte guten Grund zu weinen. Sie schien alle die Leiden vorausgesehen zu haben, die ihrer warteten. Denn von nun an durfte sie immer auftreten, aber nie in einer Rolle, die sie befriedigte. Sie durfte niemals in Versen sprechen, und wenn man die romantischen Schauspiele gab, in denen Fürsten und Fürstinnen auftraten, war sie von der Bühne verbannt.
Schwester Olive wurde dessen schließlich müde und suchte eine andre Theatergesellschaft auf. Es war nicht schwer für sie, eine neue Anstellung zu erhalten. Die Direktoren rissen sich um sie. Aber Schwester Olive unterzeichnete keinen Kontrakt, ohne daß der Direktor sich verpflichtete, sie die Donna Sol in Hernani spielen zu lassen. Es wurde auch in den Kontrakt aufgenommen, daß, sobald Hernani gegeben würde, Schwester Olive die Rolle der Heldin spielen sollte. Und dann ließ der Direktor Schwester Olive ihre gewöhnlichen Rollen darstellen, in denen sie immer Erfolg hatte, aber Hernani – Hernani, behauptete er, sei unmodern und locke die Leute nicht an, er wage nicht, ihn aufs Repertoire zu setzen.
Die arme Schwester Olive dachte so manches liebe Mal, ob es nicht am klügsten wäre, heim zu ihren Apfelbäumen und ihrem Verlobten zurückzukehren, aber die Hoffnung konnte doch nicht in ihr sterben. Und sie blieb beim Theater und fuhr fort, diese kleinen Rollen zu spielen, die ihr weder Mühe noch Anstrengung kosteten, und in denen sie immer Erfolg hatte. Schließlich wuchs ihr Ansehen in dem Grade, daß der Direktor des Théâtre français kam, sie auftreten zu sehen. Und das Ende war, daß Schwester Olive ihren Einzug in Molières Haus hielt.
Als das geschah, dachte Schwester Olive nur daran, daß es ihr jetzt vergönnt sein würde, die Donna Sol auf Frankreichs vornehmster Bühne zu spielen, und sie versöhnte sich beinah ein wenig mit allen den gewöhnlichen Müllerinnen und Händlerinnen, da sie sie so weit gebracht hatten.
Zu allem Glück hatte Schwester Olive einen solchen Eindruck von der großen Schauspielerin empfangen, die die Rolle darstellte, wenn das Schauspiel einmal auf dem Repertoire stand, daß sie mehrere Jahre lang gar nicht wagte, von ihrem Wunsch zu sprechen. Aber die Zeit verging, und sie fürchtete, daß sie zu alt würde. ›Du mußt es jetzt durchsetzen oder nie,‹ sagte sie zu sich selbst. ›Du weißt ja, daß du die Donna Sol spielen kannst, so wie sie noch niemand vor dir gespielt hat. Was denkst du eigentlich, Olive, du hast doch noch nicht das Ziel deines Lebens erreicht! Bist du etwa aus deiner Heimat fortgegangen, um diese Bauernweiber zu spielen? Mein Gott, dazu hättest du dich nicht bis zum Théâtre français emporzuarbeiten brauchen, um dich wie eine Landpomeranze zu betragen.‹
Sie ging also und sprach mit dem Direktor, und der Direktor versprach, ihren Wunsch zu erfüllen. Dann hielt er sie drei bis vier Jahre mit leeren Versprechungen hin.
Als sie volle zehn Jahre am Théâtre français angestellt gewesen war, kam sie mit ihrer Klage wieder. ›Ich habe nun länger an der Bühne gedient als Jakob,‹ sagte sie. ›Sie müssen mir meine Donna Sol geben.‹
Der Direktor rief alle Künstler zusammen, die beim Theater etwas zu sagen hatten, und legte ihnen die Frage vor. ›Wir müssen Olive Miteau versuchen lassen,‹ sagten sie. ›Natürlich macht sie Fiasko, aber es gibt keine andre Möglichkeit, mit der Sache fertig zu werden.‹
In den folgenden Wochen machte sich Schwester Olive von aller andern Arbeit frei, sie las und repetierte nur unaufhörlich ihre Rolle. Das Seltsame war, daß sie gleich merkte, daß ihr die Begeisterung für die Aufgabe fehlte. ›Ich muß es tun,‹ dachte sie, ›aber ich glaube, ich werde froh sein, wenn es vorüber ist und ich zu meinen gewöhnlichen Rollen zurückkehren kann.‹
Und zuweilen, wenn sie die romantischen Worte ihrer Rolle rezitierte, fand sie sie geschmacklos und unnatürlich. ›Ach,‹ sagte sie, ›man hat mich zu alt werden lassen.‹
In Wirklichkeit lag die Schuld an ihr. Sie war an Verse nicht gewöhnt, sie konnte es nicht Hals über Kopf lernen, sie natürlich und leichtfließend zu sprechen. Die großen Worte wollten nicht über ihre Zunge gleiten. Und sie merkte, daß sie eine ganz neue Art zu gehen und die Hände zu bewegen lernen mußte. ›Das ist ja Torheit,‹ sagte sie manchmal, ›niemand ist je so gegangen oder hat so gesprochen wie diese Donna Sol. Das ist keine Rolle für einen Menschen.‹
Aber zuweilen fühlte Schwester Olive doch etwas von der alten Begeisterung für die Rolle, und dann dachte sie: ›Wenn ich wirklich auftrete, wenn ich endlich auf der Bühne stehe, dann werde ich so sehr Donna Sol sein wie niemand vor mir. Ich weiß, daß sie in mir lebt als mein zweites Ich. Was bedeutet es, daß es mir bei den Proben nicht gelingt? Ich weiß, im großen Augenblick wird sie hervorkommen.‹
Nichtsdestoweniger war Schwester Olive nach jeder Probe verzweifelt, und dieses Gefühl wurde von dem Direktor und den übrigen Künstlern geteilt. ›Mademoiselle Miteau,‹ sagte der Direktor eines Tages sehr freundlich zu ihr, ›Sie haben mein Versprechen, und es wird alles geschehen, wie Sie wollen, aber wollen Sie es wirklich?‹
›Ich weiß nicht, ob ich will,‹ sagte sie, ›aber ich weiß, daß ich muß.‹
Sie begann eine Niederlage vor sich zu sehen, eine Niederlage gerade in dem, was der Ehrgeiz ihres Lebens gewesen war, eine Niederlage in dem lachlustigen Paris, auf Frankreichs erster Bühne.
Und bald schien Schwester Olive der Sinn für die Rolle selbst zu fehlen, sie beschäftigte sich nur mit Nebendingen, sie probierte Perücken und wählte zwischen einer roten und einer schwarzen, so wie man wählt, wenn es sich um das Glück eines ganzen Lebens handelt.
Sie probierte ihre Kleider mit unerhörter Genauigkeit, sie schminkte sich zur Probe bald rosig, bald olivgelb. Aber sie, die als Kammerjungfer niedlich und beinah graziös aussah, war als Edeldame steif und ungeschickt. Und ihr Gesicht, das unter dem Zofenhäubchen jung und frisch aussah, erschien seltsam alt und verwüstet, als sie die spanische Donna Sol vorstellen sollte.
›Aber es muß doch gelingen,‹ dachte sie. ›Seit meinem siebzehnten Jahre habe ich gefühlt, daß ich einzig und allein auf die Welt gekommen bin, diese Rolle zu spielen.‹
Das alte Schauspiel Hernani macht heutzutage im allgemeinen keine vollen Häuser, aber an dem Abend, an dem Schwester Olive auftrat, war jeder Platz besetzt. Alle kannten Schwester Olives Geschichte, und man war ein wenig gerührt über diese lebenslängliche Liebe zu Donna Sol. ›Warum hat man sie diese Rolle nicht früher spielen lassen?‹ fragte man. ›Sie ist zu alt, sie wird ganz schrecklich sein.‹
Immerhin erwartete der eine oder andre, daß es ihr doch gelingen würde, da es doch ihr innerer Beruf zu sein schien. Und es herrschte vor Beginn des Stückes recht große Spannung im Publikum.
Aber als der Vorhang aufging und Schwester Olive hereinkam und zu sprechen anfing! Ein einziger gequälter Seufzer entrang sich gleichsam dem Publikum, und dann war niemand mehr neugierig. Man machte sich taub und blind, man versuchte sie ganz zu vergessen.
Schwester Olive konnte nachher nicht recht verstehen, wie sie sich durch den Abend durchgeschleppt hatte. Das Publikum war nicht hart gegen sie, es war sehr barmherzig. Man fand es beinah pikant, daß es ihr so gänzlich mißlungen war, daß sie sich so gründlich über ihren Beruf getäuscht hatte.
Und den einen oder andern erfaßte natürlich Angst, wenn er an diese Idee dachte, die sich Schwester Olives bemächtigt und sie irregeleitet hatte. Etwas Ähnliches konnte ja jedem widerfahren.
›Sie kann sich immerhin glücklich schätzen,‹ sagte man, ›sie hat ja durch diese Marotte eine ausgezeichnete Stellung erlangt, und sie braucht ja diese entsetzliche Rolle, die ihr so gar nicht liegt, nicht mehr zu spielen.‹
Schwester Olive war in Verzweiflung über sich selbst. Warum ging sie nicht in ihrer Rolle auf, warum war sie so kalt, warum fühlte sie nichts? Wie konnte sie so unnatürlich deklamieren? War sie denn keine Künstlerin? Sie fühlte sich beinah versucht, sich selbst auszupfeifen. Sie sollte ja diesen Hernani lieben. Aber es fehlte ihren Blicken, wenn sie auf ihm ruhten, jede Glut. ›Ach, ach, das soll Donna Sol sein,‹ dachte sie, als sie schwer und linkisch über die Bühne schritt.
Aber Schwester Olive war ja sehr beliebt, und sie erlitt keinen Schaden durch ihre Niederlage, wahrhaftig gar keinen. Es war wirklich sehr schön, daß die Kritik sowohl wie das Publikum sich ganz enthielten, über ihr Fiasko zu sprechen, und sich nur beeilten, es zu vergessen. Vergebens durchsuchte Schwester Olive am nächsten Morgen die Zeitungen, um einen Bericht über ihren Mißerfolg zu finden. Sie fand ihn überhaupt nicht erwähnt.
Das erschien ihr rührend, aber zugleich war sie vor Schreck förmlich gelähmt. ›War ich so entsetzlich?‹ dachte sie. ›War ich so, daß man es nicht einmal wagt, von mir zu sprechen?‹
Im Lauf des Vormittags stattete der Direktor selbst Schwester Olive einen Besuch ab.
Er schwieg nicht über das, was geschehen war, sondern er erklärte und ergründete es wie ein Arzt, der einen Krankheitsfall analysiert. ›Sie hatten zu lange gewartet, Sie sahen der Sache mit zu viel Spannung entgegen. Das benahm Ihnen den Atem und die Besinnung. Sie spielten gewissermaßen mit einem Band um die Kehle und mit Fesseln an den Händen. Es konnte Ihnen das erstemal unmöglich gelingen, heute werden Sie sich ausruhen, aber morgen – wollen Sie es morgen wieder versuchen?«
Schwester Olive besann sich. Manchmal, wenn man eine Niederlage erlitten hat, fühlt man, daß es besser gehn würde, wenn man es noch einmal versuchen könnte. Aber als Schwester Olive das Anerbieten des Direktors hörte, empfand sie nichts Derartiges. Sie hatte keine Kraft, den Kampf noch einmal aufzunehmen. Sie hatte nicht einmal Lust. So schlecht auch alles gegangen war, sie freute sich doch, daß es wenigstens vorüber war.
Schwester Olive dankte dem Direktor und sagte nein.
Der Direktor sah Schwester Olive mit einem langen Blick an und begann von etwas anderm zu sprechen.
Als er aufstand, um zu gehen, sagte er wie zufällig: ›Wir treffen uns doch morgen auf der Probe, nicht wahr, Mademoiselle?‹
Als er dies sagte, erschrak Schwester Olive so sehr, daß sie beinahe wankte. Sie fühlte, daß sie, sollte sie wieder auftreten, dann stets den gleichen Druck und die gleiche Unsicherheit wahrnehmen würde wie am vorhergehenden Abend. Mit einem Mal war es ihr ganz klar, daß sie keine Rolle mehr darstellen konnte. Daran hatte Schwester Olive vorher nicht gedacht, aber in dem Augenblick, in dem der Direktor ihr sagte, daß sie zu einer Probe kommen solle, begriff sie es.
Schwester Olive nahm sich acht Tage Urlaub, und als sie zu ihrer Tätigkeit zurückkehrte, war sie fröhlich und gesund und hatte offenbar die ganze Sache vergessen.
Aber als sie zum ersten Male die Bühne betreten sollte, da empfand sie einen eigentümlichen Widerwillen. Sie mußte sich zwingen, es zu tun. Es war nicht gerade Angst, es war ein beinahe unüberwindlicher Widerwille.
Und als sie dann auf der Bühne stand, auf der sie sich sonst so wohl befunden hatte, da senkte sich Eiseskälte auf sie herab, sie fühlte, daß ihre Gesichtszüge starr wurden wie damals, als sie die Spanierin gespielt hatte. Und als sie zu sprechen begann, erkannte sie Donna Sols abscheuliche, unnatürliche Stimme wieder.
Von diesem Augenblick an haßte Schwester Olive das Theater. Aber da sie eine praktische, kluge Person war, gab sie ihrem Mißmut nicht sogleich nach. Sie kämpfte einen ganzen Winter gegen ihren Widerwillen an, aber schließlich wurde er in ihr übermächtig.
›Ich habe nun genug Rollen verdorben,‹ sagte sie zu ihrem Direktor, ›um einzusehen, daß ich nicht mehr tauge. Mir bleibt nur mehr eins übrig, nämlich meiner Wege zu gehen.‹
Dann kam sie zu uns und wurde barmherzige Schwester. Sie war immer ruhig und heiter, und die Kranken liebten sie. Sie war auch bei uns glücklich; es lag in ihrer Natur, glücklich zu sein.
Als ich sie kennen lernte, war ich noch jung, und ich fragte sie manchmal: ›Sehnen Sie sich nie zurück in die Welt, Schwester Olive, nach Ihrem Theater, Ihren Rollen, Ihren schönen Pferden und Ihren eleganten Möbeln?‹
Ich erinnere mich deutlich an Schwester Olive, als ich sie einmal so fragte. Sie war mit den Jahren immer mehr wie eine alte Bäuerin geworden, sie hatte Fett angesetzt, ihr Gesicht war sehr runzlig und grob, aber sie sah auch sehr kräftig und klug aus mit ihrem breiten Kinn und ihren klaren Augen.
›Wonach sollte ich mich sehnen?‹ sagte sie. ›Es war ja unmöglich, es länger auszuhalten. Wozu ich Lust hatte, dazu hatte ich keine Anlagen, und wozu ich Anlagen hatte, dazu fehlte mir die Lust.‹«
Die barmherzige Schwester schloß: »Ja, das war Schwester Olives Geschichte.«
»Wissen Sie was?« sagte der Konsul. »Ich sah sie auftreten. Ich war sogar an jenem Abend im Theater und sah sie die Donna Sol spielen. Ja, das war ein Fiasko! Aber was ist nun Ihre Ansicht über dies alles, Schwester?«
»Darüber gibt es wohl nur eine Meinung,« fiel der Kapitän ein, »dieser innere Beruf ist ein Betrüger.«
»Man muß ihm mißtrauen,« sagte der Maler.
»Mißtrauen, mißtrauen!« rief der Konsul beinahe zornig aus. »Man muß ja auch der Liebe mißtrauen, aber was wird ohne sie aus uns? Nichts! Und was vermögen wir, wenn wir uns nicht berufen glauben? Nichts. Wozu taugen wir? Zu nichts. Was ist Ihre Meinung, Schwester Agnes?«
»Ich denke, Monsieur Bartout, daß in der einen oder andern Weise dem allen etwas Göttliches zugrunde liegen muß.«
»Ja gewiß,« sagte der Konsul, »und wenn das Göttliche auch gefährlich ist, kann das ein Grund sein, es zu schmähen?«