Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Vorbei die Gesänge der Matutin, die letzten Worte aus Menschenmund, das Rauschen der Zeremonienschleier und das lästige kleine Klingeln der Rosenkränze – – vorbei, vorbei . . . Es ist Nacht. Es ist tiefe, unendliche Nacht; eine Nacht in der abgeschiedensten Zelle am Ende des Klosterflügels. Welche Nacht? Welche Zelle? Und welches Kloster? Diese Nacht, diese Zelle und dieser Flügel des Karmeliterklosters in dem normannischen Städtchen Lisieux; ich selbst: ›Theresia vom Kinde Jesu und dem heiligsten Antlitz‹ – man kann uns benennen, ein Raum umgibt uns, und eine Zeit läuft in dem Stundenglas ab. Doch, nein. Das flackernde Lämpchen lügt, das mir die Wände der vielgeliebten, vertrauten Zelle vortäuschen möchte, die nackten Mauern, den Strohsack auf Brettern und den abgeblätterten Wasserkrug, den ich mir aus demselben Grunde, was sage ich, mit derselben Freude, wie das elende, schmutzige Lämpchen wählte, dessen Docht ich, anstatt ihn schrauben zu können, mit der Nadel hochziehen muß. Nur ich bin die Gleiche. Ich bin Theresia – aber in einem anderen Dasein: nicht jetzt, nicht drüben, nicht hier. Welcher Friede. Obwohl ich außer mir bin, geht mein Puls wie immer, mein Herz schlägt ruhig, und meine Gedanken gehorchen mir und sind, wie es die Magnetnadel ist, auf einen einzigen Punkt gerichtet, auf den Pol in der Mitternacht meines Lebens, den 332 anzuschauen ich niemals matt, noch müde werden kann; meine Sinne sind weit geöffnet und scharf wie Klingen, die man in Japan geschmiedet und den würdigsten Kämpfern ausgeteilt hat, damit sie nicht mutlos werden – ja, selbst noch das leise Gelächter der Hölle und die Zwiegespräche ihrer Bewohner – würdig eines Voltaire, eines Danton und eines Robespierre – regen sich ebenso deutlich am Grunde meines Gehörs wie das Nagen der Feldmaus, das verschlafene Zwitschern der jüngsten Meise und. der weiche Abflug der Eule in den fernen, längst versunkenen Gärten meiner Kindheit. [O, Buissonets!] Denn auch sie sind außer sich wie ich selbst: wirklich, aber unendlich vervielfacht, losgelöst von dem Gesetz der Materie, dünnleibig, ohne ein anderes Echo als jenes, das ihnen meine Empfindung, wie der Schläger den Ball, zurückwirft, der ihn annimmt oder verweigert, wenn es die Spielregel will. Grenzenlos, fließend an ihren Rändern, ohne einander zu stören, zu durchdringen oder gar aufzuheben, sind alle Eindrücke: was ich höre, sehe ich gleichzeitig; was ich sehe, drückt sich in Worten aus, die mir wie Luft, Gerüche herbeitragend, zugehaucht werden und meine Haut berühren wie Flügel gespenstiger Schmetterlinge . . .
Nur mein eigenes Bild, ich sagte es schon, tritt mir keineswegs so entgegen. Es bleibt fest und umrissen, nüchtern und klar; gegenwärtig auf jene elende Weise, die mir die Schwäche, den Schmerz und die Mühsal des armen Körpers, der mich umschließt, nur allzu begreiflich macht. Ich sehe mich selbst in dem lächerlich plumpen, verschnittenen Habit mit den abgestoßenen Ärmelrändern und den Schnürensandalen: verbogen und hart von der Wäschelauge, in der ich heute beim Spülen gestanden habe, während die törichte kleine Gehilfin mich unter Prusten und Kichern mit dem Seifenwasser bespritzte und ich abwechselnd mir den Schweiß von der Stirn und später die eiskalten Hände zu trocknen genötigt war, weil das Waschhaus nach alter Gewohnheit überhitzt war, und als wir die Wäschestücke in den Körben nach oben trugen, die scharfe Zugluft mir meine wunden Fingerknöchel zerbiß. Dazu quält mich der Husten und rächt sich dafür, daß ich ihn mit Gewalt während der Rekreation unterdrückt und mich zu dem schweigenden Lächeln, das die Klostergemeinde gleichsam als ihren Tribut erwartet, 333 unter Schmerzen gezwungen habe. Nun schüttelt er sein Geschöpf . . . Er zerreißt die Stille, in der ich mich sammeln möchte, und reißt mir Stück um Stück jenen Himmel, den ich zwar glaube, doch kaum jemals fühle, geschweige denn erblicke, mit schrecklicher Eile auf.
Über mir Himmel und rings um mich Wüste: Dies war mein Wunschtraum, und er ist wirklich, ja, so sehr die Wirklichkeit selbst geworden, daß er mich zweifeln läßt, irgendein Jenseits sei wirklicher als er. Mein Gott, was sage ich: irgendein Jenseits? Doch, ich will es zu denken wagen. Denn die himmlische Stadt mit den Mauern aus Jaspis und Saphir ist mir fern und entfernt sich, je mehr ich mich ihr zu nähern und sie zu betrachten suche, mit eigentümlicher Eile; sie entzieht sich mir gleich dem Abendstern, der von Osten nach Westen geht und erst kurz vor dem Aufgang der Sonne wieder zum Morgenstern wird. Licht tauscht sich um Licht; je mehr es mir entschwindet und in Nacht zu versinken scheint, desto gewisser – ich weiß es wohl – kommt es mir schon entgegen; aber, ach, ich fühle es nicht. Vielleicht, daß die Mitternacht längst vorüber und der Tag auf der Schwelle ist – doch kein Wächter ruft hier die Stunden aus, und meine Augen vermögen nicht die Finsternis zu durchdringen, denn wie bei den Nachtigallen, die man geblendet hat, damit sie schmelzender schlagen, ist das irdische Licht mir verlorengegangen, so daß ich nun Tag und Nacht singe: liebestrunken, der Zeit entfallen, dem Raum entzogen, an dem meine Flügel zerbrechen müßten, wenn er sie halten wollte.
Um mich die Wüste. Eintönig und erhaben zugleich, immer dieselbe, von nichts gegliedert als dem furchtbaren Wechsel der großen Askese, dem Feuer der Buße, dem Schlag der Geißel und dem strengen, fast allzu seraphischen Dienst des heiligen Offiziums. Der glühenden Hitze folgt eisiger Frost – aber Frost und Hitze sind beide so stark, daß sie nicht als verschieden empfunden werden, und die vollkommen finstere Nacht der Seele gleicht dem wehen Entzücken, mit welchem die Sonne – eine feuerflüssige, grausame Sonne ohne den Schleier der Atmosphäre – das menschliche Auge trifft. Keine Linderung. Unsre Oasen sind selten, und selbst die entschuldbaren 334 Fata morganen, die dem Pilger im Traum erscheinen, verlieren mit verminderter Wunschkraft an Häufigkeit und Trost. Von Tag zu Tag läßt die Täuschung nach, im Guten wie im Bösen. Denn der abgefallene Lichtengel weiß, daß die Gabe der Unterscheidung an das Opfer der Sinne geknüpft ist, und hütet sich, unmittelbar wie Gott auf eine Seele wirken zu wollen, deren Einfallstore mit Chrysam gesalbt und verschlossen sind mit den gleichen Siegeln wie das Buch des göttlichen Lammes, das sie öffnet oder verhält. Er hat andere Mittel, der große Betrüger, von welchem die Unerfahrenen meinen, seine stärkste Versuchung sei – kindlicher Glaube! – die Flamme des Geschlechts. Was bedeutet sie aber, gemessen an jener, die uns wie Wachs und Weihrauch verzehrt, wie Brandopfer, die den süßen Geruch des eigenen, schon verklärten, doch empfindsamen Fleisches atmen, und uns Fackeln ähnlich macht, die der Sturm immer weiter in jene Wüste hineintreibt, deren Mittelpunkt Er ist, der brennende Dornbusch, von dem wir abkünftig sind; mehr noch: als dessen Töchter und Söhne wir neben den Cherubim stehen und im Karmel den Engeldienst üben. Doch, ach, nicht als reine, fühllose Geister, sondern in dem empfindsamen Fleisch, das noch gehöhnt werden kann:
»Sieh dieses bittere Kraut dir zu Füßen und erkenne daran«, sagt der Widersacher, »daß du im Glauben, ihn zu umkreisen – im Kreis gegangen bist. Deine Mühe ist vollkommen wirkungslos, dein Gebet ohne Antwort geblieben. Was du suchst, verbirgt sich nur immer mehr – und wer sagt dir, daß das, wonach du verlangst, eine Wirklichkeit außer dir ist? Wie doch? Du meinst, daß, wie jeder Betrug eine Wahrheit voraussetzt, so auch der Satan den Schöpfergott dieser Welt? An wessen Wirklichkeit glaubst du also? An die meine? Hast du nicht oft erfahren, daß ein Wort von dir mich verschwinden läßt wie den Hauch auf einem beschlagenen Glas, dessen Fläche gleich wieder leer ist; wie der erste Hahnenschrei die Gespenster, welche nichts als Einbildung waren? Meine Tochter, schön und klug wie du bist, neige dein Ohr und höre mir zu, wenn ich jetzt mein Geheimnis verrate: auch ich bin nicht Wirklichkeit. Wenigstens solche nicht, die ihren Sitz an einem anderen Ort hat, als in deiner eigenen Brust. Was du Gut und Böse nennst, 335 Gott und den Satan, sind wie Feuer und Kälte, wie Tag und Nacht, Sommer und Winter, Leben und Tod immer das gleiche Prinzip. Um Gott und das Jenseits glauben zu können, glaubst du an mich als den Herrn dieser Erde und weißt doch, daß selbst nach dem Katechismus das Jenseits mich und die Erde Gott gleicherart mitenthält! Doch ich will dich von diesem Wahnbild erlösen, indem ich daraus verschwinde und auch Jenen, den du ›den brennenden Dornbusch‹ in deinen Gebeten nennst, zwinge, dein Dasein zu verlassen, das dann wirklich erst – Wüste ist. An nichts mehr zu glauben, nichts mehr zu wünschen: welch erhabene Stille und welcher Friede, den ich dir schenken werde! Aber hast du ihn nicht schon lange zu eigen und fühlst ihn in dieser Stunde erst ganz, wo sich dir selbst die Dinge verweigern und außer sich sind wie du? Wo das Lämpchen dir lügt, deine Zelle sich weitet, und deine Sinne, die hart entwöhnten, die nicht mehr wie Sinne anderer Menschen an ein bestimmtes Organ gebunden und nur eines einzigen groben Eindrucks immerfort fähig sind – ich sage: wo diese Sinne wie flüchtige Essenzen sich auflösen und einander durchdringen, um die Hochzeit des Hades zu feiern? Wie willst du dich aber selber von ihnen, diesen Geistern der Luft, unterscheiden? Und von den Geistern der Luft den guten oder den bösen Geist? Denn keiner hat vor dem anderen eine größere Wirklichkeit, stärkere Dauer und höheren Rang voraus. Auch du, die sich Schwester Theresia nennt – –, führst du nicht Luftstreiche gegen dich selbst; es sei denn in jenen Augenblicken, wo du die Geißel herabnimmst, um durch sie den Schmerz als den Grundstoff des Lebens und damit dein eigenes zu erfühlen, das ohne ihn Einbildung wäre? Gut . . . doch, ich will dir den Schmerz gestatten, bis du stark genug bist, auch ihn zu entbehren; diese Waffe, die ich großmütig dulde, weil sie mit mir verbündet ist. Nun schlage zu und triff dieses Fleisch, an dem ich keinen Anteil – in Ewigkeit nicht! – habe. Strecke die Hand aus, ergreife die Geißel, deren erster Hieb mich verjagen wird wie einen räudigen Hund!«
»Ich möchte dir antworten, Widersacher und Meister der Widersprüche, du, der sich verdichtet und dann verflüchtigt, um sich wiederum zu verdichten; der mit furchtbarer Zärtlichkeit meinen 336 Gedanken wie ein Liebhaber seiner Freundin nachgeht – immer bereit, sich zurückzuziehen, wenn sie vor seiner Nähe erschrickt, und wiederzukehren, wenn ihre Laune es aus Langeweile verlangt. Du – leichter als Wind und beständiger als das Geigen der Mittagsgrille im Gras, die dem Auge unsichtbar bleibt: warum versuchst du mich mit der Lüge, weniger noch als das bare Nichts, aber mehr als die mühsam geglaubte Gewißheit meines armen Herzens zu sein, dem noch niemals eine andere Antwort von seinem Geliebten wurde als die Gabe der Ruth, die sich, Ähren lesend, zu den vergessenen Hälmchen, eins um das andere, bückte, um sie vom Acker zu heben, – die Gabe der Geduld? Nimm die Geißel, sagtest du, fühle dich selbst, da kein andres Gefühl dir standhält, und vernichte diese Versuchung, indem du dich von ihr unterscheidest – aber du wußtest doch, Widersacher, daß mir die Geißel nur im Gehorsam und auf Befehl meiner Mutter Priorin, wie die Regel vorschreibt, gestattet ist. Du irrst daher, wenn du glaubst, meine Waffe sei diese Geißel hier – meine Waffe, gefallener Engel, ist der Gehorsam allein. Nun fliehst du. Ach, der Sieg über dich will mir allzu einfach erscheinen. Bleibe! Dich zu entlarven, ist leichter, als an Gott und seine Absicht zu glauben, der die Erde dir überliefert hat, damit du mit ihr nach Gefallen tust und ihre Geschöpfe schleuderst wie auf der Tenne die Spreu. Wenn du Mut hast, verachtest du diese Beute, welche dir blind in das Netz läuft, sich an die Angel stürzt, die du auswirfst, in die Flamme torkelt, die ihnen Erleuchtung und Wärme zu verbürgen, das Lager, das ihnen dauernde Lust, und das Schwert, das ihnen irdische Zukunft, die Tyrannei, die ihnen den Frieden, und der Besitz, der zu stillen verspricht, was im Haben sich selbst verzehrt. Nein, nein. Die Stelle, an der die Entscheidung über das Schicksal der Vielen fällt, der Ort, von dem aus der Kampf gelenkt, und das Schlachtfeld, wo er besiegelt wird, ist nicht die Welt – das weißt du wohl, Satan – es ist der heilige Berg des Karmel, jener sphärische Bienenkorb, Zelle an Zelle, wo jede deinen Erzfeind beherbergt: angriffslustig, bereit, ihren Sieg mit dem Leben selbst zu bezahlen und Tag für Tag eine Gegenwelt aus dem eigenen Leib zu erbauen; aus dem wunderbaren, geschmeidigen Stoff, den die Biene aus Gift und Süße 337 bereitet und umgewandelt hat, aufgetürmt zu den Waben einer zukünftigen Erde: paradiesisch dem paradiesischen Schoß der ewigen Weisheit entstiegen, welche schon, ehe die Schöpfung wurde, ihren Plan, wie ein spielendes Kind seine Bänder, über den Abgrund geworfen hatte und die Menschenwege erschuf . . .
Oh Wege! Wege! Pfade des Herzens, die bald Ackerfurchen durch Korn und Mais, den schmalen Rebenzeilen des Weinbergs und überschwemmten Reisgräben gleichen; bald Linien, welche in Urväterzeiten der Pflug durch die frommen Felder gezogen, und den Siedlerspuren im glühenden Dunkel der zitternden Bambuswälder – hier gewaltsam mit Feuer und Schwert gerodet und noch grauschwarz von Aschenspuren; dort von Gattern befriedet, Flursteinen, Malen und Überlieferungen; wie der Schoß einer Kreißenden eingerissen, niedergetreten wie sumpfiges Gras, in die Felsen gehauen, von Kärrnern gebaut und von Königen im Triumphzug befahren – – Wege des Blitzes, Wege der Tiere, wo die Hirsche wechseln, das Murmeltier pfeift und die Nattern ihr Schlangenhemd liegenlassen . . . Räuberwege und Büßerpfade auf den erhabenen Höhen Tibets, gewundene Wege um die Pagode und endlose Straßen der eingestürzten chinesischen Mauer entlang: ihr alle, Gleichnis der menschlichen Seele und ihrer Pilgernatur, ihrer Sehnsucht und ihrer Friedlosigkeit, ihres Ursprungs und ihres Zieles; der paradiesischen Herkunft des Raumes noch eingedenk, doch an das Chaos verloren – ich selber, ein Kind fast, nicht weit entfernt von der Quelle, aus welcher die Ströme Edens, und dem Brunnen, aus dem die Neugeburt Adams immer wieder entspringt, will die Welt aus Liebe erbauen. Hilflos und unersättlich zugleich, ohne Werkzeug, um ihre Felsen zu sprengen, ihre Urwälder niederzuschlagen, kann ich sie, Orpheus gleich, nur durch Gesang und das Hohe Lied meines Herzens bewegen, vor mir zur Seite zu rücken; ohne Schöpfkelle will ich die Flüsse und ohne Alraune die Tiefe aus ihren Angeln heben. Eingeschlossen in meiner Zelle und also noch weniger frei als die Biene, welche der Duftweg der Linde nach links, der Akazie nach rechts zu fliegen verlockt, kehre ich selber die Wege der Menschenkinder um. Wie ein Kriegsheer, das seine Posten ausstellt, besetze ich 338 die Kreuzungen aller; ich werde an jedem Übergang stehen und Brückenzoll erheben. Denn ich wähle nicht aus, wie der Wanderer wählt, der nicht weiß, welchen Pfad er einschlagen soll, oder doch nur so, wie ich einmal als Kind vor einem Körbchen mit bunten Garnen, die man mir spielerisch hinhielt, ausrief: Ich wähle alle! Ach, mein ungenügsames Herz begreift nicht, wie es möglich ist, weniger als das Ganze oder nur einen Teil seiner Wünsche zu wollen und den anderen aufzugeben. Ich will die Erde in ihrer Fülle – nicht, um sie zu besitzen, sondern um sie zurückzugeben: jedes Sandkorn an seinen Schöpfer, damit er es neu zusammenfüge, jeden Wassertropfen seinem Erlöser, damit er das Wunder Kanas vollbringe, jede Vogelfeder dem Heiligen Geist, damit er sie seinen Aposteln zu Flügelschuhen binde. Gleich dem Adler verlangt mein Gefühl, die Welt mit Liebe zu überschatten: ihre Hochgebirge und ihre Täler, welche, je höher man ansteigt, einander immer ähnlicher werden wie Seligkeit und Schmerz. Doch was sage ich: mit dem Gefühl eines Adlers, der sich höher und höher schraubt? Nein. Nicht dem Adler, wahrhaftig nicht, sondern dem graubraunen Zaunkönig gleich, der sich unter seinen Fittichen birgt, um von ihm emporgetragen und mitgenommen zu werden. Dies ist der Weg meiner »Geistlichen Kindheit«, den ich beschrieben habe; der kurze Weg, meiner Schwäche gemäß und meinen Flügeln, die von Natur aus nur gemacht sind, im Unterholz und im Gebüsch von Ast zu Ästchen zu schlüpfen. Ein Zaunkönig mit dem Herzen des Adlers – welch lächerlicher Anspruch! Welches Ausgesetztsein dem Spott der Hölle und doch: welche List von der Art des David, der den Riesen mit Schleuder und Stein bezwingt und der Schwäche des kindlichen Arms! Denn ich fordere dich nicht vermessen, Satan, sondern mit Zittern heraus; mit Gebet und Fasten, Tränen und Buße und beständiger Unterwerfung unter den Willen meiner Priorin, deren Befehl mir die Maße setzt, die ohne sie wie Nomadenzelte von dem Wüstensturm würden verweht und mit Leichtigkeit zugedeckt werden . . .
Berauscht und doch nüchtern; von Flammen verzehrt, doch heil wie der Salamander; in den Abgrund geworfen, doch unzerschmettert, bleibe ich immer neuen Kämpfen und Wunden 339 aufgespart; ich sterbe täglich den gleichen Tod in Feuer oder Kälte und richte mich täglich empor. Wie ein mutiger kleiner Hahn, dem man Dolche an seine Füße gebunden hat, und welcher, noch ganz geblendet von dem plötzlichen Öffnen des Deckelkorbes, in dem er eingesperrt war, seinen grausamen Gegner anspringt, gehe ich blindlings und glühend vor Zorn gegen dich, Erzfeind, vor. Zerfetzt und blutend aus schrecklichen Wunden, lasse ich selbst mit durchbohrtem Auge, schon erlöschend, nicht von dir ab – und erst, wenn mein letzter, klagender Ruf, jener eigentümliche, eherne Ton, der am Herbstmorgen unwirklich ferne aus den nebligen Dörfern herdringt, verhallt ist . . . dann erst, Verführer, höre ich auf, dein Gegenspieler zu sein. Dann erst . . . es ist der schreckliche Tag, wann die Schalen des Zorngerichts ausgegossen, die Posaunen geblasen, die Siegel erbrochen und die Wesen gefordert werden. Das Jüngste Gericht wird mich ruhend finden wie das Zünglein an einer Waage, und bebend zwischen Gott und dem Satan werde ich nicht die Gerechtigkeit, sondern die Liebe versinnbildlicht haben, an welcher der Kampf dieser beiden Mächte, als er die Welt ins Gleichgewicht brachte, die Kraft seiner Ausschläge maß. Daß beide Schalen sich ausgewogen und einander verziehen haben, wird der Frieden der Hölle sein. Auch sie wird ruhen in tiefer, finsterer Majestät; in der Fülle der Bosheit, dem Ausmaß des Hasses und der Vollendung der Sünde, die Gott ihr gestattet hat. Er selbst legt das letzte Gewicht auf die Waage: die verschwendete Kraft seiner Auserwählten, die nutzlose Mühe, den ungehörten und ungelinderten Seufzer und den Überfluß, welcher unabgeerntet wie Früchte im nassen Oktobergras fault und von dem Fußtritt spielender Kinder beiseite gestoßen wird. Wie süß zu verschwenden – doch wieviel süßer, verschwendet worden zu sein! Zu vergessen ist nichts; doch vergessen zu werden, wo das Herz in Tafeln von Stein und Bronze sich eingeschrieben glaubte – welch überirdische Heiterkeit von der Art eines uralten Ammenreimes, dessen Text schon längst keinen Sinn mehr hat. Zu verlieren – ein Verlust oder nicht; aber verloren zu werden wie ein Kiesel, der durch die durchlöcherte Tasche des Knaben zur Erde fällt – welch bewußtlose Rückkehr und welcher Gehorsam, der zwar 340 dem des Fallgesetzes ähnelt, doch wie der Gehorsam der Muttergottes von ihm unterschieden ist. Und wiederum sage ich: welcher Friede – aber wie darf ich es heute schon wagen, seiner teilhaftig zu sein?«
»Ist«, fragt der Satan und nähert sich wieder nach Art der Fledermäuse, die immer denselben Bogen mit Hartnäckigkeit umschreiben, »was du genießest, wirklich nur Friede, oder ist es nicht eher die tiefe Ermattung eines endlichen Wesens, das seine Schwäche mit der Schwäche anderer Wesen vereint, um auf dem Grund von Myriaden Leben jenen Fingerhut voll unsterblicher Taten und Handlungen zu finden, die der Vernichtung und damit mir selbst Einhalt gebieten können? Bist du, die sich mir entgegenwerfen und mir die Erde entreißen wollte, deiner Nichtigkeit überhaupt bewußt – und weißt du denn, wenn du es wirklich bist, gegen wen du eigentlich kämpfst? Ich könnte dich schütteln, wie ich schon häufig deinesgleichen geschüttelt, sie an den Haaren über den Boden ihrer düsteren Zelle gerissen, mit den Fäusten in das Gesicht geschlagen und an die Mauern gestoßen habe – ich, der ich in meinem Niedersturz die Kräfte des Himmels erschütterte und den Sternenbaum zu mir hinbog, daß die Planeten wie taube Nüsse herunterprasselten, ach! Doch ich verzichte darauf. Ich will eine bessere Rache nehmen und deiner Ohnmacht die Fülle zeigen, um die du gebeten hast. Deinen Wünschen, die Wildgänsen gleich, wenn der Frühling sie von Süden nach Norden treibt – hier dem Eismeer und dort dem Himalaja entgegen – mit langgestreckten Hälsen und ungeduldigen Schreien den silbernen Flußbändern folgen und die tauenden Moore, das sumpfige Gras und die Igelrücken der Schachtelhalme nur mit dem flüchtig zeichnenden Schatten ihrer brausenden Flügel berühren, will ich die Augen öffnen; ich will ihnen das Gewimmel und die fürchterliche Vermehrung der Menschensohne zeigen, wenn sie sich, überquellend wie Maden, auf den ›Pfaden des Herzens‹, wie du die Wege der Vielzuvielen genannt hast, taub und stumm vorwärts bewegen; den raupenhaften Zug der Verdammten, welcher, den Hinterleib aufgebäumt, sein Vorderteil weiterschiebt. Du sollst die Pilgerzüge in Indien nach den heiligen Wassern des Ganges sehen und die purpurbraunen Trauben der Leiber, die, stinkend von 341 Fäulnis, Aussatz und Pest, an dem Uferrand niedergleiten; die Klöster von Lhasa, den Potala mit seinen goldenen Dächern und den wahnwitzig bimmelnden Bronzeglöckchen, deren Klöppel eines der frommen Geschöpfe, die wie Maulwürfe – augenlos und geschäftig – in den gemauerten Zellen hausen, von der Hoffnung auf das Nirvana zerfressen und verzehrt, in Bewegung setzt; das Traben der Kulis vor ihrer Rikscha, den trostlos und träge schaukelnden Hingang der Dschunken auf den asiatischen Flüssen und den Sammeltransport der Urnen, die ein findiger Reeder der USA. für die toten Chinesen organisiert hat, damit ihre Reste, in Kistchen und Kästen übereinandergestapelt, den Weg in den Ahnenstaub finden. Die dampfenden Schlachthäuser von Chikago, in denen das dumpf ergebene Vieh und seine ihm allzu ähnlichen Treiber ihre Erfüllung finden; das Leben der Schuhputzer will ich dir zeigen, der Tellerwäscher, der Klöpplerinnen und der elenden, kleinen Vorstadtartisten, die ängstlich mit fünf, sechs Tellern jonglieren; die Versammlungssäle der Bibelforscher zwischen zwei Hinterhöfen, deren Wände, abgeblättert und kahl, immer dieselben Sprüche und Wasserflecken tragen, und in New York die christliche Kirche unter den Wolkenkratzern, die als ein beständiger Anachronismus ihren Zeigefinger nach oben hält, den niemand mehr sehen will . . .
Wieviel Lebewesen, die alle zusammen noch keinen Julius Cäsar ergeben, und welche Verschwendung von Blut und Samen, um endlich in Stratford am Avon einen Shakespeare hervorzubringen! Täusche dich nicht: auch du bist nur eines jener unzähligen Blütenblätter, die, wenn der Frühling vorüber ist, zur Erde niedertaumeln oder mit andern zusammen das Bachbett hinabgeschwemmt werden. Wie viele deinesgleichen verbraucht die Natur, um ans Ziel zu gelangen –, du aber, die du ihr diesen stillen, bedingungslosen Gehorsam durch deine Anmaßung ständig verweigerst und die Erde, wie eine Klapper die Kinderhand, umspannst in der Meinung, sie verändern zu können, indem du einige Steinchen in ihr durcheinanderschüttelst; die du denkst, du habest in deiner Erkenntnis die ganze Welt, wie der Bouquiniste an dem Seineufer das Leben in seinem Bücherkasten – wiederhole nicht dieses verhaßte Wort, dessen 342 besessene Monotonie mich anflattert wie den Glasberg der Vogel, der gewiß ist, ihn durch beständiges Wetzen mit dem Schnabel am Ende der Ewigkeit abgetragen zu haben: Liebe – – es sei denn, du meintest den Taumel, der Körper zu Körper reißt und der Ursprung dieser Vermehrung ist. Aber vielleicht, du stolze, feuerblonde Normannin mit den grünen Meeraugen und der zarten, porzellanweißen Hyazinthenhaut, die so rasch von pulsendem Blut errötet und wiederum erblaßt, begreifst du dich selbst nicht, und während du glaubst, dein Herz [wie der Verschwender sein Geld] in einen tieferen Abgrund als den des Fleisches zu werfen, gleichst du doch nur der Gallionsfigur am Bug eines Seeräuberschiffes, die den schönen und keuschen Vorwand abgibt für die rasenden Wünsche seiner Besitzer; für die Eroberungsgier jener wilden, von der Weite des Ozeans trunkenen Seelen, für ihre glühenden Träume und eisigen Grausamkeiten. Du führst ein Gespensterschiff, mindestens aber den Argonautenzug an, der mit dem Wunsch nach dem Goldenen Vlies seine Habgier bemäntelte. Ob du »Liebe« sagst und meinst deinen Gott oder »Haß« und biegst wie der Bogenschütze die beiden Enden der Welt zueinander, um aus aller Kraft den tödlichen Pfeil gegen mich abzuschießen – ebenso wie diese Worte doch immer genau den gleichen Inhalt bedeuten, vermindert oder ergänzt sich in Seligkeit und Schmerzen durch deine Anstrengung nicht die Lebensfülle des Seins. Meine arme Freundin! Versuche nicht, den Hauch deiner Brust, die sich mühsam bei jedem neuen Hustenstoß quält, dem Atem des riesigen Raumes der Sternenwelt zuzugesellen, in der Hoffnung, entweder diesen Raum um deinen karg bemessenen Atem, oder den Atem deines schon kranken und todgeweihten Leibes um den Sphärenhauch zu vermehren! So edel auch deine Mühe sein mag, so ist sie doch nur eine einzige Täuschung deines Blutes, in welchem das Erbe von Eroberern und Soldaten kreist, die ihr Schwert noch nicht abgelegt haben. Weil du selbst die Welt nicht bekehren kannst, wie du es gern möchtest, so verbündest du dich durch Gebet und Fasten mit der elenden Schar der Missionare, die unter Schwitzen und Stottern in den Seminaren japanische Zeichen und chinesische Wortbilder malen; das ›Om mani padme hum‹ übersetzen, die Bibel ins Sanskrit übertragen und 343 resignierend darauf verzichten, die paulinische Glaubenslehre jemals einem Negerhirn klarzumachen. Siehst du sie, wie sie sich schnaubend bemühen, die Schale mit Kawa hinunterzuwürgen, in welche ein schmutziger Polynesier unter Rühren vorher hineingespuckt hat, und wie sie, ach so vergeblich, versuchen, seiner Dämonenangst mit dem Begriff einer geistigen Gottheit entgegenzutreten, den der Farbige niemals erfassen kann? Siehst du sie – –?«
»Ja, ich sehe sie, Satan. Ich sehe den mageren, kleinen Menschen in dem indigoblauen Kittel und den über und über verstaubten Schuhen, der sich die Straße entlangschleppt, während sein Herz, dieser zähe und harte, unendlich gehorsame Muskel, einen zitternden Wirbel schlägt, Er läuft wie einer, der auf der Flucht ist und der Gefahr nicht achtet, welche ihm überall droht: stolpernd, vom Flimmern der Hitze geblendet, die vor seinen Augen hängt wie ein feiner, aus tanzenden Mücken gewebter Schleier; aber mehr noch geblendet und angezogen von dem inneren Bild, das seit vielen Tagen in seiner Vorstellung lebt: einem Altarstein und einer Patene, einem Kelch, von ein paar Menschen umgeben, die anders sprechen als er; eine andere Haut und andere Träume, andere Ängste und Wonnen haben; auf andere Art und Weise gezeugt und unter anderen Umständen selbst geboren wurden wie er. Er sieht ihre Hände, unsagbar fremd, mit den bläulich durchflossenen Nagelkuppen, ihre Augen mit der nächtlichen Iris, die von Geheimnissen überquillt, welche niemals mitgeteilt werden, den scheuen Rücken der schmalen Frauen und die Füße der Hühnerdiebe, der Räuber und lügnerischen Banditen, deren Zehen sich vor Ungeduld krümmen, während ihr Hirn sich neugierig einläßt mit der Botschaft, die man ihm bringt. Er sieht sie alle, Junge und Alte, in ihren Planetenbahnen . . . und er wirft sich unter sie wie ein großer, hellbrennender Meteor, der das Gesetz ihres Laufes verändert und den Aufbau ihrer Kristalle erschüttert, bis sie sich ganz und gar umgewandelt und wie in dem Tiegel des Alchimisten zu edleren Elementen wieder neu aufgebaut haben. Ein einziger Mensch nur, der in dem Schoß eines getauften Negerweibes ganze Generationen von Christen, von Kulturen und Theokratien 344 erzeugt, die ohne ihn nicht wären! Diesen einen meine ich, wenn ich zitternd und blau gefroren vor Kälte mit bloßen Füßen den Weg zurück durch den offenen Kreuzgang gehe und das bißchen Wärme dabei verliere, das mir der rauchige, alte Kamin in dem Saal der Rekreation für die Dauer einer einzigen Stunde am Tag gespendet hatte. Vielleicht, daß mein Frost seiner Fieberhitze ein wenig Kühlung spendet, und daß meine Tränen, die mir zur Nacht am Rand der Wimper erstarren, das Gefühl seiner Hoffnungslosigkeit lösen und die Verzweiflung zum Schmelzen bringen, die den Einsamen überfällt; daß jedes Wort, welches unausgesprochen auf meinen durch das Schweigegelübde hermetisch verschlossenen Lippen verharrt, jenem Träger der Frohbotschaft zugehaucht und ihn ermutigen wird, und daß die Zärtlichkeit, die mein Herz, dieses hartgepanzerte, sich nicht gestattet, den armen Kleinen zugute kommt, die seine Hände am Weg auflesen, um sie Christus entgegenzuführen. Du hast also recht, vom Himmel Gestürzter, wenn du glaubst, jeder Atemzug meiner Brust mische sich mit unzähligen anderen, die eben begonnen werden, und mein Leib, der sich hingibt, baue im Tode den Leib der Unsterblichkeit. Prahle doch nicht mit der Weite der Erde! Er, der sie gebildet hat, kennt allein das Innere des Menschen, und siehe: es ist größer als alles, was vorher erschaffen wurde – – vielfältiger als die Fauna des Urwalds und unergründlicher als die Südsee mit ihren Korallenriffen; es ist höher als der Götterberg Tibets, breiter als Wolga und Mississippi, gefährlicher als das Nest der Kobra und unberechenbarer als Wind, der von Osten nach Westen dreht.
Gott aber ist größer als unser Herz – und während es sich in Furcht und Schrecken vor der Weite des Raumes zusammenzieht, der über Millionen Meilen hinweg die Fixsterne in dem großen Bären oder dem kalten Orion zu einem menschlichen Namen vereinigt, der als Bild in das Auge zurückkehrt, das ihn schaudernd entlassen hatte, nimmt er gleichzeitig die Vereinzelung fort, unter der es sich wie ein welkes Blatt bei dem Gedanken an die Myriaden verlorengegangener Seufzer krümmt und unter dem Gluthauch der Ohnmacht, sie in sich zu sammeln, vergeht. Er zeigt ihm die Einheit des Menschengeschlechtes 345 in der Tiefe von Raum und Zeit: die Erlösungsbedürftigkeit aller Seelen, die mich heftiger schwindeln macht, als die Weite der Milchstraße und die Größe der unerforschten, brennenden Flecke im Herzen Zentralafrikas – versunkene Seelen, vergessene Helden, die kein Rolandslied aufbewahrt! Denn die Gegenwart, sie ist gar nichts gegen den Ozean und den Abgrund der verflossenen zehntausend Jahre . . . was sage ich: zehntausend? Hunderttausend und aber hunderttausend . . . Kulturen des Minos, Kulturen der Inkas und der sagenhaften Atlantis, die nur das Gebet noch erreicht. Dieses eine, einzige Vaterunser – ich werfe es wie einen Stein in den Brunnen, und indem sein Schall aus der Tiefe zurückkehrt wie der Lichtschein eines schon längst zerstäubten und geborstenen Himmelskörpers, hat es das starre Naturgesetz von Wirkung und Ursache aufgehoben und den Faden der düsteren Parze zerrissen, die eins an das andere knüpft; es schwächt und zerstört die Folgen der Sünde, die vor Jahrtausenden ausging und in das Zukünftige wirkt; ja, es spielt, diese eigene Tochter Gottes, von neuem, wie die Weisheit des Ursprungs, zu seinen Füßen die Schöpfung zurecht und hätte noch heute die Möglichkeit [zu Ende gewagter Gedanke!], den trojanischen Krieg zu verhindern. Vergeblich also, mich durch den Anblick der Unendlichkeit schrecken zu wollen, oder in mir den Stolz meiner Herkunft, das normannische Blut anzurufen, das in den Rittern des Cotentin nach Neapel und über Sizilien bis Konstantinopel drang; das England eroberte und sogar das Russische Reich begründet und aufgeschlossen hat. Vergeblich, mich an den Herzog Wilhelm, an seinen Vater, Robert den Teufel, und die schöne Arlette zu erinnern; an Richard Löwenherz, Heinrich Kurzrock und Johann ohne Land; an die Kolonisten von Kanada und, in den Tagen der Schreckensherrschaft, an die kühne Charlotte Corday. Denn die Grossen überschreiten ihr Blut wie Caesar den Rubikon . . . und sie alle überschreitet der Beter, der seine Gegenwart darin hat, dass er in einem fort Zukunft ist und das Maass der Vergangenheit. Dieser Freie: Womit kannst du ihn schrecken? Mit der Vergeblichkeit seiner Bitten? Er hat die Erfüllung vorweggenommen, indem er ihr entsagte. Mit 346 der Einbildung, Gott in den Arm zu fallen und nach eigener Willkür seinen Ratschluß beeinflussen zu können? Gott selber läßt ihn nur soviel wünschen, wie er später gewähren will. Nach jeder Richtung hin ist er frei, denn er geht in Gottes Absichten ein wie ein Vogel in das Urelement der ätherischen Himmelslüfte, das ihn nirgends anstoßen läßt, sondern trägt, und ihn durch die Strömung der Winde nach seinem Gefallen lenkt. Womit also?
Ach, ich höre dich sagen: ›Mit der Endlichkeit deiner selbst, Theresia!‹ – – und zum erstenmal sehe ich vollkommen deutlich und mit unerbittlicher Schärfe und Klarheit meinen Tod. Nicht den Tod an sich, über den man reden und philosophieren kann; auch nicht den Tod, den ich häufig während der großen Epidemie bei meinen Mitschwestern sah, wenn sie sich ihm in den letzten Zügen entgegenatmeten: versinkend, mit blicklos geöffneten Augen, die wie die Augen von Franz Xaver, als er auf der verlassenen Insel über den Ozean nach den Küsten seiner Sehnsucht Ausschau hielt, schon in die Ferne der begonnenen Ewigkeit gingen; sondern meinen Tod: diesen Tod meines Leibes, der eilig hervortritt und nun beginnt, das Fleisch zu schmelzen und zu verzehren, das seine Gestalt noch verhüllt; der in mir wächst wie das Kind in der Mutter und endlich übrigbleibt. Er ist das einzige, was ich wirklich mit aller Bestimmtheit weiß. Den Himmel glaube ich – doch ohne Trost und ohne jede Gewißheit; mich selber fühle ich – doch nur in Schmerzen und mit ständig vermehrter Qual. Er allein kann von allen Geschöpfen nicht angezweifelt werden, und daran, daß sie ihn fürchten, erkennen sie, daß sie sind. Aber fürchte ich ihn denn? In jener Tiefe, wo das Herz sich nicht mehr belügen kann, gibt mein Dasein mir Antwort: nein! Etwas anderes schreckt mich. Ich, die ich tausend und abertausend Leben in meinem eigenen lebe, sterbe doch nur einen einzigen, einen Atemzug dauernden Tod. Wenn also mein Leben auch weiter gar nichts als ein beständiges Sterben für die Rettung der Seelen wäre, eine einzige Todesnot – ach, dieser Tod, und sei er der Liebestod an und für sich, er, welcher das Sterben beendigt, hat selber Endlichkeit. Mit dem endlichen 347 Tod vermag kein Geschöpf den unendlichen Tod der Sünde, die Hölle, aufzuheben. Denn auch die Hölle hat Gott in seiner Liebe geschaffen, und aus Liebe verleiht er ihr Ewigkeit und Tiefe ohne Maß. Die Hölle ist der Liebestod Gottes in den Seelen seiner mit Christi Blut erkauften Widersacher, und in jedem von ihnen verschenkt er sich aufs neue in diesen Tod. Seinen endlichen, schwachen Geschöpfen verleiht er, die Wahl ihres Herzens und ihres Willens bestätigend, volle Unendlichkeit und gestattet den Cherubim nicht und nicht den Seraphim, die Hölle anzutasten. Entsetzlicher Widerspruch also zwischen der Liebe Gottes, die noch die Hölle umfaßt und erhält, und der Liebe der Auserwählten, die sie zunichte lieben, in Wesenlosigkeit auflösen möchte, austilgen und in das Nichts versenken oder beendigen will! Doch sie bleibt. Sie bleibt über Raum und Zeit, von keinem Gefühl erschüttert, um keine einzige Seele vermindert, hinter der ihr Tor sich geschlossen hat, und der Sieg über sie besteht nur darin, ihre Bürgerzahl voll zu machen und ihr zuzurufen: genug! Ja: mich erschrecken die Grenzen, Satan, die selbst meiner Liebe gesetzt sind – aber mehr noch erschreckt mich nun jenseits der Grenzen die Unabänderlichkeit. Ein Atemzug – und es gilt für immer, was beim letzten gegolten hat . . . Ja, selbst die ewige Seligkeit würde uns, wenn wir anderes als die Liebe Gottes von ihr erwartet hätten, notwendigerweise enttäuschen müssen, denn wir erkennen in diesen Bezirken nur Inhalte, keine Formen, und von diesen stets nur die äußersten wieder: die Liebe und den Haß.
So will ich mich denn entschlossen über die Grenze begeben, die mich hindert, schon jetzt und hier nichts außer Liebe zu sein. Ich will mich einschmelzen in ihr zartes und glühendes Element wie der Hochsommer in die flimmernde Hitze über den Bauerngärten, die sich jedem Gegenstand unmerklich mitteilt und alle untereinander verbindet, sie durchdringt und aus ihnen ihr Wesen hervortreibt, an welchem, wenn jedes andere Merkmal vollkommen ausgetilgt wäre, der Sommer noch fühlbar wird. Ich will lieben wie vor mir, außer Maria, noch kein weibliches Herz zu lieben gewagt hat; ich will eine Närrin der Liebe heißen und toll vor Liebe sein. In einer Zeit, die sich 348 anmaßt, den Glauben durch die Vernunft zu erleuchten, will ich mich aller Gründe entschlagen und jedes Beweises entblößen, der auf den klappernden Stelzen der Einsicht dem Glauben zu Hilfe kommt. Furchtlos will ich so lange den Blick auf die Sonne der Offenbarung heften, bis meine Augen von ihr verzehrt sind und sich mir neue Organe der Erkenntnis gebildet haben. Mein Herz soll gleichzeitig sehen und hören, tasten und fühlen, denken und handeln und die Tätigkeit aller mit übernehmen, wenn sie müde geworden sind. Für die Priester, welche mit trostlosem Blick ihre kleine Dorfgemeinde umfangen, die von Tag zu Tag lauer und träger wird; für die Prediger, die sich matt und verzweifelt in dem Netz ihrer Argumente verwirren, in dem nicht eine einzige Fliege hängen geblieben ist; die Katecheten, die ihren Samen zwischen Dornen und Dickicht werfen; die Sendboten, welche man steinigt und tötet, um Gott einen Dienst zu erweisen, und die Apostel, denen nicht Zeit bleibt, den Staub von den Schuhen zu schütteln, ehe man sie vertreibt – – für sie alle will ich in mir die Flamme einer unauslöschlichen Liebe entfachen, die imstande ist, sich von den bitteren Ranken der Enttäuschungen dieser Seelen zu nähren, und von dem Salz ihrer Tränen zu immer helleren Farben geläutert, von dem Wind ihrer Trübsal emporgetragen und endlich dem mystischen Bilde des Pelikans ähnlich wird: brennend, mit ausgebreiteten Flügeln, deren schleißende Feuerzungen erbeben, den geschmeidigen Flammenhals niederbeugend auf die flaumige Brust, die den Quell ihres Blutes für immer offenhält . . .«
»Ich, Lucien Benoît, fand vor dreißig Jahren auf der Isle St. Louis, von Malaria geschüttelt, diese Liebe der Karmeliternonne aus dem normannischen Städtchen Lisieux in meinem Inneren wieder. Sie hat mich getröstet über den Tod meiner vergeblichen Gründung, des Mutterhauses in China, und über den Tod meines Zeitalters auch, welchem in Furcht und Schrecken unterzugehen, bestimmt war. Wie eine Stadt an dem Horizont durch die Handfläche eines einzigen Menschen zugedeckt werden kann und trotzdem weiterwächst, fuhr sie inmitten der Herrschaft des Satans zwischen 349 zwei Kriegen empor; sie wuchs und warf ihre Feuerfunken wie Samenkörner aus. In St. Peter erlebte ich; wie sich zur Ehre dieser kleinen, unbedeutenden Nonne die silbernen Fanfaren der Kuppel mit dem Jubel der Menge mischten; und zurückgekehrt an die Stätte meines verlorenen Wirkens, sah ich bereits ihr rührendes Antlitz auf der Brust eines Sackträgers wieder im Hafen von Schanghai. Zum dritten Mal bin ich ihr dann begegnet, als aus einem der Dome der Christenheit, wo diese jüngste Heilige Heimat und den unzulänglichen Pinsel eines frommen Malers gefunden hatte, ihr Bild entfernt und die Kathedrale zu einem Heiligtum heidnischen Blutes erklärt – und geschlossen wurde.
Nun sitze ich, müde und grau geworden, in dem freundlichen Hospital der Nonnen meines Vaterstädtchens Senlis. Es ist Herbst, in dem schütteren Laub der Platanen bewegt der Wind die gestachelten Früchte an ihren langen Schnüren spielerisch hin und her. Ihr Schatten zeichnet die kahle Erde mit flüchtigen Hieroglyphen; ich suche sie zu enträtseln und lese die Namen, die süßen Namen meiner toten Jugendgefährten: Hortense de Chamant, die an Stirn und Augen der Nonne Theresia ähnlich war, und Pierre Loux, den verschmitzten, lächelnden Burschen mit den Handgelenken aus Eisen, der mir zugeflüstert hat: »Komm! Die kleine bihira erwartet dich im Namen ihrer Brüder!« Hortense, wo bist du jetzt? Einzige Seele, die ich um tausend andre verließ, ohne daß doch diese vielen dein Gedächtnis austilgen konnten. Huschst du noch immer gespenstig und leise durch den verwachsenen Laubengarten und an den Pfirsichspalieren entlang in das kleine Schlafkabinett deiner Mutter, wo du die teuflisch täuschenden Briefe des früheren Pfandleihers lasest, die du für die meinigen hieltest? Noch bewegt sich der Türklopfer auf und nieder: eine Hand in einer Spitzenmanschette aus bläulich getöntem Kalk; doch der Briefkastenschlitz, der die Zettel empfing, mit denen die rotbraune kleine Suzette dich um ein Treffen bestürmt hat, nachdem du Senlis verlassen hattest, um mich in Paris zu suchen, ist mit Moos und Erde verstopft. Suzette . . . deine Freundin, welche man nachher mit Belfontaine vermählte, der gleichfalls verschollen ist. An seinem Haus hat man später die steinerne Tafel angebracht, die den Satan während der Messe zeigt, seinen Gästen den Wein kredenzend – jene Tafel, die 1914 von einem Adelshof übrigblieb, den die Deutschen abgebrannt haben . . .« 350