Elisabeth Langgässer
Triptychon des Teufels
Elisabeth Langgässer

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Venus

Kurz bevor ein französisches Lager in dem Besatzungsgebiet von den letzten Truppen verlassen wurde, als die Räumung fast schon vollendet war, begann auch das Militärbordell sich langsam aufzulösen, und Venus schickte sich an, dem Kriegsgott nachzufolgen.

Berittene deutsche Schutzpolizei umstellte bereits die Baracken und das Verwaltungsgebäude, in welchem um Wäsche und Silber, um Brettspiele, Klubsessel, Spiegel, Konserven und Schreibmaschinen gefeilscht und der Besitzstand der Völker eilig geschieden wurde, und hochbepackte Wagen, mit Mauleselstuten bespannt, bewegten sich, schwankend von altem Gerümpel, auf welchem Schilderhäuser, die man nicht lassen wollte, und braune Soldaten thronten, aus dem Wald auf die breite Chaussee und von hier auf den Bahnhof zu – als die gefälligen Mädchen beschlossen, ihren Freunden ein kleines Abschiedsfest in dem Bordell zu geben, wozu sie freilich nicht Rührung allein, sondern ebensowohl der Wunsch, noch diese und jene Beute zu machen, füglich bewegt haben mochte. Auch war jetzt das Lager zum größten Teil von den höheren Chargen verödet und gemeinem Volk 92 überlassen worden, das hier und in der Kantine die Zahlung zu vergessen und mit dem geraubten Genuß über Nacht zu verschwinden pflegte, so daß sich die Mädchen berechtigt glaubten, den Übrigen abzufordern, was Andere ihnen vorenthalten und auch die Bewirtung: den Alkohol, die Spanferkel, Gläser, Bestecke und lockeren Weizenbrote von ihren Gästen zu nehmen, um so mehr, als sich alle Bewohnerinnen nun ganz unter sich empfanden, die Soldaten als ihre Brüder, Vergänglichkeit und Aufbruch als vornehmstes Gesetz und mit frechem Schauder fühlten, wie Grausamkeit und Wollust sich Gleich auf Gleich gegenüberstanden.

So schwärmten denn die Schönen an einem Nachmittag, dessen fliegendurchsummte Hitze, entfernte Kommandorufe und unaufhörliches Räderrollen sie nicht schlafen ließen, aus und mischten sich, Schweiß in den Haaren und Wohlgeruch auf der Bluse, dreist unter das Lagervolk; klemmten hier ein schrillendes Huhn, dort ein paar stille Burgunderflaschen, die erst aus trunkenen Hälsen verspätet aufzugackern und sich zu verraten beginnen, fest unter ihre Arme; umstrichen die hohen Karren, welche angespannt, aber unbehütet ihre Abfahrt erwarteten, zogen Laken, zerrissene Tafeltücher und Teppiche heraus, die sie geschickt vor den Leib und über die Hüften 93 banden, und gingen in ihrer Keckheit so weit, den Vermögensverwalter zu necken und Messer, Gabeln, Löffel, das Porzellan und die Gläser von dem ängstlichen Mann zu erbitten – sei es, daß die Chariten ihren Zauber bei Tag überschätzten oder, diebischen Gelüsten aus Übermut hingegeben, sich in den Kindheitsstand ihrer Natur zurückversetzt fühlen mochten.

Nun geschah es, daß auf Befehl des Lagerkommandanten, der schon vorausgeeilt war, die Barackenstraßen, der schüttere Wald und die Schießstände von Patrouillen, welche Übergriffe verhindern helfen und Zivilisten fernhalten sollten, zu verschiedenen Stunden abgegangen und streng gesäubert wurden. Eine solche griff auch die Mädchen auf, welche johlend an Türe und Fenster des Hauptgebäudes klopften, und jagte die Entsetzten mit ihren Gewehrkolben weiter, hetzte Hunde auf ihre Fersen und spielte noch einmal den Herren, indem sie blinde Schüsse auf den Hintern der Huren brannte, die sich im Augenblick rings zerstreut und in den Kasernenwinkeln furchtsam verkrochen hatten. Schon sammelte sich das Häuflein der Uniformierten wieder und wollte abmarschieren, als ihr Führer, ein junger Leutnant: Stutzbärtchen auf der Lippe, geschweifte Hüften, Füße, die schmal und unruhig waren, eine große, starke Person 94 erblickte, die noch an der Mauer lehnte, ein Wäschestück über dem Arm hielt und ihn mit spöttischem Lachen aufreizend musterte. Er erblaßte, bog die Peitsche vor ihrem vollen Gesicht, dessen Wangen rosa und fleischig und von bräunlichen Schönheitsflecken betupft und aufgehellt waren, ließ dann die Gerte zurück in die Ausgangsstellung fahren und rührte mit ihrer Spitze den Raub der Dirne an.

»Gestohlen?«

»Peut-être . . .« schlug sie dagegen und schien, indem sie sich lässig der französischen Sprache bediente, den Leutnant zurechtzuweisen, ja, ihn zu höhnen, als ihresgleichen oder besser: als einen Knaben, den man unbestimmt abspeist, behandeln zu wollen.

Der Offizier gab die Führung der Truppe an einen Gemeinen ab, befahl dem Weib, ihm zu folgen und ging mit wiegenden Schritten quer über den Lagerplatz bis zu den Pferdeställen, stieß dort einen Riegel zurück und öffnete die Türe, ließ mit böser Galanterie die Dirne zuerst eintreten und legte den Balken vor.

»Déshabiller!« sagte er kurz und, als sie nicht zu verstehen schien: »Ausziehen«! wobei seine Peitsche ihren Rocksaum unverschämt aufhob. Es war glühendheiß in dem dämmernden Raum, der nach Leder, verschweißten Soldatenwämsen und Pferdeleibern roch; die Nachmittagssonne stach grell und schräg durch 95 hohe Fensterluken; ein paar Tiere wandten die Köpfe her und knirschten dann gleichmütig wieder den Hafer zwischen weichen, flockenden Lippen . . .

»Vite! Vite!« er kreuzte die Arme samt der Peitsche über dem Waffenrock und sah ihr mit kalten Augen zu, wie sie lockend und leis aus den Schuhen trat, sehr schöne Füße entblößte, die Bluse verführerisch öffnete und makellose Schultern zwischen fallenden Trägern vorschob. Nun zögerte sie, schien zu warten und gurrte in der Kehle, wobei sie das Kinn auf den Halsansatz legte, hob dann nach einigen Atemzügen erstaunt den Kopf in die Höhe und bemerkte, daß der Leutnant ganz unbeweglich verharrte und mit den Fingern der linken Hand am Ellenbogen spielte. Blitzschnell erfaßte die Dirne, worum hier gewürfelt wurde; sah, daß der Ausgang verschlossen und kein Entweichen mehr möglich war; zerrte zornig den Rock herunter, ließ Spitzenbänder zur Erde gleiten, durchbrochene Leinentücher und ein paar seidene Hemden, die oben mit blassen Röschen bestickt und einkräuselt waren, und stand endlich auf hohen Schenkeln nackt über dem Diebesgut.

Der Offizier schob, wie angeekelt, mit dem Schuh die laue Wäsche zurück, riß ein Notizbuch hervor und fragte dienstlich:

»Ihr Name?« 96

»Alma –«

»Sehr passend . . .«, er schrieb es auf. »Und die Wohnung?«

»Das Lagerbordell.«

Auch dies notierte er, unterstrich, verwahrte das Büchlein wieder und trat dann mit wippender Gerte dicht an die Hure heran, die ihm haßerfüllt, aber gierig und glühend, entgegensah. »C'est ça – –« er faßte sie hart bei den Schultern, und während sie wie eine Katze sich wütend an ihn drängte, griff er Stricke von einem Mauerhaken und fesselte ihre Arme, verschnürte sie über dem Kreuz der Frau und warf die verzweifelt Kämpfende auf einen Pferderücken. Der Rappe ging erschrocken und freudig nach hinten hoch und fing plötzlich zu wiehern an; noch andere Pferde: Füchse und Schecken, fielen laut in das Gelächter des ersten Tieres ein, und während der aufgestörte und kettenklirrende Stall von den tierischen Lauten dröhnte, band der Mann das enttäuschte Liebchen fest auf dem Reitpferd an, zog einigemal seine Peitsche leicht über ihre Beine und ging pfeifend wieder hinaus.

Kurz danach kamen Pferdeknechte mit Eimern, Bürsten und Striegeln, vernahmen das Wimmern des Mädchens und wollten in ihrem Leben keinem besseren Witz begegnet sein; sie glaubten sich der Gelegenheit, welche Diebe macht, wie es heißt, schuldig und 97 büßten nach Kräften die eigene Lust und das Verbrechen der Dirne; riefen rasch noch andere Kameraden und einige Marokkaner, welche draußen gelangweilt zu flöten begannen, mit losen Gebärden herein und trieben es bis zum Abend so arg, daß ihnen die Dirne wie leblos, starr in den Händen verblieb. Nun wurden sie dennoch von Furcht erfaßt – und ob man auch Hurenfleisch nicht in den Listen führen und kaum vermissen mochte, ratschlagten sie, was zu tun sei und wickelten endlich das Mädchen in eine Pferdedecke; sie schütteten Mist auf den Karren, warfen Schippe, Besen, Lappen, zuletzt die Dirne hinein und fuhren sie nach dem Bordell.

Kaum zwanzig Stunden später lief ein dunkelhaariges Kind, ein Knabe von etwa fünf Jahren, rasch durch die Lagerstraßen, hielt einen Pack Zettel in Händen und gab jedem, dem es begegnete, mit unschuldig schelmischen Augen einen derselben ab: die Einladung zu dem Abschiedsfest der liederlichen Mädchen, das trotz jenes schlimmen Vorfalls am Abend des nämlichen Tages begangen werden sollte.

Dieses Kind war allen Menschen auf dem Lager wohlbekannt, obgleich niemand hätte sagen können, woher es kam, wohin es gehörte und wo es zur Zeit sein Bett und seinen Teller hatte. In dem erschütterten Zelt der 98 kriegerischen Epoche von einem Soldaten erzeugt, geboren von einer Namenlosen, die es abwarf und weiterging, gehörte es Allen gleicherweise und wiederum Keinem an; bald wartete seiner die Kaufmannsfrau, ein stattliches Marketenderweib auf dem Wirtschaftsteil des Lagers – bald eine Schauspielertruppe, die dort ständig zu Gaste war und den Knaben in kleineren Rollen: als wandelndes Alibi martialischer Liebesstunden, als Fundevogel und Herzensdieb auf ihrer Bühne beschäftigte, wobei er sich sehr geschickt und mit besonderer Freude in artiger Verkleidung, verwandelt oder verwechselt, zeigte und hin und wieder auch ein Couplet in französischer Sprache zum besten gab. Doch war er, was er auch sehen und ahnungslos vortragen mochte, ein völliges Kind geblieben, das in den verworfensten Frauen ein zartes Gefühl erregte und die männliche Rohheit des Militärs unwissentlich bändigte. Die Soldaten zogen ihn an sich, beschenkten oder beschäftigten ihn mit leichten Botengängen; sie fütterten ihn mit Apfelkraut, mit Johannisbrot, Zuckerstückchen und schnitzten ihm Bolzen, lehrten ihn schießen, ergänzten seinen Besitzstand durch eine Patronentasche.

So wurde er auch heute hier und dort aufgehalten, an den Locken gezupft oder scherzhaft bedroht – und weil er es war, welcher einlud und gleichsam den Türhüter machte, 99 versprachen Manche zu kommen, die ohne ihn ferngeblieben oder stutzig geworden wären . . . Der Knabe lief munter und furchtlos, wie er gewöhnt war, weiter; kroch zwischen Pferdebeinen und unter hohen Wagen, zwischen Bettstellen, die man schon ausgeräumt hatte, und über Matratzen hinweg; kam an Bajonetten, Maschinengewehren und Munitionskisten ebensowohl wie an Wachsoldaten vorüber; sprang mutwillig über den Fahnenstock einer sorgfältig eingerollten, auf dem Boden liegenden Trikolore und hüpfte, den Refrain eines marokkanischen Liedchens unermüdlich wiederholend, zum Offizierskasino, das, von schönen Platanen umgeben, auf einem Hügel ruhte.

Ob die verderbliche Zeit der wechselnden Besatzung oder erst der eilige Aufbruch das Gebäude entstellt und verwahrlost hatte, kann nicht entschieden werden – doch machte es, wiewohl Speisegeruch und Grammophonmusik aus seinen Fenstern drangen, einen merkwürdig toten Eindruck und schien einem Leichnam ähnlich, der nur noch von Ungeziefer belebt und von dem bröckelnden Einsturz seiner Teile bewegt werden mag. Ein Bursche schüttete klatschend einen Eimer gegen die Hauswand, und Abfälle, halb schon vergoren, rannen, übelriechend, herunter; an dem gewittrigen Himmel kreiste mit stechfliegenhaftem 100 Summen sehr hoch ein französisches Flugzeug, dessen Tragflächen ab und zu blitzten.

Der Kleine rannte den Hügel hinauf und hinter jenes Gebäude, erkletterte geschickt die hölzerne Balustrade, die es zu ebener Erde umgab, und trabte die Bohlen entlang, welche zitternd unter ihm dröhnten. An einem geöffneten Fenster blieb er stehen, hob sich ängstlich auf seine Zehenspitzen und warf die übrigen Zettel in das Gesellschaftszimmer, dessen angerauchte Gardinen, hinter welchen das Grammophon verstummt und eine trällernde Stimme entfernt zu hören war, schlaff in der Sonnenglut hingen. Von dem Wurf durcheinandergetrieben, entflatterten einige Blätter und fielen außen herunter. Der Knabe bückte sich eifrig und sammelte sie wieder, als ihm plötzlich eine feste Hand in seine Haare griff, und der Leutnant ihn emporzog. Das Kind schrie erschrocken, doch unterdrückt wie Einer, der nicht geben, sondern nehmen wollte, auf; überwand seine Furcht und lächelte süß mit feuchten Beerenaugen dem schönen Menschen zu.

Von einer leisen Erinnerung wollüstig angerührt, hob ihm der Offizier das runde Kinn in die Höhe und fragte, indessen Ahnung und fürchterlicher Triumph sich wunderlich in ihm vermählten, wer es hierhergeschickt habe?

»Alma –« der Knabe gab schüchtern einen der Zettel ab, den der Leutnant, zwei Finger 101 am Bärtchen, aufmerksam durchlas, zusammenknüllte und über die Brüstung warf.

»Eh bien, mein kleiner Amor« sprach er dann gutgelaunt »sage Alma, ich werde kommen . . vielmehr –« er nahm ein anderes Blatt und während er daran dachte, daß er morgen über Mainz, Saarbrücken, Metz, nach Paris zu seiner Gattin, Marie-Geneviève, zurückkehren würde, schrieb er darauf: »Peut-être!«

»Diesen Zettel gibst du ihr ab« – er faltete ihn flüchtig und ließ den Knaben laufen.

Der Abend kam wie immer mit Hornsignalen und Flöten; doch ebensowenig wie er das Gras und die Baracken kühlte, vermochten jene die Lagerordnung nach außen herzustellen. Von Abschiedsfiebern geschüttelt, in den Nüstern Geruch der Freiheit und hellen Eisenbahnwind, war schon die Mannschaft der Ruhe entwöhnt, der Zucht und Unterwerfung schon überdrüssig geworden: Unregelmäßigkeit, Lockerung der scharf gespannten Befehle und kleine Übergriffe auf Recht und Eigentum Anderer begannen sich auszubreiten; die Offiziere waren geneigt, bald jähe aufzubrausen, bald ebenso unvermittelt und sinnlos nachzugeben, die Gemeinen aber, sich prahlerisch und herrisch zu gebärden, so daß die erwartete Grenzüberschreitung bereits im eigenen Lager so gut wie vollzogen war. Nicht wenig trug auch der Zustand der rohen Kasernenzimmer, die 102 jeder Wohnlichkeit aufs traurigste entblößt oder angefüllt mit aufeinandergetürmten, zerfallenden Möbeln waren, zu diesem Wechsel bei: man nächtigte im Freien, kampierte zwischen Gewehren und hochbepackten Tornistern und war nur noch Gast in dem Lande, das man vorher befehligt hatte. Was konnte daher willkommener sein, als die Einladung in das Bordell, wo jeder Soldat sich zum letzten Mal als Sieger fühlen durfte – und ob auch wohl dieser und jener das Ganze bei Tag als Scherz betrachtet und kaum erwogen hatte, war nun in der Dämmerung keiner, der sich entziehen mochte . . .

Das öffentliche Haus war ein früheres Lagerhotel mit ein paar Dutzend Räumen und hatte im Erdgeschoß einen Saal, die Küche und Vorratskammern; im ersten Stock eine Galerie, welche außen an der Hauswand den Zimmern der Mädchen vorüberlief und des Abends von dem Gezwitscher, dem Locken, Pfeifen und Girren der bunten Vögel erfüllt war, die es dichtgedrängt besetzten. Weil vor einigen Wochen das alte Weib, das den Dirnen die Wirtschaft geführt und ihre Garderobe in Stand gehalten hatte, von ihnen aufgekündigt und gehen geheißen wurde, war schon lange das Sälchen zugeschlossen, die Küche mit Töpfen und Pfannen, in welchen die Überreste der letzten Speisen verdarben, sich selber überlassen, 103 wogegen die oberen Zimmer dazu erkoren wurden, den Umkreis aller Bedürfnisse schlecht und recht einzuschließen: man kochte auf Spiritus, plättete rasch mit qualmendem Holzkohleneisen und hielt Katzenwäsche in Schüsseln, die später den Abhub der Liebesstunde oder Sträuße aufzunehmen bestimmt und am Rande zerstoßen waren.

Dabei ergab es sich ganz von selbst, daß Einer aus ihnen die Herrschaft: Verwaltung ihrer Güter und Wahrung ihrer Rechte, der ungeschriebnen Gesetze und Regeln dieses Gewerbes, von den anderen übertragen wurde, wofür ihnen Alma versprechen mußte – denn jene war es und war wie keine durch Kraft und Klugheit dazu bestimmt – sich selbst von den Männern zurückzuhalten, um der gemeinsamen Kasse mit größerer Freiheit zu dienen, das Geld ohne Eigennutz auszuteilen und zürnend vorzutreten, wenn einer, wie es jetzt häufig geschah, sich, ohne die Rechnung beglichen zu haben, auf und davon machen wollte. Auch mochte es diesen Mädchen, deren Ziel gemeinhin das ehrbare Bett einer Bürgersfrau ist, behagen, ihre traurige Zunft geordnet zu wissen, sich in der Stärksten erhöht zu fühlen und, weil jene lassen durfte, was ihnen das Dasein fristete, einen Rest von Freiheit und Menschenwürde zurückerhalten zu haben. Sie unterwarfen sich willig und ließen Alma schalten; ja, diese 104 zänkischen Tauben, die sonst um das Körnerfutter des Tagesverdienstes gerauft und sich um Strumpfhalter, Puderquasten und Zigaretten gestritten hatten, daß die Federn im Winde flogen, brachten dieses und jenes herbei, um ihre Herrin zu putzen; sie waren närrisch, zugleich eine Puppe und einen Fetisch zu haben, dem ihre dumpfen Gefühle insgeheim opfern durften – und weil sich Alle in Einer gesteigert wiederfanden und diese in Allen dem eigenen Bild wie an geneigten Spiegeln täglich vorüberging, mußten ebensowohl die Mädchen jede Kränkung, die Alma treffen würde, als ihnen zugefügt halten, wie Alma sich allmählich der Niedrigkeit entwöhnen und an ihr wahres Wesen verhängnisvoll erinnern, es ungestört in sich befestigen und ihm endlich nicht mehr entrinnen konnte. Denn während die anderen Weiber nach Hurenart faul und fühllos nur nach der Banknote schielten, die schon auf der Tischkante lag, noch ehe begonnen wurde, und diesem Gewerbe ergeben waren, weil sie kein anderes rascher und müheloser nährte, war jene aus tieferem Schicksal: der Raserei des Blutes und einer Neugier der Sinne, die sich nicht sättigen konnte, in den Abgrund ihrer Natur und dieser Zeit gesprungen.

Indem aber nun die Gewohnheit, sich selber in kleiner Münze an alle auszuzahlen, von Alma fortging und nichtig wurde, gewannen diese 105 Kräfte ihre Größe und Wildheit wieder; ihre Triebe begannen auszuwuchern, weil nicht die tägliche Heckenschere sie bis zum Ansatz hinunterschnitt, und bogen sich seltsam um: sie zog, als die Schauspielertruppe den Ort überstürzt verlassen hatte – es wurde derselben Diebstahl und Schlimmeres vorgeworfen – das verlassene Lagerkind ungestüm und leidenschaftlich an sich; sie nannte es ihr Söhnchen und liebte zugleich den Mann in ihm, dem sie niemals begegnet war; ja, um es deutlich zu sagen: sie küßte den Kuß, sie herzte das Herz und liebte die Liebe in ihm. So konnte es freilich nicht wundernehmen, daß sie die Zukunft des Knaben mehr als die eigne bedachte, und weil sie wohl wußte, daß sie als Hure keine Rechte beanspruchen durfte, auch seinen Besitz in die Himmel des eigenen Wesens hinaufgesteigert und schon verzichtet hatte, so lauerte sie auf Gelegenheit, ihn in ein warmes Nest, wie der Kuckuck sein Ei, zu legen; sie hielt ihn sehr ordentlich, kleidete ihn nach französischer Kinder Art und übte die fremde Sprache mit ihm, so gut sie es vermochte: er mußte täglich den kleinen Schatz an Vokabeln und Liedchen erneuern – ein Schatz, der ihrem Schätzchen, wie Alma dachte, noch Zinsen bringen und den Knaben bereichern würde.

Nicht zuletzt seinetwegen war auch das 106 Bordellfest geplant, das die Soldaten ausplündern sollte, und dem Kleinen dazu eine Rolle sorgfältig eingeübt worden; doch weil das obere Stockwerk des Hauses der schwärenden Phantasie, der Laune, den Vorstellungskräften, die sich plötzlich entzündet hatten, nicht Raum genug bieten wollte, hatten Alma und ihre Mädchen das Erdgeschoß wieder geöffnet und den Saal in ein Feenreich üppiger Wünsche: in einen Hörselberg, einen Parnaß und eine Kantine verwandelt . . .

Die ersten Abendgäste waren Männer einer Streife, die an der Wache vorüberkamen, sie auspfiffen, Arm in Arm die Barackenwege durchwanderten und mit weithin schallender Stimme die Marseillaise begannen. Sie trafen an der Ecke eines Straßenzugs drei Kameraden, welche eben ein volles Branntweinfäßchen der Mühe, verladen zu werden, keck überheben wollten; griffen Fäßchen und Kameraden auf und rollten einträchtig weiter. Da und dort brannten Lagerfeuer, in denen Pferdestroh, Seegras, Tapetenrollen qualmten, behütet von einem Soldaten, der, Gewehr bei Fuß, in den Himmel starrte, und auf den Bordschwellen offener Räume, welche innen von großen Karbidlaternen kalkig erleuchtet waren, ward unermüdlich gewürfelt, gekartet und Dame gespielt. Ein paar Scheinwerfer gingen den Umkreis des aufgeregten Platzes lautlos und 107 huschend wie Ratten ab; auch wurden die letzten Befehle in aller Eile vollzogen – Blindgänger gehäuft und ausgesprengt, Entfernungsmesser geneigt und in das Lager geschoben; der Fesselballon auf dem Schießplatz wurde rasch und für immer herabgelassen, sein Eisengerüste verödet.

Den Männern mit ihrem Fäßchen begegnete Zuruf, Gelächter und Beifall, wohin sie kamen. Sergeanten und Offiziere, die vom Verwaltungsgebäude her die Straßen abgaloppierten, mochten jetzt nicht die letzten Spässe der Mannschaft unterbinden; ja, weil sie merkten, daß ihren Leuten der Kamm geschwollen war und das Blut – wie einst in dem Tacktack der flinken Maschinengewehre – nun in den Fingerknöcheln, dem Aufschlag der beinernen Würfel und der unruhigen Fersen klopfte, beschlossen sie, ihre Truppe gehörig zur Ader zu lassen und sie mitten im Frieden den Weg des Fleisches, richtig verstanden, zu schicken: sie gaben allen, mit Ausnahme jener, die zu besonderem Dienst kommandiert und daher abgelenkt waren, Erlaubnis, das Bordellfest bis zum Morgenappell zu besuchen, trieben selber unter He und Hallo das Fäßchen über die Lagergrenze und nach dem Freudenhaus zu, das außerhalb der Kasernenfläche auf neutralem Gebiete lag und ihnen geheimnisvoll: ampelhell und versprechlich, entgegenglänzte. 108

Indem sie wendeten, kamen die Scharen der übrigen Männer nach. Marschfertig, den Stahlhelm im Nacken, und bepackt mit Tornistern und Decken, um ihre martialischen Räusche bis zur letzten Minute auszukosten und schon gerüstet zu sein, wenn die Clairons-Signale sie nach der Kaserne riefen, gewährten sie den Anblick von Truppen, welche zu Felde ziehen oder bestenfalls den von Nachtschmetterlingen, die sich plump und mit maskenhaftem Gesicht in den Schoß der Liebe begeben. Da also nicht die Männer allein, sondern mit ihnen Berge von Heeresgut zu den lustigen Mädchen zogen, fiel es dem Leutnant, der an der Spitze der Kavalkade ritt, nicht schwer, den Entschluß dieses Morgens auch dienstlich zu begründen. Noch im Sattel sitzend, erbot er sich das Amorettenheer trunkener Krieger am Gängelbande zu führen; er sprang von dem Braunen, gab ihn den Andern nach kurzer Verständigung mit und schlenderte als Letzter auf das erleuchtete Freudenhaus zu, hinter welchem die Lücken der Kiefernwälder nächtlich zusammenschmolzen.

Als er sich näherte, wurde ihm deutlich, daß das Fest schon in vollem Gange war. Aus der geöffneten Tür, die sich ständig bewegte, drang Kreischen, geschminktes Licht und Gelächter; Männer, im Umriß verwildert, beschlugen die Hauswand, bogen sich tiefer und 109 taumelten wieder hinein; verdorbene Plattenmusik schrie gepeinigt das abgetakelte Lied der unterirdischen Wonnen, riß ab, wurde angeleiert und mischte sich mit dem Gesang der heiseren Menschenstimmen. Eine tierische Lust kam den Leutnant an, auf allen Vieren zu kriechen. Geduckt stahl er sich näher, sah durch die helle Spalte der rötlichen Sammetportieren, die das Saalfenster undicht verschlossen, und fühlte förmlich das klebrige Licht an den schmutzigen Troddeln des Vorhanges, wie Geschlechtsstaub an hängenden Kätzchen, langsam herunterrinnen. Empfindung verdunkelter Jugendtage, ein Rausch von Frühlingen, wenn sie mit Föhnen und fauligen Düften aus Schenken, aus Schlachthöfen, Glashäusern, Kellern die Jahreszeiten verwechseln und Knaben zu Männern, Männer zu Knaben machen, überfiel den Soldaten am Fenster; wie Einer, welcher zum erstenmal ein Freudenhaus aufsuchen will, erwartete er den Augenblick, wo niemand ihn wahrnehmen könnte; drückte rasch, als der Lärm in dem Saal aufs höchste gestiegen war, die leichte Klinke herunter und stand in dem Ablegeraum.

Derselbe war kurz und gedrungen wie der Hals, der in den Dudelsack führt; von einer Laterne aus buntem Glas schemenhaft stille erleuchtet, wies er Spiegel auf, die mit Rehgehörne, gekreuzten Flinten, Fasanen und Auerhähnen 110 umgeben waren, als ob hier ein Jagdschlößchen wäre, und was sich mühelos einfangen ließ, erst zur Strecke gebracht werden müsse. Eine Treppe führte hinauf zu den Einzelzimmern der Mädchen; sie war gewunden, und weil der Leutnant bereits begonnen hatte, auf krummen Wegen zu wandeln, schlich er dieselbe empor.

Nun befand er sich in dem schmalen Flur, der, bedeckt mit schäbigen Läufern, die sich verschoben hatten, die Reihe der oberen Räume in traumhafter Länge durchlief. Da diese Zimmer zu beiden Seiten und nach der Holzgalerie, die mit Lampionen besteckt war, bedenkenlos offenstanden, war es weder so dunkel, noch auch so still, wie er erwartet hatte. Aus der Tiefe brauste Gesang empor: ein Rondell, das, in der Provence geboren, von dem glühenden Mistral der Ruhmsucht hierher verweht worden war: »Wir gehn nicht mehr zu Walde, der Lorbeer ist geschnitten, der Lorbeer ist geschnitten – nous n'irons plus au bois, les lauriers sont coupés, la belle, que voilà, la Lairons nous danser?«

Ein Chor von weiblichen Stimmen, grell, überschrien und lockend, erwiderte den Refrain: »Entrez dans la danse, voyez comme on danse, sautez, dansez, embrassez, qui vous voudrez!« »Les lauriers sont coupés« wiederholte der Leutnant, schaudernd vor angenehmer 111 Erwartung, und ging mit dem Rundgesang weiter . . .

Die Zimmer lagen öde und offen wie Puppenschalen, die soeben von glänzenden Faltern eilig verlassen wurden: aus klaffenden Reisekoffern quoll Wäsche, hingen Bänder, langten geisterhaft leere Ärmel in den verlassenen Raum. Auf der Wasserfläche der Schüsseln schwamm hier eine Bürste, dort eine Locke, die abgesengt worden war; ein künstlicher Rosenstrauß stand an der Erde und duftete, mit Parfüm bespritzt, wie der Busen einer verblühten, eroberungssüchtigen Frau . . . Genießerisch fühlte der Offizier in das Geheimnis der Huren. Er rührte mit seinem schmalen Fuß einen Stöckelschuh unter dem Tisch, mit dem Knie ein seidenes Strumpfband an und fragte lauernd »Madame –?« hob, seine Handschuhe überstreifend, einen Vorhang, eine Daunendecke, ein geblähtes Taschentuch auf, durchwanderte alle Räume und fand, so verschieden sie waren, die eigene Lust bestätigt; er frönte der Unzucht in kalten Feuern und sättigte sich an der Beute seiner räuberisch weidenden Sinne. Im Begriff, wieder umzukehren, stieß er an eine Kanne, erschrak und hatte das dumpfe Gefühl, in einer Falle zu sein. Nun suchte er die Treppe, vergaß jedoch, daß er sich jetzt an der Rückwand des Hauses befinden mußte und irrte der Verbindungstüre, mit Blindheit geschlagen, 112 vorüber. Er kam zurück in die Zimmer, die er eben geschändet hatte, überlegte, hörte ein Rauschen, das ihm im Rücken war, und wendete sich übertrieben laut, mit hellem Gelächter, um –

»Bon soir, monsieur!« Eine große Frau in falschem Hermelin, Straßdiadem in den Haaren, an den Füßen sehr hohe, geschnürte, amaranthfarben spiegelnde Schuhe, stand dicht vor dem Offizier.

Der Ertappte, den seine Schritte verraten haben mußten, suchte rasch das Klügste aus dieser Lage und ihrer Bedeutung zu machen, bot also der Dirne den Arm und ließ sich von ihr, als sei er es, der sie gesucht und gefunden habe, zur Treppe hingeleiten. An dem Geländer verharrten sie beide und lauschten in den Saal. Der Rundgesang wollte nicht enden und schwoll, da die Türe geöffnet und wieder zugeworfen, bestürmt und verhalten wurde, bald lauter, bald leiser, jetzt aus der Helle, jetzt aus dem Dunkel, untermischt mit Stampfen, empor: »Entrez dans la danse, voyez comme on danse! Sautez, dansez, embrassez, qui vous voudrez!« Der Offizier, schon benebelt von dem Ansturm der männlichen Stimmen und eingelullt von der Wärme des Weibes an seinem Arm, drängte übermütig die Dirne zurück und auf das Geländer zu, griff siegessicher nach ihren Schultern, die sich, vom Haupte 113 beschwert, in Abwehr nach hinten bogen, und fiel sie besinnungslos an. Ihre Brüste stiegen hinauf, er fühlte die festen Rippen sich über dem Gewölbe wie harte Bogen spannen und schob den Ausschnitt des Kleides fort, als er plötzlich Striemen und Wunden wahrnahm, die kaum verharscht sein mochten. Der Offizier fuhr betroffen empor; das Mädchen hob wieder die Stirne und blickte ihn, wie ihm dünkte, mit unbestimmbarem Ausdruck, weder böse, noch freundlich an.

»Ich heiße Alma« sagte sie dann, »und möchte hinuntergehen«.

»Pardon –«, er gab ihr den Weg frei, als sei dies der Wunsch einer Dame, der respektiert werden müsse, und sah, indem sie voranschritt, verwirrt auf ihren Nacken, über welchem das Haar, medusenhaft lockig, in feurigen Wirbeln anstieg, und mit gespaltenen Spitzen von dem Lufthauch zu züngeln schien.

Unten angelangt, wandte sich Alma um, nahm wieder den Arm des Mannes und betrat mit ihrem Begleiter den aufgerissenen Saal. Eine Brandung von tobenden Stimmen, Glanz, Glut und Menschenleibern nahm sie auf ihren Rücken und warf sie mit Gewalt in die Mitte der Feerie. Wie ein Kahn, in welchen der Fährmann, die Ruder ergreifend, gesprungen ist, schwankte plötzlich das Fest an den Rändern, geführt und gefesselt, empor: salutierend 114 erhob sich die Mannschaft und stieß Tische und Stühle um, Papiergirlanden rauschten, ein leerer, saugender Trichter entstand in dem kreisenden Raum . . . Doch im nächsten Augenblick wirbelten schon die freundlichen Mädchen hinzu, umschlangen den Leutnant, kitzelten ihn mit großen Pfauenfedern, entführten ihn Alma und stritten darum, wer ihm die Wunder des Saales erklären und zeigen dürfe. Die man sonst nur in Morgenröcken, gemeiner Unterwäsche und der eigenen Haut erblickte, waren üppig und reich kostümiert: Da nämlich die Schauspielertruppe ihre Habe zurücklassen mußte, hatten Kleider, Kulissen, Prospekte in der Hoffnung auf bessere Zeiten in dem Freudenhaus Unterkunft und neue Verwendung gefunden –

eine fette Kreolin, Olga gerufen, ging heute im Flügelkleide und trug ein kindisch geblümtes, kniefreies Hängerchen, unter welchem zwei Hosenbeine, die auf der Wade mit Bändchen verziert und fürchterlich enge waren, wie alcyonische Fittiche niederhingen; Lydia, ein dürres Mädchen mit stechenden Sackbrüsten, war in ein weißes, antikes Musengewand, das sie sehr hoch gegürtet und aufgeschirrt hatte, gekleidet; weil aber die nüchterne Strenge dieses Anzugs ihrem zarten und schwärmerischen Wesen nicht zu genügen schien, hatten überall in den Falten 115 Vergißmeinnichtsträußchen Platz genommen, die neckisch bei jedem Schritt aus ihren Kniekehlen äugelten – wogegen Appolonia, die man ortsüblich Appelchen nannte, ihre mächtigen Kuhdirnenformen in Jägerhosen gezwungen und über dem stupsnäsig flachen Gesicht ein Sichelmöndchen befestigt hatte, während Magda, ein steifer Stecken mit säulenförmigen Beinen, die an den Knöcheln verdickt und eingeknotet waren, eine liebliche Schäferin machte, Jula, die Riesin, ein Rokokodämchen, und die Schar der übrigen Mädchen in die silbrigen Flitterkostüme eines Elfenballetts geschlüpft war, Libellenflügel und Fühler trug und dazu auserwählt schien, die Soldaten betrunken zu machen und, wenn sich einer spröde oder unwillig zeigen sollte, denselben auf Ruhebetten zu ziehen, die man heruntergeschafft und an den Wänden, hinter Prospekten, in den Nebengelassen aufgestellt hatte . . .

Diese schauerlichen Grazien bemächtigten sich also des jungen Offiziers und führten ihn in die Gebüsche, die Versprechungen, Träume und Lügen von Kulissenwegen hinein, teilweise schon zerstörten und rissigen Leinwandstücken, die einst von der Schauspielertruppe laut oder leise erworben: Schießbuden abgebettelt und Karussellbesitzern gestohlen worden waren. Nun hatten sie die Mädchen nach gefühlvoller Huren Art zu Lebensläufen vereinigt 116 und Innenräume mit Marmorkaminen, in welchen süßliche Flammen ihre himbeerfarbenen Leiber krümmten, an Parke mit Pinien, Zypressen und starkblauen Teichen angrenzen lassen, auf denen Schwäne schwammen, die von der Nymphe des Haines ängstlich gefüttert wurden – kurz, Leda wandelte in göttlicher Verwirrung aus Landhäusern über Eisbärenfelle in die Gärten der Semiramis und jene wieder zum Schanktisch und der Kredenz hinüber, welche rechts von der blonden Erscheinung einer Liebesgöttin mit hohem Leib, links von bebänderten Vögeln, die einen Wagen zogen, den kleine Eroten lenkten, flankiert und durch grelle Blumengirlanden besonders ausgezeichnet, ja, zum Altar erhoben und von den Soldaten belagert wurde. Hier schenkte Alma den bunten Likör, Niersteiner, Oppenheimer und milde Liebfrauenmilch aus oder füllte die bauchige Flasche im Nickeleimer nach, mit welcher das Lagerkind, unermüdlich »Aquavit« rufend, durch die Kulissen ging.

Noch waren die meisten Männer ihrer Sinne mächtig, und weil die Mädchen sich vorsichtig verhielten – abwartend, reizend, doch nicht mit sich, sondern mit dem versprechlichen Scheine – hatten Küsse, Umarmungen, Scherze erst die Bedeutung von Heeresgeplänkel, das den Gegner herausfordern, ihm seine 117 Schwächen und Vorbereitungen ablisten will und die Grenze bloß überschreitet, um einen Anlaß zu haben. Dazu kam, daß die Soldaten sich als Gäste empfinden durften, weil ihnen nichts abgefordert, ja jeder von ihnen ermuntert wurde, nur kräftig dem Alkohol zuzusprechen – Gelegenheit also, die trunken machte und auch ernüchterte, in den Soldaten Gefühle des Mißtrauens wie der Begierde gleichzeitig wecken mußte und dazu angelegt war, sie vollends zu verwirren. Was sollten sie glauben? Wem danken? Wo ihre Wünsche lassen? Allmählich aber begriffen sie, daß nur die Attrappe der Wollust mit diesem Feste gemeint war, und da sie lange genug in dem besetzten Gebiet die Attrappe des Krieges kennengelernt und in Stellvertretung desselben geübt und geschossen hatten, fiel es der aufgepeitschten, verwilderten Phantasie nicht schwer, sich an Bildern aus Leinwand und Pappe, an labyrinthischen Gängen und dem Anblick verkleideter Huren zu erhitzen, zu steigern, zu sättigen und beides zusammen: Wollust und Krieg, ineinander verschränkt zu genießen.

Sie begannen, der schlummernden Grausamkeit ihrer lockeren Lenden nachzugeben, den Listen ihres Blutes und dem herrischen Hochmut des Hauptes: sprangen Arm in Arm auf die Ruhebetten und rissen, indem sie den 118 Schunkelwalzer der männlichen Eintracht brüllten, mit ihren Stiefeln den schlechten Bezug der Roßhaarmatratzen herunter, ermüdeten die Spiralen und trieben es, angefeuert von Olga, der Kaffeebohne, die wie ein angeschlagener Ball vor ihnen auf- und niederhopste, solange, bis das Metall zerbrochen und die Füllung herausgeschäumt war; dann legten sie Bajonette an und stießen in das Weiche, wozu die Mädchen mit spitzen Schreien ein Hündchen, ein Kätzchen, ein Meerschwein machten, das von dem Eisen getroffen sein sollte, und sich jaulend am Boden wanden. Nun erhielten die gleichnishaften und fürchterlichen Spiele olympische Deutlichkeit: man warf mit Messern und Dolchen nach der Kulissengöttin, der Nymphe, den flaumigen Schwänen und verwundete Götter und Tiere, wo sie den Menschen ähnlich und von altersher zugewandt sind, setzte Preise aus für den Sieger und stieß den entkorkten Hals einer Weinflasche durch die Öffnung, an deren anderem Ende sich der Mund des Schützen befand . . . Die Leinwandstücke erzitterten und rissen allmählich entzwei. Wie in beschossenen Schlössern sank der Kamin zusammen; auf den Parkwegen wilderte hier und dort eine fremdartig glänzende Klinge – –

Bald aber genügte auch dieses nicht mehr. Auf der Suche nach anderen Zielen, erkor man 119 die blitzende Batterie der wackeren Liköre; man schleifte die Kulissen und türmte Barrikaden, setzte Tische und Stühle darüber, hoch oben die runden Bäuche der Alkoholflaschen darauf, und während die Soldaten mit Billardkugeln und Murmeln, die ihnen das Lagerkind reichte, die Flaschenfestung zu stürmen suchten, fingen drüben die Mädchen in Schmetterlingsnetzen, Requisiten des Elfenballets, die Wurfgeschosse ab; liefen vor und bedeckten die Häupter der Männer mit dem feinen Maschengewebe . . . Gekitzelt, versuchte die Horde, sich aus der Umstrickung zu lösen – doch gaben die hurtigen Jägerinnen ihrer Beute geschmeidig nach; sie sprangen bald vorwärts, bald wieder zurück, und was am leichtesten zu zerstören und aufzuheben gewesen wäre, wurde Fessel wie Eisen und Stahl. Von den zärtesten Reizen verwundet, geblendet und verschleiert von dem Gitter, das ihnen zwar nicht die Luft, wohl aber die Übersicht nahm, gerieten die Soldaten in den betäubten Zustand von Menschen, die unter Rosenbüschen in Schlaf gesunken sind. Dazu kam, daß plötzlich das Grammophon einen gleitenden Tango spielte und alle sich in den Netzen langsam zu drehen begannen, ohne Partner in ihrer Begierde und dem Feuer der Hüften gefangen, das ihnen zu Kopfe stieg.

In diesem Augenblick löschte Alma die 120 Lichter in dem Saal; das Lagerkind stieß die Tür zu einem Nebenraum auf und scheuchte eine Schar Hühner unter Händeklatschen herein . . . Die Musik tönte weiter, vermischt mit dem Gackern und Flügelschlagen der Tiere, dem jähen Juchzen der Mädchen und dem Brüllen der hitzigen Männer, die mit täppischen Händen die Vögel zu greifen und das flatternde, schreiende, warme und aufgeregte Volk in den Schenkeln zu pressen suchten. Die Barrikaden polterten, Flaschen und Gläser klirrten, auf der Höhe des Trümmerhaufens schrie die helle, durchdringende Stimme des Offiziers nach Licht. Nichts antwortete ihm als das Stöhnen der überfallenen Männer, die Entsetzensschreie der Hühner und das gurrende Flüstern, Gelächter und unterdrückte Gemurmel der hoch belustigten Huren. Als ob er von Franktireuren umstellt und schon verloren wäre, gab der Leutnant in panischem Schrecken einen Schuß in die Decke ab, dann wieder und wieder einen; er hörte sich rufen, Befehle schmettern, den Einschlag der Schüsse prallen und Brocken niederrieseln, schrie lauter, johlte und jauchzte mit dem Johlen seiner Soldaten und hielt geblendet inne, als das Licht sich wieder erhob. Eine furchtbar veränderte Szenerie bot sich den Augen dar: Die Männer knieten am Boden, zerrissene Flügel, zuckende Tiere, zerbrochene Flaschen umklammernd, erschöpft, 121 von Schweiß überronnen, einer lauen Ermattung hingegeben oder ächzend in den Schoß der weiblichen Masken gesunken, die sie über dem Falternetz küßten.

Auf dem Schanktisch stand Alma in hohen Schuhen und hielt jetzt mit beiden Händen eine rosafarbene Traube aus Luftballonen empor.

Der Offizier, noch taumelnd, obwohl er trotz einiger Schnäpse vollkommen nüchtern war, sah sich auf gleicher Höhe der Feindin gegenüber, entfärbte sich, griff mit der einen Hand nach einem Tablett mit Gläsern, die ihm das Lagerkind reichte, goß mehrere Weine zusammen, trank, hob die andere Hand mit dem Armeerevolver, und während Alma ihm unbeweglich, gelassen entgegensah, visierte er, faßte das Gleichnis der weiblichen Brüste ins Auge und schoß zwei Ballone ab. Übertriebenes Lachen und Schluchzen der Runde entgegnete ihm. Er wollte weiterschießen, doch war nichts mehr im Laufe; so reichte er die Waffe einem Soldaten hinunter, der sie aufs neue lud. In der ungeheueren Stille war nichts als das leise Knacken des Pistolenschlosses zu hören; Alma stand unbeweglich; geheimnisvoll zitterte über ihr die angeschossene Traube . . . Nun fielen Brüste um Brüste, zusammenschrumpfend, nieder. Ihre Glätte verging, ihre Farbe ward Asche, ihre Fülle wich dem Gebilde einer greisenhaft kleinen Haut . . . 122

Als der letzte Ballon zerstört war, sprang die Schöne lustig vom Schanktisch herunter, befahl, eine neue Platte mit Tanzmusik aufzulegen, und während das Lagerkind überall gemischte Liköre anbot und mit kindlicher Grausamkeit die Hühner zusammenkehrte, begannen der Offizier und Alma einander zu greifen und die ersten Schritte zu gehen. Noch hielt das Mädchen den leeren Stock mit der entkörperten Traube, der Offizier den Revolver besinnungslos in der Hand, so daß sich beides, indem sie tanzten, auf der Schulter des Partners kreuzte. Auch die übrigen Männer und Mädchen ermunterten sich wieder: Sie ahmten das Beispiel des Führers, der furchtlosen Führerin nach und drehten sich, ihre Netze wie weiße Fahnen schwingend, zwischen berstenden Betten, scherbendem Glas, an zerfetzten Kulissen vorüber; sie traten auf Mörtel, in Federn und über Eisenspiralen, glitten aus und torkelten immerzu der großen Zerstörung entlang. Schon suchten die Soldaten wie Knaben, welche gefrorene Pfützen mit den Hacken einschlagen mögen, die Glasscherben zu zerknirschen oder wühlten mit ihren Stiefeln das braune Federlaub auf, welches traurig den Boden bedeckte; ermannten sich an dem Anblick der sinnlosen Verwüstung und fühlten, wie ihre Flamme sich aus den stürzenden Trümmern wie die Lust eines Pyromanen, wenn er den 123 Brand sieht, erhob . . . Immer neue Musikplatten kreisten und schrieen unter der Nadel, die nicht gewechselt wurde. Die Männer erhitzten sich, warfen das Koppel, die Jacke auf den Tornister; sie summten ausgelassen die fremden Schlagertexte und Melodien mit, tanzten toller, warfen die Mädchen empor und lösten den Kern der Bewegung auf, zuletzt die Bewegung selber, indem sie, auf ihrem Platz verharrend, nur noch im Becken kreisten, entblätterten Bäumen vergleichbar, die, den fegenden Herbststürmen hingegeben, mit der Fülle auch das Gesicht verlieren, ihre Wurzeln nach oben gewandt zu haben und den Kehraus des Jahres zu machen scheinen.

Nur Alma und ihr Partner, von einer unerschöpflichen Kraft, die sich am andern erneuerte, gespeist und angetrieben, bewegten sich unermüdlich, geschmeidig, fühllos, gelassen, wie auf unsterblichen Sohlen, durch die taumelnde Orgie hin. Indem sie tanzten, schob Alma bald einen Scherbenhaufen, einen Schleierfetzen, ein Taschentuch fort – bald deutete sie auf den Vorhang, dessen Stange herabgerissen, auf ein Ruhebett, welches zerbrochen war, schien schmachtend zu unterliegen, von Trauer überschattet, von Schmerz ergriffen zu werden und flüsterte leise: »Revanche?« Einen Augenblick lang verwirrte sich der junge Offizier; schien zu verstehen, griff 124 in die Tasche und holte, die Zähne bleckend, eine Handvoll Centimes, einen schmutzigen Schein, eine fromme Medaille hervor.

»Payer!« rief er dann heiter und warf sie in den Saal . . .

Die Münzen klirrten; anderes Geld, von den Gemeinen geschleudert, fiel wie peitschender Regen darüber. Sofort aber stürzten die Mädchen hinzu und schickten mit witzigen Würfen das Geld in die Weingläser ihrer Gäste, in ihre Mützen zurück, die auf Polstern und Stühlen lagen; sie ließen ihnen das kalte Metall von dem Nacken aus über den Rücken und in die Ärmel gleiten, die beim Tanzen erhoben waren; bestürmten sie auszutrinken und wiesen den Bodensatz käuflicher Liebe zum ersten Male ab. Von solcher Großmut im Kugelfang ihrer männischen Ehrbegriffe, von einer Nachsicht getroffen, die ihr Gefühl um den vollen Gewinn dieses Abends zu prellen schien, begannen die Poilus hinwieder sich prahlerisch zu wehren und mit gleicher Münze zurückzuzahlen: bedrängten die Mädchen, bewarfen sie mit dem verschmähten Gelde, so daß sich ein Kampf zu entspinnen drohte, der, ob er auch leichtgeschürzt war, die Männer gefährlich reizte und eben ausarten wollte, als die Dirnen mit einemmal alle: »Ein Pfänderspiel! Pfänderspiel!« riefen, sich befreiten, laut in die Hände klatschten und den Fortgang ihrer Kampagne 125 von Alma erwarteten – –

An die Schulter des Offiziers gelehnt, sah diese bittend empor, hob dann die Arme, löste geschickt das Diadem aus den Haaren und warf es ihm zu Füßen. Hui, er zertrat es, sprang auf den Tisch, und der den saturnischen Hüter der Schwelle machen sollte und seine Truppen hinüber in ein anderes Zeitalter führen, hing an dem Köder des Wortes, das die Heere hereingezogen und festgehalten hatte.

»Des gages . . . des gages . . .« übersetzte er trunken, überschrie sich, brüllte den Ansturm der dankbaren Huren nieder und fiel in das fröhliche Toben der anderen Männer ein: »Jouez au gage touché, au gage touché . . . jouez au gage touché!«

Rasch wurde die Mitte des Saales von dem gröbsten Unrat gesäubert; die Soldaten mit ihren Liebchen saßen unbekümmert am Boden und bildeten einen Kreis. »Gebt uns Pfänder!« lachte das Lagerkind, welches hier und dort an den Gläsern genippt, den Gästen Bescheid getan hatte und auf den Füßchen schwankte – »kleine Pfänder, hübsche Pfänder, gute Pfänder, Pfänder soviel ihr wollt!« Die Soldaten ergriffen den Knaben, sie ließen ihn über die Köpfe wie einen Faustball wandern und rollten ihn endlich Alma zu, die in die Mitte getreten war und, den Fuß auf einen Tornister gesetzt, das Sperrfeuer hurtig eröffnete: 126

»Alle Vögel, sie fliegen – hoch!«

»Hoch!« schrieen die Mädchen, rissen die Hände ihrer Partner mit sich empor und deuteten ihnen das Spiel.

»Alle Lerchen –!« sie stiegen, »alle Drosseln –« sie winkten, »alle Schwalben –« sie schwangen, »Gänse –« sie flatterten, »Hühner –« sie zuckten und warfen die plumpen Finger, den Oberkörper empor.

»Alle Schweine –«, genarrt gingen Einige mit und gaben die ersten Pfänder: Zigaretten, Schuhe und Strümpfe, Gamaschen, Patronenbehälter . . .

»Alle Ziegen – Affen – Kamele –«, die Pfänder vermehrten sich, schwollen wie Düngerhaufen an . . .

»Alle Tische – Stühle – Kanonen – Baracken – Schilderhäuser –« schrie Alma konvulsivisch, das Land und das Lager im Rücken und vor sich den trümmernden Saal – –

»fliegen hoch! fliegen hoch –!« riefen alle, gaben Pfänder und räumten mit fliegenden Händen das noch eben besetzte Gebiet. Pistolen polterten abwärts, und Feldbecher kippten zur Erde; kurze Messer rammten den Bodenbelag; Konserven, Verbandzeug und Lederriemen wurden hemmungslos hingegeben; ja, wer nichts mehr hatte, schnitt sich einen Knopf seiner Uniform ab und fügte ihn, wie der Geizhals dem Klingelbeutel, zu . . . 127

Ein Tafeltuch, fleckig von Alkohol, ward über den Haufen geworfen; das Lagerkind griff darunter, hielt einen Gegenstand fest und rief mit klingender Stimme, eintönig, unwissend, wie ihm befohlen und mit ihm geübt worden war: »Was soll Derjenige tuen, dem dieses Pfand gehört?«

Aus einer Saalecke brüllte zwei- dreimal ein Trommelwirbel dagegen: die Kreolin hockte betrunken auf einer Pferdedecke; ihre Arme, welche die Schlegel rührten, kamen schwarz aus dem hellen Hänger, die gespreizten Beine bedrohlich unter dem Röckchen hervor. Von den dumpfen Wirbeln erschüttert, klang ein Fenster, klangen die Gläser nach, schien die rauchige Luft bewegt und das verdüsterte Blut der Soldaten erinnert zu werden: an Basteien, an kalkige Mauern, vor denen ein Füsilierter blutend zusammenstürzt . . . Sie zögerten, murrten schon leise und wollten sich besinnen, als der Leutnant sie wieder vorantrieb und der Feindin, indem er ihr durch das Geschiebe des Volkes entgegendrängte, in französischer Sprache Gewalt antrug: »Qu'ordonnez-vous au gage touché?«

Im Rücken des Knaben stehend, die Hand auf seinen Locken, gab Alma die erste Parole aus: wem dieses Pfand gehöre, der solle ein Licht mit den Lippen löschen, bevor sie auf drei gezählt habe! 128

Entzückt riefen alle Mädchen: »Holt die Gewitterkerze!« und brachten aus dem Vorraum einen roten Wachsstock herein, entzündeten ihn und schoben den Mann, der sich auslösen sollte, heran. Der Soldat, ernüchtert und ängstlich, begann, sich zur Wehr zu setzen und wollte das Pfand verlieren; doch seine Kameraden, die ihre Ehre verhöhnt und ihre Tapferkeit angezweifelt, ja, unter Beweis gestellt sahen, verlangten, daß er bestehe; sie traten ihm gegen die Beine, und während der Leutnant die Kerze hielt, spie, kaute und küßte der Mann das Licht unter scheußlichen Zuckungen aus. Nun folgte Probe um Probe, und eine war seltsamer, schwerer, als die vorhergegangne; legte Rache, Pein oder dunkle, gewaltsame Züchtigung auf: Das Lagerkind faßte, rief in den Saal, der Trommelwirbel ertönte, und der Leutnant gab Almas Befehle an die Soldaten weiter –

sie mußten, auf allen Vieren kriechend, eine Peitsche zwischen den Zähnen tragen, einen Bissen vom Boden nehmen; ein Mädchen im Nacken, zu Paaren oder Mehreren um die Wette laufen; sich mit verbundenen Augen entkleiden und die zerstreuten Stücke im Raum zusammensuchen; in einem Spitzenhemd tanzen; einer Hure Wein in die hohle Hand und Geld in die Schuhe schütten; unterm Hüpfseil springen, bis ihnen die Luft und den Mädchen die Laune vergangen war . . . 129

Der Pfänderberg schmolz nieder; sein Gerüste fiel wie der Körper eines drachenartigen Tieres zusammen und ebnete sich ein. Noch dieser und jener Gegenstand wurde rasch, mit verminderter Lust und Grausamkeit, ausgelöst; auch mancher nebenbei, ohne Leistung, zurückgegeben. Schon fegte das Kind die letzten Krümel: einen Lederriemen, ein Schnupftuch vor – als ihm Alma rasch die Medaille des Leutnants ins Fäustchen drückte, die jener vorhin zur Erde geworfen, doch längst vergessen hatte, und der Knabe zum letztenmal ausrief: »Was soll Derjenige tuen, dem dieses Pfand gehört?« Unendlicher Trommelwirbel, von der irren Olga geschlagen, drang durch das Bacchanal. Das Lagerkind hielt an silberner Kette eine dünne Medaille hoch, die, sich langsam drehend, bald eine Inschrift, bald ein von Schwertern durchstochenes Herz im Dornenkranze wies. »Auslösen!« schrieen die Mädchen, nachdem die Trommel verstummt war. Das kriegerische Echo fiel ungestüm fordernd ein; kaum, daß die Männer begriffen hatten, worum es sich handelte, war schon der Offizier auf ihre Schultern genommen und Alma entgegengetragen; dann ließen sie ihn herunter; sie warfen sich, beide erhöhend, auf schwerfällig atmende Bäuche und bestürmten das Weib im Chore: »Qu'ordonnez-vous au gage touché?« 130

Alma, die Arme verschränkend, legte schmerzlich den Kopf in den Nacken und sagte mit brechender Stimme: »Beschreibe deine Frau!«

Der Offizier hob die Hand mit dem Ring entgeistert in Augenhöhe; dann spreizte er seine Finger und blinzelte wie durch ein Gitter die große Hure an; er roch seinen eigenen Körper, der nach Leder, Metall und dem süßlichen Ambra seiner Tänzerin duftete, wurde schwer in dem Becken, finster im Munde, gefangen in sich selbst.

»Ihr Name?« frug Alma.

»Marie-Geneviève –«

»Und die Wohnung?«

»Paris.« Er fügte die Straße, das Haus, den Stadtbezirk zu.

Als ob mit diesen Worten das Fallgitter niedergelassen, die Bestie befreit worden wäre, schlug er nun sinnlos dem fernen Bild die reißende Pranke ein. Er begann mit dem Haupte; umschrieb es in der fremden, hierauf in der eigenen Sprache: das nächtliche Haar, dessen Schläfenlocken sich sanft nach innen bogen und über die Ohrmuscheln fielen, deren Höhlen beflaumt, aber hellrot wie die eines Kindes erschienen; die rehbraunen Augen, zu tief geschlitzt, um nichts als heilig zu sein; die Wangen, das kurze Kinn, welches unten eingekerbt war; er tastete weiter, fühlte den 131 Hals, die bläulich gemuldeten Schultern, das aufwärts gedrängte, glatte, geschnäbelte Taubenpaar; sank, stürzte, gab ihre Zärtlichkeit, ihre Seufzer, ihr Ermatten preis und verriet sie, mit welcher er eines Fleisches und eines Herzens gewesen war . . .

Die Schwermut der ersten Morgenstunden lag lastend über dem Saal. Eine Dirne weinte die Schminke lautlos und ohnmächtig nieder; ein Soldat ließ sich fallen und stöhnte; durch die undichten Vorhänge leckte das Licht der lüsternen Frühe herein.

Mit raschem Griff zog jetzt Alma das Tafeltuch hinweg – sie warf es über den Knaben und hob ihn wie eine Neugeburt, die noch dampft und blutet, empor. Dann, während alle den Atem und ein Erstaunen verhielten, unter welchem die letzte Attrappe hätte stürzen und stäuben müssen, frug sie mit hoher, leiser und merkwürdig klagender Stimme: »Was soll aber jener tun, dem dieses Pfand gehört?« Die schaudervolle Stille eines unbegriffenen Schicksals verbreitete sich im Augenblick; sie fühlten: das Spiel war aus.

»Was soll aber Jener tuen, dem dieses Pfand gehört?« wiederholte Alma jetzt lauter, trat dicht auf den Offizier zu und sah ihn herausfordernd an.

Der Mann fuhr zurück, wollte lachen und zuckte leicht mit den Achseln; bemerkte, wie sich 132 die Kindesglieder durch das Tafeltuch zeichneten und empfand sie bald wie eine Schlange, bald wie einen Fisch, einen nackten Vogel, der ihn ekelte, ängstete, reizte; gleichzeitig trug er Verlangen, dieses Zappelnde totzuschlagen, bevor es sich enthüllte, und griff mit roher Bewegung den Leib des Knaben an. Ein böses Knurren im Kreise ließ ihn zusammenfahren und wieder unsicher werden; Alma jedoch, laut schreiend, rief ihm zum dritten Male, Schaum in den Mundwinkeln, zu: was Jener tuen solle, dem dieses Pfand gehöre?! Die zornige Soldateska, aufständisch, maßlos betrunken, fiel in das Schreien ein. Empörung brach los und heulte im Rücken des Offiziers; Beschuldigung flammte wie Funke im Stroh mit rasender Eile empor, und die unerklärliche Helle, in welcher Berauschte den tieferen Sinn einer menschlichen Handlung sehen, erleuchtete ihnen, was Alma gleichnishaft ausdrücken wollte: daß der Knabe des Leutnants Kind und jener also verpflichtet wäre, ihn wieder einzulösen und das gemeinsame Heeresgut, das Siegel ihres Sieges und Unterpfand der Besetzung heil über die Grenze zu retten. Dazu trat, daß jeder von ihnen an diesem Lagerknaben ein dunkles Schuldgefühl abgebüßt, ihn beschenkt und das edlere Teil seines Wesens an ihm verhaftet hatte, er war das Eigentum aller geworden, das 133 Patenkind des Heeres; wer ihn kränkte, verfiel dem Standrecht der kriegerischen Stunde, deren Zeiger schon schwarz hinübergingen.

Vergeblich suchte der Offizier die Irrenden abzuwehren, das Toben zu durchdringen. Er wollte beweisen, erklären; er hob zwei Schwurfinger, riß seinen Degen gewaltsam aus der Scheide und legte ihn auf das Tuch . . . Betroffen wichen jetzt Einige, von Zweifeln erfüllt, zurück und wollten sich langsam wenden – da ließ Alma die Decke zur Erde fallen; sie stellte das Kind auf die Beine und flüsterte ihm ins Ohr. Gleichzeitig löschte das Elfenballett die künstliche Beleuchtung und schlug die Vorhänge auf; das regenblasse Gesicht dieses madigen Sommers stand böse und schleimend in dem Saal. Von Lemuren umgeben, abgelebt und schrecklich überaltert, erblickte Jeder den Anderen und sah ihn ungläubig an.

Das Lagerkind schluchzte leise; es schwankte vor Müdigkeit und wollte doch gehorchen; so begann es mit zitternder Stimme, wie ihm befohlen war:

»En revenant de Versailles . . .«

»Versailles! Versailles!« jauchzten alle, sich selbst zurückgegeben, und glaubten die Herkunft des Knaben durch die vertraute Sprache, die Anmut der kindlichen Lippe, seinen tapferen Stolz schon bewiesen. 134

»En passant dedans St. Cloud,
Je trouvais un p'tit bonhomme
Portant sa femme à son cou.
J'ai assez de ma femme,
L'achèterez-vous?
«

»J'ai assez de ma femme, l'achèterez-vous?« johlten Männer und Weiber gemeinsam den furchtbaren Refrain.

Das Kind hob ein Fingerchen, streckte es lächelnd, wie man beim Spielen tut, aus und deutete jetzt gespenstisch auf den starrenden Offizier:

»Je lui dis: p'tit bonhomme
Qu'avez-vous à votre cou?
    Je porte ma femme à vendre,
    Monsieur, l'achèteriez-vous?
J'ai assez de ma femme,
L'achèterez-vous?
«

»J'ai assez de ma femme, l'achèterez-vous?« wies das Heeresvolk lachend und höhnend auf den verfallenen Führer, der mit speichelnden Lefzen, rötlichen Blicken, dem eingekreisten Eber einer lustigen Treibjagd ähnlich, geduckt im Kreise stand.

Von der allgemeinen Begeisterung bestärkt und mitgerissen, sang der Knabe in kindlichem Stolz laut und durchdringend weiter:

»Je porte ma femme à vendre,
Monsieur, l'achèteriez-vous?
Elle m'a coûte cinq cents livres,
135
Vous la donn'rai pour cinq sous.
    J'ai assez de ma femme,
    L'achèterez-vous?
«

»J'ai assez de ma femme, l'achèterez-vous?« stieß man schäkernd den Mann in die Seite, überschüttete ihn mit Kupfergeld, hob dann von neuem das Lagerkind auf, und da es die Soldaten, der Kerzenfresser voran, hoch über ihren Köpfen dem Leutnant entgegentrugen und Hornsignale, vom Wind verweht, aus den Barackenstraßen schreckhaft herübertönten, ein Pferdetrappeln vernehmbar wurde, erregte Flöten zu schreien und Befehle ihren Staffettenlauf von Mann zu Mann begannen, rief Alma triumphierend, ausladend und gesättigt von allersüßester Rache: »Für Marie-Geneviève! Bringt es hin zu ihr! Bringt es hin zu Marie-Geneviève!«

Zu »Marie-Geneviève –!« wiederholten die Huren, wiederholte das Heer der Gemeinen, fügte Stadt und Straße und Hausnummer zu und hatte den Leutnant gefällt. Der Offizier wollte reden, bewegte die Lippen, röchelte nur und den Blick auf Alma gerichtet, die ihm glühend und unausweichlich, eine Todesgöttin, entgegensah, ertastete er den Revolver und schoß sich die letzte Kugel in den aufgerissenen Mund – –

Kurz danach rollten eilige Wagen, von munteren Tieren gezogen, an den offenen Fenstern 136 vorüber zum Bahnhofsgebäude hin . . .

Dort kam, zwei Tage später, eine Frau, die man kaum beachtete, an und wurde von einem Verwaltungsbeamten der Lagerstadt empfangen. Sie bestiegen ein Auto, und während der Mann mit gedämpfter Stimme Erklärungen gab, welche zart und richtig zugleich den Tod des Leutnants umschrieben, fuhr der Wagen die helle Chaussee entlang, sehr sandigen Äckern vorüber, an Wegesrändern und Wiesenflecken mit hohem Gras vorbei, wo das Heuen bereits begonnen hatte und hier und dort eine Sichel durch bleiche Halme schnitt; hierauf zwischen Kiefernbäumen und abgeblühtem Ginster, Rainfarn und wolligen Königskerzen, die dem zerstörten Walde, wo der Hausrat toter Kasernen wie in Träumen herausgestellt war, schon das Gepräge der Einsamkeit gaben und ihn sonnengelb, weichlappig, färbten; dann bogen sie in die Lagerstraße, in eine Platanenallee, eine Gasse von Wellblechhäusern und Backsteingebäuden ein und hielten endlich, gehemmt von den Körnern der grasüberwachsenen Wanderdünen, am Offizierskasino.

In dem Saal zu ebener Erde stand auf zwei rohen Stühlen der Sarg mit den Überresten des toten Marodeurs; er war bereits geschlossen, bedeckt mit der Trikolore, welche trauernd darüberfiel. 137

Marie-Geneviève kniete stürmisch hin und schüttete ihre Gebete, wie ein Kind, das zum erstenmal sät, an dieser Stelle aus; dann kehrte sie wieder in sich zurück und ordnete besonnen die Überführung an. Indem sie sich noch unterredete, kam der Lagerjunge, Skabiosen und Wucherblumen tragend, auf den Zehenspitzen herein. Die Fremde erblickte den Knaben, von dessen Dasein man ihr berichtet, und um welchen die Dorfgemeinde, in der Hoffnung sich gütlich zu einigen, mit den französischen Heeresbeamten bereits verhandelt hatte. Sie wandte sich ihrem Begleiter zu, erfrug den Namen, den Umstand und die jetzige Wohnung des Kindes, hob sein Gesicht in die Hände und sah es lange an. Von Tränen überblendet, vermochten ihre Augen zunächst nichts zu entscheiden; doch als die Tropfen gefallen waren, vermeinte sie, den Gatten in diesem Kind zu erkennen; wurde unsicher, prüfte aufs Neue und fand die Züge Frankreichs, des vielgeliebten, wieder: so küßte sie mit Überwindung den ausgestoßenen Knaben und führte ihn nach Paris.

Nicht lange, und die Räumung war auf den Tag vollendet, das Lagerfeld verödet, und das Bordell stand leer. Venus war fortgezogen, und um die Überreste der ausgefegten Kasernen: um eiserne Öfen, Feldbetten, Bänke, die schon zusammenfielen und rasch versteigert wurden, 138 feilschte gierig der Totenführer der dunklen Zeit: Merkur. Dann kam nach einigen Wochen eine Truppe von Männern zum Lager und sprengte die letzten Patronen und Handgranaten aus. Die Erde zitterte, dröhnte, erbebte in ihren Tiefen, und unter den dumpfen Schlägen ging Mars zur Ruhe ein.

 


 


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