Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Elftes Kapitel

Schleswig-Holstein meerumschlungen,
Deutscher Sitte hohe Wacht,
Wahre treu, was schwer errungen,
Bis ein schönrer Morgen tagt!
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
Wanke nicht, mein Vaterland!

War das eine Feier in dem gedrängten Schulzimmer! Wir sangen mit Andacht. Besonders Henn Pierentrecker. Er ähnelte einer jubelnden Lerche über einem fetten Lupinenfeld. Mester Haan spielte dazu die Geige von seinem schwarzangestrichenen Katheder herunter, mit Verve, in gehobener Verzückung, unter getragenem Knistern des gestärkten Schemisettchens, als sollte dem ›meerumschlungenen Schleswig-Holstein‹ eine ganz besondere Ovation zuteil werden. Er war unser vaterländischer Führer und Mentor geworden.

Auf der illuminierten Wandkarte erläuterte er uns die Geschehnisse auf dem Kriegsschauplatz. Wir sahen die Eider, die Flensburger und Apenrader Föhrde, die Insel Alsen, Missunde und Düppel. Der Kleine Belt rauschte herauf. Hier und da begann der Mittelsmann zu schanzen, brachte er seine Geschütze in Stellung. Wir sahen, wie das Meer düster und schaumig wurde. Ein starrer Panzer furchte hindurch. Rolf Krake, den Danebrog am Hauptmast, suchte den Wenningsund zu erzwingen. Er prustete. Rote Schwaden zog er hinter sich her. Seine Drehtürme krachten. Er schaufelte und stampfte das kochgare Wasser. Die preußischen Strandbatterien antworteten, spuckten Pulver und Eisenklötze. Dann hüllte sich alles in Feuer und Lohe. Die Welt schien unterzugehen, aber der Danebrog mußte herunter.

Betäubt zogen wir heimwärts.

Im Rathausgäßchen trat mir Oma entgegen.

Sie kam aus dem Büro meines Vaters.

Zwölf Schläge fielen vom Rathaus.

»Jupp,« sagte sie mit hellen Blicken und freundlicher Stimme, »nu kann ich wieder 'ne gesunde Portion Schlaf in die Augen nehmen, dazu meinem Herrgott die übliche Ehrfurcht erweisen, denn nu steht alles schwarz auf weiß, mit 'nem notariellen Petschaft darunter. Daran kann keiner nicht tippen – kein Satan, kein Weibsbild. Alles meinem Aloys zu Ehren. Du aber – komme mal bald. Ich habe feine Bilderbogens in Bestellung gegeben. Sie gelangen in Auslage. Die von Missunde und dem mörderischen Kriegsschiff. Du, Henn Pierentrecker und der von der Mühle – ihr sollt welche haben. Adjüs denn!«

Ich sah ihr mit stolzer Seele nach.

Hinter der großen Linde verhallten ihre energischen Schritte. –

Die Ereignisse drängten sich, da drüben in Schleswig, in den Herzen der Menschen, im Wandel und Wechsel der Tage.

Die Kälte ließ nach. Nur noch mit schlappen Ohren trottete sie über die Straßen, verlor sich draußen zwischen Bocksdornhecken und Ackerfurchen. Von den Dächern klatschten die mulmigen Schneebrocken auf das Straßenpflaster und in die Gosse hinein. Unter der Schmelze gluckerten die Wässerchen, rieselten die emsigen Quellchen. Schon hier und da klingelten die Schneeglöckchen über dem lockeren Erdreich. Die Spatzen wurden mobil, lungerten wieder an den Fuhrmannskneipen und den Futterkrippen herum, ohne sich aufzuplustern, mit gutsitzenden braunen Fräcken und aschgrauen Westen, frech wie die Zöglinge in einer Besserungsanstalt. Die wilden Gänse strichen mit langen Hälsen nach Norden. Geschwader von Kranichen trompeteten über die kleine Stadt hin. Die Stare kehrten zurück, fielen in die Altwasser ein und zirkelten auf den feuchten Wiesen nach Engerlingen. In den Vorgehölzen ließ sich das zarte Pfuitzen der Vögel mit den langen Gesichtern vernehmen. Die erste Amsel baumte auf, flötete so fein ihre chromatischen Töne herunter, daß Meister Quanz, falls er noch unter den Lebenden geweilt hätte, seine helle Freude daran gehabt haben würde. Unter ihrem Choralen begannen die Stachelbeersträucher zu grünen, sich die puppenartigen Knospen an den Hainbuchenhecken zu bräunen. Die mit frischen Segeln bespannten Flügelruten der Höfkensschen Mühle stakelten durch heitere Märzlüfte, die gleich preziösen Champagnerbläschen pritzelten. Die ersten Leberblümchen zeigten sich an den Waldränften, die ersten Himmelschlüsselchen auf den umspülten Flanken des Paternosterdeiches. Gottes Odem hauchte immer stärker über die Landschaft.

Mittlerweile wurde die Insel Sundewitt besetzt, knatterten die Feldzeichen in den Dörfern vor der Düppelstellung.

Am 8. März siegreiche Kämpfe bei Veile und Fridericia.

Fahnen heraus!

Viele folgten dem Ruf, aber nicht alle.

Bei dem Kaplan mit der talergroßen Tonsur blieb der Giebel öde und leer.

Das engbrüstige Haus in dem Gäßchen ›Achter de Mur‹ hatte jedoch seine Wimpel gezogen und die Fensterrahmen mit Stechpalm umkleidet.

Hannecke Brükers saß nachdenklich über ihrem Nähzeug. Neben ihr blühte ein Geranienstock, den sie mit inniger Aufopferungsfreude durch den bitteren Winter gebracht. Jetzt entfaltete er schon im fünften Jahre seine ziegelroten Korallen. Zuweilen hob sie das straffgescheitelte Köpfchen. Mit ihren goldgepunkteten Augen sah sie auf den bunten Flaggenschmuck. Sie war anderen Sinnes geworden. Sie dachte an die Tapferen da draußen, an so viele, die sie kannte und die ihr nahe standen im Leben. Auch an den papierenen Aloys. Das waren doch Männer, keine Kannegießer, Großsprecher und Ofenhocker. Es tagte bei ihr. Losgelöst von Dunst und Qualm der Kirchenleuchter, vom Weihrauch, der bisher ihre engumschriebene Welt durchwölkte, von dem monotonen Lispeln in den Beichtstühlen, dem unermüdlichen Mahnen des Klingelbeutels, breitete sie ihre Arme nach Licht und Sonnenschein, nach vaterländischen Dingen, die sie mit dem fernen Läuten von Auferstehungsglocken berührten. Seit dem letzten Begegnen mit Moritz erkannte sie sich. Seine Heilswahrheiten hatten fruchtbares Erdreich gefunden. In dem herben und jungfräulichen Körper regte sich das Ahnen und die Bestimmung des Weibes.

»Heilige Maria, Gottesgebärerin, Mutter der Gnaden . . .

Sie füllte die enge Stube mit dem keuschen Duft ihres Leibes, mit ihrem Sinnen und Suchen, dem Wunder einer heimlichen Glückseligkeit, die ihre Flügel spannte, um wieder weiter zu fliegen, über die keimenden Ackerfurchen, die stillen Wasser, die sich mit Schwertel und grünen Linsen bedeckten.

Der eifrige Kaplan zerging für sie in einem diesigen Nebel.

Häufiger entnahm sie ihrem schmalen Bücherbrett ein feines Bändchen mit Goldschnitt.

Dann las sie:

»Wie mit Abendglockenklang
Angefüllt sind Haus und Zimmer,
Denn des Tages letzter Schimmer
Wandelt längst das Tal entlang.

Eine einz'ge Schwalbe nur
Zieht durch abendliches Träumen,
Wo sie hoch in goldnen Räumen
Sich verliert auf goldner Spur.

So auch wird dich, liebes Herz,
Einst dein Herr und Heiland rufen,
Willens, auf geweihten Stufen
Dich zu führen himmelwärts.«

Und das Wispern da draußen, hinter der Mauer, in den zitterigen Sträuchern, den noch kahlen Baumkronen, das Schwellen und Knospen in den Hecken, das Brausen und Sausen und weiter dahinten: das frühlingsfrohe Gurgeln des Rheines – ach, wie das wohl tat!

Die Krähenvögel fußten nicht mehr auf den sahnigen Eisschollen. Sie waren dahin mit den zergangenen Blöcken, waren landeinwärts gerudert. Nun hockten sie auf turmhohen Pappeln in den Weidekoppeln, zu hunderten nebeneinander gereiht. Sie hielten Reichstag ab, diese Unglücksvögel, diese düsteren Gesellen, und erfüllten die weite Gegend mit ihren Luderpredigten.

Der Rhein aber hatte seine Freiheit wieder. Mit blankem Gesicht und starken Muskeln trieb er seine Wellen und Tobel dem grauen, ewigen Meere entgegen.

Das war die Zeit, wo der lange Moritz seine eingetrockneten Gelenke aufs neue schmieren, sie recken und strecken mußte. Kurzerhand schob er den Winterschlaf beiseite. Und dennoch hatte er gewacht. Er hatte gewacht im Hause der Staatsen, am Gärtchen mit der verschwiegenen Laube, vor der Schmiede von Nöllecke Giltjes.

Nichts war geschehen.

Oma belobte ihn, und Hendrintje sah ihn mit Augen an, die so schuldlos waren wie die eines Kindes, das im Myrtenkränzchen, im schleierweißen Kleidchen zur ersten Kommunion ging, seinen Jesus, Heiland und Seligmacher unter den jungen Brüstchen, die noch ihrer Reife und ihrer Entwicklung harrten. Im stillen bat er ihr ab, und wäre nicht ihr lässiges Tun gewesen, ihr müßiges Lauschen auf das melodische Hindämmern des Kanarienvogels, die Hände im Schoß, die verschleierten Blicke in eine purpurblaue Welt des Wesenlosen gerichtet, er wäre vor die Alte getreten, um in seiner kargen und zerbrochenen Weise zu sagen: »Mutter, laßt gut sein. Die wird noch. Nur noch so'n bißchen kalfatert . . . die Backbordseite geteert, und in Luv- und Leebrassen mankiert nicht soviel, wie 'ne Kirchenmaus forttragen könnte. Blexem! also Mutter, laßt gut sein. Ich garantiere dafür . . . aber äußerst . . . nur, man muß immerzu peilen und glasen . . . auch den Pegelstand ablesen . . . Also warum nicht?«

Aber er kam nicht dazu, kriegte den Dreh nicht heraus, und so nahm er denn Abschied von Oma, von Hendrintje, von Hannecke Brükers und uns, um auf seinem ›Miekske van Grieth‹ wieder nach Ruhrort und weiter stromauf nach Mannheim zu fahren.

Gegen die Wende des Monats machte er sich reisefertig.

Wir, die Getreuen, beschlossen, ihm bis zur Roten Schleuse, wo das Hagelkreuz aufragte und der Blick die Gegend von Rees bis nach Emmerich umgreifen konnte, das Geleit zu geben. Stelldichein: Brücke am Kesseltor, dieselbe Brücke, woselbst mein eingehandelter Kröpfer seinerzeit die Anwandlung hatte, wieder den Taubenschlag des Sommersprossigen aufzusuchen.

Rechtzeitig waren wir da: Peter Hartjes, ich, Jan Höfkens und der Herr mit dem strotzenden Biceps. Wir brauchten nicht lange zu warten. Der lange Moritz erschien mit der Pünktlichkeit eines Präzisionsvehikels.

Sein abgewetzter Ölrock flatterte im Frühlingswind. Die Schirmmütze mit dem silbernen Anker tief in den Nacken geschoben, kam der Riese seines Weges daher. Unter seinen breiten Sohlen knarzte der Boden, denn wenn Moritz marschierte, seufzten die Kiesel, schrien die Pflastersteine.

Bei uns angekommen, spie er so scharf und spitz wie eine kleine Falkaune oder Quartanschlange. Ein anvisierter Nagelknopf hätte Hals geben müssen.

Er bot jedem die Hand, eine Hand wie die Ruderflosse eines Delphins.

»Tag Jungs! Allemann auf Deck! Nobel von euch, mir diese Ehrung zu geben. Also los denn dafür!«

Der Abmarsch vollzog sich.

Unterwegs fand Moritz noch Zeit, uns Fiepen und Fuppen aus Weidenruten zu schneiden. »Nur aus purer Liebhaberei,« wie er sagte.

Unter klingendem Spiel ging es weiter. An der Roten Schleuse stoppte sein Schuh. Sein faltiger Ölrock voltigierte über die Deichkrone hin. Sein borkenrissiges Gesicht war ernst, aber gefaßt. Er warf den schweren Arm in die Höhe.

»Auf nach Valencia!«

Unter ›Valencia‹ verstand er den kleinen Hafenort am Rhein, wo ›Miekske van Grieth‹ seiner harrte.

»Jungs, das vergesse ich nicht . . . diese Begleitschaft! Auf Wiedersehen! Laßt Aloys nicht unter den Tisch purzeln . . . auch mich nicht . . . und denkt an die Düppeler Schanzen. Sie müssen bald fallen. Adjüs denn!«

Wir sahen ihm nassen Auges nach.

Gewaltig holte er aus. Es war ein imposantes Schreiten. So mochte der König von Brobdingnac den Weg unter die gigantischen Fußsohlen nehmen, um sein Reich zu durchmessen, in dem die Kappesköpfe so fett und mastig wie bei uns die größten Heuschober auf den Ackerparzellen wuchsen.

In den mit lichtem Grün umsponnenen Erlen- und Weidenbeständen des ›Bovenholtes‹ tauchte er unter.

Und richtig: am 18. April setzte der Sturm auf die Düppeler Schanzen ein.

Sie fielen.

*

Zehn Tage später . . . an einem Mittwoch . . .

Wie immer hatten wir nachmittags schulfrei.

Da kamen meine Freunde gelaufen. Als erster Peter Hartjes. Seine gelblich überlaufenen Schimmelhaare glänzten in der warmen Aprilsonne.

»Die Bilderbogens sind da!«

»Auch ich täte sie sehen,« bestätigte der Sommersprossige. »Man könnte sie mit die Finger greifen, so fein hingen sie im Auslagefenster.«

Henn Pierentrecker schlug sich auf die Brust, daß es krachte.

»Jawoll,« fiel er ein, »und ich sage dir: mächtig, über jedes Erwarten. Da springen die Kugeln 'rum wie die Flöh' auf 'nem Hundsfell. Man hört die Kanonens brummen, sieht die Dänen ausritschen, als hätten sie brennenden Schwamm unter dem Hintern.« Dabei gefiel er sich in einer so blutrünstigen, mit Feuer geschwängerten Schilderung der Erzeugnisse aus der farbenfrohen Offizin von Gustav Kühne in Neu-Ruppin, als stände er als Weiße Adlerfeder vor seinem mit wildem Geheul umtosten Wigwam, um die von seinen Untergebenen eingebrachten Skalpe zu zahlen.

»Jupp, du hast uns versprochen . . .«

Gewiß hatte ich das.

Wir gingen zur Oma.

Schon von weitem leuchteten uns die faustdicken Kriegsszenen entgegen. Die Staatse hatte sie hinter den Scheiben nebeneinander gereiht wie die Kügelchen ihres Rosenkranzes. Da waren die Gefechte bei Missunde und Fridericia, die Räumung der Dannewirkstellung, die mordsflinken Unternehmungen bei Selk und Jagel, Rolf Krake mit knallrotem Takelwerk, blutigem Kielwasser, das an durchlöcherte Wattebausche erinnerte, der Sturm auf die Düppeler Schanzen, ein Wirrwarr von grobhingestrichelten Ereignissen, in der Manier eines wahnwitzen Tünchermeisters: blau, schwefelgelb, violett, brandig und leuchtend – alles kraus durcheinander gewirbelt: Soldaten wie aus einer Nürnberger Spieldose genommen, Holzpferde mit getüpfelten Flecken, Flammen, mit der Schere aus den knalligen Lappen einer Karnevalsmütze geschnitten. Ein Esel hätte vor Vergnügen gewiehert, wären ihm diese Ereignisse vorgesetzt worden.

Aber das genierte nicht weiter.

Wir staunten.

Und hier – ein Porträt! Das des schwerverwundeten Führers von Raven. Darunter die Worte: »Zeit ist es, daß wieder einmal ein preußischer General für seinen König blutet.«

»Großartig – was?!«

Henn Pierentrecker taumelte hoch: »Gottverdorie! hondert Pond kann eck stämme.«

Oma empfing uns. Willfährig spendierte sie die uns seinerzeit zugebilligten Bogen. Mir präsentierte sie den tapferen Ansturm auf Düppel.

»Oma, wir danken auch vielmals. Nein, diese Wohltätigkeit! Dank, vielen Dank!«

Die Alte versuchte zu lächeln.

»Im Angedenken an Aloys – es ist gerne gegeben.«

»Hoch soll er leben und nochmals hoch und zum drittenmal hoch!«

Unter dem zündenden Brausegesang: »Was rauschen und jagen die Wasser der Schlei? Der Feind ist geschlagen, und Schleswig ist frei!« sockten wir ab.

Die Türen öffneten sich. Die Leute sahen uns nach. Wir spürten das Feuer der Begeisterung in unserer Heldenbrust lohen. Die warme Sonne tat mit. Goldene Strahlenbüschel sandte sie auf unsere Köpfe hernieder. Donnerwetter noch eins, das war so ein Tag, um richtig zu feiern!

Als wir Simmchens Laden passierten, stand der Inhaber im kamelottenen Schlafrock vor seiner Haustür, die linke Hand am Hosenträger, in der Rechten die lange Pfeife aus Weichselholz. Mit den Mümmellippen eines verärgerten Kanins stieß er ein Rauchwölkchen nach dem andern ins Blaue hinein.

Donnerknispel, was war denn nur in Simmchen gefahren?!

Sein sonst so freundliches und mitteilsames Gesicht war umdüstert. In den gekniffenen Äugelchen brannten glühende Köhlchen. Er schuppte sich, als wären über sein eigenes Wohlbefinden und das seines Samens die ägyptischen Plagen gekommen: stinkige Fische, zudringliche Frösche, Läuse wie Sand am Meere, Ratzen und Mäuse, von der Pestilenz hingeraffte Kamele, Esel und Ochsen, und was der üblen Dinge noch mehr waren. Nein, Simmchen Vitt machte nicht den Eindruck eines frohsinnigen Mannes. Er muffelte was vor sich hin: Ungereimtes, zerknödelte Worte. Trotzdem traten wir in heller Begeisterung näher.

»Herr Vitt, Herr Vitt . . .

Er verzog seine Mundecken, als hätte er auf ein Frankfurter Saucischen gebissen.

»Seid ihr meschugge?! Ihr schreit ja, als wären die Luderkrähen gefallen auf den mistigen Acker, als lärmten die Dohlenvögel von dem christkatholischen Tempel. Haltet eure Gefühle zurück. Ich will sie nicht, die lauten Gefühle. Ich muß stecken baumwollene Watte hinein in meine zerschlagenen Ohren, um sie nicht zertrümmern zu lassen bis zum äußersten Ende.«

Er rief über die Schulter: »Rosalie, bring mir die Watte von's oberste Paket in dem Laden!«

Allein Rosalie ließ sich nicht stören. Sie war just dabei, sich eines Schäferstündchens mit dem ersten Kommis hinter der Theke zu erfreuen.

Wir jedoch jubelten Simmchen zu: »Herr Vitt, aber die Siege!«

Eine schlenkerige Handbewegung.

»Was soll ich tun mit die Siege? Sie sind Fitalitäten im menschlichen Dasein. Ich bin kalt und bewußtlos dagegen. Sie sind schofel, die preußischen Siege. Sie haben Blut an die Füß'. Sie sind wie der Malach Hamoves, der da kommt, hinwegzunehmen das lebendige Leben. Kann ich sie umsetzen, diese Kampagnen mit die gefährlichen Flinten? Kann ich sie bringen als dekatierte Tuche unter die Leute, als Streichgarn unter die Landmänners, die da wohnen in Neu-Luisendorf und weiter über dem Berg fort? Gott, und meine noble Kundschaft! Darf ich ihnen offerieren die Düppeler Schanzkörbe als Aachener Buckskin, bezogen von's große Haus Guttmann, in Firma Sally und Elkan, zu Krefeld? Ich kann's nicht. Die Preußen mördern bloß unsere freundlichen Brüder. Sie bringen nur Unruhe in die jüdische und christliche Glaubensgemeinschaft. Sie machen die ehrlichen Geschäfte fallit, daß sie müssen gehen den Weg der Bewährung.«

Er krempelte erregt an seinem linken Hosenträger herum, weil ihm das untere Bekleidungsstück abrutschen wollte.

»Ich tu's nicht. Ich will sie nicht sehen, die heillosen Siege, nichts wissen von die Bilderbogen mit's Kanonieren und die brennenden Liegenschaften, weil sie veranstalten 'ne patriotische Pracht über die Einfältigen, um sie zu machen zu Förschtendienern und Förschtenlakaien.«

»Nanu!« rief der Sommersprossige.

Er war krötig geworden.

»Nein, ich will sie nicht vor Augen bekommen – die förschtlichen Bilderbogen. Ich mache mir nichts aus den Förschten. Sie trinken Schepanger. Ich mach' mir nichts aus Schepagner, denn ich bin'n schlichter Mann und'n einfacher Mann, der sich begnügt mit 'nem Gläschen Wasser aus dem lauteren Brunnen. Aber warum sollen die anderen Leute nicht trinken Schepanger? Soll er doch sein äußerst bekömmlich. Gott, wenn sie könnten! Die Förschten aber denken: Es genügt, wenn sie blaue Bohnen verzehren. Da werden sie for umsonst 'ne Handvoll Erde empfangen. Sela, Sela, Sela!«

Simmchen sagte es mit einer getragenen Geste, einem wehen Kopfschütteln.

Uns begann das Blut in den Adern zu kochen, in den Ohren zu sausen.

»Aber Herr Vitt,« fiel ich ein, »denken Sie doch an den König, an Bismarck!«

»Sie Jüngling!«

Er wieherte wie ein jähriges Füllen auf einer grünen Wiesenkoppel.

»Nein, junger Mann, ich mache mir nichts aus dem König. Was soll ich tun mit dem König? Hat er doch als prinzlicher Kronrat füsiliert mit die großmächtigen Büchsen und die Lazeruntasch zwischen die harmlosen Menschen, daß sie gefallen sind wie die Ähren auf 'ner Ackerparzelle. Ich werfe ihn von mir, den König, weil er so grausig kartätscht hat. Und der Herr von Bismarck, was ist sein oberster Ratgeber?! Ich kenn' ihn. Er ist'n großer Mann und'n bedeutsamer Mann, mit drei Haare auf dem gewaltigen Kopfe. Aber er ist'n preußischer Junker mit 'nem entsetzlichen Schnurrbart. Ich weiß nicht, was sie zusammen haben gesprochen – er und der König. Aber es ist furchtbar gewesen. Ich streiche ihn aus meinem Notizbuch – den Bismarck. Er hat gebracht Krakeel in die Welt, dito die Völkerschaften veruneinigt, daß sie gestürmt sind wie die verstörten Schafe vom Berge Garizim, um zu fressen die Hirse und die köstlichen Rosen von Saron. Gott, dieser Jammer! Auch ihn werfe ich von mir. Ich werfe ihn über die Schulter in den Kot der Straße hinein. Was sag' ich: bloß in den Kot der Straße hinein? Nein, ich werfe ihn in den Abtritt, in den stinkigen Abtritt, auf daß er . . .«

Er kam nicht weiter.

Sein Mund blieb geöffnet, aber seine Sprache verstummte, wie Zacharias am Rauchaltare verstummte, als ihm dargetan wurde, seine betagte Ehegenossin sei schwanger geworden und würde einen Sohn gebären, der da predigen würde am Jordan, Heuschrecken und Honig verzehrend, bekleidet mit der kamelhaarigen Schur und den Stab in der Rechten führend. Denn in dieses geöffnete Mundwerk . . .

Der Sommersprossige hatte einen Berliner Pfannkuchen, den irgendeine Rosinante abgelegt hatte, ergriffen und ihn fingerfertig . . .

»Gott der Gerechte!«

Simmchen schrie auf: »Rosalie, Herr Veilchenstock, kommt mit die eiserne Ell', um sie zu schlagen auf die finnigen Gojim!«

Allein der erste Kommis und Rosalie blieben stumm wie die Karpfen. Sie hatten es vorgezogen, sich in das Hintergärtchen zu drücken, um dort unter den Fliedersträuchern nach Aurikelblümchen zu fahnden.

»Rosalie, Herr Veilchenstock . . .

Nichts ließ sich hören.

Da kam über Simmchen die Wut und der gerechte Zorn seines Volkes. Sein Schlafrock wirbelte. Einen seiner Pantoffeln verlor er. Aber mit dem Heroismus des Judas Makkabi, des Mattathias Sohn, schwang er sein Weichselrohr, willens, uns den Pfeifenkopf auf den Bregen zu knallen.

»Mit der Schärfe des Schwertes, mit der Schärfe des Schwertes!«

Noch einen Brocken des geworfenen Roßapfels zwischen den Zähnen, strudelte er vor.

Ich hatte einen Stein von der Straße genommen, um irgendeine Waffe zu haben. Allein Henn Pierentrecker entriß ihn mir.

»Das verstehst du nicht, Jupp! Du hast nicht den richtigen Biceps. Aber ich! Hondert Pond kann eck stämme!« und siehe: er holte aus; der geworfene Kiesel surrte und sirrte. Traf jedoch den Pfeifenkopf nicht, sondern klirrte in das Oberlicht der Türe hinein, daß die Glasscherben nur so herumsplitterten.

»Waih geschrien! Sie rungenieren mein Haus bei lebendigem Leibe! Mein Geschäft! Meine Wonne! Herr Kommis, Herr Kommis . . .

Allein Herr Veilchenstock hörte und sah nicht. Er hatte Besseres vor. Sinnig war er mit Rosalie in der kleinen Scheune verschwunden, die dem Gärtchen sich anschloß, um dort, wie er sagte, nach frischgelegten Hühnereiern zu suchen.

»Herr Kommis, Herr Kommis . . .

Statt seiner erschien einer im Schurzfell, mit verrußtem Gesicht, ein repariertes Pflugscharmesser geachselt.

Es war Nöllecke Giltjes mit den krölligen Haaren. Mit der Würde seiner Innung kam er des Weges gegangen, herrisch und mannhaft, strahlend vor Gesundheit und mit knarzendem Leder.

»Herr Simmchen, was gibt es?«

Der Händler streckte jammernd die Arme.

»Um Verzeihung, Herr Schmiedemeister, Sie sind doch auch Pazifinist?«

»Bin ich. Sonst wär' ich nicht hier, hätten mich längst die Preußen gekapert.«

»Kann es verstehen. Aber sehn Sie nur: da sind die da erschienen, for die Gewalt, mit die grausamen Bogen, und haben zerschmissen mein Manefakturenfenster und mir gesalbt den Mund mit dem gefallenen Apfel.«

Da legte Nöllecke Giltjes das Pflugmesser hin.

»Das Genick sollte man den Kanaillen zerbrechen. Oder noch besser . . .«

Er beugte sich nieder und flüsterte dem Verstörten einige Worte ins Ohr – irgend etwas Infames, Verhängnisvolles, Außergewöhnliches. Es war ein verteufelter Ratschlag.

Uns aber drohte Nöllecke mit seinen eisernen Fäusten.

»Hunde – verfluchte!«

Wir wußten Bescheid.

Wie Schafleder rissen wir aus, denn mit diesem Komparenten ließ es sich nicht gut Kirschen verzehren.

Durch das damalige Eingreifen des Riesen war zwischen uns und Nöllecke Giltjes das Tafeltuch völlig zerschnitten.

 


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