Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Anderen Tages flackerte ein mattes Unschlittlämpchen auf dem frischgeworfenen Hügel vom Bas. Die bleiche Sichel des Mondes hing tief zwischen den Zweigen der Pappelbäume. Es war einsam und still auf dem kleinen Friedhof. Das matte Licht des Tages kämpfte vergebens gegen die steigenden und wachsenden Schatten, aber es war noch immer stark genug, die Wirkung der Mondsichel hinfällig zu machen. Tief im Westen reckte sich ein langgezogener Strich gelblichen Lichtes, das wie angenagelt über der Friedhofsmauer stand. Vom Kalvarienberg hob sich ein holzgeschnitzter Kruzifixus in diesen Lichtstreifen hinein und zwar so deutlich und scharfumrissen, daß sich selbst die vorspringenden Zacken der Dornenkrone sichtbar vom Hintergrunde abhoben. Es war eine ernste und ergreifende Silhouette. Die schwankenden Ruten der Trauerweiden hingen wie gelöste Haarsträhnen seitlich des Kalvarienberges. Einzelne Strähnenbüschel bewegten sich leise im Wind. Wie eine arme Liebeseele flackerte der Unschlittschein zwischen den Buchsbaum- und Seerosenkränzen auf dem Grabe vom Bas. Jetzt wurde das Lichtchen trüber und trüber, und wie es knisternd verlosch, 343 nahm die Mondsichel hinter den säuselnden Pappelbäumen an Helligkeit zu. Gleichzeitig erhob sich eine schwarze Frauengestalt von der Stätte, wo Grades Mesdag seine letzte Ruhe gefunden hatte.
Fast mit geschlossenen Füßen bewegte sie sich dem Friedhofsgatter zu. Sie schien zu schweben. Ihre Arme hingen schlaff herab. In der Rechten hielt sie den schwanken grünen Schaft einer Seerose. Die welke Blüte streifte die Erde. Wie von einem geheimnisvollen und unsichtbaren Etwas gelenkt und getragen schwebte sie weiter. Allein – so ganz allein! – Mit aufgerissenen Augen sah sie verstört und trostlos in die weite, dämmernde Leere. Am Haupteingang ließ sie die Seerose fallen – dann ging sie der Stadt zu, aber immer wie mit geschlossenen Füßen.
Es war Hannecke Mesdag.
Als sie die Stadt erreichte, war völlige Dunkelheit eingetreten. Der Mond stand noch immer so tief, daß sein Licht kaum bemerkbar war. An verschiedenen Ecken brannten schon die Straßenlaternen, und große helle Reflexe zitterten auf dem blanken Pflaster. Nur wenige Leute machten sich draußen zu schaffen. Das Gewitter vom gestrigen Tage hatte eine empfindliche Kühle zurückgelassen. Hannecke Mesdag vermied ängstlich die erleuchteten Stellen. Geräuschlos schwebte sie im Dunkel der Häuserzeilen weiter, und wo eine Lampe auf die Straße hinaussah, machte sie instinktiv einen großen Bogen, um aus dem Bereich des Lichtes zu kommen. Sie wollte nicht erkannt werden. 344 Nur zeitweilig und für eine ganz kurze Spanne zitterte ein kleiner, beweglicher Schatten vor ihren Füßen dahin.
Jetzt hatte sie die breite Grabenstraße erreicht. Sie konnte ungestörter und freier ausschreiten, denn breitgeästete Linden liefen mit den Häusern und spendeten so viel Sicherheit, daß nur ein geübtes Auge einen Vorübergehenden erkennen mochte. Die hohe Gestalt von Hannecke Mesdag zerfloß und verging in diesem Dunkel und Düster.
Dem Altmännerhaus schräg gegenüber lag das Kloster der barmherzigen Schwestern. Es war ein spanischer Giebelbau mit vergitterten Fenstern und nach der Gartenseite hin mit Ulmen und Linden umstanden. Hinter allen verhangenen Fenstern lag eine schwache Helle, die höchstens von dem schwimmenden Docht eines Nachtlichtes erzeugt sein konnte. Das Untergeschoß hingegen war völlig leb- und lichtlos. Am Hauptportal befand sich ein schmiedeeiserner Klingelzug. Der Handgriff trug die Form eines durchbrochenen Kreuzes.
Hannecke ergriff ihn und zog daran.
Ein gellendes Klingeln durchschnitt die tiefe Ruhe, die in dem weitläufigen Gebäude gerastet hatte. Das harte Zeichen war ordentlich beleidigend für ein empfindsames Gehör. In den leeren Gängen hatte es einen trefflichen Resonanzboden gefunden. Es gellte weiter und weiter.
Schlüssel rasselten, langsame Schritte kamen näher, die schwere Bogentür öffnete sich, und in dem Schein 345 einer ewigen Lampe stand die Gestalt eines Nönnchens, dessen Gesicht ruhig und weltvergessen aus dem weißen Stirngebäude und der schwarzen Holle heraussah.
»Gelobt sei Jesus Christus!« sagte das Nönnchen.
Es war eine monotone Stimme, die da gesprochen hatte. Hannecke schwieg.
»Was wünschen Sie?«
»Wilm Verhage ist hier im Kloster?«
»Ja.«
»Ich möchte fragen, wie es ihm geht.«
»Wir haben nur geringe Hoffnung.«
Große Tränen perlten über die Wangen von Hannecke Mesdag.
»Er liegt im Fieber,« sagte die Schwester in ihrer einförmigen Stimme weiter, »und seine Gedanken sind getrübt. Wenn er auch körperlich geheilt werden sollte, so ist es doch wahrscheinlich, daß ein anderer Schaden zurückbleibt.«
Hannecke zuckte zusammen, als wäre ihr eine eisige Hand über den Rücken gefahren. Dann faßte sie sich.
»Darf ich zu ihm?« fragte sie schluchzend.
»Sie sind eine Anverwandte des Verunglückten?«
»Ja – ich bin eine Anverwandte von Wilm Verhage.«
»Ich will Sie der Oberin melden – wie heißen Sie?«
»Johanna Mesdag.«
»Dann muß ich leider bedauern,« sagte das Nönnchen mit freundlichem Lächeln, aber auch mit aller Bestimmtheit.
346 »Also, ich darf nicht zu ihm?« stotterte das unglückselige Mädchen.
»Nein.«
Die Schwester zuckte die Achseln, dann ließ sie das Schloß fast geräuschlos einschnappen.
Hannecke Mesdag war wieder allein – so ganz allein. Traurig sah sie sich um und um und ging ihres Weges. –
Zum zweiten Male senkte sich die Nacht mit linden Schwingen auf den frischgeworfenen Grabhügel vom Bas. Alles lag grau in grau. Der falbe Strich im Westen war längst verblichen. Jetzt blinzelte der Mond durchs Pappellaub, und das Licht stieg höher und höher. Die ersten Strahlen berührten den Kirchhof. Auch der Kruzifixus stieg höher und höher, er schien sich zu recken unter dem magischen Einfluß des wachsenden Lichtes. Ja, er reckte und streckte sich und segnete alle, die ihm zu Füßen ruhten. –
Die Tage hatten Sturmschritt genommen. Die Herbstzeitlose blühte auf Wiesen und Triften und spreitete einen lichtvioletten Teppich über die weiten Grasflächen neben den Deichen. Die Bäume warfen ihr Laub ab, und die Schwalben verflogen sich. Das Mariengarn haspelte sich von Strauch zu Strauch oder zog in schwebenden Fäden geruhsam durch die schimmernden Lüfte – es ging stark in den Herbst hinein.
Der Lateiner und ich hatten Hannecke Mesdag nur noch vereinzelte Male gesehen. Sie wich unseren Blicken 347 und unserem Gruß aus. Ihre Mutter war allezeit eine wortkarge Frau gewesen, allein seit dem Tode ihres Mannes war sie stumm geworden. Mechanisch und nur noch mit dem Andenken ihres Grades beschäftigt lebte sie in den Tag hinein. Ihr Verhältnis zu Hannecke schien sich gebessert zu haben, denn zuweilen saßen die beiden Frauen gemeinsam hinter den Gardinen des kleinen Hauses, wo die Stockrosen zu falben begannen. Über das Befinden des jungen Verhage drangen nur unverbürgte Vermutungen zu uns; jedenfalls ging die Genesung hinter den verschwiegenen Klostermauern nur langsam vonstatten, wenn überhaupt an eine völlige Genesung gedacht werden konnte. Jakob Verhage betrat mit keinem Fuß die Klosterschwelle, und es gab viele, die behaupteten, daß er beschlossen habe, das Gedächtnis an seinen mißratenen Sohn völlig zu tilgen und aus seinem Herzen zu reißen. Stumpfen Sinnes, fernab der Außenwelt, saß er in seinem Lehnstuhl, bestierte die Wände seines schlichten Zimmers und fütterte seine Meerschweinchen, Vögel und Mäuse. Nur zuweilen glitt ein Lächeln über seine matten und eingefallenen Züge, und das war, wenn sein Rotkehlchen geheimnisvoll in den Herbstabend leise und tönend hineindämmerte. Es hatte auch so große und seelenvolle Augen – das Tierchen! – Eines Tages, zur Zeit, als das Frühglöckchen tönte, hatte Jakob Verhage ausgelitten. Der liebe Herrgott da droben hatte für ihn die große Retraite geblasen. Die Leute des Altmännerhauses umstanden ihn und beteten für seine unsterbliche Seele. –
348 Mit dem Beginn der Herbsttage hatte für uns die Scheidestunde geschlagen. Unserer weiteren Studien wegen mußten wir die kleine Stadt seliger Jugendträume verlassen. Wir sagten ihr Valet. Der Lateiner entschied sich für eine gelehrte Schule weiter stromauf am Niederrhein, während ich meine humanistische Bildung in Westfalen zu holen gedachte. Jan Höfkens und Franz Dewers hatten in richtiger Erkenntnis der Sachlage alle weiteren Studien an den Nagel gehängt und waren kurzentschlossen in den praktischen Beruf ihrer Erzeuger hineingesprungen. Jener vertauschte den Cornelius Nepos und Julius Cäsar mit Mehlsack und Müllerjacke, während Franz Dewers den drückenden Alp des accusativus cum infinitivo von sich schüttelte und sich mit den Anfangstheorien des Schieferdeckens befaßte. Der lange Dores hatte noch im Vaterstädtchen zu bleiben. Seine auswärtige Schul- und Leidensgeschichte sollte erst im nächsten Jahre beginnen. Beim Abschied legte ich ihm noch die Dohle ans Herz – dann stieß der Schwager ins Horn, und mit lustigem ›Trara‹ ging's zum Tore hinaus. Bis zur nächsten Station hatten wir, der Lateiner und ich, gemeinsame Postfahrt. Als der Eilwagen durch die Straßen rasselte, wurde es mir so recht weh und weich ums Herz. Vieles mußte ich hinter mir lassen. Jan Höfkens winkte uns noch mit seiner staubigen Müllerkappe nach, während Franz hoch oben vom luftigen Dach der Sankt Nikolaikirche mit seinem Nasentüchlein schwenkte und wehte, bis die Bäume des Ravelins das grüßende Taschenfähnlein neidisch versteckten. 349 Bei Grades Mesdag stand eine bleiche Mädchengestalt hinter den Scheiben. Mit der einen Hand hielt sie die Gardinen zurück, mit der anderen preßte sie ein weißes Tüchlein gegen die Lippen. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Mit unsäglich traurigen Blicken sah sie uns an – ich hätte aufschreien mögen . . .
»Hannecke . . .!«
Unter lustigen Posthornklängen ging es vorüber. In diesem Augenblick war es mir, als sei eine kleine Person neben den Schwager auf den Bock gesprungen.
»Der Briefträger,« sagte der lateinische Heinrich; ich sah einem kleinen Falken nach, der ob den Stoppelfeldern und Wiesen revierte. Wir machten dieselbe Fahrt, die noch vor etlichen Wochen der junge Verhage gemacht hatte. Die Ammern hockten auf den Telegraphendrähten, Blatt um Blatt fiel von den Chausseebäumen, und die rechtsliegenden Hügelreihen mit ihren Haubergen schickten sich an, in die braune Kapuzinerkutte zu schlüpfen. Nur die dunkelgrünen Fichten standen wie ernste Propheten unter dem Kleinholz und grüßten uns mit schwermütigem Rauschen.
Vorüber!
Nach zweistündiger Fahrt liefen wir in die Bahnstation ein. Zusammengerüttelt stiegen wir aus, und als ich die Augen aufschlug, die so lange im Dämmerlicht des Eilwagens sich nur mit Traumgebilden beschäftigt hatten, stand einer im Schmuck des prächtigsten Zylinders und mit gebreiteten Armen vor uns.
350 Pittje Pittjewitt.
»Jungs!« rief Pittje, »ich hab's nicht aushalten können. Gottdomie noch mal . . .! – Es wird einem doch schwer, so auseinander zu gehen. – Adjes denn.«
Mit dem Zeigefinger wischte er sich eine helle Träne von der glattrasierten Wange – und, von tiefer Rührung bewältigt, lagen wir uns in den Armen. Dann ein gellender Pfiff – langsam stampfte und fauchte der Zug in die Halle.
Unsere Wege trennten sich – und als ich mich aus dem Coupéfenster lehnte und bemerkte, wie die Gestalt Pittje Pittjewitts immer kleiner wurde, zusammenschrumpfte und schließlich im Dampf und Nebel zerfloß, da war es mir, als hätte mir eine rauhe Hand das letzte Stückchen Heimatserde unter den Füßen genommen.
Vorüber! –
Langsam schwanden die Tage, die Wochen und Monde. Draußen ging die Weltgeschichte mit ehernen Schritten. Das Verhängnis rauschte gewaltig über die französischen Felder und legte den Trauerflor um die Türme von Notre Dame zu Paris, aber jenseits der Türme lohte es auf, und in dem strahlenden Lichte tauchte es empor wie ein Kronjuwel. Die bereiften Baumkronen im Park zu Versailles schwankten im Wind, und durch die tempelgleichen Hallen ging es mit Brausen und Sausen, und auf Sturmgefieder wurde das Lied vom deutschen Kaiser über den Erdkreis getragen. Vor diesen welterschütternden Dingen duckte sich so manches, was meine Seele bewegt 351 hatte. Die Erinnerung an Hannecke Mesdag wurde wie der Duft einer weißen Friedhofsrose in die Ferne getragen. Eine stille Vergessenheit umfing meine Sinne. –
Der Winter verging, und unter Bast und Borke regte sich ein neues, hoffnungsfreudiges Leben. An den Stachelbeersträuchen drangen die jungen Spitzen hervor, die ersten Veilchen blühten, und als die Knospen der blauen Syringe zu schwellen begannen, schnürte ich mein Bündel und zog den Osterferien und meiner engeren Heimat entgegen. Während der Karwoche traf ich dort ein. Es hatte sich wenig verändert, nur über Hannecke Mesdag schwiegen die Leute. Ich drang nicht weiter in sie, als ich aber den Friedhof besuchte, fiel es mir auf, daß neben dem Grabe vom Bas ein kleiner und frischgeworfener Hügel entstanden war. Der volle und saftige Schaft einer Lilie drang eben aus dem lockeren Erdreich hervor. Hier mußte ein Kind seine letzte Ruhestätte gefunden haben. Kein Kreuzlein, keine Inschrift – nichts. Vielleicht war das junge Wesen namenlos in den Himmel gestiegen. Vielleicht auch . . . ich dachte nicht weiter darüber nach und verließ die Stätte des Friedens und des Todes. –
Die schönen Tage der Ostern gingen vorüber, und mit ihrem Schwinden war der Zeitpunkt gekommen, wo ich wieder das beklemmende Gefühl des Abschiednehmens verspürte. Während der Ferien hatte ich ein Begegnen mit Mutter und Hannecke Mesdag ängstlich vermieden. Einen eigentlichen stichhaltigen Grund hierfür vermochte ich nicht anzugeben, aber es war mir, als hätte 352 sich ein unausgesprochenes Etwas scheidend zwischen unsere früheren Beziehungen gedrängt und die traumhafte Sehnsucht in meinem Inneren getötet. Da eines Tages, kurz vor Schluß der Ferien, als ich am Ravelin vorbeischlenderte und auch die bekannte Wohnung passieren mußte, stand ein bleiches Gesicht hinter dem Fenster, das mit unsäglich traurigen Blicken nach dem jungen Grün des Frühlings hinaussah. Eine lauwarme Luft spielte über dem Wasser und trieb die saftigen Rohr- und Binsenspitzen aus dem Grunde hervor. Die Weiden schimmerten goldig, die Wasserlinsen bildeten schon smaragdgrüne Inseln, und an den Pappelspitzen drängten sich die jungen Blätterbüschel in lichtbraunen Farben. Jenseits des Ravelins stand der Abend in weichen Farbentönen. Wie ein Resedabeet in voller Blüte leuchtete das gedämpfte Licht am westlichen Himmel.
In dieses ersterbende Licht des Tages, das sich allgemach verfärbte und dann den Westen wie mit einem olivenfarbigen Gürtel umhegte, starrte Hannecke Mesdag.
Jetzt schien sie mich bemerkt zu haben. Kaum wahrnehmbar und fast gespenstisch hob sie die Hand und winkte mir zu. Sollte ich folgen? – Sollte ich die längst erstorbenen Gefühle wieder zum Leben erwecken? – und doch: ich folgte, und als ich die Stube betrat, war das Zimmer von einem ungewissen Dämmer durchzittert.
Hannecke hatte sich am Fenster niedergelassen. Ihr Kopf ruhte in der aufgestützten, feingeschnittenen Hand, und sie sah mich mit einem Blick an, den ich nie 353 vergessen habe im Leben. Sie glich einer Verstorbenen. Augenlider, Stirn und Wangen wiesen einen geheiligten Abglanz auf, wie ihn nur der Tod zu geben vermag. Die Ohren waren gleichsam aus Marmor gebildet, und die durchsichtigen Nasenflügel öffneten sich über den bleichen Lippen. Ein unsagbares Lächeln zog ihre bläulichen Augenlider auseinander, als ich eingetreten war. Grünlich und glänzend, wie der Schmelz eines Seidenfadens, schimmerte es zwischen den langen Wimpern hervor. Ihre Linke preßte die Schläfe, gleichsam um eine stechende Empfindung zu lindern – aber sie schwieg. Schon halb eine Sterbende – und doch wie schön war sie!
»Ich bin es, Hannecke.«
»Also Du bist es?« sagte sie tonlos und mit schmerzlichem Lächeln.
Ich war näher getreten.
»Endlich kommst Du,« fuhr sie lächelnd fort, »Du hast lange gewartet, und ich habe mich so nach Dir gesehnt.«
Diese Anklage erschütterte mich.
»Es war auch Zeit, daß Du kamst, denn wenn die nächsten Ferien kommen« – sie zeigte mit ihrer durchgeistigten Hand auf den letzten Schein des Tages, der hinter den Bäumen des Ravelins im Sterben lag und allmählich sich löste – »dann bin ich hingegangen wie das da.«
Sie hatte mit Ergebenheit und Wehmut gesprochen. Das Licht am Horizont war tot – aber magisch blitzte es im Dunkel des Westens auf.
354 Bleich wie der Kelch einer weißen Wasserrose, bewegungslos, friedlich und einsam stand der Abendstern über den dunklen Pappelkronen am Ravelin.
Ich hatte mich vor ihr auf die Kniee geworfen und hielt ihre Hände und küßte sie. Sie atmete tief und angstvoll auf, ihre Augen schlossen sich völlig, und ich fühlte, daß sie sich niederbeugte und mit ihren Lippen leise meinen Scheitel berührte.
»Wenn's doch schon vorüber wäre!« hauchte sie flüsternd. Ihre weichen Hände zogen meinen Kopf an ihre Brust. Ich hörte den schwachen Herzschlag und verspürte die sanfte Welle der Brust unter ihrem leichten Kleide, und es schien mir so, als umschwebten uns alle die Zaubergestalten, die Hannecke in früheren Tagen so oft beschworen hatte. Sie hob wieder die Augen. Das lichte Grün war verschwunden. Ein märchenhaftes Veilchenblau, das selbst im Dunkel des Zimmers noch leuchtete, war an seine Stelle getreten.
»Wenn's schon vorüber wäre!«
»Du darfst nicht sterben . . .«
Hannecke zuckte plötzlich zusammen.
»Hörst Du das . . .?«
Im jungen Schilf und auf den dunklen Wassern des Ravelins war es lebendig geworden. Deutlich klang es herüber. Erst schüchtern – dann voll und tönend. Zum erstenmal im Frühling sang sie heute. Sie war zurückgekehrt aus weiter Ferne und lebte wieder im benachbarten Ried.
355 »Hörst Du das . . .?«
»Kärre-kärre-kiek . . .!«
Hell und klar tönte der Ruf der Rohrdrossel durch den Frieden der werdenden Nacht hin.
»Als sie im verflossenen Jahre rief,« stammelte Hannecke, »ja, da . . . und jetzt . . .«
Sie zeigte zum Abendstern, dessen Schein immer lichter erstrahlte.
»Ich komme bald – du rufst mich, du winkst mir – ich weiß es ja, in deinem glücklichen Licht wohnt und weint das arme Seelchen, dessen Bleiben auf dieser Erde nicht von langer Dauer sein konnte. Es ist hinübergegangen. Großer Gott, heiliger Gott – Wilm! – lasse nicht allzulange auf Dich warten . . .! – Und Du . . .?«
Ihre lieben Züge nahmen einen überirdischen Glanz an. Ihre weichen Arme umschlangen mich, sie preßte mich an sich, daß ich noch ihre Kräfte bewunderte, dann lispelte sie leise: »Lebe wohl . . .«
Ich spürte ihren linden Hauch. Ihre Lippen legten sich fest und innig auf meinen Mund – und sie küßte mich lange.
Als ich sie verließ, schluchzte sie wie ein Kind.
Ich habe Hannecke Mesdag niemals wiedergesehen. –
Träumend schritt ich am Ravelin vorüber. Träumerisch, weltverloren und einsam lag das gedehnte Ried im Frühlingsschauer unterm Abendstern, und immer feuriger, immer 356 werbender und lockender klang es von dort her in berückenden Lauten . . .
»Hörst Du das . . .?«
»Ich höre . . .«
»Kärre, kärre-kärrekärrekiek . . .«
* * *
Etliche Wochen später, es war an einem schönen Abend im Mai, saß ich am Fenster meines Studierstübchens in westfälischen Landen. Über die Giebel und Dächer der alten Stadt fort sah ich ein Stück der münsterschen Heide, die unter dem Einfluß des Abendhimmels violettfarben herüberwinkte. Ich hatte in den Heidebildern der Annette von Droste-Hülshoff gelesen. Das wachsende Dunkel nahm mir das Buch aus der Hand. Ich sah gedankenlos, aber unter dem Bann einer steigenden Erregung, in die größer werdenden Schatten des Himmels hinein, aus denen sich allgemach ein weißer Punkt, ein milchiges Licht loslöste und deutlich hervortrat. Es war der Abendstern, derselbe Stern, der jetzt durch die Pappeln des Ravelins schimmerte. Auch Hannecke Mesdag mußte ihn sehen. –
Hannecke Mesdag steht vor mir. Ihr Atem hebt ihre zartgerundete Brust, ihr halbgeöffneter Mund kann sich nicht mehr schließen, und die bläulichen Augenlider wollen zufallen . . .
»Guten Abend! – Soeben angekommen . . .«
357 Mir wurde ein Brief eingehändigt. Es war ein Schreiben von meiner Mutter, in welchem sie mir mitteilte, daß mein Vater als Justizrat in die Hauptstadt der Provinz versetzt sei und ich meine Herbstferien dort schon verleben würde. Lebewohl, mein Junge. Postskriptum: Gestern vormittag wurde Hannecke Mesdag begraben.
Da klaffte eine gähnende Leere in meinem Herzen, ich sah auf zum Abendstern, als wenn ich sie dort zu finden hätte – und weinte bitterlich.