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Dem hochwürdigen Benefiziat P. in V. zu eigen
Luft
Welch immer einer just in diesen Kartagen als Fremder und Zugereister so eine kleine Stadt betritt, in ihrem halb ländlichen Charakter und von ganz katholischer Zusammensetzung – angenommen, der selbige Fremde und Zugereiste befasse sich weder gern sonderlich mit Physiognomien, noch auch reagiere er auf eine Stimmung oder einen Druck, selbst lagerte oder lastete dergleichen noch so allgemein: er wird dennoch, und zwar rein aus sich selber, ohne im geringsten aus Anzeichen aus seiner Umgebung zu lesen zu brauchen, nicht später als nach drei Stunden seines Dortseins bereits unbehaglich auffahren und betroffen fragen:
»Was ist denn heute eigentlich hier los?«
Und recht als Antwort auf seine Frage – noch ehe der ein wenig schwerfällige Wirt etwa dem Reisenden Bescheid zu sagen vermag – erfüllt etwas die Luft, hoch oben im Pfarrkirchturm, schräg von hier übern Platz, etwas, das so ungemein »hölzern« klingt – klappend, wie nur zwei Hölzer aufeinanderklappen oder vielmehr klappernd, scheppernd, ratternd und zerspreißelnd. Und das, wie gesagt, hoch vom Turm! – Nein also, man horche nur einmal, grad als würden sehr viele Pritschen, wie sie zu Karneval die Narren schwingen und damit Schläge nach allen Seiten austeilen, hoch oben im Turm nicht weniger eifrig gehandhabt! – Oder aber: als scheppere der leibhaftige Knochenmann in den Lüften!
»... was ist denn heute eigentlich hier los?«
Und der Wirt: »Das sein doch die Ratschen, Herr!«
Der Reisende: »Ratschen? Ratschen? – Den Ausdruck hab' ich schon einmal gehört: ›Ratschkathl‹, wenn ich mich recht erinnere –!«
»Ganz recht, Herr: eine, die wo alleweil und grad in einer Tour plappert und plappert, die nennt man eine ›Ratschen‹. – Und die Karglocken in der Karwoche, währenddem daß die erzenen Glocken nämlich nicht läuten dürfen und nach Rom geflogen sind, wie man so zu den Kindern sagt, diese hölzernen Karglocken in der Karwoche, die nennt man halt auch ›Ratschen‹!«
Und da weiß der Fremde und Zugereiste, was ihm all die drei Stunden lang bereits sehr abging in so einer kleinen Stadt in ihrem halb ländlichen Charakter und von ganz katholischer Zusammensetzung: die Glocken waren's, die er entbehrte, die Glocken, die sonst doch immer auf der Lauer sind, namentlich in so einem »Nest«, die Glocken, die einen sonst hier doch geradezu verfolgen, gleich jener »wandelnden« – schreckhaft – in jenem Goetheschen Gedicht:
»Es war ein Kind, das wollte nie usw.«
Und wäre der Reisende, wie eingangs angenommen, noch so stupide und abgestumpft, uninteressiert und maßlos gleichgültig nun wird er dennoch unbewußt zum Physiognomen und studiert erst die Züge dieses alten Wirts und dann vielleicht den Ausdruck im Gesicht des jüngsten Kindes des Wirts, eines zwölf- oder dreizehnjährigen Mädchens ... und schließlich nach einem Gang über den Stadtplatz hin bis – ein Gäßchen hinab – ans Ufer zum Fluß und einem Blick hinüber zum dunklen Wald am jenseitigen Ufer reagiert auch er auf die lagernde Stimmung und den lastenden Druck über der Allgemeinheit mit annähernd baro- oder manometrischer Genauigkeit:
»Welch Großer, Größter, ja der Allergrößte von uns auch gestorben wäre, wessen Ruhm würde sogar ausreichen bis hier in dies verlassene Nest?! – Und aber hinwiederum geht diese nun schon ins zwanzigste Jahrhundert währende alljährliche Trauer und Klage so: als ob die erschütternde Kunde der Telegraph erst gestern am Abend gemeldet!! – Ja, selbst die Natur – –«
»Selbst die Natur trauert und klagt mit«, wollte er eben sagen und konstatieren, daß dies keine bloße Zeitungsphrase sei ... Da hebt, wie er noch unten am Fluß steht, das hölzerne Geläut auf ein neues an hoch oben im steinernen Turm: Ist's nicht – ist's nicht, als wär' der Himmel über und über bedeckt von grauem Gefieder – in so unzählbaren Scharen flögen unbekannte Vögel hin über die Stadt und klapperten schaurig-traurig mit ihren sehr großen Schnäbeln?
Feuer
... Karsamstag-Frühe. Lang vor sieben Uhr ...
Der Reisende im Halbschlaf: als ob er, miteinbezogen in die Müdigkeit der Trauer, einen völligen Tag überschlafen hätte und heute schon Ostermorgen wäre, ein solches »Leben« tönt herauf von der Straße. Ein mehr des Orts Kundiger würde es ja aus den um vieles wuchtenderen Schritten deuten, daß dies nicht Städter sein dürften aus dieser kleinen Stadt, sondern daß es Kirchgänger sein müßten, bäuerische, rechts draußen vom hügeligen »Land« und von links drüben her aus dem bergigen »Wald« ... der Fremde und Zugereiste deutet's einzig aus der Überzahl, soviel können nicht bloß Städter sein ...
Und wieder die »Ratschen« hoch im Turm!
Da aber – was ist das denn – Feuer um Gottes willen?!
Ein Prasseln unten – zu den Ratschen hoch im Turm: ein roter Schein bis zu den Vorhängen herein ins Zimmer unseres Reisenden: ein Sprung ans Fenster – hinter der Kirche brennt's?!
Möcht leicht sein, denkt der Reisende, daß die Ministrantenbuben hoch im Turm, statt mit den »Ratschen« länger zu »läuten«, all das Hölzerne nun vor Schreck zu den Fenstern heraus und tief herab auf das Pflaster würfen und fallen ließen (so wenigstens hört sich's an!) ... Aber der Anblick dann beut sich immer noch seltsamer dar: Die Landsleute laufen und rennen keineswegs auf die Brandstätte zu, sondern bewegen sich gar gemessen und schier wie in feierlichem Tritt, und tragen in den Händen auch keine Feuereimer, sondern Hölzer, Hölzer, über einen Meter lang und von Pfahldicke, schön geschält, elfenbeinern herleuchtend das Fleisch des Holzes, und sonstwie noch immer statt der Feuereimer, die unser Fremder und Zugereister bereits in seiner Aufregung zu schauen vermeinte – höchstens gläserne Flaschen, längliche, bauchige, grüne und weiße, und allem Aussehn nach leer – –
Wahrhaft seltsame Löschwehr das! – Und der Reisende macht, daß er so schnell wie möglich in die Gaststube herunterkommt. Da aber erfährt er, daß heut, Karsamstag um sieben Uhr in der Früh, Feuerweihe hinter der Kirche ist – ganz im Freien, eija, auf dem offenen Platz hinter der Stadtpfarrkirche, wie ihn der alte Wirt informiert.
»Feuerweihe?« erstaunt der Fremde und Zugereiste.
Und da aber kommt ihm das zwölf- bis dreizehnjährige Töchterchen des Wirts zu Hilfe, das den Sinn dieser Weihe in der Religionsstunde gelernt hat und es nun auch dementsprechend phonographenmäßig herunterleiert:
»Die Feuerweihe ist am Karsamstag. Sie war ursprünglich in der katholischen Kirche in der Nacht vom Karsamstag auf den Ostersonntag, daher jetzt noch in den Gebeten der Ausdruck: ›O beata nox‹ vorkommt ... Christus sagt von sich: ›Ich habe Feuer auf die Erde gebracht und will, daß es brennen Dieses Feuer (Christus) erlosch im Tode (Karfreitag) und ersteht neu in der Osternacht. – An diesem Feuer wird eine große dicke Kerze angezündet, und an dieser – ›Osterkerze‹ – dann später eine dreiarmige – Sinnbild der heil. Dreifaltigkeit – und nach und nach (›Alles Licht von einem Lichte!‹) alle andern in der Kirche ...«
Und der Reisende sitzt am Fenstertisch mit den Augen hinüber nach dem »Brand«, der wie aus einer Theaterkulisse bengalisches Feuer herscheint, und allgemach zündet sich in seinen Augen der Widerschein von drüben an ... nicht viel anders als wie von der ersten dicken, großen Osterkerze die dreiarmige dann und danach all die vielen, vielen und überhaupt alle, alle Lichter in der ganzen mächtigen Pfarrkirche –
»Ja, von meinigem Töchterl können S' alles sowas haben, das ist bereits eine halberte Theologin –« stolz der Wirt.
»Was kommen aber die Bauern da mit solchen Hölzern?« darauf der Reisende, wie ein paar scheinbar verspätete, gleichfalls mit Pfählen bewehrt, vorm Fenster vorübereilen.
»Ach so? Ja also, die Landleut, die kommen da mit ihren unten zugespitzten Holzscheiten und brennen sie am geweihten Feuer an und tragen sie wieder heim und schnitzen sich Kreuze daraus und stecken diese auf die Äcker und Felder hinaus, um den Schauer und Hagel abzuwehren –«
»Ja, aber von einer solchen Anwendung – hat uns unser geistlicher Herr Professor gelehrt – käme im Weiheformular rein nichts vor, und das sei wohl noch aus einem uralten heidnischen Brauch ...«, fällt da mit glühenden Blicken wieder das Mädchen ein, »genau so eine heidnische Anschauung wie der Bilmesschnitt, der ebenfalls immer noch –«
»Bilmesschnitt? Was ist das?« der Reisende.
Das Mädchen: »Bilmesschnitt, das ist derjenige Aberglaube –«
Da aber fällt der alte Wirt ein: »Was sagst du daher –: ein Aberglaube? Das ist kein Aberglaube nicht!! – Da reitet wahrhaftig der Teufel auf einem Bock, oder wenigstens ein mit ihm im Bund stehender Mensch – der Bilmesschneider – und verdirbt durch Anschneiden der reifenden Halme die ganze Getreideernt'!!«
Und wie das übermaßen reife Kind das noch immer nicht wahrhaben will, da wird der alte Wirt ganz aufgeregt: Er stamme von Bauern ab und müsse das wissen ... und wer weiß, ob sie – seine Tochter – überhaupt Hafer von Gerste unterscheiden könne ...
Erde
»Wie auch diesem –« fährt der alte Wirt, ins Fahrwasser gekommen, fort – »wie auch diesem wieder meinige gelehrte Tochter sich nicht das Wort reden will –«
»Ich weiß schon, was jetzt kommen wird«, meint ganz leise nur – wie singerig – die Tochter.
»Nämlich: daß nach der Feuerweihe damit auch die Erde geweiht ist!«
»So, so«, macht der Reisende.
Und wieder der Wirt: »Aber woher soll ein Dirndl von der jetzig aufwachsenden Generation das auch wissen – die laufen doch allzusamm kaum einen Schritt mehr bloßfußet – sondern im Gegenteil bloß immer zum Schuster, zum neumodischen –«
»Bloßfußet?« macht der Reisende.
»Eija! Nur erst vom Karsamstag ab haben wir als Buben im neuen Jahr wieder barfuß gehen dürfen! Denn eh daß – wie am heutigen Karsamstag – die Erde nicht geweiht ist, eh hätten's Vater und Mutter bei uns nun und nimmer zugegeben!« – – –
Und aber während der Wirt weiter erzählt aus seiner Kleinbubenzeit, die ein wenig auf seine Tochter gemünzt sein soll ... sinniert der Fremde und Zugereiste für sich, wie diese Kartage, diese unverblaßten und jedes Jahr neu aufblutenden Erinnerungen an die Passion hierzulande (und wovon man in größeren Städten so wenig fühlt) elementar alle Natur durchdringen:
In den Lüften ein Ton wie von Kreuzholz, das stöhnt unter der göttlichen Last –
Und wie der Erlöser im Tode hinabsteigt zur Vorhölle, schlägt davon auf dem Platz hinter der Stadtpfarrkirche Feuer heraus –
Und die Erde wird neu geweiht durch sein heiliges Begräbnis. – – –
Indes, da kommen neu Menschen die Straße herunter und an seinem Fensterplatz vorbei – und auch viele Frauen – und auch die alle wieder mit gläsernen Flaschen, länglichen, bauchigen, grünen und weißen, und allem Ansehn nach sämtlich leer.
Wasser
»Nämlich jetzt, um acht Uhr, Herr, ist Wasserweihe.« – Und der Reisende muß denken: so sind denn richtig alle vier Elemente wie in einen Zauberkreis vom Karsamstag gezogen, Luft, Feuer, Erd' und Wasser. Zum morgigen Auferstehn: nacheinand' alle vier geläutert, indem neu geweiht. Welch große Vorbereitungsstunde, dieser Karsamstag, auf das Osterwunder morgen, Sonntag früh!
... Am Karsamstag wurde in der alten christlichen Kirche die feierliche Taufe an neubekehrten Erwachsenen vorgenommen – erzählt des Wirts Töchterlein. Und so sei am Karsamstag Taufwasserweihe eben bis auf den heutigen Tag ... Christus stieg in den Jordan und heiligte das Wasser zur Taufe – so wird am heutigen Tag sein Sinnbild, die Osterkerze, dreimalig ins Wasser getaucht, auf daß sie es heilige ... In den Teil des Wassers, der nun das Jahr über zur Taufe verwendet wird, da wird noch etwas geweihtes Öl in winziger Quantität geschüttet: als Symbol der Gottheit und Menschheit, die sich in Christus verbanden und doch so wenig vermischten wie Öl und Wasser. Zu mehreren andern großen Zubern Wasser aber, das ebenfalls geweiht wird, und bei dem nur das Einschütten des Öls unterbleibt, drängen Stadt- wie Landleut wie Vögel zu Brunnenrändern und halten ihre Flaschen ein wie durstige Schnäbel und nehmen's als Weihwasser mit nach Haus ...
Die letzten Worte sprach der alte Wirt und wendet sich, längst wieder versöhnt, zum jungen Töchterlein und meint: »Na und du – gehst du denn nicht auch bald hinüber, Osterwasser für uns zu holen?«
Und wendet sich, wie das Mägdlein aus der Tür verschwindet, so wie ein Bild aus dem Rahmen, zum Reisenden und erwähnt noch als Kuriosität: »Manche nehmen zwei, drei Flaschen mit und zerschlagen absichtlich alle übrigen bis auf eine – so daß Scherben auch hier Glück bedeuten sollen ...«
»Und heut abend bereits ist jubelndste Auferstehungsfeier, und da salutieren mit einem Male auch wieder die großen Glocken im Turm: gradeben erst zurückgekommen – von Rom!«
Die Essens- und Fastensfrage
... was? Während der Kartage? Gründonnerstag, Karfreitag und -samstag? – Ja also, da mag wohl ein Schneider, Schneider meck meck meck, wie sein verwitweter Herr Schwiegersohn, der Joseph Pfeiffer einer ist, arbeiten, was das Zeug hält – indessen Er, der Seilermeister Joseph Mader, nun und nimmermehr!
So eine Schneidergeiß – einmal abgesehen davon, daß sie allen rechtschaffenen Menschen zu Ostern bestimmt das längst zugeschnittene neiche Sonntagsg'wand ... aber auch ganz bestimmt fertigzumachen und durch einen der zahllosen Laus- und Lehrbuben noch rechtzeitig ins Haus zu liefern hoch und heilig sich verschworen hat (und dabei mit all den frevlen Versprechungen, wenn's gut geht, nicht eher zu Rande kommt, als bis zum Pfingstmontag!) – so eine Schneidergeiß nämlich hat ein stillsitzend's Handwerk, und darin liegt der Unterschied. Und falls sie dennoch hin und wieder in die Höh' hupft, recht wie ein Floh vorm heißen Bügeleisen, so ist das sehr einfach ihre rein persönliche Sach' und ureigenstes Privatvergnügen. – Dahingegen –
Dahingegen, was ein ehrsamer Seilermeister ist – ja, der muß halt in der Ausübung seines spinnenden Berufs rennen, rennen, rennen, als ob's alleweil zum Löschen ging – hin und zurück und dabei zurück noch viel mehr wie hin –
Und dazu taugt drei Tage lang nur ewig Fastenspeis' beileibe nicht – beileib! Drei Tag' lang nur immer Pamp und G'schlamp! Drei Tag' völlig und hintereinand' Fleischenthaltung und dafür am Gründonnerstag eine Suppen aus Kuhfutter und Spinat und sonst einen Schmarren, am Karfreitag eine Brennsuppen und einen »toten Fisch«, und am Karsamstag gar eine Wassersuppen und – und – und vielleicht wieder einen Schmarren!
Nein also, was justament ein Seilermeister ist, der braucht, damit's anhält im Magen und nicht gleich durchfällt in 'n Darm, Tag für Tag Knödel: Knödel in der Suppen erst und alsdann dito zum Fleisch! Schön rosa Knödel in der goldenen Bouillon, schön rosa Knödel zu der jeweiligen Stillebenkomposition aus G'müs' und Fleisch! Das Menü diktierte eiserne Notwendigkeit – vierzig Jahr Ehe nunmehr bis auf den heutigen Datum ... auf solche tägliche Knödelmanufaktur sind die Schienen der Arme und die Scharniere an den Händen seiner Ehealten eingestellt und funktionieren nunmehr bereits wie im Traum ...
Das heißt, einen fleisch- und knödellosen Fasttag Woche um Woche, den Freitag, den hat man regelmäßig das ganze Jahr und hält ihn, seit man denken kann, denn man ist kein abscheulicher Heide nicht. Aber das ist nur ein Siebteil pro Woche, und auf die andern sechs Siebtel kommen je drei bis vier Knödel. Und wann außer der Reih' ein Quatember sich grad meldet – aber solche Quatember liegen Gott sei Dank weit voneinand' und sind ihrer ja auch bloße vier Stück im Jahr ... Hingegen Gründonnerstag, Karfreitag und -samstag gleich drei Tag' hintereinander und ohne Aufhören absolut in einem fort: was zuviel ist, ist zuviel.
Und so »läßt« man die drei Tag' höchstens ein paar Fünferlstrick' »zusammen« oder schwingt Werg, hechelt Hanf oder strickt an einem Netz. Schaut im Wagenschmierfaß nach oder siedet Roßhaar aus ... indes zu mehrerer Arbeit verpflichtet man sich fein nicht, denn bei solchener Nahrungsweis' hielte das die kräftigste Konstitution nicht aus! – Und die übrige Zeit geht man in die Metten, in den Psalm oder die Litanei in die Pfarrkirchen hinunter, ohne daß einen die Frau einmal besonders schicken braucht, besucht's heilige Grab mit den unzähligen dunkelroten, dunkelblauen, dunkelgrünen Öllampen um den elfenbeinern herscheinenden Erlöserleib – oder klopft beim Schneider, Schneider meck meck meck im ersten Stock an (worauf der zittert, es sei eine ganz andere Kundschaft) und tut die unschuldige Frage an den verwitweten Herrn Schwiegersohn, ob man seinen eigenen, letzte Weihnachten bestellten neichen Sonntagsrock ja auch fein g'wiß zu den nächsten Adventtagen bekäme.
Und geht Überhaupts herum – wie nur ein Wüstentier in der Menagerie, eh daß Fütterung ist! –
Noch eine andere Abwechslung in diesem alljährlichen dreitägigen unfreiwilligen Fasten-Streik, wie man's schließlich gar nicht anders nennen kann, bilden die Enkelkinder, die mutterlos aufwachsenden:
»Großvater, ein Fünferl, bitt' schön, für ein Osterlamperl!« welches »Lamperl« gleich Lämmlein zu lesen ist.
Und so nimmt man halt ein paar gar schön bittende Krabaten je an die rechte und linke Hand und macht sich auf den Weg – die Donaugass'n hinab – zum Schaudick-Bäcker oder Claudi-Konditor, Lebzelter und Wachszieher. Und – oh, was für eine christkatholische und über und über bunte Weide ist da ein jegliches Schaufenster! Insonders noch das beim Claudi! Zu Füßen von ersten heil. Kommunionkerzen, die wie silberne Birkenleiber rechts und links dastehn und flankieren, breitet sich eine Frühlingswiese, recht gesprenkelt dargestellt aus lauter künstlichen Ostereierfarben, und darauf hat sich eine unzählige Herde von Osterlämmern niedergelassen und ruhen nun all, vom Riesenosterlamm in der Mitte angefangen, und um dieses wie um einen Mammutgott geschart, immer kleinere und kleinere, bis herab zu den allerwinzigsten. Und alle von blendendem Weiß – aus Zuckerguß; und man möcht's gar nicht glauben, wie so ein Zuckerbäcker das Vliesige dabei so gelungen treffen kann –
Indes, so fröhlinglich das an sich ist: die ganze Frühlingsluft mit dem nun einmal dazugehörenden Himmel darüber, diese beiden Elemente sind noch extra dargestellt und so handgreiflich verkörpert, wie's jedem Maler eine wahre Offenbarung sein müßte: Vom Riesenlamm angefangen, bis zum kleinsten Miniaturschaf ist bei keinem eine Standarte vergessen, blau, grün, rot, gelb, golden, silbern, brokaten, weiß mit Gold-, Silber- oder Brokatrand, in allen nur möglichen Kirchenfahnen- und Standartenfarben. Und man hat dabei nicht nur eben den Eindruck, daß sie alle wehen, so viel sind ihrer, sondern es ist zugleich, wie schon gesagt, die Materialisation der Luft eines Frühlingstages und des ganzen blauen, mit weißen Schäfchenwolken besetzten Himmels einer Lenzlandschaft!
Ja, blitzt's zwischenein nicht gradaus wie von Sonnengold?
... Daß es einem unter'n alten Augen schier naß wird, so beut sich der Anblick dar, und im rechten Hosensack die Nickelstücke schmelzen einem nur so weg. –
»Also, da Kinder, da habt's – jeder ein Fünferl – jeder ein Osterlamperl –«
Und jed's der Krabaten schwört auf eine andere Standartenfarbe, und es ist wie im Krieg, so stürmen sie den Laden –
Und dem Seilermeister-Veteran und siebziger Landwehrmann knurrt nun doch wieder der Magen – wie im Krieg – – – – – – –
Vor der Auferstehungsfeier am späten Nachmittag des Karsamstag braten die besorgten Hausfrauen bereits einige schöne Stücke kälbernen usw. Fleisches aus, das sie Ostersonntag in die frühste Frühmess' tragen, wo's vom Priester geweiht wird, zusammen mit noch andern eßbaren Dingen. Und aber vor derselbigen Auferstehungsfeier flüchtet der Seilermeister alle Jahre aus dem Haus und zur ganzen Stadt übern Bahnhof hinaus gen Zeitlarn etwa hin: vor gar nichts anderm auf der Flucht, als vorm Duft des Fleisches in der Pfanne und dem rasselnden Fett.
Daß die Seilermeisterin ihm nachruft: »Übertreib's doch nicht, Mann – daß du dich nicht schier versündigst –«
Versündigst – hat sie ihm nachgerufen? – Bei diesem Wort der Ehealten geht der Meister in sich ... wie nur einer in der Bibel: »Übertreib ich –? Übertreib ich wirklich – –??« Und spricht sich aber dann selber frei, so wie ... so wie kein einziger im Alten und auch Neuen Testament: »Ich übertreib doch nicht! Nur ... der Magen tanzt wahr und wahrhaftig einen solchen Tanz um die bloße Ahnung schon von etwas Kälbernem – –!« Nein, nein also – er weiß sich ledig von Versündigung ...
Und bei der strahlenden Auferstehungsfeier sodann fühlt er's gut durch den halben Leib hindurch nach, wie's einem Toten, der drei Tag' im Grabe gelegen, sein mag, als er wieder aufersteht ... Und – er kann sich eben nicht helfen – die ganze Osternacht muß er in sehr unruhigen Träumen hindurch wie durch ein dunkles Tor, und ganz fern nur ist ein schwacher Lichtpunkt ...
Und nun, am frühen Ostermorgen, weckt Er ausnahmsweis einmal die seinige liebe Frau. Hilft emsig den Korb vollpacken mit all dem, was geweiht werden soll – mit Eiern, mit Brot, mit Salz, mit einem Ende Meerrettig auch (als wie zu jüdisch Ostern!), mit dem gebratenen Fleisch, um Himmels willen nicht zu vergessen, und zuletzt und obendrauf einem Osterlamm mit wehender Standarte ... Schlägt's eigenhändig ein mit einem schimmernden Linnen – besorgt als wie um ein kleines Kind ... Und sieht von unter der Haustür dem Zuge nach all der Frauen, die mit Körben zur Kirche vorüberziehn ...
Als wären's lauter Maria Magdalenen, so »frühe, da es noch finster war, zum Grabe« kommen. –
Endloser Zug. Unter Glockengeläut. Und ... und überhaupts alles endlos heut! Wer mag heut die Frühmess' zelebrieren, daß er gar so lange braucht?!
Da endlich! kehrt die Alte zurück. Und die ganze Gass'n überhaupt draußen ist ein einzigs Rennen und Laufen. Von Frauen, von Frauen – wie ob des Osterwunders verstörten Magdalenen eilends zurück vom Grab. Und die Kinder vom Schneider und die Lehrbuben und der Meck meck meck selber scharen sich, wie's ans Auspacken aus dem Linnen geht: als käme der Korb mit der Bahn von weit her oder gar vom Überseeischen drüben an.
Und derweil läuten die Glocken langsam zum feierlichen Hochamt ... und die Sonne bricht durch ... und man genießt zugleich mit dem geweihten Fleisch, geweihten Ei mit Salz, gesegneten Brot und einem winzigen Blättchen Meerrettig ein Schattenspiel, von seiner eigenen Hand mit dem Bissen hastig zum Mund agiert, an der Wand:
Ein Schattenspiel, ein stummes, endlich nachgegebener Gier –
Bis daß die fromme Alte mahnt, Kinder, Lehrbuben, Mann und Greis: »Bedenkt, daß es doppelte Gottesgab' ist! Sind all die Sachen doch geweiht!«
... Da mahnt genau so eindringlich der eigene blasse Schatten an der Wand: Dieser Vergängliche – wie er sich dennoch vollstopft! ...
Und über allem aber schwankt sieghaft die Standarte des Gotteslamms.
Meiner Schwester Käthe
Einen oder zwei Sonntage vor dem Palmsonntag geschieht's schon allemal, daß der eine oder andre Bursch auf dem Platz vor der Kirche was über und über schön rot, hellblau oder lichtgelb Gefärbtes aus der heilig behüteten Rocktasche zieht: »Willst einmal? – Aber das eine, das sag' ich dir: mein Osterei ist stark, furchtbar stark! – Es ist von unsrer Perlhenn'!«
Und er probiert's noch einmal für sich auf die Stärke, das heißt, er hebt's an den Mund und läßt's mit der Spitze elektrisch schnell gegen das Email seiner Zähne klappern. Und solches Manöver vollführt er mit der rechten Hand, während er die linke, um besser hören zu können, muschelartig gegen das linke Ohr hält.
Und der nach Bauernmode breitliegende linke Aufschlag seines Rockes ist fortan – bis gen Pfingsten schier – überhaupt nur noch dazu da, die Farbe an der Spitze des gefärbten Eis an sich abwischen zu lassen, grad so lange, bis die natürliche Farbe der Eierschale wieder zum Vorschein kommt, denn die künstliche Farbe an der Spitze ist nach allgemeiner Anschauung etwas, das beim »Probieren« sehr täuscht und die letzte feinste Nuance der »Stärke« unterschlägt.
Und vor lauter Probieren sind die Lippen bald in allen Farben geschminkt – und der linke Rockaufschlag ist bald ein Spiegel, so farbentoll, als gäbe er getreu die heurige Futterwiese hinterm Bauernhof um Ende Mai und Anfang Juni wieder.
Das Spiel aber ist dieses: ein jeder behauptet natürlich sehr herausfordernd, daß die Spitze seines Eis die allerstärkste sei, wobei der Pedigree der Henne eine ebenso wichtige Rolle spielt wie nur der eines Derbyfavoriten ... und dann geht's an ein gegenseitiges Prüfen, wobei das Email der Zähne alleweil der Prüfstein und der linke Rockaufschlag immer wieder das bald arg strapazierte Abwischtuch ist ... und dann tritt unter fiebrigster Spannung aller Umstehenden der große Moment ein: die beiden Spitzen werden aufeinander losgelassen grad wie die stolz gefiederten und heiß gespornten Väter dieser beiden unausgebrüteten Hennenkinder – und knicks! die eine Spitze ist perdü.
Ein »Hahnenkampf« noch in der Eierschale!
Und der die Spitze des feindlichen Eis eingeschlagen, dem verfällt damit das ganze gegnerische Ei. Und der Sieger vieler solcher österlicher Turniere kann sich aus seiner Beute mit Zuhilfenahme von etwas Brunnenkresse und Essig und Öl und Pfeffer und Salz entweder einen schmackhaften Ostersalat machen, oder er kann aus einem andern Ostereierspiel ein sehr lukratives Geschäft machen – aus dem Spiel des »Eiereinwerfens«.
Und das ist dieses Spiel:
Du ballst eine gelinde Faust und nimmst das Ei zwischen gekrümmten Zeigefinger und Daumen. Und dein Gegner hält mit seiner Linken diese deine das Ei darbietende Faust und schleudert aus seiner Rechten irgendeine Münze (ein Ein- oder Zweipfennigstück, ein »Fünferl« oder ein »Zehnerl«, einen »Fünfziger« oder gar eine Mark) mit dem heißen, wilden, wütenden Wunsche gegen das Ei: die Münze möchte daran nicht abprallen, sondern darinnen stecken bleiben. Und das erfordert vom Gegner eine gar große Geschicklichkeit und aber von dir selber eine noch weit, weit größere, schier helden- oder märtyrerhafte Unempfindlichkeit, was die sonst so empfindlichen Knöchel all an deinem Daumen und Zeigefinger anbelangt.
Denn: Ist dein Gegner geschickt und bleibt seine erste Münze gleich im Ei stecken, verbleiben dir zwar deine Knöchel unversehrt, aber dein Gegner gelangt dafür in den unanfechtbaren Besitz deines immerhin kostbaren Ostereis. Im andern Falle aber regnen dir die Münzen nur so in deinen Beutel (jedes fehlgehende Geldstück ist dein) – aber ach, wie viele trafen dich ausgerechnet da, wo du leider, leider wenig Fleisch und aber desto empfindlichere obenerwähnte Knöchel und Knöchelchen besitzest.
Und manchmal sogar kommt's vor, daß einer an dich herantritt und bei dir »'s Einwerfen probieren« möcht', der dir seit der vorletzten Kirmes schon nicht mehr grün ist und sich's nun einen Batzen kosten lassen will, das heißt, der immer wieder absichtlich fehl zielt und dem das bißchen Ei nichts ist und aber dem dafür deine unterschiedlichen Knöchel alles sind.
Da heißt's dann aushalten, absoluteste Unempfindlichkeit markieren, um ihm schon dadurch und hier vor aller Augen zu beweisen, daß man ein Kerl ist, und ihm gleichzeitig anzukündigen, daß man diesen Beweis allernächstens »unter vier Augen« vollends zu Ende zu führen gedenkt.
Nicht selten, daß gut bayerische »Händel« vorerst mal entweder »zur Probier« oder auch zur Abschreckung in dieser immer noch einigermaßen harmlosen Form ausgetragen werden.
Nicht selten aber auch, daß dieses unter besten Freunden ganz unschuldig angefangene Spiel ein paar Sonntage später mit einer gräßlichen Messerstecherei endet.
Bleibt noch ein drittes Spiel zu nennen, das Bauernburschen und -mägde gern zu Hause spielen »auf der Wies' heraußen vorm Hof« – im ersten Grünen und unter den ersten Feldblumen um die schöne, schöne Osterzeit.
Da läuft eins in die Stube und bringt einen Stuhl, und ein andres läuft in die Tenne und kommt mit zwei Heugabeln wieder. Und dann wird von der Höhe der Stuhllehne bis hernieder in den Grasboden mittels der zwei langen Gabelstiele eine schiefe Ebene hergestellt, die zugleich eine artige Rinne ist, in der die Eier artig herabkugeln können. Und das ist dann ein »Haschemich«-Spiel unter Eiern. Und wessen Ei eines andern Ei tief im ersten Grün und unter den lieben ersten Blümlein hascht, der ist Sieger.
War aber der Winter ein gar langer und dieserhalb die Freude schier ein mächtigere als sonst, wie's endlich dennoch auf die Ostern zuging, da stellt dich dann sehr leicht der Übermut ein und lacht verschmitzt: »Was stell' ich nur an? Himmelherrgott, ich möcht' gar was Lustigs anstellen, was Schnurrigs, das mich ein wenig freut und die andern ein bißchen ärgert!«
Und da ist wohl allemal ein steinalter Knecht zur Hand, der, wie er noch ganz jung war, einmal ebenfalls ganz was Lustigs anstellen wollte und dem damals – lang, lang ist's her! – gleichfalls ein steinalter Knecht zu Hilfe kam.
»Nun, paß einmal auf, Jungs, was ich dir sag'! Eine Perlhenn' ist auch nur eine Henn' – und wenn ihr Ei auch stärker ist als wie das einer gewöhnlichen Henn' – einen richtigen eisernen Nagel zum Beispiel kannst du in eine richtige steinerne Wand mit einem Perlhennei deswegen doch nicht einschlagen! Oder?«
»Nein.«
»Nun aber ... wenn wir zwei ein künstliches Ei herstellen könnten, das fast so stark wär', daß du damit wirklich einen richtigen eisernen Nagel in eine richtige steinerne Wand –«
»O Peter! Peter! Lieber Peter!«
»Also nun gehst du her und bläst ein Ei aus! Weißt du, wie man das macht? An der Spitze ein Loch mit der neuen Hutnadel von der Großmagd und am andern Ende ein kleines drei- oder viereckiges Stückel von der Schale wegnehmen und aufheben, aber fein aufheben, weil du das Stückel nachher wieder nötig brauchst! Und wenn das Ei ausgeblasen ist, dann machst du Pech heiß und läßt es durch das drei- oder viereckige Löchel hinten ein. Und wenn das Pech eingelassen ist, klebst du hinten wieder zu mit dem Stückel, das du dir ja aufgehoben hast, und aber färbst das Ei nicht schön rot, nicht hellblau oder lichtgelb, sondern ›marmorierst‹ es, damit man's weniger merkt. Und dann gehst du zu den andern und prahlst, dein Osterei war' das stärkste, aber du läßt dich nicht lang auf Probieren ein, sondern du tust es nur ›ung'schaute‹! Und da paß auf, was du für einen schönen Ostersalat zusammenkriegst, Hansel!«
»Ja, Peter!« schrie Hansel und hupfte immer wieder in die Höh.
»Aber um Gottes willen nicht aus der Hand geben, dein ›Pechei‹, sonst merken's die andern an der Schwere!«
Der ganze »Hof« war in Aufregung über den Hansel mit seinem marmorierten Ei. Drei Tage lang. Und dann kam der Schwindel heraus.
Aber da hätt's im ganzen Umkreis sowieso schon kein einzig Blättchen Brunnenkresse mehr gegeben, soviel Ostersalat hatte der Hansel schon gemacht und mit dem Peterle zusammen schnabuliert.
Eine Palmsonntag-Geschichte
Stabsarzt Dr. Zahn gewidmet
Die Pension »Bavaria«, im alten Westen Berlins gelegen, trug ihren Namen – entgegen so vielen andern Pensionen, die sich gern mehr oder weniger lokalpatriotisch aufspielen möchten zu Unrecht nicht. Da war unter den Pensionären – von der Pensionsmutter, einer garantiert-echten »Nirnbärcherin«, natürlich nicht zu reden – wirklich das bayerische Idiom vorherrschend. Altbayerisch, schwäbisch, steinpfälzisch, fränkisch und rheinpfälzisch ... es war wie eine winzige bajuwarische Insel inmitten der fürchterlichen preußischen See.
Wie Frau Behaim – denn so echt altnürnbergerisch schrieb sich die Pensionsinhaberin – das in dem großen Berlin eigentlich anstellte, daß sie immer wieder fast nur Bayern zu beherbergen und überhaupt zu verpflegen erhielt? Diese Frage geht leichter zu beantworten, als man vermuten möchte. Denn erstens stand es direkt standesamtsnotorisch fest, daß die meisten der Pensionskinder nicht eher wieder auszogen, als bis sie sich einmal verheirateten! Und zweitens (und drittens und viertens und fünftens) – weißt du, was du tun würdest, wenn du ein einspänniger Bayer in Berlin wärst und da von ungefähr das Wort »rohe Kartoffelklöße« nennen hörtest? Ach, wer kein Altbayer ist, der faßt es einfach nicht, welch eine magische Anziehungskraft etwa das Wort Behaim in Verbindung mit dem Wörtchen Leberknödel auszuüben vermag! Ganz zu geschweigen davon, daß ein jeder für länger oder kürzer in Berlin sich aufhaltende ›Schwab‹, sowie er »bei Behaim heut Spätzle!« vernimmt, eher eine Autodroschke chartert, als daß er selbst nur vom Leipziger Platz bis zur nahen Pension »Bavaria« zu Fuß eilen möchte!
Die Liebe geht durch den Magen – sagt man. Für ein richtiges Bayernherz aber tat das die Pension »Bavaria« noch viel, viel, viel mehr! Und man darf mit Fug behaupten, daß die gesamte Kolonie »Bayern in Berlin« nicht halb soviel Köpfe heut zählte, wenn – im alten Westen Berlins – vor mehr als zehn Jahren nicht jene »Bavaria« sich aufgetan hätte.
Daß in dieser Pension auch Sitten und Gebräuche, die man sonst außerhalb der blau-weiß angestrichenen Grenzpfähle kaum kennt, hier – mitten in Berlin! – hochgeehrt und festlich begangen wurden, das ist nach allem, was ich vom Küchenzettel verriet, unbedingt selbstverständlich. Und unter diesen Sitten und Gebräuchen aber – und das schier mit an erster Stelle – glänzte der »Palm-Esel«. Das ist eine lächerlich machende Würde, die derjenige – und gleich fürs ganze Jahr – zuerteilt erhält, der am Palmsonntag als von allen Personen des Hauses am längsten in den Federn liegend angetroffen wird. Und – nein, das ist eine schändliche Würde! Das ist ein »Orden der langen Ohren, am grauen Bande zu tragen«, für den sich ein jeder heftig bedankt. Und wer nur einmal ein einziges Jahr lang diese entsetzliche Auszeichnung zu tragen verdammt war, der opfert zum nächsten Palmsonntag lieber die ganze Palmsamstagnacht und getraut sich vorsichtig und gewarnt erst gar nicht in die schwellenden Kissen, eh er nochmal ein Jahr lang dran zu schleppen haben soll.
»Palm-Esel! Palm-Esel!« Nach »Palm« dieses erste »E« sehr betont und sehr lang gedehnt – das Fräulein Tochter der Mutter Behaim war sozusagen eine Virtuosin auf diesem »E«! –, und am verspäteten Frühstückstisch sodann so recht sinnige Anspielungen und Anzüglichkeiten auf diese vorösterliche Dekorierung: als wie eine Distel auf dem Kuchenteller, ein halblebensgroßes Eselsohr in der Serviette und was dergleichen holde Hänseleien mehr sind, und worinnen ebenfalls das Fräulein Tochter der Mutter Behaim eine Meisterin war – – – ach! Kein Bayer in ganz Berlin konnte ein herzzerreißenderes Lied davon singen als der ehr- und tugendsame Sebastian Weishäupel, seines Zeichens zweiter Buchhalter bei der Wach- und Schließgesellschaft Berlin!
Fünf Jahre lang wohnte der nun schon in der Pension »Bavaria« – und vier Palmsonntage war er nun schon als allerletzter erwacht! Vier Jahre lang liebte er nun schon das Fräulein Tochter der Mutter Behaim – und all die viel Mal war er der »Palm-Esel« geworden! – Ob das diesen nahen fünften Palmsonntag wieder der Fall sein würde?
Nun soll man aber nicht denken, daß Sebastian Weishäupel sich allabendlich etwa eine solche bajuwarische Bettschwere antrank, daß ihm den andern Morgen keins der oft bewährten Mittel aus den Daunen half. Und es war hinwiederum auch nicht, daß er als zweiter Buchhalter der Wach- und Schließgesellschaft vielleicht in der Nacht Dienst hatte. Nein – da mochte in allen Bureauräumen mit noch so riesigen Lettern die Devise angeschlagen sein: »Wir schlafen nicht!!!« – auf Sebastian Weishäupel hatte das nicht den geringsten Bezug. Oder vielmehr und im geraden Gegenteil: Sebastian Weishäupel, der schlief sehr wohl, ja, der schlief nicht nur für zweie, wie man zu sagen pflegt, sondern der schlief schier für das gesamte nachtwachende Personal. Und das war bei ihm schon seit seiner frühesten Kindheit so und darum war er auch, solange er denken konnte, Jahr für Jahr immer wieder der »Palm-Esel« gewesen! – Es gibt solche Menschen, die inmitten einer konzertierenden Regimentskapelle hart neben der großen Trommel und Tschinelle nicht aufwachen, und man hatte namentlich mit dem großen neuen Pensions-Grammophon an seinem Bett verschiedentlich die Probe aufs Exempel gemacht: Sebastian Weishäupel schlief zwar außer an Sonn- und Feiertagen durchschnittlich nicht länger als acht bis zehn Stunden, aber eh ihn nicht zu Anfang der neunten bzw. elften die versammelte Pensionsdienerschaft seiner kataleptischen Starre entriß, eher hätte man oft eine ausgewachsene Feuerspritze herbeirufen mögen.
In den ersten Tagen des Februar (nicht zuletzt von wegen einem Hausball, einem Münchener Salvatorabend, dem Geburtstag von Fräulein Annemarie Behaim usw., welche Feste nicht immer auf einen Feiertag fielen) hatte Sebastian Weishäupel dieserhalb sogar einen Nervenarzt konsultiert. Aber der sagte einfach (er war ein Berliner!): »Seien Sie doch froh, Mann! Sie sind um die abgründige Tiefe Ihres Schlafs direkt zu beneiden! Höchstens daß Sie zum Nachtredakteur weniger taugen, oder zum Apothekerprovisor ... aber Sie haben ja Ihre todsichere Stellung und – und – na, ich wollt, ich hätt' solche Nerven wie Sie! – Wenn ich Ihnen zum Schluß das Eine raten kann, dann versuchen Sie's mal 'n bisken mit Heiraten ... ah, Sie haben schon stark daran gedacht??«
Aber daß sein Schlaf nun nach der Aussage eines Arztes nicht einmal krankhaft, sondern höchstens ein wenig allzu gesund war, das interessierte unsern Sebastian Weishäupel viel weniger, als daß derselbige Nervendoktor in Verbindung damit ebenfalls sogleich aufs Heiraten gekommen war. Was mochte da bloß für ein gewisser verborgener Zusammenhang sein? – Heiraten! – Sebastian Weishäupel verspürte plötzlich einen Mut ... und er würde ja nun – zu Anfang dieses Sommers – auch bereits vom zweiten zum ersten Buchhalter aufrücken ... aber nein, nein, nein! eh er diesen entsetzlichen zeckengleich haftenden Wanderpreis, »Palm-Esel« genannt, nicht von sich abgewälzt haben würde, eher durfte und wollte er sich auch Fräulein Annemarie Behaim nicht erklären. Hatte die schon so lange auf ihn gewartet (denn das tat sie!), so konnte sie auch die schmale Spanne bis zu Ostern noch ausharren.
Und Sebastian Weishäupel geriet wieder einmal auf die allerabenteuerlichsten Ideen, ob er sich nicht eine Extra-Weckeruhr bauen lassen oder ob er es nicht gradaus mit einem medizinähnlich einzunehmenden und also innerlich wirkenden Mittel (auf Stunden genau berechnet!) versuchen sollte – da war im März ein junger Doktor – Rheinpfälzer! –, der bislang in der Irrenanstalt Herzberge als Assistenzarzt tätig gewesen und nun aber heiraten und dann eine Praxis anfangen wollte, in die Pension »Bavaria« eingezogen. Und ein paarmal hatte der des Abends in der Pension ein paar leichte hypnotische Kunststücke vorgeführt. Und seltsam! – gerade der immerwährende »Palm-Esel« Sebastian Weishäupel hatte sich dabei als das beste Medium herausgestellt! Der verfiel schier von selber in Schlaf, ohne daß der junge Hypnotiseur viel zu tun brauchte – aber das allein wär bei Sebastian natürlich kein Wunder gewesen! –, sondern Weishäupel führte dann auch aufs exakteste die kleinen kniffigen Aufgaben aus, die man ihm gestellt hatte. Und dieses »Mediumistische«, an das vorher keiner weniger geglaubt hätte als Weishäupel selbst – dieses Mediumistische war es dann, das Sebastian im wahrsten Sinne des Wortes ein paar Tage nicht schlafen ließ – und selbst dieses letztere betrachtete er, aus allem Unglauben rasch in vielen Aberglauben verfallend, als ein »gutes Omen«.
Den Abend zum heurigen Palmsonntag hatte sich bereits die ganze Pension gute Nacht gesagt, als der rheinpfälzische Doktor noch so spät bei seinem hervorragendsten Medium anklopfte und eine mehr als geraume Weile bei ihm verblieb ... War nun dieses späte Aufbleiben die Schuld, daß selbst die Hypnose am Abend nichts vermochte und Sebastian Weishäupel am Palmsonntagmorgen noch länger in den Federn befunden ward als all die andern Palmsonntage ehvor? Solche Fragen stellte sich unser zweiter Buchhalter – noch nicht ganz aufgewacht, während es um ihn herum kicherte, krähte, miaute, lächerte, bellte und i-ate: »Palm-Esel! Palm-Esel!« Und dann mit einemmal stieg ein ungeheurer Verdacht in ihm auf: sollte der verflixte Doktor im Bunde mit allen andern ihm den heurigen Palm-Esel auch noch eigens suggeriert haben?! Einige Andeutungen aus der ihn umtanzenden Bande bestätigten das schier.
Und aber da trat – er war noch im Schlafrock – Fräulein Annemarie Behaim herein und auf ihn zu; legte die Arme um seinen Hals und sprach grad wie Titania im Sommernachtstraum zu Zettels Eselshaupt zu ihm –
»Fräulein Annemarie –« stotterte Sebastian.
»Ja aber was hast du denn, mein lieber, lieber Wastl! Wir sind doch verlobt seit heute früh –« beharrte Annemarie und küßte ihn vor allen andern.
»Tut mir leid!« zappelte unser Weishäupel. »Davon müßt ich doch auch was wissen!«
Aber da nahmen alle gegen ihn Partei und standen fest zur beschämten Braut. Sie seien sämtlich Zeugen dafür, daß keiner heut morgen eher wach gewesen sei als er! Und was er für einen Lärm vor allen noch verschlossenen Türen und zu allen Schlüssellöchern hinein angestellt habe! Und dann habe sich die Stunde als noch so zeitig erwiesen, daß nicht einmal der Kaffeetisch noch gedeckt war – und aber »das macht fast gar nichts!« habe er in einem fort geschrien und vor versammeltem Publikum dann an Fräulein Annemarie eine Ansprache gehalten, die darin gipfelte, daß ein Heiratsantrag, der so früh gemacht werde, doch nie und nimmer zu spät kommen könnte! Ja, und dann habe er erst Annemarie herzhaft abgeküßt und hierauf Mutter Behaim zärtlich umärmelt – und wenn er nun tue, als ob er das alles nicht mehr wisse, dann sei er einfach ein ganz gemeiner Kerl –
»Und wie dann aber endlich der duftende Kaffee kam«, schloß ein Freund Weishäupels, »da warst du mit einmal verschwunden. Zuerst gebot uns ein ganz natürliches Anstandsgefühl, daß wir eine Weile warteten, wie's aber dann doch zu lange dauerte, da suchten wir dich ... Und nun sag uns ehrlich: Bist du wirklich ein solcher Schuft, daß du dadurch dein Verlöbnis wieder ungeschehen machen wolltest – oder hast du dich nur wieder ins Bett gelegt, damit dir dein Palm-Esel nicht auskommt?«
Sebastian Weishäupel, erster Buchhalter der Wach- und Schließgesellschaft, weiß heute noch nicht: War damals alles Hypnose oder nichts? – Ja, wenn er seine verzwickt-lächelnde Frau Annemarie anschaut, dann steigt's ihm oft siedend heiß auf: Wie? wenn ich an demselbigen Morgen überhaupt nicht aufgewesen wäre und die andern hätten mir blödem Palm-Esel das alles nur eingeredet – – –?? Aber gleichviel: und wenn er sich in Wirklichkeit niemals verlobt haben sollte, verheiratet ist er doch nun richtiggehend! Und das macht sich immer besser – als umgekehrt.