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Morel war recht unvorsichtig, sorglos gegen jede Gefahr. Daher hatte er unendliches Pech. Wenn Frau Morel jetzt einen leeren Kohlenwagen vor ihrem Eingang halten hörte, lief sie gleich ins Wohnzimmer, um auszusehen, beinahe in der Erwartung, ihren Mann in dem Wagen sitzen zu sehen, das Gesicht grau unter seinem Schmutz, den Körper schlaff und krank von dieser oder jener Verletzung. Wäre er es, so wollte sie hinauslaufen, um ihm zu helfen.
Ungefähr ein Jahr, nachdem William nach London gegangen war, und grade nachdem Paul die Schule verlassen hatte, war Frau Morel oben, und ihr Sohn malte in der Küche – er war sehr geschickt mit seinem Pinsel –, als ein Klopfen an der Tür ertönte. Ärgerlich legte er den Pinsel hin. Zu gleicher Zeit öffnete seine Mutter oben ein Fenster und sah herunter.
Ein Schlepperjunge in seinem Dreck stand unten. »Is dies Walter Morels Haus?« fragte er.
»Ja,« sagte Frau Morel, »was ist los?«
Aber sie hatte es sich schon gedacht.
»Ihr Meeschter hat sich wehjetan,« sagte er.
»I, du lieber Gott!« rief sie. »Ein Wunder, wenn ers nicht getan hätte, mein Junge. Und was hat er sich diesmal getan?«
»Ick weeß nich jenau, aber 't is irjendwo an sein Bein. Se haben ihn nach't Krankenhaus jebracht.«
»Guter Gott!« rief sie aus. »I nein, was ist das für'n Mann! Keine fünf Minuten Frieden, oder ich lasse mich hängen. Kaum ist sein Daumen besser, da ,... Hast du ihn gesehen?«
»Unten hab ick 'n jesehen. Un denn sah ick, wie er in 'ne Schale nach oben jebracht wurde, un er war janz beschwiemelt. Aber als Doktor Fraser ihn in de Lampenbude untersuchte, da hat er jeschrien wie der Deubel – un jeflucht un jeschimpft, un jesagt, er wollte nach Hause jebracht werr'n – er wollte nich in't Krankenhaus.«
Der Junge stotterte seinen Schluß heraus.
»Natürlich, nach Hause wollte er, damit ich alle die Unruhe davon haben könnte. Danke dir, mein Junge. I du lieber Gott, ich bin wahrhaftig ganz krank davon – krank und angeekelt, weiß Gott.«
Sie kam herunter. Paul hatte ganz gedankenlos seine Malerei wieder aufgenommen.
»Und es muß doch wohl recht eklig sein, wenn sie ihn ins Krankenhaus gebracht haben,« fuhr sie fort. »Aber was für'n unvorsichtiges Geschöpf er auch ist! Andere haben doch nicht all diese Unfälle. Ja, die ganze Last wollte er mir wieder aufhalsen. I du meine Güte, und grade wo wir es ein wenig leichter haben. Leg die Sachen da jetzt weg, jetzt ist keine Zeit zum Pinseln. Wann geht ein Zug? Ich weiß, bis Keston muß ich mich erst so schleppen. Die Schlafstube muß ich so lassen.«
»Die kann ich zurecht machen,« sagte Paul.
»Das brauchst du nicht. Ich kriege doch sicher den Sieben-Uhr-Zug zurück, sollte ich meinen. Ach du großes Herze, die Aufregung und die Anstellerei, die er nun loslassen wird. Und die kleinen Pflastersteine da auf Tinterhill – er nennt sie ganz richtig Katzenköpfe –, die schütteln ihn ja wohl in Stücke. Ich muß mich doch wundern, weshalb sie die nicht ausbessern bei dem Zustand, in dem sie sind, wo doch all die Leute im Krankenwagen drüberweg müssen. Man sollte meinen, sie würden hier ein Krankenhaus haben. Den Platz dafür haben die Leute ja auch gekauft, und, lieber Gott, Unglücksfälle gibts doch wohl genug, um es in Gang zu halten. Aber nein, da müssen sie sie zehn Meilen in so 'ner langsamen Krankenfuhre nach Nottingham schleppen, 's ist 'n Schimpf und 'ne Schande! Oh, und die Geschichten, die er anstellen wird! Ich weiß, er tuts! Soll mich wundern, wer bei ihm ist. Ich glaube Barker. Armer Teufel, wird sich auch lieber woanders hin wünschen. Aber er wird doch nach ihm sehen, das weiß ich. Nun kann man wieder gar nicht absehen, wie lange er da im Krankenhaus stecken muß – und wie er das hassen wird! Aber wenns bloß sein Bein ist, ist es ja nicht so schlimm.«
Die ganze Zeit über machte sie sich fertig. Rasch ihr Leibchen ausziehend, kauerte sie vor dem Kessel nieder, während das Wasser in ihre Kanne lief.
»Ich wollte, dieser Kessel läge auf dem Grunde der See!« rief sie und wriggelte ungeduldig an dem Hahne herum. Sie besaß sehr hübsche, kräftige Arme, beinahe überraschend für ein so winziges Frauenzimmer.
Paul räumte ab, setzte den Kessel auf und deckte den Tisch.
»Bis vier Uhr zwanzig geht kein Zug,« sagte er. »Du hast reichlich Zeit.«
»Ach nein, kein bißchen!« rief sie und blinzelte ihm über das Handtuch zu, während sie sich das Gesicht abtrocknete.
»Gewiß hast du Zeit. Jedenfalls mußt du erst eine Tasse Tee trinken. Soll ich bis Keston mitkommen?«
»Mit mir? Wozu denn, möchte ich wohl wissen? So, was muß ich ihm nun wohl mitnehmen? Ach du lieber Gott! Sein weißes Hemd – Gott sei Dank ist es rein. Aber wir hängen es besser vorher noch an die Luft. Und Strümpfe – die braucht er ja nicht – und ein Handtuch, glaube ich; und Taschentücher. Was nun noch?«
»Einen Kamm, ein Messer und Gabel und Löffel,« sagte Paul. Sein Vater war schon einmal im Krankenhaus gewesen.
»Weiß der liebe Gott, in was für 'nem Zustand seine Füße gewesen sind,« fuhr Frau Morel fort, während sie sich ihr langes braunes Haar kämmte, das fein wie Seide war und schon mit Grau durchschossen. »Mit dem Waschen bis zur Hüfte ist er ja sehr eigen, aber weiter drunter, meint er, kommts nicht so drauf an. Aber da sehen sie wohl recht viel solche.«
Paul hatte den Tisch gedeckt. Er machte seiner Mutter ein oder zwei ganz dünne Butterbrötchen zurecht.
»So,« sagte er und stellte eine Tasse Tee auf ihren Platz.
»Da kann ich mich jetzt nicht mit abgeben!« rief sie ärgerlich.
»Ja, das mußt du nun doch schon, nun er mal fertig ist,« beharrte er.
Da setzte sie sich und nippte an ihrem Tee und aß ein wenig in Schweigen. Sie dachte nach.
In ein paar Minuten war sie weg, um die zwei und eine halbe Meile bis Keston zu laufen. Alles, was sie ihm mitzunehmen beabsichtigte, hatte sie in ihrem bauchigen Netze. Paul beobachtete sie, wie sie den Weg zwischen den Hecken hinanschritt – eine kleine, rasch ausschreitende Gestalt, und sein Herz tat ihm ihretwegen weh, daß sie nun wieder in Schmerz und Unruhe hineingetrieben würde. Und wie sie so rasch in ihrer Unruhe dahinschritt, fühlte sie hinter sich ihres Sohnes Herz auf sich warten, fühlte, wie er so viel von ihrer Last auf sich nahm wie nur möglich und sie dabei noch stützte. Und als sie beim Krankenhause war, dachte sie: »Es muß den Jungen ja umwerfen, wenn ich ihm erzähle, wie schlecht es aussieht. Besser etwas vorsichtig.« Und als sie wieder heimwärts trabte, fühlte sie, er käme ihr entgegen, um ihre Last tragen zu helfen.
»Ist es schlimm?« fragte Paul, sobald sie ins Haus trat.
»Schlimm genug,« erwiderte sie.
»Was denn?«
Sie seufzte und setzte sich, während sie ihre Hutbänder losmachte. Ihr Sohn beobachtete das erhobene Gesicht und ihre kleinen, arbeitgehärteten Hände, wie sie an der Schleife unter ihrem Kinn herumfingerten.
»Ja,« antwortete sie, »wirklich gefährlich ist es nicht, aber die Schwester sagt, es ist eine gräuliche Wunde. Siehst du, ein großes Stück Fels ist ihm aufs Bein gefallen – hier – und es ist ein splittriger Bruch. Einzelne Knochenstücke stecken heraus ,...«
»Uh – wie gräßlich!« riefen die Kinder.
»Und«, fuhr sie fort, »er meinte natürlich, er stürbe – er wäre ja nicht er, wenn er das nicht sagte. ›Mit mich ists aus, mein Mächen,‹ sagte er und sah mich an. ›Sei doch nicht lächerlich,‹ sagte ich zu ihm. ›An einem gebrochnen Bein stirbst du nicht, wenn es auch noch so kaputt ist.‹ ›Hier komme ick nie wieder raus als in 'ne Holzkiste,‹ stöhnte er. ›Na,‹ sag ich, ›wenn sie dich in 'ner Holzkiste in den Garten tragen sollen, wenn du wieder besser bist, ich zweifle gar nicht, daß sie's dann tun werden.‹ ›Wenn wir glauben, es tut ihm gut,‹ sagte die Schwester. Sie ist ein riesig nettes Mädchen, aber recht streng.«
Frau Morel nahm ihren Hut ab. Die Kinder warteten in Stillschweigen.
»Natürlich, schlecht geht es ihm,« fuhr sie fort, »und er wills auch so haben. Es war ja ein großer Schrecken, und er hatte starken Blutverlust; und natürlich, die Wunde ist sehr gefährlich. Es ist durchaus nicht sicher, daß sie so glatt heilt. Und dann kommt das Fieber und der Brand – wenn es eine schlechte Wendung nähme, wäre er bald weg. Aber schließlich ist er ja ein Mensch mit reinem Blut und mit 'ner wunderbaren Heilhaut, und deshalb sehe ich gar nicht ein, weshalb es eine schlechte Wendung nehmen sollte. 'ne Wunde ist ja natürlich da ,...«
Jetzt war sie vor Teilnahme und Angst ganz blaß geworden.
Die drei Kinder merkten ganz deutlich, es stände schlecht um ihren Vater, und das ganze Haus war stumm, verängstigt.
»Aber er ist immer wieder gesund geworden,« sagte Paul nach einer kleinen Weile.
»Das habe ich ihm auch gesagt,« meinte die Mutter.
Alle bewegten sich schweigend umher.
»Und er sah wirklich aus, als wäre es vorbei mit ihm,« sagte sie. »Die Schwester sagte aber, das sind die Schmerzen.«
Annie brachte ihrer Mutter Hut und Mantel hinaus.
»Und ansehen tat er mich, als ich weg mußte! Ich sagte: ›Jetzt werde ich wohl weg müssen, Walter, wegen des Zuges – und der Kinder.‹ Und da sah er mich an. Es kam mir hart vor.«
Paul nahm seinen Pinsel wieder auf und fuhr mit seiner Malerei fort. Arthur ging hinaus nach Kohlen. Annie saß da und sah trübe drein. Und Frau Morel saß in ihrem kleinen Schaukelstuhl, den ihr Mann ihr gemacht hatte, als das erste Kind kam, bewegungslos, sinnend. Sie war bekümmert und bitter traurig um den Mann, der so schwer verletzt war. Aber trotzdem, in ihrem innersten Herzen war da, wo Liebe hätte herrschen sollen, eine Leere. Jetzt, wo ihr ganzes weibliches Mitgefühl erregt war, wo sie sich gern bis zum Tode abgerackert hätte, um ihn zu pflegen und zu retten, wo sie ihm seine Schmerzen abgenommen hätte, wenn sie es nur gekonnt hätte, irgendwo tief in ihrem Innern empfand sie Gleichgültigkeit gegen ihn und sein Leiden. Das tat ihr am allerwehesten, diese Unfähigkeit, ihn zu lieben, selbst wo er ihre stärksten Empfindungen wachrief. Sie sann ein Weilchen nach.
»Und da,« sagte sie plötzlich, »als ich halbwegs bis Keston gekommen war, da merkte ich mit einem Male, ich war in meinen Arbeitsschuhen weggegangen – und seht sie euch bloß mal an.« Es war ein altes Paar von Pauls Schuhen, braun und an den Zehen durchgescheuert. »Ich wußte nicht, was ich anfangen sollte vor Scham,« fügte sie hinzu.
Am Morgen, als Arthur und Annie zur Schule waren, sprach Frau Morel weiter zu ihrem Sohn, der ihr bei der Hausarbeit half.
»Ich fand Barker im Krankenhaus,« sagte sie. »Er sah jämmerlich aus, der arme kleine Kerl. ›Na,‹ sag ich, ›was für'n Art Reise haben Sie denn mit ihm gehabt?‹ ›Fragen Se mir nich, Frau,‹ sagt er. ›Jawohl,‹ sag ich, ›ich weiß schon, wie er sich angestellt haben wird.‹ ›Aber et war ooch jemein fier'n, Frau Morel, et war jemein,‹ sagte er. ›Weiß ich,‹ sag ich. ›Bei jedem Bums dacht ick, det Herz sollt mich aus'n Munde fliejen,‹ sagte er. ›Un det Jeschrei, det er zuweilen losließ! Frau, nich fier'n Vermöjen möcht ick det noch mal mit durchmachen.‹ ›Das kann ich wohl begreifen,‹ sagte ich. ›Et is aber ooch 'ne eklije Jeschichte allemal,‹ sagt er, ›un eene, die scheen lange dauern wird, ehe se wieder besser is.‹ ›Das bin ich auch bange,‹ sagte ich. Ich mag Herrn Barker gern – wirklich. Er hat so was Männliches an sich.«
Paul ging wieder stumm an seine Arbeit.
»Und natürlich,« fuhr Frau Morel fort, »für einen Menschen wie Vater ist das Krankenhaus auch hart. Er kann nun mal Regeln und Vorschriften nicht verstehen. Und er will sich von niemand anders anrühren lassen, wenn er es irgendwie vermeiden kann. Als er sich die Muskeln am Schenkel zerschmettert hatte und viermal am Tage verbunden werden mußte, hätte er das wohl von jemand anders als von seiner Mutter oder mir machen lassen? Nein. So muß er da natürlich unter den Schwestern leiden. Und ich ließ ihn sehr ungern da. Wahrhaftig, als ich ihm einen Kuß gab und dann wegging, kam es mir gemein vor.«
So sprach sie zu ihrem Sohne, beinahe als dächte sie laut für ihn, und er nahm es auf, so gut ers vermochte, um ihr durch seine Teilnahme an ihrer Sorge diese zu erleichtern. Und schließlich teilte sie fast alles mit ihm, ohne es zu wissen.
Morel hatte eine harte Zeit. Eine Woche lang ging es ihm sehr zweifelhaft. Dann begann er sich zu bessern. Und nun in dem Bewußtsein, er würde geheilt werden, seufzte das ganze Haus erleichtert auf und fuhr fort, glücklich zu leben.
Es ging ihnen nicht knapp, solange Morel im Krankenhaus war. Vierzehn Schilling kamen wöchentlich von der Grube, zehn vom Krankenverein und fünf aus der Arbeitsunfähigenkasse; und dann hatten die Vorarbeiter noch jede Woche etwas für Frau Morel – fünf oder sieben Schilling –, so daß sie ganz vermögend war. Und während Morel im Krankenhaus gute Fortschritte machte, waren die Seinen ungewöhnlich glücklich und friedlich. Sonnabends und Mittwochs ging Frau Morel nach Nottingham, um ihren Mann zu besuchen. Dann brachte sie immer irgendeine Kleinigkeit heim: ein Farbennäpfchen für Paul, oder etwas starkes Papier, ein paar Postkarten für Annie, über die sich die ganze Gesellschaft erst tagelang freute, ehe das Mädchen sie absenden durfte, oder eine Laubsäge für Arthur, oder ein Stück hübsches Holz. Mit Vergnügen beschrieb sie ihnen ihre Abenteuer in den großen Geschäften. Die Leute im Malgeschäft kannten sie schon und wußten über Paul Bescheid. Das Mädchen im Buchladen nahm regen Anteil an ihr. Frau Morel war stets voller Belehrung, wenn sie aus Nottingham nach Hause kam. Die drei saßen dann bis zum Zubettgehen um sie herum, zuhörend, dazwischenfahrend, erwidernd. Dann schürte Paul oft das Feuer.
»Ich bin jetzt der Mann im Hause,« pflegte er voller Freude zu seiner Mutter zu sagen. Sie verstanden jetzt, wie vollkommen friedlich ihr Heim sein könne. Und es tat ihnen fast leid, obwohl keiner von ihnen eine solche Gefühllosigkeit zugegeben hätte, daß ihr Vater bald zurückkommen würde.
Paul war jetzt vierzehn und sah sich nach Arbeit um. Er war ein recht kleiner und sehr zierlicher Junge mit dunkelbraunem Haar und hellblauen Augen. Sein Gesicht hatte die kindliche Rundlichkeit verloren und wurde mehr dem Williams gleich – mit rauhen Zügen, beinahe grob – und war außerordentlich beweglich. Gewöhnlich machte er ein Gesicht, als sähe er irgend etwas, war voller Leben und Wärme; dann trat sein Lächeln plötzlich hervor wie bei seiner Mutter und war allerliebst; und dann wieder, sowie sich dem glatten Lauf seiner Seele irgendein Hemmnis entgegenstellte, wurde sein Gesicht dumm und häßlich. Er gehörte zu der Art von Jungen, die rüpel- oder lümmelhaft werden, sowie sie nicht verstanden werden oder sich unterschätzt glauben, und die wiederum beim ersten Hauch von Wärme bezaubernd sind.
Er litt jedesmal sehr unter der ersten Berührung mit all und jedem. Mit sieben Jahren war ihm der Schulanfang ein Alpdruck und eine Qual gewesen. Aber nachher mochte er die Schule gern. Und nun er fühlte, er müsse ins Leben hinaus, hatte er Todesqualen vor mangelndem Selbstbewußtsein durchzumachen. Für einen Jungen seiner Jahre war er ein ganz tüchtiger Maler, auch verstand er etwas Deutsch und Französisch und Mathematik, die Mr. Heaton ihm beigebracht hatte. Aber nichts von dem, was er besaß, war für ihn in der kaufmännischen Laufbahn von Vorteil. Für schwere Handarbeit war er nicht kräftig genug, meinte seine Mutter. Er tat auch nichts gern mit den Händen und jagte lieber umher oder unternahm Ausflüge ins Land hinein oder las oder malte.
»Was möchtest du werden?« fragte seine Mutter.
»Alles.«
»Das ist keine Antwort,« sagte Frau Morel.
Es war aber wirklich die einzige, die er geben konnte. Sein Ehrgeiz, soweit das Treiben dieser Welt ging, war, irgendwo nahe bei Hause seine ruhigen dreißig oder fünfunddreißig Schilling zu verdienen und dann, wenn sein Vater tot wäre, ein Häuschen mit seiner Mutter zu beziehen, zu malen und auszugehen, wie es ihm paßte, und für immer herrlich und in Freuden zu leben. Das war sein Lebensplan, soweit es sich um Tätigkeit handelte. Aber er besaß innerlichen Stolz, sobald er andere Leute an sich abmaß und einordnete, unerbittlich. Und er dachte, vielleicht würde er sogar Maler werden, ein wirklicher. Aber davon sah er ab.
»Dann«, sagte seine Mutter, »mußt du dich in der Zeitung nach Stellenausschreibungen umsehen.«
Er sah sie an. Es schien ihm, da habe er bittere Erniedrigung und Herzenspein durchzumachen. Aber er sagte nichts. Beim Aufstehen am Morgen war sein ganzes Wesen in diesen einen Gedanken verknotet: »Nun muß ich hin und mich nach ausgeschriebenen Stellen umsehen.« Er stand vor dem Morgen, dieser eine Gedanke, der ihm alle Freude, ja alles Leben ertötete. Sein Herz fühlte sich an wie ein fester Knoten.
Und dann zog er um zehn Uhr los. Er galt für ein sonderbares, ruhiges Kind. Als er so die sonnige Straße der kleinen Stadt hinaufzog, kam es ihm vor, als sagten alle Leute, denen er begegnete, bei sich: ›Er geht ins A-Ge-Ge-Lesezimmer, um sich in der Zeitung nach einer Stelle umzusehen. Er kann keine Stelle kriegen. Ich glaube, er liegt seiner Mutter auf der Tasche.‹ Und dann kroch er die Steinstufen hinter dem Zeugladen bei der A-Ge-Ge hinauf und spähte ins Lesezimmer. Gewöhnlich waren ein oder zwei Männer da, alte unbrauchbare Kerls, oder Bergleute, die ›Verein‹ spielten. So trat er ein, zurückfahrend und verletzt, sobald sie aufsahen, setzte sich an den Tisch und tat, als überfliege er die Nachrichten. Er wußte, sie würden denken: ›Was hat so'n dreizehnjähriger Bengel in einem Lesezimmer mit 'ner Zeitung zu tun?‹, und er litt.
Dann sah er gedankenvoll aus dem Fenster. Er war bereits Gefangener des Gewerbetriebes. Große Sonnenblumen starrten über die alte rote Mauer des gegenüberliegenden Gartens und blickten spaßhaft auf die Frauen hernieder, die mit irgendwelchen Eßwaren dahineilten. Das Tal stand voller Korn, das in der Sonne hell leuchtete. Zwei Gruben zwischen den Feldern schwenkten ihre weißen Dampffahnen. Weit weg auf den Hügeln lagen die Forste von Annesley, dunkel und zauberhaft. Sein Herz sank bereits. Er sollte sich in Knechtschaft begeben. Seine Freiheit in dem geliebten Heimattale ging zu Ende.
Brauereiwagen kamen von Keston mit Riesenfässern heraufgerollt, vier an jeder Seite, wie Bohnen in einer geplatzten Schote. Der Fahrer, der hoch auf seinem Throne saß und in seiner Massigkeit auf seinem Sitze herumrutschte, befand sich nicht sehr tief unter Pauls Augenhöhe. Des Mannes Haar auf seinem kleinen, kugelrunden Kopf war von der Sonne beinahe weiß gebleicht, und auf seinen dicken, roten Armen, die nachlässig auf seiner Sackschürze wackelten, glänzten die weißen Haare. Sein rotes Gesicht glänzte und schien in der Sonne fast zu schlafen. Die Pferde, hübsch und braun, liefen allein weiter und machten den Eindruck, als wären sie bei weitem die Herren der Lage.
Paul wünschte, er wäre dumm. »Ich wollte,« dachte er bei sich, »ich wäre so fett wie der und läge in der Sonne wie ein Hund. Ich wollte, ich wäre ein Schwein und ein Bierfahrer.«
War der Raum dann endlich leer, dann pflegte er hastig eine Abschrift von einer Ausschreibung auf einem Stück Papier zu nehmen, und dann noch eine, und mit unendlicher Erlösung nach draußen zu schlüpfen. Seine Mutter überflog dann seine Abschriften.
»Ja,« sagte sie, »du kannsts ja mal versuchen.«
William hatte einen Bewerbungsbrief aufgesetzt, in wundervollem Geschäftsstil abgefaßt, den Paul mit gewissen Abänderungen abschrieb. Die Handschrift des Jungen war aber abscheulich, so daß William, der alles so gut machte, in fieberhafte Ungeduld geriet.
Der ältere Bruder wurde allmählich ganz stutzerhaft. In London fand er, er könne mit Leuten verkehren, die im Leben hoch über seinen Bestwoodfreunden standen. Ein paar der Gehilfen im Geschäft hatten Rechtskunde studiert und machten mehr oder weniger eine Art Lehrlingszeit durch. William gewann sich bei seiner Fröhlichkeit überall unter den Leuten, wohin er kam, Freunde. Daher verkehrte er bald in Häusern von Leuten, die in Bestwood auf den unnahbaren Bankleiter herabgesehn hätten und dem Pastor allenfalls einen gleichgültigen Besuch abgestattet haben würden. So fing er an sich einzubilden, er sei ein schweres Geschütz. Er war tatsächlich ganz überrascht über die Leichtigkeit, mit der er ein feiner Herr wurde.
Seine Mutter freute sich über seine Zufriedenheit. Und seine Unterkunft in Walthamstow war so düster. Aber nun schien eine Art Fieber in die Briefe des jungen Mannes zu geraten. Durch diesen ganzen Übergang war er unsicher in sich geworden, er stand nicht länger fest auf den Füßen, sondern schien ganz schwindlig auf der raschen Strömung seines neuen Lebens umherzutreiben. Seine Mutter sorgte sich um ihn. Sie fühlte, wie er sich selbst verlor. Er tanzte und ging ins Theater, fuhr auf dem Flusse Boot, ging mit Freunden aus; und sie wußte, nachher saß er in seiner kalten Schlafkammer und quälte sich mit seinem Latein ab, weil er in seinem Geschäft weiterkommen wollte und, wenn möglich, auch in der Rechtskunde. Nie schickte er seiner Mutter jetzt Geld. Es ging alles, das wenige, was er besaß, für sein eigenes Leben drauf. Und sie wollte auch gar nichts, ausgenommen zuweilen, wenn sie sehr in der Klemme saß und zehn Schilling ihr viel Sorge erspart hätten. Sie träumte immer noch von William und dem, was er beginnen würde, mit sich selbst im Hintergrunde. Nie hätte sie auch nur für eine Minute zugegeben, ihr Herz fühle sich seinetwegen beschwert oder beunruhigt.
Er redete auch recht viel von einem Mädchen, das er auf einem Balle getroffen hatte, einer hübschen Braunen, sehr jung, und eine Dame, hinter der die Männer haufenweise herliefen.
»Es sollte mich wundern, mein Junge,« schrieb seine Mutter ihm, »ob du auch mitlaufen würdest, wenn du die anderen nicht auf der Jagd nach ihr sähest. In einer Menge fühlst du dich sicher und eitel genug. Aber nimm dich in acht und sieh zu, wie du dich fühlst, wenn du dich allein und als Sieger wiederfindest.«
William nahm dies sehr übel auf und setzte seine Jagd fort. Er hatte das Mädchen mit auf den Fluß genommen. »Wenn du sie sehen würdest, Mutter, würdest du meine Gefühle verstehen. Groß und vornehm, mit der allerklarsten, zartesten durchscheinenden Gesichtsfarbe, Haare so schwarz wie Jett und graue Augen – hell, spöttisch, wie Lichterschein auf dem Wasser bei Nacht. Es ist ganz schön und gut, daß du etwas spöttisch über sie schreibst, ehe du sie gesehen hast. Und sie zieht sich an wie nur irgendein weibliches Wesen in London. Ich sage dir, dein Sohn steckt nicht schlecht die Nase in die Luft, wenn sie mit ihm nach Piccadilly hinuntergeht.«
Frau Morel fragte sich in ihrem Herzen, ob ihr Sohn nicht besser selbst in ansehnlicher Gestalt und schönen Kleidern nach Piccadilly hinunterzöge als mit einer Frau, die ihm nahestünde. Aber sie beglückwünschte ihn doch in ihrer zweifelsüchtigen Art. Und wie sie so über ihren Waschtubben gebeugt dastand, sann die Mutter über ihren Sohn nach. Sie sah ihn beladen mit einer vornehmen, kostspieligen Frau, mit geringem Verdienst sich entlang schleppen und hinzwängen in irgendein häßliches, kleines Vorstadthaus. »Aber«, sagte sie sich, »ich bin vermutlich albern – und suche immer nur nach Schwierigkeiten.« Trotzdem verlor sich die Last dieser Angst nur selten von ihrem Herzen, daß nämlich William nicht recht an sich handle.
Da auf einmal wurde Paul aufgefordert, sich bei Thomas Jordan zu melden, Werkstätten für ärztliche Geräte, in der Spaniel-Row 21, Nottingham. Frau Morel war ganz Freude.
»Da siehst du,« rief sie, ihre Augen leuchtend. »Erst vier Briefe hast du geschrieben, und der dritte wird schon beantwortet. Du hast Glück, mein Junge, das habe ich immer behauptet.«
Paul sah sich die Abbildung eines hölzernen Beines an, mit schmiegsamen Strümpfen und anderen Zutaten verschönert, die auf Herrn Jordans Briefbogen prangten, und fühlte sich beunruhigt. Von dem Dasein schmiegsamer Strümpfe hatte er noch nichts gewußt. Und er schien die Welt des Geschäfts nachzuempfinden, mit ihren streng geregelten Wertabstufungen und ihrer Unpersönlichkeit, und fürchtete sich vor ihr. Es kam ihm auch ungeheuerlich vor, daß sich ein Geschäft auf hölzernen Beinen aufbauen könne.
An einem Dienstagmorgen zogen Mutter und Sohn zusammen los. Es war August und glühend heiß. Paul schritt einher, etwas in seinem Innern fest zugeschraubt. Lieber hätte er schwere körperliche Schmerzen durchgemacht als diese unvernünftige Qual, Fremden gegenüber bloßgestellt, angenommen oder verworfen zu werden. Und doch schwatzte er mit seiner Mutter drauflos. Nie hätte er ihr eingestanden, wie sehr er unter diesen Dingen litt, und sie ahnte die Wahrheit nur teilweise. Sie war fröhlich wie ein verliebtes Mädchen. Sie stand in Bestwood vor der Fahrkartenausgabe, und Paul beobachtete sie, wie sie ihrer Börse das Geld für die Karten entnahm. Als er sah, wie ihre Hand in den alten, schwarzen Glanzhandschuhen das Silber aus der abgegriffenen Börse hervorholte, da krampfte sich sein Herz vor Liebe zu ihr zusammen.
Sie war ganz aufgeregt und sehr lustig. Er litt darunter, wie sie in Gegenwart anderer Reisender ganz laut weitersprach.
»Nun kuck mal, die alberne Kuh!« sagte sie, »wie die da in die Runde saust, als ob sie im Zirkus wäre.«
»Wahrscheinlich ists 'ne Bremse,« sagte er leise.
»Eine was?« fragte sie fröhlich und ohne sich zu schämen.
Sie wurden eine Zeitlang nachdenklich. Er fühlte die ganze Zeit über ihre Gegenwart sich gegenüber. Plötzlich trafen sich ihre Augen, und sie lächelte ihn an – ein seltenes, vertrautes Lächeln, schön in seinem Strahlen und seiner Liebe. Dann sahen sie wieder beide aus dem Fenster.
Die langen sechzehn Meilen Eisenbahnfahrt gingen vorüber. Mutter und Sohn schritten die Bahnhofstraße hinauf und fühlten sich dabei wie ein verliebtes Paar, das auf gemeinsame Abenteuer auszieht. In der Carrington-Street blieben sie stehen, um sich über die Brüstung zu beugen und nach den Schleppkähnen unten auf dem Kanal zu sehen.
»Das ist grade wie Venedig,« sagte er, während er den Sonnenschein auf dem zwischen hohen Werkstattmauern liegenden Wasser beobachtete.
»Vielleicht,« antwortete sie lächelnd.
An den Läden hatten sie eine Riesenfreude.
»Nun sieh mal die Bluse,« konnte sie zum Beispiel sagen, »würde die nicht grade für unsere Annie passen? Und für dreißig Schilling. Ist das nicht billig?«
»Und mit der Hand genäht auch noch,« sagte er.
»Ja.«
Sie hatten viel Zeit, also beeilten sie sich nicht. Die Stadt kam ihnen seltsam und reizvoll vor. Aber der Junge empfand in seinem Innern ein Gewirr von Befürchtungen. Er hatte vor der Unterredung mit Thomas Jordan Angst.
An der St.-Peterskirche war es beinahe elf. Sie wandten sich in eine enge Gasse, die nach dem Schloß hinaufging. Sie war düster und altmodisch, voll von dunklen, niedrigen Läden und dunkelgrünen Haustüren mit Messingklopfern und ockergelben Stufen, die auf den Bürgersteig hinabführten; dann wieder ein alter Laden, dessen kleine Fenster aussahen wie ein halbgeschlossenes, schlaues Auge. Mutter und Sohn gingen vorsichtig weiter und blickten überall nach ›Thomas Jordan & Sohn‹ umher. Es war wie eine Jagd in der Wildnis. Sie gingen auf den Zehenspitzen vor Aufregung.
Plötzlich bemerkten sie einen großen, dunklen Torweg, in dem die Namen verschiedener Geschäfte standen, darunter auch Thomas Jordan.
»Hier ist es!« sagte Frau Morel. »Aber wo nun weiter?«
Sie sahen sich um. Auf der einen Seite lag eine merkwürdige alte Pappsachenwerkstätte, auf der anderen ein Gasthof für Geschäftsreisende.
»Da durch den Eingang hindurch ist es,« sagte Paul.
Und sie wagten sich in den Torweg hinein wie in den Schlund eines Drachen. Sie kamen in einen weiten, brunnengleichen Hof, überall von Gebäuden umschlossen. Er war mit Kisten und Stroh und Pappe bestreut. Der Sonnenschein traf grade auf einen Korb, dessen Stroh wie Gold in den Hof herniederrieselte. Aber an anderen Stellen sah der Hof wie eine Grube aus. Verschiedene Türen waren da, und zwei Treppen. Grade vor ihnen, auf einer schmutzigen Glastür, am Kopfe der einen Treppe, schauten die verhängnisvollen Worte drohend auf sie hernieder: ‹Thomas Jordan & Sohn – Ärztliche Gerätschaften›. Frau Morel ging voran, ihr Sohn hinter ihr her. Karl der Erste betrat sein Blutgerüst leichteren Herzens als Paul Morel die schmutzige Treppe, deren Stufen hinauf er jetzt seiner Mutter zu der schmutzigen Tür folgte.
Sie stieß die Tür auf und blieb angenehm überrascht stehen. Vor ihr lag ein großes Lager voller sahnegelber Papierpacken, und Gehilfen, die Hemdärmel aufgerollt, gingen umher, als fühlten sie sich ganz zu Hause. Das Tageslicht war gedämpft, die glänzenden, sahnegelben Packen schienen zu leuchten, die Ladentische waren aus dunkelbraunem Holz. Alles war ruhig und sehr einfach. Frau Morel tat zwei Schritte vorwärts, dann wartete sie. Paul stand hinter ihr. Sie hatte ihren Sonntagshut aufgesetzt mit einem schwarzem Schleier; er trug einen breiten, weißen Jungenskragen und einen Norfolkanzug.
Einer der Gehilfen sah auf. Er war dünn und lang, mit einem kleinen Gesicht. Sein Blick war sehr lebhaft. Dann sah er nach dem anderen Ende des Raumes, wo sich ein Glasverschlag befand. Er sagte nichts, sondern lehnte sich in einer milden, fragenden Weise gegen Frau Morel vor.
»Kann ich Herrn Jordan sprechen?« fragte sie.
»Ich will ihn holen,« antwortete der junge Mann.
Er ging auf den Glasverschlag zu. Ein rotbackiger, weißbärtiger alter Mann blickte auf. Er erinnerte Paul an einen Spitz. Dann kam dieser kleine alte Mann den Raum herauf. Er hatte kurze Beine, war ziemlich dick und trug eine Alpakajacke. So kam er, das eine Ohr anscheinend gespitzt, untersetzt und fragend durch den Raum.
»Guten Morgen,« sagte er, angesichts Frau Morels zögernd, im Zweifel, ob er eine Kundin vor sich habe oder nicht.
»Guten Morgen. Ich bin mit meinem Sohne, Paul Morel, gekommen. Sie hatten ihn ersucht, heute morgen vorzusprechen.«
»Wollen Sie mitkommen!« sagte Herr Jordan, in einer etwas bissigen Art und Weise, die er für geschäftsmäßig hielt.
Sie folgten dem Werkbesitzer in ein schlampiges, kleines Zimmer, das mit schwarzem, von der Abnutzung durch viele Kunden glänzend gewordenen amerikanischen Leder ausgeschlagen war. Auf dem Tische lag ein Haufen Bruchbänder, gelbe, ineinander verschlungene Waschlederbügel. Sie sahen neu und wie lebend aus. Paul sog den Geruch des frischen Waschleders ein. Er wunderte sich, was das wohl für Dinger wären. Er war aber bereits so betäubt, daß er nur noch das Äußere der Dinge wahrnahm.
»Setzen Sie sich!« sagte Herr Jordan und wies gereizt Frau Morel zu einem Stuhl mit Pferdehaarüberzug. Unsicher setzte sie sich auf die Kante. Dann begann der kleine alte Mann herumzufummeln und fand schließlich einen Bogen Papier.
»Hast du diesen Brief geschrieben?« schnappte er und hielt Paul etwas vor, was dieser als sein eigenes Briefpapier erkannte.
»Ja,« antwortete er.
In demselben Augenblick fühlte er sich zwiefältig in Anspruch genommen: einmal durch das Schuldgefühl, gelogen zu haben, da William den Brief aufgesetzt hatte; zweitens durch die Verwunderung, warum sein Brief ihm in der fetten, roten Hand dieses Mannes so fremd und so ganz anders vorkäme, als er ihm erschienen war, solange er noch auf dem Küchentisch lag. Er war wie ein auf Abwege geratener Teil seines Selbst. Paul nahm die Art und Weise, in der der Mann ihn hielt, übel.
»Wo hast du schreiben gelernt?« fragte der alte Mann knurrig.
Paul sah ihn nur verschämt an und sagte nichts.
»Ja, er schreibt schlecht,« warf Frau Morel entschuldigend ein. Dann schlug sie ihren Schleier zurück. Paul haßte sie, weil sie gegen diesen gemeinen kleinen Kerl nicht stolzer war, und freute sich, ihr Gesicht vom Schleier befreit zu sehen.
»Und du sagst, du kannst Französisch?« fragte der kleine Mann, immer noch mit Schärfe.
»Ja,« sagte Paul.
»In welche Schule bist du gegangen?«
»In die Kostschule.«
»Und hast du es da gelernt?«
»Nein – ich ,...« Der Junge wurde blutrot und kam nicht weiter.
»Sein Pate hat ihm Unterricht gegeben,« sagte Frau Morel, halb bittend und doch überlegen.
Herr Jordan zögerte. Dann zog er, immer noch in seiner gereizten Art und Weise – er schien immer die Hände für irgendeine Art von Tätigkeit bereit zu haben – ein anderes Blatt Papier aus der Tasche und faltete es auseinander. Das Papier raschelte. Er reichte es Paul hin.
»Lies das,« sagte er.
Es war eine Mitteilung auf Französisch, in dünner, zitteriger, fremdartiger Handschrift, die der Junge nicht entziffern konnte. Dösig stierte er auf das Papier.
»›Monsieur,‹« begann er, dann blickte er in größter Verwirrung auf Herrn Jordan. »Die –, die ,...«
Er wollte sagen ›Handschrift‹, aber sein Verstand arbeitete nicht einmal mehr genügend, um ihm zu diesem Wort zu verhelfen. Im Gefühl seiner vollkommenen Narrheit und voller Haß gegen Herrn Jordan wandte er sich verzweifelt wieder zu seinem Briefe: »Mein Herr, – bitte senden Sie mir, ä – ä – ich kann die – ä – ›zwei Paar – gris fil bas – graue Strümpfe‹ – ä – ä – › sans – ohne‹ – ä – ich kann die Worte nicht – ä – › doigts – Finger‹ – ä – ich kann die ,...«
Er wollte abermals ›Handschrift‹ sagen, aber das Wort wollte wieder nicht heraus. Da er ihn so festsitzen sah, riß Herr Jordan ihm das Papier weg.
»›Bitte senden Sie mir umgehend zwei Paar graue Strümpfe ohne Zehen.‹«
»Ja,« platzte Paul heraus, »› doigts‹ heißt aber ›Finger‹; ebensogut – in der Regel ,...«
Der kleine Mann sah ihn an. Er wußte gar nicht, ob › doigts‹ Finger hieße; er wußte nur, daß es für seine Zwecke ›Zehen‹ heiße.
»Finger an Strümpfen!« schnappte er.
»Ja, es bedeutet aber Finger,« beharrte der Junge.
Er haßte den kleinen Mann, der ihn zum Dämel machte. Herr Jordan sah auf den blassen, dummen, trotzigen Jungen, dann auf die Mutter; sie saß ruhig und mit dem sonderbaren Anschein von Ausgeschlossensein da, den arme Leute an sich haben, die von der Gunst anderer abhängen.
»Und wann könnte er kommen?« fragte er.
»Ja,« sagte Frau Morel, »sobald Sie wünschen. Er ist mit der Schule fertig.«
»Er würde in Bestwood wohnen bleiben?«
»Ja; aber er könnte hier – auf dem Bahnhof – erst um ein Viertel vor acht sein.«
»Hm!«
Das Gespräch endete damit, daß Paul als jüngster Gehilfe für die Strickereiabteilung angenommen wurde mit acht Schilling die Woche. Der Junge hatte den Mund nicht mehr aufgetan, nachdem er darauf bestanden hatte, daß › doigts‹ Finger hieße. Er ging hinter seiner Mutter her die Treppe hinunter. Sie sah ihn an, ihre blauen Augen voller Liebe und Freude.
»Ich glaube, es wird dir gefallen,« sagte sie.
»› Doigts‹ heißt aber ›Finger‹, Mutter, und es war nur die Schrift. Die Schrift konnte ich nicht lesen.«
»Schön, schön, mein Junge. Ich bin sicher, er wird schon ganz nett sein, und du kriegst auch nicht viel von ihm zu sehen. War der erste junge Mann nicht nett? Ich bin sicher, du wirst sie schon leiden mögen.«
»Aber war Herr Jordan nicht gemein, Mutter? Gehört ihm das alles?«
»Ich vermute, er war wohl ein Arbeiter, der vorwärts gekommen ist,« sagte sie. »Du mußt dir nicht so viel aus den Leuten machen. Sie wollen ja gar nicht eklig gegen dich sein – das ist nur so ihre Art und Weise. Du denkst immer, alle Leute meinten dich. Aber das tun sie gar nicht.«
Es war sehr sonnig. Über der weiten, einsamen Fläche des Marktplatzes schimmerte der blaue Himmel, und die Granitsteine des Pflasters glitzerten. Die Long-Row hinunter lagen die Läden in tiefem Schatten, und der Schatten war voller Farbe. Grade wo die Pferdebahn über den Markt rollte, war eine Reihe von Obstständen, mit Früchten, die in der Sonne gleißten. Äpfel und Haufen rötlicher Apfelsinen, kleine Ringlotten und Bananen. Ein warmer Obstduft schlug Mutter und Sohn im Vorbeigehen entgegen. Allmählich verlor sich sein Gefühl von Schande und Wut.
»Wo wollen wir wohl zum Essen hingehen?« fragte die Mutter.
Es kam ihnen wie eine unglaubliche Ausschweifung vor. Paul war nur ein- oder zweimal in seinem Leben in einer Speisewirtschaft gewesen, und dann nur zu einer Tasse Tee und einem Brötchen. Die meisten Leute aus Bestwood glaubten, daß Tee und Butterbrot und allenfalls Büchsenfleisch das einzige wäre, was sie sich in Nottingham an Essen leisten könnten. Etwas wirklich Gekochtes galt für eine große Ausschweifung. Paul fühlte sich ganz schuldbewußt.
Sie fanden ein Haus, das ihnen ganz billig aussah. Aber als Frau Morel die Speisekarte durchsah, wurde ihr das Herz schwer, so teuer war alles. Sie bestellte daher Nierenpudding und Kartoffeln als das billigste Gericht.
»Hier hätten wir nicht hergehen sollen, Mutter,« sagte Paul.
»Einerlei,« sagte sie. »Wir kommen ja nicht wieder.«
Sie bestand darauf, daß er ein Johannisbeertörtchen äße, weil er Süßigkeiten so gern mochte.
»Ich möchte es gar nicht, Mutter,« bat er.
»Doch,« drängte sie; »du sollst es aber haben.«
Und sie sah sich nach der Kellnerin um. Aber die Kellnerin war beschäftigt, und Frau Morel mochte sie nicht stören. So warteten Mutter und Sohn, bis es dem Mädchen paßte, während sie mit den Männern herumschäkerte.
»Freche Hexe!« sagte Frau Morel zu Paul. »Sieh mal, dem Mann da bringt sie schon seinen Pudding, und er kam lange nach uns.«
»Das macht ja nichts, Mutter,« sagte Paul.
Frau Morel ärgerte sich. Aber sie war zu arm, und ihre Bestellungen waren zu unbedeutend, so daß sie nicht den Mut fand, auf ihrem guten Recht zu bestehen. Sie warteten und warteten.
»Sollen wir gehen, Mutter?« sagte er.
Da stand Frau Morel auf. Das Mädchen ging grade dicht an ihnen vorbei.
»Wollen Sie ein Johannisbeertörtchen bringen?« sagte Frau Morel sehr deutlich.
Das Mädchen drehte sich unverschämt um.
»Sofort!« sagte sie.
»Wir haben grade lange genug gewartet,« sagte Frau Morel.
Augenblicks kam das Mädchen mit der Torte zurück. Kalt ließ Frau Morel sich die Rechnung geben. Paul wäre am liebsten durch den Boden gesunken. Er bewunderte seiner Mutter Härte. Er wußte ja, nur jahrelange Kämpfe hatten sie so weit gebracht, daß sie so selten wie möglich auf ihrem Recht bestand. Sie schreckte davor ebenso zurück wie er.
»Das ist das letztemal, daß ich hier wegen irgend etwas herkomme!« erklärte sie, als sie wieder draußen waren, dankbar, so glatt davongekommen zu sein.
»Wir wollen mal hin«, sagte sie, »und uns Keeps und Boots ansehen, und ein oder zwei andere Läden, nicht wahr?«
Sie unterhielten sich über die Bilder dort, und Frau Morel wollte ihm einen kleinen schwarzen Pinsel kaufen, nach dem er sich sehr sehnte. Aber einen solchen Leichtsinn lehnte er ab. Er stand fast gelangweilt vor den Putzmacherläden und den Zeugläden, aber doch zufrieden um ihretwillen, weil sie sie fesselten. Sie wanderten weiter.
»Nun sieh dir doch bloß mal diese schwarzen Trauben an!« sagte sie. »Sie machen einem ordentlich den Mund wässerig. Jahrelang sehne ich mich danach, aber ich werde wohl noch ein bißchen warten müssen, ehe ich sie kriege.«
Dann freute sie sich über einen Blumenladen und blieb schnüffelnd im Eingang stehen.
»Oh, oh! Ist es nicht einfach entzückend!«
Paul sah in der Dunkelheit des Ladens eine vornehme junge Dame in Schwarz neugierig über den Ladentisch lugen.
»Sie kucken dich schon an,« sagte er und versuchte seine Mutter weiterzuziehen.
»Aber, was ist das bloß?« rief sie und wollte nicht von der Stelle.
»Levkojen!« antwortete er, hastig den Geruch einziehend; »sieh, da steht eine ganze Wanne voll.«
»Richtig – weiße und rote. Aber wahrhaftig, ich habe nie gewußt, daß Levkojen so duften!« Und zu seiner großen Erleichterung verließ sie den Eingang, aber nur, um nun vor dem Schaufenster stehenzubleiben.
»Paul!« rief sie hinter ihm her, da er außer Sicht der vornehmen jungen Dame in Schwarz zu kommen suchte – des Ladenmädchens. »Paul! Sieh doch bloß mal hier!«
Widerwillig kam er zurück.
»Nun sieh dir doch nur mal die Fuchsie an!« rief sie aus und zeigte auf die Blume.
»Hm!« Er gab einen sonderbaren, teilnehmenden Laut von sich. »Sollte man nicht denken, die Blüten müßten jeden Augenblick abfallen, so dick und schwer hängen sie herunter?«
»Und so riesig viele!« rief sie aus.
»Und die Art, wie sie herunterhängen mit ihren Knoten und Fäden!«
»Ja!« rief sie aus; »entzückend!«
»Soll mich mal wundern, wer die wohl kauft!« sagte er.
»Soll mich mal wundern!« antwortete sie. »Wir nicht.«
»Sie ginge in unserem Wohnzimmer auch ein.«
»Ja, in dem biestigen, kalten, sonnenlosen Loche; das bringt ja jedes bißchen von Pflanzen um, das man da hineinstellt, und die Küche erstickt sie vollends.«
Sie kauften noch ein paar Sachen und zogen dann zum Bahnhof. Als sie den Kanal durch die dunkle Enge der Häuser hinaufblickten, sahen sie das Schloß auf seiner braunen, grünbewachsenen Felsklippe in einem wahrhaften Zauberschimmer zarten Sonnenscheins.
»Wird das nicht fein für mich werden, wenn ich hier zur Essenszeit herauskomme?« sagte Paul. »Überall kann ich hier herumlaufen und mir alles ansehen. Fein wird das.«
»Sicher,« stimmte seine Mutter ihm bei.
Er hatte einen genußreichen Nachmittag mit seiner Mutter verbracht. Glücklich kamen sie im sanften Abendlicht nach Hause und erhitzt und müde.
Am Morgen füllte er den Bestellschein für seine Zeitkarte aus und brachte ihn zum Bahnhof. Als er wiederkam, hatte seine Mutter grade mit dem Aufwischen des Fußbodens an gefangen. Er setzte sich zusammengekauert aufs Sofa.
»Er sagt, gegen Sonnabend würde es hier sein,« meinte er. »Und wieviel wird es kosten?«
»Ungefähr einunddreißig Schilling,« sagte er.
Sie setzte ihr Aufwischen schweigend fort.
»Ist das viel?« fragte er.
»Nicht mehr als ich dachte,« antwortete sie.
»Und ich krieg ja dann auch acht Schilling die Woche,« sagte er.
Sie antwortete nicht, sondern fuhr mit ihrer Arbeit fort. Endlich sagte sie: »Der William versprach mir, als er nach London ging, er wollte mir jeden Monat ein Pfund geben. Er hat mir zehn Schilling gegeben – zweimal; und jetzt, weiß ich, hätte er keinen Pence, wenn ich ihn drum bäte. Nicht daß ichs wollte. Nur grade jetzt, sollte man denken, könnte er uns helfen mit dieser Zeitkarte, an die ich gar nicht gedacht hatte.«
»Er verdient 'ne Menge,« sagte Paul.
»Er verdient hundertunddreißig Pfund. Aber so sind sie alle.
Im Versprechen immer groß, wenns aber ans Halten kommt, dann kommt nur wenig dabei heraus.«
»Er gibt über fünfzig Schilling die Woche für sich aus,« sagte Paul.
»Und ich führe diesen Haushalt mit weniger als dreißig,« erwiderte sie; »und dann soll ich für besondere Ausgaben auch immer noch das Geld schaffen. Aber wenn sie erst einmal weg sind, dann denken sie nicht mehr daran, einem zu helfen. Lieber würde er es für das aufgetakelte Geschöpf da ausgeben.«
»Die könnte doch auch ihr eigenes Geld haben, wenn sie so großartig ist,« sagte Paul.
»Sie sollte, aber sie hats nicht. Ich habe ihn gefragt. Und das weiß ich, für nichts kauft er ihr auch kein goldenes Armband. Hätte mich mal wundern sollen, wer mir wohl je ein goldenes Armband gekauft hätte.«
William kam mit seiner ›Gipsy‹, wie er sie nannte, weiter. Er bat das Mädchen – ihr Name war Louise Lily Denys Western – um ein Lichtbild, um es seiner Mutter zuzuschicken. Das Bild kam – ein hübscher Braunkopf, von der Seite aufgenommen, ein klein wenig geziert – und dem Anschein nach vollständig nackt, denn auf dem Lichtbild war auch keine Spur von Kleid zu sehen, nur ein nackter Oberkörper.
»Ja,« schrieb Frau Morel ihrem Sohn, »das Lichtbild Louises ist sehr eindrucksvoll, und ich kann wohl sehen, sie muß sehr anziehend sein. Aber hältst du das für guten Geschmack bei einem Mädchen, mein Junge, wenn sie ihrem jungen Manne so ein Bild gibt, um es seiner Mutter zu schicken – als erstes? Gewiß sind die Schultern wunderschön, ganz wie du sagst. Ich erwartete aber kaum so viel von ihnen auf den ersten Blick zu sehen.«
Morel fand das Bild auf dem Schmuckschränkchen im Wohnzimmer stehend. Er kam mit ihm zwischen seinem dicken Daumen und Zeigefinger wieder heraus.
»Wat meenste, wer is det?« fragte er seine Frau.
»Das ist das Mädchen, mit dem unser William geht,« erwiderte sie.
»Hm! Det's 'ne helle Flamme, wie die aussieht, un eene, die ihn ooch nich iebermäßig ville jut dun wird. Wer is se denn?«
»Ihr Name ist Louise Lily Denys Western.«
»Un kommen Se morjen wieder!« rief der Bergmann aus.
»Un is se 'ne Schauspielerin?«
»Nein. Sie soll eine Dame sein.«
»Wetten det!« rief er wieder, immer noch das Bild anstarrend. »'ne Dame is se? Un auf wat meent se denn, will se det Schpillwerk so durchfiehren?«
»Auf gar nichts. Sie lebt bei einer alten Tante, die sie haßt, und nimmt jedes bißchen Geld von ihr, das sie kriegen kann.«
»Hm!« sagte Morel und legte das Lichtbild hin. »Denn is er 'n Narr, det er sich mit so'ne einjelassen hat.«
»Liebe Mutter,« antwortete William. »Es tut mir so leid, daß du das Lichtbild nicht leiden mochtest. Der Gedanke kam mir nicht in den Sinn, als ich es dir schickte, daß du es für nicht anständig halten könntest. Ich habe indessen Gyp von deinen steifen und spröden Anschauungen erzählt, und so wird sie dir ein anderes schicken, das dir hoffentlich besser gefallen wird. Sie wird fortwährend aufgenommen; tatsächlich bitten die Photographen sie, ob sie nicht ein Bild von ihr für umsonst machen dürften.«
Sehr bald darauf kam das neue Bild, mit einer albernen kleinen Bemerkung des Mädchens selbst. Diesmal war die junge Dame in einem schwarzseidenen Abendleibchen sichtbar, viereckig ausgeschnitten, mit kleinen gepufften Ärmeln und schwarzer Spitze, die über die prachtvollen Arme herabhing.
»Soll mich doch wundern, ob sie jemals etwas anderes trägt als Gesellschaftskleider,« sagte Frau Morel spöttisch. »Sicher, dies muß wohl Eindruck auf mich machen.«
»Du bist eklig, Mutter,« sagte Paul. »Ich finde das erste mit den bloßen Schultern entzückend.«
»So?« antwortete seine Mutter. »Na, ich nicht.«
Am Montagmorgen stand Paul um sechs auf, um seine Arbeit anzutreten. Seine Zeitkarte, die so viel Bitterkeit gekostet hatte, hatte er in der Westentasche. Er liebte sie mit ihren gelben Querstreifen. Seine Mutter packte ihm sein Essen in einen kleinen, verschließbaren Korb, und um ein Viertel vor sieben zog er los, um den Zug sieben Uhr fünfzehn zu erreichen. Frau Morel kam mit bis in den Eingang, um ihn abziehen zu sehen.
Es war ein vollendet schöner Morgen. Von dem Eschenbaume flatterten die zierlichen, grünen Früchte, die die Kinder ›Tauben‹ nennen, lustig in der leichten Brise in die Vorgärten der Häuser hinab. Das Tal war voll von einem durchsichtigen, dunklen Dunst, durch den das reife Korn hindurchschimmerte, und in dem der Dampf der Mintongrube rasch dahinschmolz. Einzelne Windstöße kamen. Paul sah über die hohen Wälder von Aldersley weg, wo das Land glühte, und noch nie hatte die Heimat solche Anziehungskraft auf ihn ausgeübt.
»Guten Morgen, Mutter!« sagte er lächelnd, aber sich sehr unglücklich fühlend.
»Guten Morgen!« antwortete sie fröhlich und zärtlich.
Sie blieb in ihrer weißen Schürze auf der offenen Straße stehen und beobachtete ihn, wie er das Feld überschritt. Er hatte einen kleinen, strammen Körper, der voller Leben schien. Sie fühlte, als sie ihn so über das Feld dahintrotten sah, er werde hingelangen, wohin sein Entschluß ihn führe. Sie dachte an William. Er wäre über den Zaun hinweggesetzt, anstatt um ihn herum bis zum Gatter zu gehen. Er war jetzt fern in London, und es ging ihm gut. Paul würde nun in Nottingham arbeiten. Nun hatte sie zwei Söhne in der Welt. Sie konnte nun an zwei Orte denken, beides große Mittelpunkte der Arbeit, und fühlen, wie sie in beiden einen Mann besitze, und daß diese Männer das vollbringen würden, was sie beabsichtigt hatte; sie stammten von ihr ab, sie kamen von ihr her, und ihre Arbeit würde auch die ihrige sein. Den ganzen Morgen lang dachte sie an Paul.
Um acht Uhr klomm er die trübseligen Stufen zu Jordans Werkstätten für ärztliche Gerätschaften empor und blieb hilflos an dem ersten großen Packständer stehen und wartete, daß ihn jemand aufläse. Der Platz war noch nicht wach. Über den Ladentischen lagen noch große Staubtücher. Nur zwei Männer waren erst da, und er konnte sie in einer Ecke reden hören, wie sie ihre Röcke auszogen und sich die Hemdärmel aufrollten. Es war zehn Minuten nach acht. Augenscheinlich gab es hier keine Hetzjagd nach Pünktlichkeit. Paul horchte auf die Stimmen der beiden Gehilfen. Dann hörte er jemand husten und sah in dem Verschlag am Ende des Ganzen einen alten, hinfälligen Schreiber in einer runden Mütze aus schwarzem, mit Rot und Grün besticktem Samt, der Briefe öffnete. Er wartete und wartete. Einer der jüngeren Gehilfen ging zu dem alten Manne und begrüßte ihn laut und lustig. Augenscheinlich war der ›Alte‹ taub. Dann kam der junge Bursche mit gewichtigen Schritten wieder zu seinem Tische. Er wurde Pauls ansichtig.
»Hallo!« sagte er. »Der neue Bursche?«
»Ja,« sagte Paul.
»Hm! wie heißt du!«
»Paul Morel.«
»Paul Morel? Schön, dann komm mal hier mit rum.«
Paul folgte ihm um das Rechteck der Ladentische. Der Raum lag im zweiten Stock. Mitten im Fußboden hatte er ein gewaltiges Loch, von einem Wall von Ladentischen eingefaßt, und diesen weiten Schacht hinunter gingen die Aufzüge und fiel alles Licht für den ersten Stock. Auch in der Decke war ein entsprechend großes, längliches Loch, und man konnte oben über das Geländer des obersten Stockwerkes weg ein paar Maschinen sehen; und genau darüber war das Glasdach, und alles Licht für die drei Stockwerke fiel von dort hernieder, immer trüber werdend, so daß es im Erdgeschoß immer Nacht und im zweiten Stockwerk ziemlich düster war. Die Werkstätte lag im obersten Stock, der Laden im zweiten und das Lager im Erdgeschoß. Es war ein gesundheitswidriger, altmodischer Ort.
Paul wurde zu einer sehr düsteren Ecke herumgeführt.
»Dies ist die Strickereiecke,« sagte der Gehilfe. »Du bist Stricker, bei Pappleworth. Er ist dein Meister, aber er ist noch nicht da. Er kommt nicht vor halb neun. Deshalb kannst du nur erst mal die Briefe holen, wenn du Lust hast, von Herrn Melling da unten.«
Der junge Gehilfe deutete auf den alten Schreiber in dem Verschlag.
»Schön,« sagte Paul.
»Hier ist ein Haken, wo du deine Mütze dranhängen kannst. Hier sind deine Eingangslisten. Herr Pappleworth wird wohl nicht mehr lange ausbleiben.«
Und mit langen, geschäftigen Schritten stakte der junge Mann über den dumpfklingenden, hölzernen Fußboden von dannen.
Nach ein oder zwei Minuten ging Paul hinunter und blieb in der Tür des Glasverschlags stehen. Der alte Schreiber in der Mütze sah ihn über den Rand seiner Brillengläser hinweg an.
»Guten Morgen!« sagte er gütig und nachdrücklich. »Du möchtest wohl die Briefe für die Strickereiabteilung, Thomas?«
Daß er Thomas genannt wurde, nahm Paul übel. Aber er nahm die Briefe und ging mit ihnen in seine dunkle Ecke zurück, wo der Ladentisch einen Knick machte, wo der große Packständer zu Ende ging, und wo sich in der Ecke drei Türen befanden. Er setzte sich auf einen Stuhl und las die Briefe – die, deren Handschrift nicht zu schwierig war. Sie lauteten etwa wie folgt:
»Wollen Sie mir bitte sofort ein Paar seidene gestrickte Damenunterbeinkleider schicken, ohne Füße, so wie ich sie voriges Jahr bekommen habe; Länge, vom Schenkel bis zum Knie usw.« Oder: »Major Chamberlain möchte seine frühere Bestellung auf einen seidenen unnachgiebigen Tragbeutel wiederholen.«
Viele dieser Briefe, von denen einige in Französisch oder Norwegisch waren, bildeten ein großes Rätsel für den Jungen. Er saß auf seinem Schemel und erwartete mit gespannten Nerven die Ankunft seines Vorgesetzten. Er litt Qualen vor Verlegenheit, als um halb neun die Werkstättenmädchen für den obersten Stock an ihm vorbeitrabten.
Herr Pappleworth erschien, auf einem Stück Kaugummi kauend, ungefähr zwanzig Minuten vor neun, als alle anderen schon an der Arbeit waren. Er war ein dünner, blasser Mann mit roter Nase, mit rasch abgerissenen Bewegungen und auffallend, aber steif gekleidet. Er war etwa sechsunddreißig Jahre alt. Er hatte etwas Verbissenes, recht Gerissenes, Schlaues und Scharfes, und doch etwas Warmes an sich, und etwas leicht Verächtliches.
»Mein neuer Bursche?« sagte er.
Paul stand auf und bejahte.
»Briefe abgeholt?« Herr Pappleworth biß auf sein Gummi.
»Ja.«
»Abgeschrieben?«
»Nein.«
»Schön, denn mal los, mal fix. Deinen Rock gewechselt?«
»Nein.«
»Du solltest einen alten Rock mitbringen und hier lassen.«
Die letzten Worte sprach er mit dem Kaugummi zwischen den Backzähnen. Er verschwand in der Dunkelheit hinter dem großen Packständer, erschien ohne Rock wieder, während er einen hübsch gestreiften Hemdärmel über einen dünnen haarigen Arm aufstreifte. Dann schlüpfte er in seinen Rock. Paul bemerkte, wie dünn er war, und daß seine Hosen hinten Falten schlugen. Er ergriff einen Schemel, zog ihn neben den des Jungen und setzte sich.
»Setz dich!« sagte er.
Paul setzte sich.
Herr Pappleworth saß sehr dicht neben ihm. Der Mann ergriff die Briefe, riß eine lange Eingangsliste aus einem Fache vor ihm heraus, klappte sie auf, ergriff eine Feder und sagte: »Nun sieh her. Diese Briefe mußt du hier hinein abschreiben.« Er schnupfte zweimal, kaute rasch auf sein Gummi los, starrte regungslos in einen Brief, wurde dann ganz still und aufmerksam, und schrieb den Eingang rasch in einer schön geschwungenen Hand nieder. Er blickte rasch zu Paul hinüber.
»Hast du's gesehen?«
»Ja.«
»Meinst du, du kannsts auch?«
»Ja.«
»Schön, dann laß mal sehen.«
Er sprang von seinem Schemel auf. Paul nahm eine Feder. Herr Pappleworth verschwand. Paul mochte recht gern Briefe abschreiben, aber er schrieb langsam, mühsam und scheußlich schlecht. Er war bei dem vierten Briefe und fühlte sich ganz geschäftig und glücklich, als Herr Pappleworth wieder erschien.
»Na, wie kommst du weiter? Fertig?«
Er beugte sich über die Schulter des Jungen, kauend und nach Chlor riechend.
»Hol mich der Teufel, Junge, du bist ja ein wundervoller Schreiber!« rief er spöttisch. »Na, man zu, wie viele hast du denn gemacht? Drei bloß! Ich hätt se schon runter. Vorwärts, mein Junge, und setz Nummern druf. Hier, siehst du? Vorwärts!«
Paul malte an seinen Briefen weiter, während Herr Pappleworth sich mit allerlei Sachen zu tun machte. Plötzlich fuhr der Junge zusammen, als eine schrille Pfeife dicht neben seinem Ohr ertönte. Herr Pappleworth trat herbei, zog einen Pflock aus einem Rohr und sagte mit erstaunlich schroffer Stimme: »Ja?«
Paul vernahm eine schwache Stimme, wie die einer Frau, aus der Mündung des Rohres. Er sah sie verwundert an, da er noch nie so etwas wie ein Sprachrohr gesehen hatte.
»Na,« sagte Herr Pappleworth recht ungemütlich in das Rohr hinein, »dann sollten Sie nur lieber etwas von Ihrer liegengebliebenen Arbeit vornehmen.«
Wieder wurde die schwache Stimme der Frau hörbar, hübsch und ärgerlich klingend.
»Ich habe keine Zeit, hier herumzustehen, während Sie reden,« sagte Herr Pappleworth und steckte den Pflock wieder in das Rohr hinein.
»Komm, mein Junge,« sagte er flehentlich zu Paul, »da schreit Polly schon nach ihren Aufträgen. Kannst du nicht etwas zumachen? Hier, mach mal zu!«
Zu Pauls gewaltigem Kummer ergriff er das Buch und fing selbst mit dem Abschreiben an. Er arbeitete rasch und gut. Hiermit fertig, ergriff er ein paar lange, gelbe Papierstreifen, etwa neun Zentimeter breit, und fertigte die Tagesaufträge für die Arbeiterinnen aus.
»Sieh nur lieber zu, wie ichs mache,« sagte er zu Paul und arbeitete drauflos. Paul beobachtete die sonderbaren kleinen Zeichnungen von Beinen und Schenkeln und Knöcheln, mit Strichen quer hindurch und Zahlen daneben, und die wenigen, kurzen Anweisungen, die sein Vorgesetzter auf dem gelben Papier gab. Dann war Herr Pappleworth fertig und sprang auf.
»Komm mit,« sagte er, und sauste, während er die gelben Streifen aus seiner Hand herniederflattern ließ, durch eine Seitentür und ein paar Stufen hinunter, wo im Erdgeschoß Gas brannte. Sie durchschritten den kalten, feuchten Lagerraum, dann einen langen, trübseligen Raum mit einer langen Tischplatte auf Böcken, zu einem kleineren behaglicheren Raum, nicht sehr hoch, der an das Hauptgebäude angebaut war. In diesem Raum wartete ein kleines Frauenzimmer in roter Sergebluse, ihr schwarzes Haar oben auf dem Kopf aufgesteckt, wie ein stolzer kleiner Kampfhahn.
»Da sind wir!« sagte Herr Pappleworth.
»Glaub schon, ›da sind wir‹!« rief Polly. »Fast 'ne halbe Stunde warten die Mädels hier schon. Denken Sie bloß mal, die Zeitvergeudung!«
»Denken Sie lieber dran, daß Ihre Arbeit fertig wird, und reden Sie nicht so viel,« sagte Herr Pappleworth. »Sie hätten doch schon was fertigmachen können.«
»Sie wissen doch ganz genau, daß wir am Sonnabend mit allem fertig geworden sind!« rief Polly und flog auf ihn los, mit ihren schwarzen Augen ihn anblitzend.
»Tu – tu – tu – tu – tatata!« neckte er sie. »Hier ist Ihr neuer Junge; richten Sie den nicht ebenso zugrunde wie den letzten.«
»Wie den letzten!« wiederholte Polly. »Jawohl, wir richten viel zugrunde, wir hier! Auf mein Wort, dazu gehört schon was, einen Jungen, der bei Ihnen gewesen ist, zugrunde zu richten.«
»Jetzt ists Zeit zum Arbeiten, nicht zum Reden,« sagte Herr Pappleworth streng und kalt.
»Das wars schon lange,« sagte Polly und ging mit hocherhobenem Kopf von dannen. Sie war ein straffes kleines Wesen von vierzig.
In diesem Raum standen zwei Strickmaschinen auf einer Bank unter dem Fenster. Durch die innere Tür sah man einen anderen, längeren Raum mit sechs weiteren Maschinen. Eine kleine Gruppe von Mädchen, nett angezogen und in weißen Schürzen, stand redend beieinander.
»Habt Ihr sonst nichts zu tun, als zu reden?« sagte Herr Pappleworth.
»Bloß auf Sie zu warten,« antwortete ein hübsches Mädchen lachend.
»Na, dann vorwärts, vorwärts!« sagte er. »Komm, mein Junge, du wirst deinen Weg hier herunter schon wiederfinden.«
Und Paul lief hinter seinem Vorgesetzten her wieder nach oben. Dann bekam er allerlei nachzuzählen und ein paar Rechnungen zu schreiben. Er stand vor seinem Schreibtisch und arbeitete in seiner schauderhaften Handschrift drauflos. Da kam Herr Jordan aus seinem Glasverschlag hervorgestapft und stellte sich hinter ihn, zum größten Mißbehagen des Jungen. Plötzlich schob sich ein dicker roter Finger auf den Vordruck, den er grade ausfüllte.
»Herrn A. J. Bates, Esquire!« rief die kratzige Stimme unmittelbar hinter seinem Ohr.
Paul sah sich ›Herrn A. J. Bates, Esquire‹ in seiner eigenen, scheußlichen Hand an und wunderte sich, was denn mit dem los sei.
»Haben sie dir nichts Besseres beigebracht, während du auf der Schule warst? Wenn du ›Herrn‹ schreibst, dann schreibst du nicht auch ›Esquire‹ – beides zugleich kann man nicht sein.«
Dem Jungen tat seine zu weitgehende Großmut in der Verleihung von Ehren leid, er zögerte und strich dann mit zitternden Fingern den ›Herrn‹ durch. Da riß ihm Herr Jordan plötzlich die Rechnung weg.
»Schreib eine neue! Willst du das vielleicht einem Herrn zuschicken?« Und gereizt zerriß er den blauen Vordruck.
Rot bis über die Ohren vor Scham fing Paul von neuem an. Herr Jordan paßte weiter auf.
»Ich weiß nicht, was sie eigentlich in der Schule noch lehren. Du mußt besser schreiben lernen. Nichts lernen die Bengels heutzutage als Gedichte hersagen und Fiedel spielen. – Haben Sie seine Schrift gesehen?« fragte er Herrn Pappleworth.
»Ja; erstklassig, nicht wahr?« erwiderte Herr Pappleworth gleichgültig.
Herr Jordan grunzte leise, aber nicht unfreundlich. Paul begann zu ahnen, daß seines Herrn Bellen schlimmer sei als sein Beißen. Tatsächlich war der kleine Werkstättenbesitzer trotz seines schlechten Englisch durchaus gebildet genug, um seine Leute sich selbst zu überlassen und sich nicht um Kleinigkeiten zu kümmern; aber er wußte, er sähe nicht wie der Herr und Eigentümer der Bude aus, und deshalb mußte er zunächst immer erst die Rolle des Eigentümers hervorkehren, um die Sachen auf den richtigen Stand zu bringen.
»Laß mal sehen, wie heißt du noch?« fragte Herr Pappleworth den Jungen.
»Paul Morel.«
Es ist sonderbar, daß Kinder so darunter leiden, wenn sie ihren Namen nennen müssen.
»Paul Morel, so? Na schön, denn Paul-Morel du dich mal durch die Sachen da hindurch, und denn ,...«
Herr Pappleworth ließ sich auf einen Schemel nieder und fing an zu schreiben. Ein Mädchen kam durch eine Tür grade hinter ihnen herauf, legte ein paar frisch geplättete geschmeidige Webstücke auf den Tisch und ging wieder weg. Herr Pappleworth nahm das bläulichweiße Knieband auf, prüfte es und seinen gelben Bestellschein rasch und legte es auf eine Seite. Das nächste war ein fleischrotes ›Bein‹. Er ging die paar Sachen durch, schrieb ein paar Aufträge nieder und rief Paul zu, mit ihm zu kommen. Diesmal gingen sie durch die Tür, durch die das Mädchen aufgetaucht war. Hier befand sich Paul nun oben am Ende einer kleinen hölzernen Treppe und erblickte unter sich einen Raum mit Fenstern auf zwei Seiten und am entfernteren Ende ein halbes Dutzend über ihre Bänke gebeugte Mädchen, die in dem durch die Fenster hereinfallenden Lichte nähten. Sie sangen zusammen: »Zwei Mädchen klein in Blau.« Als sie die Tür sich öffnen hörten, wandten sie sich um und sahen Herrn Pappleworth und Paul von dem ihnen abgelegenen Ende aus auf sie herniederblicken. Sie hörten mit ihrem Gesang auf.
»Könnt Ihr nicht etwas weniger Lärm machen?« sagte Herr Pappleworth. »Die Leute denken ja, wir hielten Katzen.«
Ein verwachsenes Frauenzimmer auf einem hohen Stuhl drehte ihr langes, eigentümlich schweres Gesicht zu Herrn Pappleworth herum und sagte in tiefem Alt: »Dann sinds aber lauter Kater.«
Vergeblich bemühte sich Herr Pappleworth, Pauls wegen Eindruck zu machen. Er ging die Stufen in den Fertigstellungsraum hinunter und trat zu der verwachsenen Fanny. Sie hatte auf ihrem hohen Stuhl einen so kurzen Körper, daß ihr Kopf mit seinen großen Flächen hellbraunen Haares übergroß erschien, ebenso wie ihr blasses, schweres Gesicht. Sie trug ein grünes Kaschmirkleid, und man sah ihre Handgelenke aus den engen Ärmeln dünn und flach heraustreten, als sie ihre Arbeit gereizt hinlegte. Er zeigte ihr etwas Verkehrtes an einem Knieschützer.
»Ja,« sagte sie, »dann brauchen Sie doch nicht zu mir zu kommen und mir Vorwürfe zu machen. Meine Schuld ists doch nicht.« Die Farbe stieg ihr in die Wangen.
»Ich habe ja gar nicht gesagt, daß es Ihre Schuld ist. Wollen Sie es so machen, wie ich gesagt habe?« erwiderte Herr Pappleworth kurz.
»Sie sagen nicht, daß es meine Schuld ist, aber Sie möchten gern, daß es so aussähe,« rief die Verwachsene, fast in Tränen. Dann riß sie ihrem ›Meister‹ den Knieschützer weg und sagte: »Ja, ich will es wohl so machen, aber Sie brauchen nicht so bissig zu sein.«
»Hier ist Ihr neuer Junge,« sagte Herr Pappleworth.
Fanny wandte sich um und lächelte Paul milde zu: »Oh!« sagte sie.
»Ja; nun verweichlichen Sie ihn nicht zu sehr hier unten.«
»Wir verweichlichen schon niemand,« sagte sie ärgerlich.
»Denn komm, Paul!« sagte Herr Pappleworth.
» Au revoy, Paul!« sagte eins der Mädchen.
Allgemeines quiekendes Lachen. Paul ging tieferrötend, ohne ein Wort gesagt zu haben.
Der Tag war sehr lang. Den ganzen Morgen kamen die Arbeiter, um mit Herrn Pappleworth zu sprechen. Paul schrieb oder lernte Pakete fertigmachen für die Mittagspost. Um eins oder vielmehr ein Viertel vor eins verschwand Herr Pappleworth, um seinen Zug zu erreichen: er lebte in einem Vorort. Um ein Uhr nahm Paul mit einem Gefühl gänzlichen Verlassenseins seinen Frühstückskorb mit in den Lagerraum im Erdgeschoß, wo der lange Tisch auf Böcken stand, und verzehrte sein Essen in größter Eile, ganz allein in diesem düsteren, verlassenen Keller. Dann ging er aus. Die Halle und die Freiheit der Straßen machten ihn ganz abenteuerlustig und glücklich. Aber um zwei Uhr war er wieder in der Ecke des großen Raumes. Bald trabten auch die Arbeiterinnen unter allerlei Bemerkungen hinter ihm her. Es waren gewöhnlichere Mädchen, die oben an den schwereren Sachen wie Bruchbändern und Fertigstellung künstlicher Glieder arbeiteten. Er wartete auf Herrn Pappleworth, weil er nicht wußte, was er tun sollte, und saß da und kritzelte auf dem gelben Bestellungspapier herum. Herr Pappleworth kam zwanzig Minuten vor drei. Dann setzte er sich und plauderte mit Paul, wobei er den Jungen vollständig als ebenbürtig behandelte, selbst in bezug auf sein Alter.
Nachmittags war nie viel zu tun, falls es nicht gegen den Wochenschluß ging und die Abrechnungen fertiggemacht werden mußten. Um fünf zogen alle Mann hinunter in das Verlies mit dem langen Tisch auf seinen Böcken und bekamen dort Tee, wozu sie ihr Butterbrot von den bloßen, schmutzigen Planken aßen und mit der gleichen, häßlichen Hast und Lodderigkeit redeten, mit der sie aßen. Und doch war oben die sie umgebende Luft heiter und klar. Der Keller und die Böcke machten es.
Nach dem Tee, als alle Gasflammen angezündet waren, ging die Arbeit etwas frischer. Die große Abendpost mußte abgesandt werden. Die Strumpfwaren kamen warm und frisch geplättet aus den Arbeitsräumen herauf. Paul hatte seine Rechnungen ausgeschrieben. Nun mußte er Pakete machen und adressieren, dann hatte er das Gewicht seiner Packen auf den Wagen festzustellen. Überall riefen Stimmen Gewichte aus, ertönte ein Klingen von Metall, das rasche Schnappen von Bindfaden, das Eilen zu dem alten Herrn Melling nach Briefmarken. Und schließlich kam der Postmann mit seinem Sack, lachend und vergnügt. Dann flaute alles ab, und Paul nahm seinen Frühstückskorb und lief zum Bahnhof, um den Acht-Uhr-Zwanzig-Zug zu erreichen. Der Tag in der Werkstätte war genau zwölf Stunden lang.
Seine Mutter saß und wartete auf ihn in ziemlicher Angst. Von Keston aus mußte er gehen, und war daher nicht vor zwanzig Minuten vor neun zu Hause. Und er verließ das Haus vor sieben Uhr morgens. Frau Morel sorgte sich recht um seine Gesundheit. Aber sie selbst hatte sich mit so vielem abzufinden, daß sie von ihren Kindern dasselbe erwartete. Sie mußten durchmachen, was da kam. Und Paul blieb bei Jordan, wenn er auch die ganze Zeit, die er dort war, unter der Dunkelheit und dem Luftmangel und den langen Stunden litt.
Blaß und müde trat er ein. Seine Mutter sah ihn an. Sie sah, er war ziemlich zufrieden, und ihre Sorge schwand.
»Nun, wie wars?« fragte sie.
»Oh, sehr spaßhaft, Mutter,« erwiderte er. »Man braucht kein bißchen schwer zu arbeiten, und sie sind nett gegen einen.«
»Und bist du ordentlich weiter gekommen?«
»Ja; bloß meine Schrift wäre schlecht, sagen sie. Aber Herr Pappleworth – das ist mein Mann – sagte zu Herrn Jordan, ich würde schon zurechtkommen. Ich bin Stricker, Mutter; du mußt mal kommen und dir das ansehen. Es ist riesig nett.«
Bald hatte er das Jordansche Geschäft sehr gern. Herr Pappleworth, der einen gewissen Wirtshausduft an sich hatte, war immer ganz natürlich gegen ihn und behandelte ihn als Kameraden. Zuweilen war der Strickmeister gereizt und kaute mehr Gummi als sonst. Aber selbst dann war er nie beleidigend, sondern nur einer von den Leuten, die sich selbst durch ihre Reizbarkeit mehr schaden als anderen.
»Bist du noch nicht damit fertig?« konnte er dann rufen. »Los, wollen mal einen Monat Sonntage machen.«
Ein andermal, und Paul konnte ihn dann am wenigsten verstehen, war er zu Scherzen geneigt und guter Laune.
»Morgen bringe ich meine kleine Yorkshire-Terrierhündin mit,« sagte er frohlockend zu Paul.
»Was ist ein Yorkshire-Terrier?«
»Weißt du nicht, was ein Yorkshire-Terrier ist? Du weißt nicht, was ein Yorkshire ,...« Herr Pappleworth war starr.
»Ist das so'n kleiner seidiger – so eisen- und rostig-silbrigfarbiger?«
»Richtig, mein Junge. Sie ist 'ne Perle. Sie hat schon für fünf Pfund Junge gehabt, und sie selbst ist über sieben Pfund wert; und sie wiegt keine fünf Viertel Pfund.«
Am anderen Morgen kam die Hündin. Sie war ein zittriges, jammervolles Klümpchen Unglück. Paul machte sich nichts aus ihr; sie sah zu sehr aus wie ein nasser Lumpen, der niemals trocken werden würde. Dann kam ein Mann, der sah nach ihr und begann grobe Späße zu machen. Aber Herr Pappleworth nickte mit dem Kopfe in der Richtung nach dem Jungen, und die Unterhaltung lief mit gedämpfter Stimme weiter.
Herr Jordan unternahm noch einen Ausflug, um Paul zu beobachten, und dabei war das einzige, was er auszusetzen hatte, daß der Junge seine Feder auf den Tisch legte.
»Steck dir die Feder hinters Ohr, wenn du ein ordentlicher Gehilfe werden willst. Feder hinters Ohr!« Und eines Tages sagte er zu dem Jungen: »Warum hältst du die Schultern nicht grader? Komm mal mit runter!« – und er nahm ihn mit in den Glasverschlag und rüstete ihn mit einem Paar besonderer Hosenträger aus, um seine Schultern grade zu halten.
Die Mädchen mochte Paul aber am liebsten. Die Männer kamen ihm gewöhnlich vor und ziemlich dumm. Er mochte sie wohl leiden, aber sie fesselten ihn nicht. Polly, die frische kleine Aufseherin unten, fand Paul beim Essen im Keller und fragte ihn, ob sie ihm nicht etwas auf ihrem kleinen Ofen kochen könnte. Am nächsten Tage gab seine Mutter ihm ein Gericht mit, das aufgewärmt werden konnte. Er brachte es zu Polly in das saubere, nette Zimmer. Und bald war es ein feststehender Brauch, daß er mit ihr zusammensaß. Wenn er morgens um acht kam, brachte er ihr seinen Korb, und wenn er um eins herunterkam, hatte sie sein Essen fertig.
Er war nicht sehr groß, und blaß, mit dichtem, kastanienbraunem Haar, unregelmäßigen Zügen und einem breiten, vollen Mund. Sie war wie ein kleiner Vogel. Er nannte sie oft sein »Rotkehlchen«. Obgleich von Hause aus still, konnte er doch sitzen und stundenlang mit ihr reden, indem er ihr von Hause vorerzählte. Die Mädchen hörten ihn alle gern reden. Oft versammelten sie sich in einem kleinen Kreise um ihn, während er auf einer Bank saß und ihnen unter Lachen etwas vorpredigte. Einige hielten ihn für ein wunderliches kleines Wesen, so ernsthaft und doch so klug und fröhlich und immer so zartfühlend im Umgang mit ihnen. Sie mochten ihn alle gern, und er betete sie an. Polly, das fühlte er, war er ganz ergeben. Dann war Connie da, mit ihrer Mähne roten Haares, ihrem Apfelblütengesicht, ihrer murmelnden Stimme, die völlig als Dame erschien und in ihrem schäbigen schwarzen Kleide auf seinen romantischen Sinn wirkte.
»Wenn Sie so sitzen und haspeln,« sagte er, »dann sieht das aus, als säßen Sie an einem Spinnrad – zu hübsch sieht das aus. Sie erinnern mich immer an Elaine in den ›Idyllen vom König‹. Ich möchte Sie wohl zeichnen, wenn ich könnte.«
Und sie sah ihn unter scheuem Erröten an. Und späterhin machte er einmal eine Skizze, die er sehr hochhielt –: Connie auf einem Schemel vor ihrem Spinnrad, ihre Mähne roten Haares über ihren alten schwarzen Rock fließend, ihren roten Mund geschlossen und ernsthaft, wie sie einen scharlachroten Faden vom Wocken auf die Spindel laufen läßt.
Mit Louie, der hübschen, frechen, die ihm immer ihre Hüfte entgegenzuschieben schien, scherzte er für gewöhnlich.
Emma war ziemlich häßlich, ziemlich alt und herablassend. Aber sich gegen ihn herabzulassen, beglückte sie, und so machte er sich nichts draus.
»Wie setzen Sie eine Nadel ein?« fragte er.
»Geh weg und stör mich nicht.«
»Ich muß aber doch wissen, wie man eine neue Nadel einsetzt.«
Sie arbeitete die ganze Zeit über stramm auf ihre Maschine los.
»Du mußt noch viel lernen,« erwiderte sie.
»Dann sagen Sie mir doch, wie man sie in die Maschine steckt.«
»Oh, was ist der Junge für'n Quälgeist! Wie? so, so macht man das.«
Er sah ihr aufmerksam zu. Plötzlich ertönte eine Pfeife. Dann erschien Polly und sagte mit klarer Stimme: »Herr Pappleworth möchte mal wissen, Paul, wie lange du hier unten noch mit den Mädchen herumspielen willst.«
Paul flog nach oben, ihnen ein »Lebewohl« zurufend, und Emma setzte sich wieder zurecht.
»Ich wollte ihn hier gar nicht an der Maschine herumspielen lassen,« sagte sie.
In der Regel lief er, wenn die Mädchen alle um zwei Uhr wiederkamen, nach oben zu Fanny, der Verwachsenen, im Fertigstellungsraum. Herr Pappleworth erschien nicht vor zwanzig Minuten vor drei, und oft fand er seinen Jungen neben Fanny sitzend, redend oder zeichnend – oder mit den Mädchen singend.
Häufig pflegte Fanny nach minutenlangem Zaudern anzufangen zu singen. Sie hatte eine schöne, tiefe Altstimme. Alle fielen in den Kehrreim ein, und es ging fein. Paul war binnen kurzem ganz und gar nicht verlegen, wenn er so mit dem halben Dutzend Mädchen bei ihrer Arbeit saß.
War das Lied zu Ende, dann pflegte Fanny zu sagen: »Ich weiß, ihr habt wieder über mich gelacht.«
»Sei doch nicht so zimperlich, Fanny!« rief eins der Mädchen. Einmal kam die Rede auf Connies rotes Haar.
»Fannys ist schöner, nach meiner Meinung,« sagte Emma.
»Ihr braucht mich auch nicht immer zum Narren zu haben,« sagte Fanny unter tiefem Erröten.
»Nein, aber es ist es wirklich, Paul; sie hat wunderschönes Haar.«
»Es ist ein wahrer Farbenschmaus,« sagte er. »So 'ne kalte Farbe, und doch glänzend. Es ist wie Moorwasser.«
»Liebe Güte!« rief lachend eins der Mädchen.
»An mir hat jeder was auszusetzen,« sagte Fanny.
»Aber du solltest es mal lose sehen, Paul,« rief Emma ganz ernsthaft. »Es ist einfach wundervoll. Mach es doch mal auf, Fanny, ihm zuliebe, wenn er mal was malen will.«
Fanny wollte nicht, und hätte es doch zu gern getan.
»Dann mache ich es selbst auf,« sagte der Junge.
»Ja, meinetwegen,« sagte Fanny.
Und vorsichtig zog er die Nadeln aus dem Knoten, und die Haarflut glitt in einer einförmigen Masse über den verwachsenen Rücken hinab.
»Was für 'ne herrliche Fülle!« rief er aus.
Die Mädchen sahen zu. Es herrschte Schweigen. Der Junge schüttelte das Haar lose auseinander.
»Prachtvoll ist es!« sagte er und zog seinen Duft ein. »Ich wette, das ist Pfunde wert.«
»Ich werde es dir vermachen, wenn ich sterbe, Paul,« sagte Fanny halb im Scherz.
»Du siehst wie jede andere aus, die sitzt und sich die Haare trocknet,« sagte eins der Mädchen zu der langbeinigen Verwachsenen.
Die arme Fanny war krankhaft empfindlich und bildete sich immer Beleidigungen ein. Polly war kurz und geschäftsmäßig. Die beiden Abteilungen lagen in ewiger Fehde, und Paul fand Fanny immer in Tränen. Dann machte sie ihn zum Bewahrer all ihres Wehs, und er mußte ihre Sache gegen Polly verfechten.
So ging die Zeit ganz glücklich hin. Die Werkstätte hatte etwas Anheimelndes. Niemand wurde gehetzt oder getrieben. Paul freute sich immer, wenn die Arbeit schneller lief, gegen die Postzeit und alle Leute zusammen arbeiteten. Gern sah er seinen Mitgehilfen bei ihrer Arbeit zu. Der Mann war das Werk und das Werk der Mann, eins für alle Zeit. Mit den Mädchen war es etwas anderes. Die wirkliche Frau schien nie ganz bei ihrer Aufgabe zu sein, sondern wie abseits, wartend.
Bei der Heimfahrt pflegte er nachts vom Zuge aus die Lichter der Stadt zu beobachten, dicht über den Hügel verstreut, in den Tälern zu einem Glast verschmelzend. Er empfand sein Leben reich und glücklich. Auf der weiteren Fahrt kam bei Bullwell eine Lichtergruppe, wie unzählige Blütenblätter von den Sternen herab über den Erdboden ausgestreut; und darüber hinaus kam dann die rote Glut der Hochöfen, wie ein heißer Atem über die Wolken hinspielend.
Von Keston aus hatte er zwei oder mehr Meilen nach Hause zu gehen, zwei lange Hügel hinauf, zwei kurze hinunter. Oft war er müde und zählte dann die Lampen vor sich beim Aufwärtsklimmen des Hügels, an wie vielen er noch vorbei müsse. Und vom Gipfel des Hügels blickte er in pechdunklen Nächten nach den fünf oder sechs Meilen entfernten Dörfern aus, die wie Schwärme glitzernder Lebewesen erschienen, fast wie ein zu seinen Füßen liegender Himmel, Marlpool und Heanor übersprenkelten die ferne Dunkelheit mit Glanz. Und gelegentlich wurde der schwarze Talraum dazwischen auch einmal durchschnitten, vergewaltigt durch einen großen Zug, der südlich nach London oder nördlich nach Schottland sauste. Die Züge brüllten an ihm vorüber wie auf die Dunkelheit gerichtete, flachfliegende Geschosse, rauchend und brennend, und erfüllten das Tal bei ihrem Durchflug mit Getöse. Fort waren sie, und die Lichter der Städte und Dörfer glitzerten in Schweigen weiter.
Und dann kam er zu Hause an die Ecke, wo er der anderen Seite der Nacht ins Antlitz blickte. Der Eschenbaum erschien ihm jetzt wie ein Freund. Seine Mutter stand voller Frohsinn auf, sobald er eintrat. Stolz legte er seine acht Schilling auf den Tisch.
»Hilft das mit, Mutter?« fragte er nachdenklich.
»Es bleibt wenig genug über,« antwortete sie, »wenn deine Fahrkarte und das Essen und dergleichen davon abgehen.«
Dann erstattete er seinen Tagesbericht. Wie Tausendundeine Nacht wurde seine Lebensgeschichte Abend für Abend seiner Mutter erzählt. Es war fast, als wäre es ihr eigenes Leben.