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Elftes Kapitel. Miriams Erprobung

Mit dem Frühling kam der alte Irrsinn und Kampf wieder. Nun wußte er, er würde zu Miriam gehen müssen. Aber was hielt ihn zurück? Er sagte sich, es sei eine Art übermäßiger Jungfräulichkeit in ihr und ihm, die sie beide nicht durchbrechen könnten. Er hätte sie heiraten können; aber seine häuslichen Verhältnisse machten das schwierig, und überdies wünschte er gar nicht zu heiraten. Die Ehe galt fürs Leben, und nur weil sie, er und sie, enge Gefährten geworden waren, sah er gar nicht ein, daß sie deshalb auch unvermeidlich Mann und Frau werden müßten. Er hatte nicht das Gefühl, daß er sich nach der Ehe mit Miriam sehnte. Er wünschte, er täte es. Er hätte seinen Kopf drum gegeben, hätte er eine fröhliche Begierde empfunden, sie zu heiraten und zu besitzen. Warum konnte er es denn aber nicht dazu bringen? Da lag etwas im Wege; und was war das? Es lag in der körperlichen Abhängigkeit. Er schrak vor der körperlichen Berührung zurück. Aber warum? Bei ihr fühlte er sich innerlich gefesselt. Er konnte in ihrer Gegenwart nicht aus sich heraus. Es kämpfte etwas in seinem Innern, aber er konnte nicht zu ihr gelangen. Warum nicht? Sie liebte ihn. Clara sagte sogar, sie wolle ihn haben; warum konnte er dann nicht zu ihr gehen, ihr seine Liebe zeigen, sie küssen? Warum fühlte er sich, sobald sie beim Spazierengehen zaghaft ihren Arm in den seinen legte, als müsse er in Roheit und Widerwillen ausbrechen? Er gehörte ihr doch; er wünschte ihr anzugehören. Vielleicht war der Abscheu und das Zurückschrecken vor ihr nur Liebe in ihrer ersten wilden Bescheidenheit. Er besaß ja keinen Widerwillen gegen sie. Nein, ganz im Gegenteil; eine starke Sehnsucht nach dem Kampf mit einer noch stärkeren Scheu und Jungfräulichkeit. Es schien, die Jungfräulichkeit war eine bejahende Kraft, die in ihnen beiden focht und siegte. Und in ihrer Gegenwart war sie so schwer zu besiegen; und doch stand er ihr am nächsten, und mit ihr allein konnte er auf überlegte Weise durchbrechen. Und er fühlte, daß er ihr gehörte. Brächten sie die Dinge also in Ordnung, dann könnten sie auch heiraten; aber nie würde er heiraten, wenn er sich nicht stark in der Freude darüber fühlte – niemals. Er hätte seiner Mutter nicht ins Gesicht sehen können. Es schien ihm, sich in einer ungewünschten Ehe aufzuopfern würde ihn erniedrigen und würde sein ganzes Leben auflösen, es zunichte machen. Er wollte versuchen, was er vermöchte.

Und er empfand eine große Zärtlichkeit gegen Miriam. Sie war immer traurig, träumte in ihrem Gottesglauben; und er war ihr beinahe ein Gottesglauben. Er hätte es nicht ertragen, sie zu enttäuschen. Wenn sie es nur versuchten, würde schon alles zurecht kommen.

Er sah sich um. Eine ganze Menge der nettesten Leute unter seinen Bekannten waren gleich ihm durch ihre Jungfräulichkeit gebunden, aus der sie sich nicht losbrechen konnten. Sie waren gegen ihre Freundinnen so empfindsam, daß sie lieber auf ewig ohne sie gegangen wären, als daß sie sie verletzt hätten, ihnen Unrecht getan hätten. Als Söhne von Müttern, deren Gatten recht roh durch das Heiligtum ihrer Weiblichkeit hindurchgestolpert waren, waren sie selbst zu mißtrauisch gegen sich, zu scheu. Es wurde ihnen leichter, sich selbst zu verleugnen als sich irgendeinen Vorwurf von seiten einer Frau zuzuziehen; denn in jeder Frau sahen sie ihre Mutter, und sie waren zu sehr erfüllt von Empfindungen für ihre Mutter. Sie wollten lieber selbst das Elend der Ehelosigkeit auf sich nehmen, als dem andern Teil ein Wagnis zumuten.

Er ging wieder zu ihr. Wenn er sie ansah, brachte etwas in ihr ihm beinahe die Tränen in die Augen. Eines Tages stand er hinter ihr, als sie sang. Annie spielte ein Lied auf dem Klavier. Während Miriam sang, schien ihr Mund so ohne jede Hoffnung. Sie sang, wie eine Nonne zum Himmel singt. Es erinnerte ihn so sehr an Mund und Augen einer, die neben einer Botticellischen Mutter Gottes steht und singt, so vergeistigt. Und wieder schoß der Schmerz heiß wie Stahl in ihm empor. Warum mußte er sie auch um das andere bitten? Warum lag sein Blut im Kampfe mit ihr? Hätte er nur immer sanft und zärtlich gegen sie sein können, immer nur die Luft der Schwärmerei und gottesseliger Traumgesichte mit ihr atmen können, er hätte seine rechte Hand drum gegeben. Es war nicht recht, sie zu verletzen. Eine ewige Jungfräulichkeit schien über ihr zu liegen; und wenn er an ihre Mutter dachte, sah er die großen braunen Augen einer Jungfrau vor sich, die aus ihrer Jungfrauenschaft fast herausgeschreckt und gestoßen worden war, aber doch nicht ganz trotz ihrer sieben Kinder. Sie waren geboren worden, fast ohne daß sie dabei beteiligt gewesen wäre, nicht von ihr, sondern zu ihr. So konnte sie sie nie von sich lassen, weil sie sie nie besessen hatte.

Frau Morel sah ihn wieder häufig zu Miriam gehen und war erstaunt. Er sagte nichts zu seiner Mutter. Er erklärte sich ihr weder, noch entschuldigte er sich vor ihr. Kam er spät nach Hause und tadelte sie ihn, so runzelte er die Stirn und wandte sich in einer überheblichen Art zu ihr:

»Ich komme nach Hause, wann es mir paßt,« sagte er; »ich bin alt genug.«

»Muß sie dich denn so lange halten?«

»Ich bin derjenige, der dableibt,« antwortete er.

»Und sie läßt dich? Na schön,« sagte sie.

Und sie ging zu Bett und ließ die Tür unverschlossen für ihn; aber sie lag und horchte, bis er da war, und oft noch viel länger. Es war ihr ein großer Schmerz, daß er zu Miriam zurückgekehrt war. Sie erkannte jedoch die Nutzlosigkeit jeder weiteren Einmischung. Er ging nach dem Willeyhofe als Mann nun, nicht mehr als Jüngling. Sie besaß kein Recht über ihn. Es herrschte zwischen ihm und ihr Kühle. Er erzählte ihr kaum irgend etwas. Beiseite geschoben wartete sie ihm auf, kochte für ihn, und liebte es, ihm Sklavendienste zu leisten; aber ihr Gesicht verschloß sich wie eine Larve. Für sie gab es jetzt nichts mehr zu tun als Hausarbeit; um alles andere war er zu Miriam gegangen. Sie konnte ihm nicht vergeben. Miriam ertötete die Fröhlichkeit und die Wärme in ihm. Er war ein so fröhlicher Bursche gewesen, so voll wärmster Zuneigung; nun wurde er kälter, immer reizbarer und düsterer. Das erinnerte sie an William; aber Paul war schlimmer. Er tat alles innerlicher, mit größerer Klarheit über das, was er vorhatte. Seine Mutter begriff, er leide unter der Sehnsucht nach dem Weibe, und sah ihn zu Miriam gehen. Hatte er sich einmal entschlossen, so änderte nichts auf Erden ihn mehr. Frau Morel wurde müde. Sie begann schließlich nachzugeben; sie war am Ende. Sie stand im Wege.

Er ging entschlossen weiter. Er wurde sich mehr und mehr darüber klar, was seine Mutter fühlte. Das verhärtete seine Seele nur. Er wurde ihr gegenüber dickfellig; aber das war, als würde er dickfellig gegen seine eigene Gesundheit. Es untergrub ihn rasch; und doch verharrte er dabei.

Eines Abends auf dem Willeyhofe lehnte er sich in den Schaukelstuhl zurück. Er hatte schon ein paar Wochen lang mit Miriam geredet, war aber immer noch nicht auf den springenden Punkt gekommen. Nun sagte er plötzlich:

»Ich bin fast vierundzwanzig.«

Sie saß brütend. Plötzlich sah sie voller Überraschung zu ihm auf.

»Ja. Warum sagst du das?«

In der überladenen Luft lag etwas, was sie fürchtete.

»Sir Thomas Moore sagt, mit vierundzwanzig kann man heiraten.«

Sie lachte sonderbar, als sie sagte:

»Bedarf das Sir Thomas Moores Zustimmung?«

»Nein; aber man sollte dann ungefähr heiraten.«

»Ja,« antwortete sie nachdenklich, und wartete.

»Ich kann dich nicht heiraten,« fuhr er langsam fort, »jetzt nicht, weil wir kein Geld haben und weil sie zu Hause auf mich angewiesen sind.«

Sie saß und erriet halb, was nun kommen würde.

»Ich möchte aber jetzt heiraten ,...«

»Du möchtest heiraten?« wiederholte sie.

»Eine Frau – du weißt wohl, was ich meine.«

Sie schwieg.

»Nun muß ich, endlich,« sagte er.

»Ja,« antwortete sie.

»Und du hast mich lieb?«

Sie lachte bitter.

»Warum schämst du dich deswegen,« antwortete er. »Du würdest dich doch vor Gott nicht schämen, warum also vor den Menschen?«

»Nein,« antwortete sie tief. »Ich schäme mich nicht.«

»Du tust es doch,« antwortete er bitter; »und das ist meine Schuld. Aber du weißt ja, ich kann nichts dafür, daß ich so bin – wie ich bin – nicht wahr?«

»Ich weiß, du kannst nichts dafür,« erwiderte sie.

»Ich liebe dich ganz schrecklich – und dann fehlt da so etwas.«

»Wo?« antwortete sie und sah ihn an.

»Oh, in mir selbst! Ich müßte mich schämen – wie ein geistig Verkrüppelter. Und ich schäme mich auch. Es ist ein Jammer. Warum das alles?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte Miriam.

»Und ich auch nicht,« wiederholte er. »Findest du nicht, wir sind in unserer sogenannten Reinheit zu weit gegangen? Meinst du nicht, so bange davor zu sein und sich so davor zu scheuen, ist eine Art Schmutzigkeit?«

Sie blickte ihn mit verstörten dunklen Augen an.

»Du schrakst vor allem Derartigen zurück, und ich nahm dies Gefühl von dir an und schrak auch davor zurück, vielleicht schlimmer noch.«

Eine Zeitlang herrschte nun Schweigen im Zimmer.

»Ja« sagte sie, »so ist es.«

»So«, sagte er, »ist es alle diese Jahre unserer Vertraulichkeit zwischen uns gewesen. Ich komme mir nackt vor vor dir. Verstehst du mich?«

»Ich glaube,« antwortete sie.

»Und du hast mich lieb?«

Sie lachte.

»Sei nicht so bitter,« flehte er.

Sie sah ihn an, und er tat ihr leid, seine Augen waren dunkel vor Qual. Er tat ihr leid; für ihn war es schlimmer, sich mit dieser vom rechten Wege abgedrängten Liebe abfinden zu müssen, als für sie, die doch nie den richtigen Gefährten finden würde. Er war ruhelos, drängte ewig vorwärts und suchte immer noch einen Ausweg. Mochte er tun, was ihm gefiel, und von ihr nehmen, was er wollte.

»Ach nein,« sagte sie milde, »ich bin nicht bitter.«

Sie fühlte, sie könne jetzt alles um seinetwillen ertragen; sie wollte seinetwegen leiden. Sie legte ihm die Hand aufs Knie, als er sich in seinem Stuhle vornüberbeugte. Er nahm sie und küßte sie, aber schon dies tat ihm weh. Er fühlte, er schob sich damit beiseite. Er saß da als Opfer ihrer Reinheit, die ihm mehr als Nichtigkeit vorkam. Wie konnte er ihr leidenschaftlich die Hand küssen, wenn dies sie forttreiben mußte, ihr nur Schmerzen hinterließ? Und doch zog er sie langsam an sich und küßte sie.

Sie kannten einander zu gut, um sich etwas vorzumachen. Während sie ihn küßte, beobachtete sie seine Augen; sie stierten durchs Zimmer, mit einer schwarzen, sonderbaren Glut, die sie bezauberte. Er war völlig stumm. Schwer konnte sie das Herz in seiner Brust schlagen hören.

»Woran denkst du?« fragte sie.

Die Glut in seinen Augen erzitterte, wurde unsicher.

»Ich dachte die ganze Zeit über, wie ich dich liebe. Ich bin halsstarrig gewesen.«

Sie ließ den Kopf an seine Brust sinken.

»Ja,« antwortete sie.

»Das ist alles,« sagte er, und seine Stimme schien sicher, und sein Mund küßte ihre Kehle.

Da hob sie den Kopf und sah ihm mit einem vollen Liebesblick in die Augen. Die Glut zitterte, schien sich von ihr lösen zu wollen, und erlosch dann. Er wandte seinen Kopf rasch zur Seite. Es war ein Augenblick der Angst.

»Küsse mich,« flüsterte sie.

Er schloß die Augen und küßte sie, und seine Arme umschlangen sie enger und enger.

Als sie mit ihm über die Felder nach Hause ging, sagte er:

»Ich freue mich so, daß ich wieder zu dir gekommen bin. Mit dir zusammen fühle ich mich so einfach – als hätte ich nichts zu verbergen. Wollen wir glücklich sein?«

»Ja,« sagte sie, und die Tränen traten ihr in die Augen.

»Irgendeine Verdrehtheit unserer Seelen«, sagte er, »läßt uns das, wonach wir uns sehnen, nicht nur nicht wünschen, sondern ihm gradezu entfliehen. Dagegen müssen wir ankämpfen.«

»Ja,« sagte sie und fühlte sich wie betäubt.

Als sie unter dem hängenden Dornbusch stand, in der Dunkelheit neben dem Wege, da küßte er sie, und seine Finger wanderten über ihr Gesicht hin. In der Dunkelheit, wo er sie nicht sehen, sondern nur fühlen konnte, überflutete ihn die Leidenschaft. Er preßte sie eng an sich.

»Du wirst mich einmal hinnehmen?« murmelte er, sein Gesicht an ihrer Schulter verbergend. Es war so schwierig.

»Nicht jetzt,« sagte sie.

Seine Hoffnung sank mit seinem Herzen. Abgespanntheit kam über ihn.

»Nein,« sagte er.

Sein Griff ließ nach.

»Ich fühle deinen Arm da so gern,« sagte sie, seinen Arm gegen ihren Rücken drückend, wo er um ihre Hüfte lag. »Das gibt mir eine solche Ruhe.«

Er preßte ihr seinen Arm stärker ins Kreuz, um ihr Ruhe zu geben.

»Wir gehören zueinander,« sagte er.

»Ja.«

»Warum sollten wir dann nicht einander ganz angehören?«

»Aber ,...« stotterte sie.

»Ich weiß, es ist eine große Bitte,« sagte er; »aber tatsächlich wagst du ja nicht sehr viel – nicht in der Gretchen-Art. Da kannst du mir doch trauen?«

»Oh, trauen kann ich dir.« Die Antwort kam rasch und stark. »Das ist es nicht – das ists ganz und gar nicht – aber ,...«

»Was denn?«

Mit einem leisen Jammerschrei barg sie ihr Gesicht an seinem Halse.

»Ich weiß nicht!« rief sie.

Sie schien etwas überreizt, aber vor einer Art Schrecken. Sein Herz erstarb.

»Du hältst es doch nicht für häßlich?« fragte er.

»Nein, jetzt nicht mehr. Du hast mich gelehrt, daß es das nicht ist.«

»Bist du denn bange?«

Sie beruhigte sich schnell.

»Ja, ich bin nur bange,« sagte sie.

Er küßte sie zärtlich.

»Na ja,« sagte er. »Du sollst es machen, wie du willst.«

Plötzlich umschlang sie ihn mit den Armen und reckte ihren Körper steif auf.

»Du sollst mich haben,« sagte sie durch ihre geschlossenen Zähne.

Sein Herz schlug wieder hoch empor wie ein Brand. Er umschlang sie eng, und sein Mund lag auf ihrer Kehle. Sie konnte es nicht ertragen. Sie entzog sich ihm. Er ließ sie los.

»Wirds nicht zu spät für dich?« fragte sie sanft.

Er seufzte und hörte kaum, was sie sagte. Sie wartete in der Hoffnung, er werde gehen. Zuletzt küßte er sie rasch und kletterte über den Zaun. Beim Zurückblicken sah er den blassen Fleck ihres Gesichts in der Dunkelheit unter dem überhängenden Baum. Nichts war mehr übrig von ihr als dieser blasse Fleck.

»Lebe wohl!« rief sie weich. Sie besaß keinen Körper mehr, nur noch eine Stimme und ein schwachleuchtendes Gesicht. Er wandte sich um und lief die Straße hinunter, mit geballten Fäusten; und als er an die Mauer über dem See kam, lehnte er sich fast betäubt gegen sie und blickte in das dunkle Wasser hinab.

Miriam flog heim über die Wiesen. Sie fürchtete sich nicht vor den Menschen, was die sagen möchten; aber sie fürchtete sich vor dem Ausgang mit ihm. Ja, sie wollte ihn sie hinnehmen lassen, wenn er darauf bestand; und wenn sie dann nachher daran dachte, dann sank ihr Herz. Er würde enttäuscht sein, würde keine Befriedigung finden, und dann würde er fortgehen. Und doch drängte er so; und hierüber, was ihr doch gar nicht so allbedeutend vorkam, sollte ihre Liebe niederbrechen. Schließlich war er doch nur wie andere Männer auch, suchte nur seine Befriedigung. Oh, aber es lag doch noch etwas mehr in ihm, etwas Tieferes! Dem konnte sie vertrauen, all seinen Begierden zum Trotz. Er sagte, dies In-Besitz-nehmen sei ein großer Augenblick im Leben. Alle starken Empfindungen flössen hier zusammen. Vielleicht war dem so. Es war etwas Göttliches darin; dann wollte sie sich ihm unterwerfen, fromm, diesem Opfer. Er sollte sie haben. Und bei dem Gedanken daran krampfte ihr ganzer Körper sich unwillkürlich zusammen, hart, wie zur Abwehr; aber das Leben zwang sie durch diese Pforte des Leides hindurch, und sie wollte sich unterwerfen. Jedenfalls würde es ihm geben, was er sich ersehnte, und das war ihr tiefster Wunsch. So quälte sie sich und quälte sie sich und quälte sich, ihn hinzunehmen.

Er machte ihr nun den Hof wie ein Liebhaber. Oft, wenn er heiß wurde, wandte sie sein Gesicht von sich ab, hielt es zwischen ihren Händen und sah ihm in die Augen. Er konnte ihren Blick nicht ertragen. Ihre dunklen Augen, so voller Liebe, so ernst und suchend, zwangen ihn, sich abzuwenden. Keinen Augenblick lang wollte sie ihn vergessen lassen. Immer wieder hatte er sich ins Bewußtsein seiner und ihrer Verantwortlichkeit zurückzuquälen. Nie sollte er auch nur im geringsten nachlassen, nie sollte er sich dem großen Hunger, der Unpersönlichkeit der Leidenschaft hingeben; immer wieder mußte er zu einem überlegenden, denkenden Geschöpfe gemacht werden. Als wäre es aus einem Schwindel der Leidenschaft, rief sie ihn zur Kleinlichkeit, zu ihren wechselseitigen Beziehungen zurück. Das konnte er nicht ertragen. »Laß mich – laß mich!« wünschte er zu schreien; aber sie wünschte, er möchte sie mit Augen der Liebe ansehen. Seine Augen, voll des dunklen, unpersönlichen Feuers der Begierde, gehörten nicht ihr.

Auf dem Hofe gab es eine große Kirschenernte. Die Bäume hinter dem Hause, sehr groß und hoch, hingen unter den dunklen Blättern dicht voll von scharlachnen und dunkelroten Tropfen. Paul und Edgar pflückten eines Abends die Früchte. Es war ein heißer Tag gewesen, und nun rollten Wolken über den Himmel dahin, dunkel und warm. Paul war hoch in den Baum hineingeklettert, weit über die Scharlachdächer der Gebäude hinaus. Der Wind ließ mit beständigem Seufzen den ganzen Baum in einer leisen, aufregenden Bewegung schwanken, die ihm das Blut aufrührte. Der junge Mann, unsicher in den schlanken Zweigen sitzend, schwankte, bis er sich fast wie betrunken vorkam, zog die Zweige, an denen die scharlachroten Kirschen dicht wie Perlen unten dranhingen, nieder und pflückte Handvoll auf Handvoll der glatten, kühlfleischigen Früchte ab. Kirschen berührten ihm Ohren und Nacken, wenn er sich vorwärtsbeugte, wie kühle Fingerspitzen sandten sie ihm Blitze durchs Blut. Alle Abstufungen von Rot, vom goldigen Zinnober bis zum reichsten Purpur trafen glühend seine Augen unter dem Blätterdunkel.

Die niedergehende Sonne brach plötzlich durch die Wolkenzüge. Riesenhaufen von Gold flammten im Südwesten auf, weiches, glühendes Gelb bis oben in den Himmel hinein aufgehäuft. Die Welt, bis dahin dämmerig und grau, strahlte die goldene Glut nun voller Erstaunen wieder. Überall schienen Bäume und Gras und das ferne Wasser aus dem Zwielicht hervorzutreten und glänzten auf.

Miriam trat voller Verwunderung aus dem Hause.

»Oh!« hörte Paul ihre weiche Stimme ausrufen, »ist das nicht wundervoll?«

Er blickte nach unten. Ein schwacher Goldglanz lag auf ihrem Gesicht, das sehr sanft aussah, zu ihm emporgewandt.

»Wie hoch du bist!« sagte sie.

Neben ihr auf den Rhabarberblättern lagen vier tote Vögel, erschossene Diebe. Paul bemerkte einige völlig gebleichte Kirschkerne wie Gerippe über sich hängen, von denen das Fleisch gänzlich abgepickt war. Er sah wieder zu Miriam hinunter.

»Wolken in Brand!« sagte er.

»Wunderschön!« rief sie.

Sie erschien so klein, so weich, so zart dort unten. Er warf eine Handvoll Kirschen nach ihr. Sie fuhr erschreckt auf. Er lachte mit einem leisen, glucksenden Laut und warf wieder nach ihr. Sie lief nach Deckung und hob ein paar Kirschen auf. Zwei feine rote Paare hängte sie sich über die Ohren; dann sah sie wieder zu ihm empor.

»Hast du noch nicht genug?« fragte sie.

»Beinahe. Es ist genau wie auf einem Schiffe hier oben.«

»Und wie lange bleibst du noch?«

»Wie der Sonnenuntergang dauert.«

Sie trat an den Zaun und setzte sich drauf, während sie die goldenen Wolken in Stücke zerfallen und ihre riesigen, rosenfarbenen Trümmer in der Dunkelheit zergehen sah. Das Gold flammte auf in Scharlach, wie Schmerz in höchster Helligkeit. Dann sank das Scharlach zu Rosa hinab, das Rosa zu Purpur, und rasch verschwand alle Leidenschaft vom Himmel. Die ganze Welt war nun grau. Rasch kletterte Paul mit seinem Korbe nach unten und zerriß sich dabei den Hemdärmel.

»Köstlich sind sie,« sagte Miriam, als sie die Kirschen befühlte.

»Ich hab mir den Ärmel zerrissen,« antwortete er.

Sie faßte den dreieckigen Fetzen und sagte:

»Das muß ich ausbessern.« Es war dicht an der Schulter. Sie steckte ihre Finger durch den Riß. »Wie warm!« sagte sie.

Er lachte. Ein neuer, fremder Klang lag in seiner Stimme, einer, der ihr den Atem versetzte.

»Wollen wir draußen bleiben?« sagte er.

»Wirds nicht regnen?« fragte sie.

»Nein, laß uns etwas gehen.«

Sie gingen die Felder hinunter und in die dichte Kiefern- und Fichtenschonung.

»Wollen wir mal unter die Bäume gehen?« fragte er.

»Möchtest du's gern?«

»Ja.«

Es war sehr dunkel unter den Fichten, und die scharfen Nadeln prickelten ihr Gesicht. Sie war bange. Paul war stumm und seltsam.

»Ich habe die Dunkelheit gern,« sagte er. »Ich wollte, sie wäre noch dichter – gute, dichte Dunkelheit.«

Er schien sie als Einzelwesen gar nicht gewahr zu werden: sie war für ihn jetzt nur das Weib. Sie wurde ängstlich.

Er lehnte sich gegen einen Kiefernstamm und nahm sie in die Arme. Sie überließ sich ihm, aber es war ein Opfer, in dem sie etwas Schreckliches empfand. Dieser schwerfällig redende, alles vergessende Mann war ihr fremd.

Später fing es an zu regnen. Die Kiefernnadeln rochen sehr stark. Paul lag mit dem Kopfe auf dem Boden, auf den toten Kiefernnadeln, und lauschte dem scharfen Zischen des Regens – ein stetiges, schneidendes Geräusch. Sein Herz lag zu Boden, sehr schwer. Nun wurde er gewahr, daß sie die ganze Zeit über nicht bei ihm gewesen war, daß ihre Seele abseits gestanden hatte in einer Art Schrecken. Körperlich hatte er jetzt Ruhe, aber mehr auch nicht. Tief trostlos im Herzen, sehr traurig und sehr zärtlich wanderten seine Finger mitleidig über ihr Gesicht. Nun liebte sie ihn wieder tief. Er war zärtlich und wunderschön.

»Der Regen!« sagte er.

»Ja – trifft er dich?«

Sie führte ihre Hand über ihn hin, über sein Haar, seine Schultern, um zu sehen, ob die Regentropfen ihn träfen. Sie hatte ihn von Herzen lieb. Er fühlte sich nun, mit dem Gesicht in den toten Kiefernnadeln, ungewöhnlich ruhig. Aus den Regentropfen, die ihn trafen, machte er sich nichts: er wäre liegengeblieben und hätte sich durchregnen lassen: er fühlte sich, als wäre nun alles einerlei, als sei sein Leben ins Jenseits hinübergewischt, so nahe und so lieblich. Dies seltsame, sanfte Hinüberreichen in den Tod war ihm neu.

»Wir müssen gehen,« sagte Miriam.

»Ja,« sagte er, regte sich aber nicht.

Das Leben erschien ihm jetzt wie ein Schatten, der Tag wie ein weißer Schatten; Nacht und Tod und Stille und Untätigkeit, die erschienen ihm als Dasein. Zu leben, zu streben und sich abmühen – das hieß Nichtsein. Das Höchste von allem war, in die Dunkelheit zu verschmelzen und dort zu schweben, wesensgleich mit dem großen Urwesen.

»Der Regen dringt zu uns durch,« sagte Miriam.

Er stand auf und half ihr.

»Zu schade,« sagte er.

»Was?«

»Daß wir gehen müssen. Mir ist so stille.«

»Stille!« wiederholte sie.

»Stiller als mir je im Leben gewesen ist.«

Beim Gehen ließ er seine Hand in ihrer. Sie drückte ihm die Finger im Gefühl einer leichten Furcht. Nun schien er ihr fernzustehen; sie hatte ein Gefühl, sie könne ihn verlieren.

»Die Fichten sehen in der Dunkelheit wie Gespenster aus: jeder Baum wie ein Gespenst.«

Sie fürchtete sich und sagte nichts.

»Eine Art Schweigen: die ganze Nacht wundert sich im Schlaf: ich glaube, so gehts uns im Tode – wir schlafen voller Verwunderung.«

Sie war voller Furcht vor dem Tiere in ihm gewesen: nun wurde sie es vor dem Geheimnisvollen. In Schweigen trottete sie neben ihm her. Der Regen fiel mit einem schweren ›H-sch!‹ auf die Bäume nieder. Zuletzt gewannen sie den Wagenschuppen.

»Hier laß uns etwas bleiben,« sagte er.

Überall war das Geräusch des Regens hörbar, alles andere erstickend.

»Ich fühle mich so seltsam und still bei alledem,« sagte er.

»Ja,« antwortete sie geduldig.

Wieder schien er sie gar nicht gewahr zu werden, obgleich er ihre Hand eng umschlossen hielt.

»Unsere Wesenheit loszuwerden, das heißt unseren Willen, der doch unser Streben ist – zu leben ohne zu streben, in einer Art bewußtem Schlaf – das ist sehr schön, glaube ich; das ist unser nachheriges Leben – unsere Unsterblichkeit.«

»Ja?«

»Ja – und ihr Besitz etwas Wunderschönes.«

»Für gewöhnlich sagst du das nicht.«

»Nein.«

Nach einer Weile gingen sie ins Haus. Alle sahen sie neugierig an. Er hatte immer noch den stillen, schweren Blick in den Augen, das Stille in seiner Stimme. Gefühlsmäßig ließen sie ihn alle allein.

*

Etwa um diese Zeit erkrankte Miriams Großmutter, die in einem kleinen Häuschen in Woodlinton lebte, und das Mädchen wurde hingeschickt, um ihr den Haushalt zu führen. Es war ein reizendes kleines Nest. Das Häuschen hatte vorn einen großen Garten, mit roten Backsteinmauern, an denen Pflaumenbäume emporwuchsen. Hinten befand sich ein anderer Garten, von den Feldern durch eine große, alte Hecke getrennt. Er war sehr hübsch. Miriam hatte nicht viel zu tun und fand daher Zeit zu ihrem geliebten Lesen und zum Schreiben kleiner Selbstbekenntnisse, die ihr viel Vergnügen machten.

Zu den Festtagen wurde ihre Großmutter, der es wieder besser ging, auf einen oder zwei Tage zu ihrer Tochter nach Derby gebracht. Sie war eine schwierige alte Dame und möchte vielleicht schon am zweiten oder dritten Tage wieder nach Hause wollen; daher blieb Miriam allein in dem Häuschen, was ihr auch sehr gefiel.

Paul pflegte oft hinüberzuradeln, und in der Regel hatten sie eine friedliche und glückliche Zeit. Er verursachte ihr keine Verlegenheit; aber nun am zweiten Feiertag, dem Montag, wollte er den ganzen Tag bei ihr zubringen.

Das Wetter war vollendet schön. Er ließ seine Mutter allein und erzählte ihr, wo er hinginge. Sie würde den ganzen Tag allein sein. Das warf einen Schatten über ihn; aber er hatte drei Tage vor sich, die völlig ihm gehörten, in denen er tun konnte, was er wollte. Es war entzückend, so auf dem Rade über die morgendlichen Pfade dahinzufliegen.

Er erreichte das Häuschen um elf Uhr etwa. Miriam war mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt. Sie stand so völlig im Einklang mit der kleinen Küche, so rotbackig und strahlend. Er küßte sie und setzte sich dann hin, um ihr zuzusehen. Der Raum war klein und behaglich. Das Sofa war ganz und gar mit einer Art Leinen mit rosa und blaßblauen Vierecken überzogen, alt, recht verwaschen, aber hübsch. Über einem Eckschrank stand unter einer Glasglocke eine ausgestopfte Eule. Der Sonnenschein strömte durch die Blätter der wohlriechenden Geranien im Fenster herein. Sie kochte ihm zu Ehren ein Huhn. Es war ihr Häuschen für heute, und sie waren Mann und Frau. Er schlug Eier für sie und schälte die Kartoffeln. Er fand, sie verlieh ihm ein Heimatgefühl beinahe wie seine Mutter; und niemand hätte schöner aussehen können als sie, mit ihren wilden Locken, wenn sie vom Feuer angestrahlt wurde.

Das Mittagessen war ein großer Erfolg. Wie ein junger Ehemann legte er vor. Die ganze Zeit über unterhielten sie sich mit nie nachlassendem Eifer. Dann trocknete er das Geschirr ab, das sie aufgewaschen hatte, und sie gingen nach draußen, die Felder hinab. Da war ein heller, kleiner Bach, der am Fuße eines sehr steilen Abhanges in ein Moor lief. Hier wanderten sie hin und pflückten noch einige Wiesenringelblumen und eine Menge großer blauer Vergißmeinnicht. Dann setzte sie sich mit den Händen voller Blumen, meist goldene Sumpfdotterblumen, ans Ufer. Als sie ihr Gesicht zu den Ringelblumen niedersenkte, war es ganz überflogen von einem gelblichen Schein.

»Dein Gesicht leuchtet«, sagte er, »wie das einer Verklärten.«

Fragend sah sie ihn an. Er lachte sie bittend an und legte seine Hand auf die ihre. Dann küßte er ihre Finger, dann ihr Gesicht.

Die Welt war ganz in Sonnenschein getaucht und ganz still, und doch nicht schlafend, aber bebend in einer Art von Erwartung.

»Etwas Schöneres als dies habe ich noch nie gesehen,« sagte er. Die ganze Zeit über hielt er ihre Hand fest.

»Und das Wasser singt sich etwas vor im Dahinfließen – magst du das gern?« Voller Liebe sah sie ihn an. Seine Augen waren sehr dunkel, sehr leuchtend.

»Findest du den Tag nicht großartig?« fragte er.

Sie murmelte ihre Zustimmung. Sie war glücklich, und er sah es.

»Und unser Tag – ganz unser eigen,« sagte er.

Sie blieben noch ein Weilchen. Dann erhoben sie sich von dem süßen Thymian, und er sah schlicht zu ihr nieder.

»Willst du mit?« fragte er.

Hand in Hand gingen sie nach dem Hause zurück, in Schweigen. Die Hühner kamen den Pfad hinuntergewackelt, ihr entgegen. Er verschloß die Tür, und sie hatten das kleine Haus nun ganz für sich.

Nie vergaß er den Anblick, als sie auf dem Bette lag, während er sich den Kragen losmachte. Zunächst sah er nur ihre Schönheit und war ganz von ihr geblendet. Sie besaß den schönsten Körper, den er sich je hatte vorstellen können. Unfähig sich zu bewegen oder zu sprechen stand er da, sie ansehend, sein Gesicht halb lächelnd vor Bewunderung. Und dann wünschte er sie zu besitzen; aber als er auf sie zuschritt, hoben ihre Hände sich in einer leicht flehenden Bewegung, und er sah ihr ins Gesicht und hielt inne. Ihre großen braunen Augen beobachteten ihn, still und ergeben und voller Liebe; sie lag da, als gäbe sie sich zum Opfer preis: da lag ihr Körper für ihn; aber etwas aus dem tiefsten Grunde ihrer Augen, wie in denen eines den Opfertod erwartenden Geschöpfes, hielt ihn auf, und sein Blut erstarrte.

»Bist du sicher, du willst mich haben?« fragte er, als komme ein kalter Schauer über ihn.

»Ja, ganz sicher.«

Sie war sehr still, sehr ruhig. Sie hatte nur das Bewußtsein, sie tue etwas für ihn. Er konnte es kaum ertragen. Sie lag da, um für ihn geopfert zu werden, weil sie ihn so sehr liebte. Und er sollte sie opfern. Eine Sekunde lang wünschte er, er wäre geschlechtslos oder tot. Dann schloß er die Augen vor ihr, und sein Blut begann wieder zu wallen.

Und nachher liebte er sie – liebte sie bis zur letzten Fiber seines Wesens. Er liebte sie. Aber trotzdem hätte er am liebsten geweint. Da war etwas, was er ihretwegen nicht ertragen konnte. Er blieb bis ganz spät in der Nacht bei ihr. Als er heimfuhr, fühlte er, nun endlich habe er die Weihe erhalten. Nun war er kein Jüngling mehr. Aber warum empfand er einen solchen dumpfen Schmerz in seiner Seele? Warum kam ihm der Gedanke an den Tod, an das Leben nach dem Tode so süß und trostreich vor?

Er verbrachte die Woche bei Miriam und ermüdete sie mit seiner Leidenschaft, bevor sie zu Ende ging. Er mußte sie stets, fast mit Anstrengung, außer acht lassen, und rein aus der rohen Kraft seines eigenen Gefühls handeln. Und oft vermochte er das nicht, und dann trat nachher immer die Empfindung des Mißlingens, des Todes ein. War er wirklich bei ihr, dann mußte er sich und seine Begierde ganz außer acht lassen. Wollte er sie haben, dann mußte er sie außer acht lassen.

»Wenn ich zu dir komme,« fragte er sie, seine Augen dunkel vor Schmerz und Beschämung, »dann willst du mich gar nicht wirklich, nicht wahr?«

»O doch!« erwiderte sie rasch.

Er sah sie an.

»Nein,« sagte er.

Sie begann zu zittern.

»Siehst du,« sagte sie, sein Gesicht nehmend und es an ihrer Schulter bergend – »siehst du – so wie wir sind – wie kann ich mich da an dich gewöhnen? Das würde alles in Ordnung kommen, wenn wir verheiratet wären.«

Er hob den Kopf und sah sie an.

»Du meinst, jetzt ist der Schreck immer zu groß?«

»Ja – und ,...«

»Du bist immer wie gegen mich verkrampft.«

Sie zitterte vor Erregung.

»Siehst du,« sagte sie, »ich war noch nicht an den Gedanken gewöhnt ,...«

»Na, jetzt aber doch,« sagte er.

»Aber mein ganzes Leben lang nicht. Mutter hat mir gesagt: ›In der Ehe gibt es etwas, was immer schrecklich bleibt, aber das mußt du ertragen.‹ Und das habe ich geglaubt.«

»Und glaubst es noch.«

»Nein!« rief sie hastig. »Ich glaube, wie du, daß Sichlieben, selbst auf die Art und Weise, die Hochwassermarke des Lebens ist.«

»Das ändert aber nicht die Tatsache, daß du es nie willst.«

»Nein,« sagte sie, seinen Kopf zwischen ihre Hände nehmend und sich in Verzweiflung hin und her wiegend. »Sag das nicht! Du verstehst mich nicht.« Sie wiegte sich vor Schmerzen. »Sehne ich mich etwa nicht nach deinen Kindern?«

»Aber nicht nach mir.«

»Wie kannst du sowas sagen? Aber um Kinder zu kriegen, müssen wir verheiratet sein ,...«

»Wollen wir uns denn heiraten? Ich wollte, du bekämest Kinder von mir.«

Voller Verehrung küßte er ihr die Hand. Sie dachte trübe nach, indem sie ihn beobachtete.

»Wir sind noch zu jung,« sagte sie endlich.

»Vierundzwanzig und dreiundzwanzig ,...«

»Noch nicht,« flehte sie, während sie sich in Jammer hin und her wiegte.

»Wann du willst.«

Ernst senkte sie den Kopf. Der Ton von Hoffnungslosigkeit, indem er diese Dinge sagte, bekümmerte sie tief. Immer kam es zu einer Enttäuschung zwischen ihnen. Schweigend beruhigte sie sich bei dem, was er sagte.

Und nach einer Woche voller Liebe sagte er plötzlich zu seiner Mutter, grade als sie zu Bett gehen wollten:

»Ich werde nicht mehr so oft zu Miriam gehen, Mutter.«

Sie war überrascht, mochte ihn aber doch nicht fragen.

»Machs, wie es dir paßt,« sagte sie.

So ging er zu Bett. Aber es lag eine neue Ruhe über ihm, über die sie sich wundern mußte. Beinahe erriet sie den Grund. Sie wollte ihn jedoch sich selbst überlassen. Überstürzung möchte nur alles verderben. Sie beobachtete ihn in seiner Vereinsamung und wunderte sich, worauf das wohl hinausliefe. Er war krank, viel zu ruhig für seine Verhältnisse. Fortwährend zog er leicht die Brauen zusammen, wie er es als ganz kleines Kind getan hatte, und wie es jahrelang verschwunden gewesen war. Nun war es wieder ganz dasselbe. Und sie konnte nichts für ihn tun. Er mußte allein weitergehen, sich selbst einen Weg finden.

Er blieb Miriam treu. Einen Tag lang hatte er sie ganz außerordentlich geliebt. Aber das kam nie wieder. Das Gefühl wie Enttäuschung wurde immer stärker. Zunächst war es nur Betrübnis. Dann aber begann er zu fühlen, so könne es nicht weitergehen. Er wünschte wegzulaufen, fortzugehen, alles mögliche. Allmählich hörte er auf, sie zu bitten, ihn hinzunehmen. Anstatt sie zueinander zu bringen, trennte es sie. Und dann kam es ihm ganz klar zum Bewußtsein, daß es nichts nützte. Es hatte keinen Zweck, es zu versuchen: es würde nie zu einem Erfolge zwischen ihnen führen.

Seit ein paar Monaten hatte er von Clara nur sehr wenig gesehen. Gelegentlich waren sie nach dem Essen auf eine halbe Stunde ausgegangen. Aber er hatte sich immer für Miriam zurückbehalten. Bei Clara jedoch wurde seine Stirn wieder hell, und er wurde wieder fröhlich. Sie behandelte ihn mit Nachsicht, als wäre er ein Kind. Er glaubte, er machte sich nichts draus. Aber tief unter der Oberfläche quälte es ihn doch.

Zuweilen sagte Miriam:

»Was macht Clara? Ich höre jetzt nichts von ihr.«

»Ich bin gestern etwa zwanzig Minuten mit ihr gegangen,« erwiderte er.

»Und worüber sprach sie?«

»Ich weiß nicht. Ich vermute, ich besorgte das Schwatzen wie gewöhnlich. Ich glaube, ich erzählte ihr über den Streik und wie die Frauen ihn hinnähmen.«

»Ja.«

So legte er Rechenschaft über sich selbst ab.

Aber hinterhältig, ohne daß er selbst es wußte, zog ihn die Wärme, die er für Clara empfand, von Miriam weg, für die er sich doch verantwortlich fühlte und der er angehörte. Er glaubte ihr ganz treu zu sein. Es ist nicht leicht, die Kraft und die Wärme unserer Gefühle für eine Frau richtig einzuschätzen, ehe sie nicht mit uns durchgegangen sind.

Er begann, seinen Freunden mehr Zeit zu widmen. Da war Jessop, auf der Kunstschule; Swain, der an der Universität das chemische Laboratorium leitete; Newton, der Lehrer war; und außerdem Edgar und Miriams jüngere Brüder. Er schützte Arbeit vor und skizzierte und studierte mit Jessop. Er besuchte Swain in der Universität, und die beiden gingen zusammen ›in die Stadt‹ hinunter. Wenn er mit Newton im Zuge nach Hause kam, sprach er im ›Mond und Sterne‹ vor und spielte etwas Billard mit ihm. Wenn er sich vor Miriam mit seinen Freunden entschuldigte, fühlte er sich ganz gerechtfertigt. Seine Mutter begann sich wie erlöst zu fühlen. Er erzählte ihr immer, wo er gewesen war.

Im Sommer trug Clara zuweilen ein Kleid aus weichem Baumwollstoff mit losen Ärmeln. Wenn sie die Hand hob, fielen die Ärmel zurück, und ihre schönen, starken Arme traten hervor.

»Eine Minute!« rief er. »Halten Sie mal den Arm still.«

Er machte Skizzen ihrer Hand und Arme, und die Zeichnungen besaßen etwas von dem Zauber, den der wirkliche Gegenstand für ihn besaß. Miriam, die stets gewissenhaft seine Bücher und Papiere durchging, sah die Zeichnungen.

»Ich finde, Clara hat so wunderschöne Arme,« sagte er.

»Ja. Wann hast du die gemacht?«

»Dienstag bei der Arbeit. Weißt du, ich habe da so 'ne kleine Ecke, in der ich arbeiten kann. Oft kann ich alles, was sie in der Abteilung nötig haben, vorm Essen fertig machen. Dann arbeite ich nachmittags für mich, und sehe nur abends noch mal nach dem Rechten.«

»Ja,« sagte sie und wandte die Blätter des Skizzenbuches um.

Oft haßte er Miriam. Er haßte sie, wenn sie sich vornüberneigte und über seine Sachen nachdachte. Er haßte die Art, wie sie ihn berechnete, als wäre er eine endlose Summe geistiger Betätigungen. War er bei ihr, so haßte er sie, weil sie ihn erreicht hatte, und doch nicht erreichen konnte, und quälte sie dann. Sie nahm alles und gab nichts, sagte er. Wenigstens gab sie ihm keine Lebenswärme. Sie lebte gar nicht und gab kein Leben von sich. Nach ihr auszusehen, war wie nach etwas aussehen, das gar nicht bestand. Sie war nur sein Gewissen, nicht seine Gefährtin. Er haßte sie heftig und wurde immer grausamer gegen sie. So schleppten sie sich bis zum nächsten Sommer hin. Er sah Clara mehr und mehr.

Schließlich sprach er. Er hatte eines Abends bei seiner Arbeit zu Hause gesessen. Zwischen ihm und seiner Mutter bestand die sonderbare Beziehung von Leuten, die sich ganz offen gegenseitig ihre Fehler vorwerfen. Frau Morel stand wieder auf festen Füßen. Er wollte sich nicht an Miriam fesseln. Schön; dann wollte sie abseits stehenbleiben, bis er ihr etwas darüber erzählte. Es hatte lange gedauert, bis er hervorbrach, dieser Sturm in ihm, wenn er wieder zu ihr zurückkommen würde. Heute abend bestand zwischen ihnen ein ganz besonderer Zustand der Schwebe. Er arbeitete fieberhaft und gedankenlos, um sich selbst zu entrinnen. Es wurde spät. Durch die offene Tür drang verstohlen der Duft weißer Lilien, fast als schwebe er suchend umher. Plötzlich stand er auf und ging nach draußen.

Die Schönheit der Nacht legte ihm den Wunsch nahe, laut zu rufen. Ein Halbmond, dämmeriges Gold, versank hinter der schwarzen Platane am Ende des Gartens und färbte den Himmel stumpf purpurn mit seiner Glut. Näher bei ihm lief ein schwach sichtbarer Zaun weißer Lilien quer durch den Garten, und die Luft umher schien vor Duft zu beben, als lebte sie. Er schritt über das Nelkenbeet weg, dessen eindringlicher Duft sich scharf mit dem wogenden, schweren Duft der Lilien mischte, und stand neben der Schranke weißer Blüten. Ihre Kelche waren ganz lose, als lechzten sie nach Luft. Der Duft machte ihn trunken. Er ging bis ans Feld hinunter, um den Mond versinken zu sehen.

Aus dem Wiesengrunde rief ein Wachtelkönig eindringlich. Der Mond glitt rasch hinab, immer röter werdend. Hinter ihm reckten sich die großen Blumen empor, als riefen sie ihn. Und dann traf ihn, und zwar so, daß er fast erschrak, ein anderer Duft, etwas Rohes, Gemeines. Auf der Suche danach fand er eine purpurne Iris, befühlte ihre fleischige Kehle und ihre dunklen, greifenden Hände. Jedenfalls hatte er einen Fund getan. Steif standen sie in der Dunkelheit da. Ihr Duft war roh. Der Mond verschmolz mit dem Kamme des Hügels. Nun war er fort; alles war dunkel. Der Wachtelkönig rief noch immer.

Er brach sich eine Nelke ab und ging wieder hinein.

»Komm, mein Junge,« sagte seine Mutter. »Es ist sicher Zeit für dich zum Zubettegehen.«

Er stand da, die Nelke an den Lippen.

»Ich werde mit Miriam abbrechen, Mutter,« sagte er ruhig.

Sie sah ihn über ihre Brille an. Er starrte sie wieder an, ohne mit der Wimper zu zucken. Einen Augenblick traf ihr Blick den seinen, dann nahm sie ihre Brille ab. Er war weiß. Der Mann stand in ihm auf, beherrschend. Sie wollte ihn nicht zu deutlich sehen.

»Ich dachte doch ,...« begann sie.

»Ja,« antwortete er, »ich liebe sie nicht. Ich mag sie nicht heiraten – also will ich ein Ende machen.«

»Aber,« rief seine Mutter erstaunt, »ich glaubte, du hättest dich kürzlich entschlossen, sie zu nehmen, und deshalb habe ich nichts gesagt.«

»Das hatte ich auch – ich wollte es – aber nun will ichs nicht mehr. Es nützt nichts. Ich werde am Sonntag abbrechen. Das muß ich doch, nicht?«

»Das mußt du am besten wissen. Du weißt ja, ich habe es dir schon lange gesagt.«

»Das kann ich jetzt nicht ändern. Am Sonntag werde ich abbrechen.«

»Ja,« sagte seine Mutter, »ich glaube, es wird das beste sein. Aber ich hatte mich kürzlich entschlossen, ich wollte kein Wort sagen, weil du dich entschieden hättest sie zu nehmen, und ich hätte auch nichts gesagt. Aber ich sage, wie ich stets gesagt habe, ich glaube nicht, daß sie zu dir paßt.«

»Am Sonntag breche ich ab,« sagte er und roch an der Nelke. Er nahm die Blume in den Mund. Gedankenlos entblößte er die Zähne, schloß sie langsam über der Blume, und hatte den ganzen Mund voll Blütenblätter. Er spuckte sie ins Feuer, gab seiner Mutter einen Gutenachtkuß und ging zu Bett.

Am Sonntag ging er früh am Nachmittag zum Hofe hinauf. Er hatte Miriam geschrieben, sie wollten über die Felder nach Hucknall gehen. Seine Mutter war sehr zärtlich gegen ihn. Er sagte nichts. Aber sie sah, was für eine Anstrengung es ihn kostete. Der sonderbar entschlossene Ausdruck seines Gesichts beruhigte sie.

»Laß nur, mein Junge,« sagte sie. »Du wirst dich so viel besser befinden, wenn es vorüber ist.«

Paul sah seine Mutter rasch an voller Überraschung und Ärger. Er wünschte gar kein Mitgefühl.

Miriam traf ihn am Ende des Feldweges. Sie trug ein neues Kleid aus bedrucktem Musselin mit kurzen Ärmeln. Diese kurzen Ärmel und Miriams braune Arme darunter – so trostlose, verzichtvolle Arme – verursachten ihm derartige Schmerzen, daß das ihm half, grausam zu werden. Seinetwegen hatte sie sich so schön und frisch aussehend gemacht. Sie schien nur für ihn zu blühen. Jedesmal, wenn er sie ansah – ein reifes, junges Weib nun, und wunderschön in ihrem neuen Kleide – tat es ihm so weh, daß sein Herz beinahe unter dem ihm auferlegten Zwange barst. Aber er hatte seinen Entschluß gefaßt, und der war unwiderruflich.

Auf den Hügeln setzten sie sich nieder, und er lag da mit dem Kopf in ihrem Schoß, während sie mit seinem Haar spielte. Sie wußte, er war nicht da, wie sie das nannte. Oft, wenn sie ihn bei sich gehabt hatte, hatte sie nach ihm ausgesehen und hatte ihn nicht finden können. Aber heute nachmittag war sie nicht darauf vorbereitet.

Es war fast fünf Uhr, als er es ihr endlich erzählte. Sie saßen am Ufer eines Flusses, wo eine Rasenschicht über einem ausgewaschenen Uferstrich gelber Erde hing, und er hackte mit einem Stock darauflos, wie er es immer tat, wenn er verstört war.

»Ich habe mirs überlegt,« sagte er, »wir sollten abbrechen.«

»Wieso?« rief sie voller Überraschung.

»Weil es keinen Zweck hat, weiterzugehen.«

»Wieso hat das keinen Zweck?«

»Es hat keinen. Ich mag dich nicht heiraten. Ich mag überhaupt nicht heiraten. Und wenn wir uns nicht heiraten, hat es keinen Zweck, fortzufahren.«

»Aber warum sagst du das jetzt?«

»Weil ichs mir überlegt habe.«

»Und diese letzten Monate, und die Dinge, die du mir da gesagt hast?«

»Das kann ich nicht helfen; ich mag nicht mehr so fortfahren.«

»Du willst also nichts mehr von mir wissen?«

»Ich möchte, daß wir abbrechen – daß du frei von mir wirst und ich von dir.«

»Und diese letzten Monate?«

»Ich weiß nicht. Ich habe nichts zu dir gesagt, was ich nicht für wahr hielt.«

»Aber warum bist du denn jetzt so anders?«

»Das bin ich gar nicht – ich bin ganz derselbe – nur weiß ich, es hat keinen Zweck, so weiterzumachen.«

»Du hast mir noch nicht gesagt, warum das keinen Zweck hat.«

»Weil ich nicht weitermachen will – und weil ich nicht heiraten will!«

»Wie oft hast du mir angeboten, mich zu heiraten, und ich wollte nicht?«

»Ich weiß; aber ich möchte abbrechen.«

Einen oder zwei Augenblicke herrschte Schweigen, während er verbissen in der Erde bohrte. Sie beugte nachdenklich den Kopf. Er war wie ein unvernünftiges Kind. Er war wie ein Kind, das, wenn es genug getrunken hat, seinen Becher wegwirft und zerbricht. Sie sah ihn an, und es war ihr, als könne sie ihn packen und eine Art Beständigkeit aus ihm herauspressen. Aber sie war hilflos. Dann rief sie:

»Ich habe gesagt, du wärest vierzehn – du bist ja bloß vier!«

Er bohrte verbissen weiter in der Erde. Er hörte es.

»Ein vierjähriges Kind bist du,« wiederholte sie in ihrem Ärger.

Er antwortete nicht, aber in seinem Herzen sagte er: ›Recht so; bin ich ein vierjähriges Kind, wozu willst du mich dann haben? Ich sehne mich gar nicht nach einer zweiten Mutter.‹ Aber zu ihr sagte er nichts, und es herrschte Schweigen.

»Und hast du's deinen Angehörigen gesagt?« fragte sie.

»Meiner Mutter hab ichs erzählt.«

Wieder trat ein langer Zeitraum von Stille ein.

»Was willst du denn eigentlich?« fragte sie.

»Wieso, ich will, daß wir auseinandergehen. Wir haben diese ganzen Jahre einer durch den anderen gelebt; nun laß uns aufhören. Ich werde meinen Weg ohne dich gehen, und du gehst deinen ohne mich. Dann hast du ein ganz unabhängiges Leben.«

Darin lag eine gewisse Wahrheit, die sie trotz ihrer Verbitterung nicht umhin konnte festzustellen. Sie wußte, sie kam sich wie in einer Hörigkeit für ihn vor, die sie haßte, weil sie keine Macht über sie besaß. Sie hatte ihre Liebe zu ihm von dem Augenblick an gehaßt, wo sie ihr zu stark wurde. Und tief in ihrem Innersten hatte sie ihn gehaßt, weil sie ihn liebte und er sie beherrschte. Sie hatte seiner Oberherrschaft Widerstand geleistet. Sie hatte darum gekämpft, sich letzten Endes von ihm freizuhalten. Und sie war frei von ihm, freier sogar als er von ihr.

»Und«, fuhr er fort, »wir bleiben doch immer mehr oder weniger einer das Werk des anderen. Du hast eine Menge für mich getan, ich für dich. Nun laß uns anfangen und jeder für sich leben.«

»Was willst du denn anfangen?« fragte sie.

»Nichts – bloß frei sein,« antwortete er.

Sie wußte jedoch in ihrem Herzen, daß Claras Einfluß über ihm lag, um ihn zu befreien. Aber sie sagte nichts.

»Und was soll ich meiner Mutter sagen?« fragte sie.

»Ich habe meiner Mutter gesagt,« antwortete er, »daß ich abbrechen würde, rein und endgültig.«

»Ich werde ihnen zu Hause nichts sagen,« sagte sie.

Die Stirne runzelnd, sagte er: »Wie's dir gut scheint.«

Er wußte, er hatte sie in eine eklige Klemme gebracht, und ließ sie nun im Stiche. Das machte ihn ärgerlich.

»Sag ihnen, du wolltest und würdest mich nicht heiraten, und hättest abgebrochen,« sagte er. »Das ist doch wahr genug.«

Sie biß sich düster auf die Finger. Sie überdachte ihre ganze Geschichte. Sie hatte gewußt, es würde hierzu kommen; sie hatte das fortwährend gesehen. Es traf vollkommen mit ihrer bitteren Erwartung überein.

»Immer – immer ist es so gewesen!« rief sie. »Ein langer Kampf ist es zwischen uns gewesen – in dem du von mir wegstrebtest.«

Ganz unerwartet entfuhr ihr dies, wie ein Blitz. Des Mannes Herz stand still. Sah sie es derart an?

»Aber wir haben doch ein paar vollkommene Stunden gehabt, vollendet schöne Zeiten, wenn wir zusammen waren!« flehte er.

»Niemals!« rief sie; »niemals! Du hast stets von mir weggestrebt.«

»Nicht immer – zuerst nicht!« bat er.

»Immer – von Anfang an – immer genau so!«

Sie hatte geendet, aber sie hatte auch genug getan. Er saß da entgeistert. Er hatte sagen wollen: ›Es war so schön, aber nun ists zu Ende.‹ Und sie – sie, an deren Liebe er geglaubt hatte, wenn er sich selbst verachtete – sie bestritt, daß ihre Liebe jemals Liebe gewesen sei. ›Er hätte stets von ihr weggestrebt?‹ Dann war es ja ungeheuerlich gewesen. Dann hatte nie etwas Wirkliches zwischen ihnen bestanden; die ganze Zeit über hatte er sich etwas vorgestellt, wo nichts gewesen war. Und sie hatte das gewußt. Sie hatte so vieles gewußt, und hatte ihm so wenig erzählt. Sie hatte es die ganze Zeit gewußt. Die ganze Zeit über hatte dies in ihrer Tiefe geruht.

Schweigend saß er in Bitterkeit da. Zuletzt erschien ihm die ganze Geschichte in einem höhnischen Lichte. Sie hatte in Wirklichkeit mit ihm gespielt, nicht er mit ihr. Sie hatte ihm ihre ganze Verdammung verhehlt, hatte ihm geschmeichelt und ihn verachtet. Sie verachtete ihn jetzt. Er wurde geistreich und grausam.

»Du solltest einen Mann heiraten, der dich verehrt,« sagte er, »mit dem du machen könntest, was du willst. Eine Menge Männer werden dich verehren, wenn du sie nur von der richtigen Seite nimmst. So einen solltest du heiraten. Sie würden nie von dir wegstreben.«

»Danke!« sagte sie. »Aber rate mir nicht länger, jemand anders zu heiraten. Das hast du schon einmal getan.«

»Na schön,« sagte er. »Dann will ich nichts mehr sagen.«

Er saß da und ihm war, als habe er einen Schlag empfangen, anstatt einen auszuteilen. Ihre acht Jahre Liebe und Freundschaft, die acht Jahre seines Lebens waren nun zunichte.

»Wann hast du dir dies ausgedacht?« fragte sie.

»Endgültig Donnerstag abend.«

»Ich wußte, es würde so kommen,« sagte sie.

Das war ihm eine bittere Wohltat. »Oh, dann ists gut! Wenn sie es wußte, dann kam es ihr ja nicht überraschend,« dachte er.

»Und hast du Clara schon was gesagt?« fragte sie.

»Nein; aber jetzt werde ichs ihr erzählen.«

Es trat Schweigen ein.

»Erinnerst du dich noch der Dinge, die du mir voriges Jahr um diese Zeit sagtest, in meiner Großmutter Hause – ach, vorigen Monat noch?«

»Ja,« sagte er; »sehr gut! Und ich dachte auch so! Ich kanns nicht helfen, daß es ein Fehlschlag war.«

»Fehlgeschlagen ist es, weil du noch was anderes wolltest.«

»Es wäre so oder so fehlgeschlagen. Du hast doch nie an mich geglaubt.«

Sie lachte seltsam.

Er saß in Schweigen. Er war voll der Empfindung, sie hätte ihn betrogen. Sie hatte ihn verachtet, wenn er glaubte, sie verehrte ihn. Sie hatte ihn Unrichtiges sagen lassen, und hatte ihm nicht widersprochen. Sie hatte ihn allein kämpfen lassen. Aber daß sie ihn verachtet hatte, während er glaubte, sie hätte ihn angebetet, das blieb ihm in der Kehle stecken. Sie hätte es ihm sagen müssen, wenn sie etwas an ihm auszusetzen hatte. Sie hatte kein ehrliches Spiel getrieben. Er haßte sie. Die ganzen Jahre lang hatte sie ihn behandelt, als wäre er ein Held, und hatte ihn insgeheim für einen Säugling gehalten, für ein törichtes Kind. Warum hatte sie aber dann das törichte Kind bei seiner Torheit gelassen? Sein Herz wurde hart gegen sie.

Sie saß voller Bitterkeit. Sie hatte es gewußt – oh, wie gut hatte sie es gewußt! Die ganze Zeit über, die er von ihr fern gewesen war, hatte sie ihn aufgerechnet, hatte sie seine Kleinheit gesehen, seine Gemeinheit und seine Torheit. Sie hatte sogar ihre Seele vor ihm geschützt. Sie fühlte sich nicht umgeworfen, niedergestreckt, nicht einmal sehr verletzt. Sie hatte es gewußt. Nur, warum besaß er, während er so dasaß, immer noch diese seltsame Macht über sie? Schon seine Bewegungen bezauberten sie, als versenke er sie in magnetischen Schlaf. Und doch war er verächtlich, falsch, unbeständig und gemein. Warum ihr diese Hörigkeit zu ihm? Warum mußte die Bewegung seines Armes sie erregen, wie nichts anderes auf der Welt es vermochte? Warum war sie so an ihn gefesselt? Warum würde sie sogar jetzt noch gehorchen müssen, sobald er sie ansähe und ihr etwas befähle? Seinen kleinsten Befehlen würde sie gehorchen. Aber sobald sie ihm gehorchte, hatte sie ihn in ihrer Gewalt, das wußte sie, um ihn hinzuführen, wohin sie wollte. Sie war sich ihrer selbst sicher. Nur dieser neue Einfluß! Ach, er war gar kein Mann! Er war ein kleines Kind, das nach seinem neusten Spielzeug schreit. Und alle Anhänglichkeit seiner Seele würde ihn doch nicht halten. Schön, er würde fort müssen. Aber er würde wiederkommen, sobald er seiner neuen Eindrücke müde war.

Er hackte auf die Erde los, bis es sie todübel machte. Sie stand auf. Er saß da und schleuderte Erdklumpen in den Fluß.

»Wollen wir gehen und hier Tee trinken?« fragte er.

»Ja,« antwortete sie.

Während des Tees schwatzten sie über gleichgültige Dinge. Er hielt ihr eine Vorlesung über Liebe für Schmuck – das Wohnzimmer regte ihn hierzu an – und ihre Verbindung mit dem Schönheitssinn. Sie war kalt und ruhig. Während sie heimgingen, fragte sie:

»Und nun sehen wir uns nicht mehr?«

»Nein – oder doch nur selten,« antwortete er.

»Und schreiben uns auch nicht?« fragte sie beinahe spöttisch.

»Wie du willst,« antwortete er. »Wir sind uns ja nicht fremd, sollten es auch nicht werden, einerlei was kommen mag. Ich werde dir dann und wann schreiben. Mach du es, wie du willst.«

»Ich sehe!« sagte sie schneidend.

Aber er war jetzt in einem Zustand, in dem nichts mehr wehtut. Er hatte einen großen Schnitt durch sein Leben geführt. Er hatte einen großen Schreck bekommen, als sie ihm erzählt hatte, ihre Liebe sei von Anfang an ein Kampf gewesen. Nun kam es auf nichts weiter an. War es auch nie viel gewesen, jetzt war es nicht nötig, noch viel Aufhebens darüber zu machen, daß es aus war.

Am Ende des Weges verließ er sie. Als sie in ihrem neuen Kleide heimwärts ging, allein, um ihren Angehörigen am andern Ende gegenüberzutreten, da blieb er vor Scham und Schmerz mitten auf der Landstraße stehen und dachte an das Leid, das er ihr angetan hatte.

Als eine Art Gegenmittel, um seine Selbstachtung wiederherzustellen, ging er in den ›Weidenbaum‹, um etwas zu trinken. Da saßen vier Mädchen, die einen Tagesausflug gemacht hatten und ein bescheidenes Glas Portwein tranken. Auf dem Tische hatten sie Schokolade. Paul saß mit seinem Whisky in ihrer Nähe. Er bemerkte, wie die Mädchen flüsterten und sich mit den Ellenbogen anstießen. Da lehnte sich plötzlich eine von ihnen, eine hübsche, dunkle Hexe, zu ihm hinüber und sagte:

»Etwas Schokolade haben?«

Die andern lachten laut über ihre Unverschämtheit.

»Gern,« sagte Paul. »Geben Sie mir eine harte Nuß. Weiche mag ich nicht.«

»Na, hier denn,« sagte das Mädchen; »hier ist eine mit Mandeln.«

Sie hielt das süße Ding zwischen den Fingern. Er machte den Mund auf. Sie steckte es ihm hinein und errötete.

»Sie sind aber nett!« sagte er.

»Ach,« sagte sie, »wir dachten, Sie sähen so düster aus, und sie dachten, ich wagte es nicht, Ihnen einen anzubieten.«

»Ach, ich nehme auch noch etwas, einen anderen,« sagte er.

Und sofort fingen sie alle an zu lachen.

Es war neun Uhr, als er heimkam, und es wurde schon dunkel. Schweigend trat er ins Haus. Seine Mutter, die auf ihn gewartet hatte, stand erwartungsvoll auf.

»Ich habe es ihr gesagt,« sagte er.

»Das freut mich,« erwiderte die Mutter in großer Erleichterung.«

Müde hängte er seine Mütze auf.

»Ich habe ihr gesagt, jetzt wären wir endgültig miteinander fertig,« sagte er.

»Das ist recht, mein Sohn,« sagte die Mutter. »Jetzt ist es hart für sie, aber am Ende doch das beste. Ich weiß das. Du paßtest nicht zu ihr.«

Er lachte etwas klapperig, als er sich hinsetzte.

»Ich hab so 'nen Spaß gehabt mit ein paar Mädels in 'ner Kneipe,« sagte er.

Seine Mutter sah ihn an. Jetzt hatte er Miriam vergessen. Er erzählte ihr von den Mädchen im ›Weidenbaum‹. Frau Morel sah ihn an. Seine Fröhlichkeit kam ihr unnatürlich vor. Hinter ihr lag zu viel Schrecken und Elend verborgen.

»Nun iß etwas zu Abend,« sagte sie sehr milde.

Nachher sagte er gedankenvoll:

»Sie hat nie geglaubt, sie würde mich bekommen, Mutter, von Anfang an nicht, und so ist sie nicht enttäuscht.«

»Ich fürchte,« sagte seine Mutter, »sie gibt die Hoffnung auf dich immer noch nicht auf.«

»Nein,« sagte er, »vielleicht noch nicht.«

»Aber du wirst finden, es ist besser, ein Ende zu machen,« sagte sie.

»Ich weiß nicht,« sagte er verzweifelt.

»Na, nun laß sie nur,« erwiderte seine Mutter.

So ließ er sie, und sie war allein. Sehr wenig Leute machten sich etwas aus ihr, und sie bekümmerte sich um sehr wenige Leute. Sie blieb allein mit sich, wartend.


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