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Die Tochter des Pferdehändlers

»Na, Mabel, und was gedenkst du nun mit dir anzufangen?« fragte Joe; es sollte scherzhaft klingen, aber es klang albern. Er selbst fühlte sich durchaus in Sicherheit. Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich zur Seite, fischte mit der Zungenspitze ein Tabakfäserchen aus seiner Mundhöhle und spuckte es aus. Ihm war alles vollkommen gleichgültig, da er selbst sich in Sicherheit wußte.

Die drei Brüder und die Schwester saßen um den ungemütlichen Frühstückstisch und machten den planlosen Versuch, so etwas wie eine Beratung zu veranstalten. Die Morgenpost hatte dem Familienvermögen den letzten gelinden Stoß versetzt, den es noch brauchte: nun war alles aus. Sogar das düstere Speisezimmer mit seinen schweren Mahagonimöbeln sah aus, als wartete es darauf, daß Einer käme und Schluß mit ihm machte.

Es kam nichts heraus bei der Beratung. Wie die drei Männer so um den Tisch saßen, in nachlässiger Haltung, rauchend, jeder in dumpfen Gedanken nur mit seinem eigenen Schicksal beschäftigt, schienen sie auf seltsame Art in einen Dunstkreis von Erfolglosigkeit gebannt. Die Schwester, ein ziemlich kleines, mürrisch aussehendes Mädchen von siebenundzwanzig Jahren, gehörte nicht dazu. Sie stand ganz außerhalb des Lebens, das ihre Brüder führten. Sie wäre hübsch gewesen – ohne den Ausdruck der Teilnahmlosigkeit, der auf ihrem Gesicht festgefroren war. ›Bullenbeißergesicht‹ nannten es die Brüder.

Von draußen her klang wirres Getrappel von Pferdehufen. Die drei Männer räkelten sich in den Stühlen herum, um aus dem Fenster zu sehen. Jenseits der dunklen Stechpalmenbüsche, die den Rasenstreifen von der Landstraße trennten, sahen sie einen Zug von Pferden aus dem Grafschaftsgestüt, die bewegt werden sollten: eben schwenkten sie aus dem Hoftor. Es war das letzte Mal. Die Pferde da draußen waren die letzten, die durch ihre Hände gingen. Die drei jungen Männer betrachteten sie mit abschätzenden, empfindungslosen Blicken. Sie standen alle Drei eingeschüchtert vor dem Zusammenbruch ihres Lebensgebäudes, und das Gefühl, im Unglück verstrickt zu sein, nahm ihnen alle innere Freiheit.

Und doch waren es eigentlich drei prächtige, wohlgebaute Burschen. Zoe, der Älteste, war dreiunddreißig Jahre alt, von gedrungener Gestalt – ein hübscher Kerl, hitzköpfig und vollblütig. Er hatte ein rotes Gesicht, zwirbelte mit dicken Fingern seinen schwarzen Schnurrbart, seine Augen waren unstet und ohne Tiefe. Er pflegte beim Lachen mit sinnlichem Behagen die Zähne zu entblößen, und sein ganzes Benehmen ließ auf Dummheit schließen. Jetzt, da er die Pferde betrachtete, hatten seine Augen einen glasigen Ausdruck von Hilflosigkeit, von betäubtem Hinnehmen des Zusammenbruchs.

Die großen Zugpferde schritten mit schwingendem Gang vorüber. Sie waren, vier an der Zahl, hintereinander geschirrt; schwerfällig schritten sie auf einen Feldweg zu, der von der Landstraße abbog; unsicher pflanzten sie ihre großen Hufe in den dünnen schwarzen Schlamm, prächtig schwangen im Schreiten ihre mächtigen runden Hüften; in dem Augenblick, da sie um die Biegung in den Feldweg gelenkt wurden, machten sie ein paar Schritte Trab. Jede ihrer Bewegungen offenbarte schwere, träge Kraft – und eine Stumpfheit, die sie in Unterwerfung unter den Menschenwillen hielt. Der Stallbursche an der Spitze sah sich um und zog mit einem Ruck am Leitstrick. Und der Zug verschwand in den Heckenweg hinein; straff und steif ragte der gestutzte Schwanz des letzten Pferdes von den mächtigen schwingenden Hüften auf, als sie hinter den Hecken in einem Schlaf, der wie Bewegung aussah, dahinschaukelten. Joe blickte mit glasigen hoffnungslosen Augen hinüber.

Ihm waren die Pferde fast wie ein Teil seines eigenen Leibes. Er fühlte, daß es aus war mit ihm. Glücklicherweise war er mit einem Mädchen verlobt, das eben so alt war wie er selbst; ihr Vater, Verwalter auf einem benachbarten Gut, würde ihm einen Posten verschaffen. Seine Zukunft hieß: heiraten und unters Joch gehen. Mit seinem Leben war es vorbei; künftig war er ein Arbeitstier.

Unbehaglich wandte er sich zur Seite; die verhallenden Pferdeschritte klangen ihm in den Ohren nach. Dann langte er sich, mit sinnloser Unrast, die Stückchen Schinkenschwarte von den Frühstückstellern herüber, brachte so etwas Ähnliches wie ein leises Pfeifen hervor und warf sie dem Terrier hin, der am Kamingitter lag. Er sah zu, wie der Hund sie verschlang, und wartete, bis ihm das Tier in die Augen sah. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem schwachen Grinsen, und er sagte mit albern hoher Stimme:

»Na, du wirst nu auch nich mehr viel Schinken kriegen, was, du kleines Biest?«

Der Hund wedelte schwach und trübselig mit dem Schwanz; dann ließ er sich in der Hinterhand nieder, drehte sich im Kreise und legte sich wieder hin.

Wieder gab es ein hilfloses Schweigen am Tische. Joe räkelte sich unbehaglich im Stuhle; er scheute sich, aufzustehen, bevor der Familienrat sich auflöste. Fred Henry, der zweite Bruder, war aufrecht, schlankgliedrig, behende. Er hatte dem Vorbeimarsch der Pferde mit kälterem Blute zugesehen. Wenn er, wie Joe, ein animalisches Geschöpf war, so war er eines, das selber lenken will, nicht sich lenken läßt. Er wurde mit jedem Pferde fertig, und seine Haltung war bewußt und gleichmäßig auf Überlegenheit gestimmt. Mit den Wechselfällen des Lebens aber wurde er nicht fertig. Er zwirbelte seinen struppigen braunen Schnurrbart auf und betrachtete verärgert seine Schwester, die unbeteiligt und unergründbar dasaß.

»Du wirst nun wohl ein bißchen zu Lucy gehen und dableiben, was?« fragte er.

Das Mädchen antwortete nicht. Fred Henry ließ nicht locker.

»Ich weiß wirklich nicht, was du sonst anfangen willst.«

Das Mädchen regte keinen Muskel.

»Ich an ihrer Stelle, ich würde mich ja zur Krankenpflegerin ausbilden lassen«, sagte Malcolm, der Jüngste in der Familie. Er war der Säugling des Hauses: zweiundzwanzig Jahre, mit frischem, lebhaftem Gesicht.

Mabel gab keinerlei Zeichen, daß sie ihn überhaupt gehört hatte. Die Drei hatten seit so vielen Jahren auf sie ein- und um sie hergeredet, daß sie sie tatsächlich kaum noch hörte.

Die Marmoruhr auf dem Kaminsims ließ leise und melodisch den Halbstundenschlag klingen. Der Hund erhob sich unbehaglich von der Kaminmatte und sah die Gesellschaft am Frühstückstisch an. Die aber saß noch immer bei ihrer fruchtlosen Beratung.

»Na, also schön«, sagte Joe plötzlich ohne ersichtlichen Anlaß. »Dann will ich mal gehn.«

Er stieß seinen Stuhl zurück, spreizte nach Pferdeart mit einem beugenden Ruck die Kniee, um sie gelenkig zu machen, und ging zum Feuer. Auch jetzt verließ er nicht das Zimmer; er war neugierig, was die Anderen tun oder sagen würden. Er stopfte seine Pfeife, sah dabei auf den Hund hinunter und sagte mit hoher, geziert verstellter Stimme: »Willste mit? Willste mit? Diesmal gehts aber weiter weg, als du ahnst, verstehste?«

Der Hund wedelte leise mit dem Schwanz; Joe schob den Unterkiefer vor und hielt die Hände über seine Pfeife. Er paffte mit hingebendem Eifer, ganz verloren in die rechte Behandlung des Tabaks; dabei betrachtete er unablässig mit seinen geistesabwesenden braunen Augen den Hund. Und der Hund sah mit betrübtem Mißtrauen zu ihm auf. Joe stand richtig nach Pferdeart da, mit nach vorn durchgedrückten Knieen.

»Hast du einen Brief von Lucy gekriegt?« fragte Fred Henry seine Schwester.

»Vorige Woche«, antwortete sie gleichgültig.

»Und was stand drin?«

Darauf kam keine Antwort.

»Schreibt sie denn, daß du kommen und bei ihr bleiben sollst?« fragte Fred Henry hartnäckig weiter.

»Sie schreibt, ich kann kommen, wenn ich will.«

»Na also, dann ist es ja auch das Richtigste. Schreib ihr, du kämst Montag.«

Die Aufforderung wurde mit Schweigen aufgenommen.

»Also machst du's nun so – oder machst du's nicht so?« fragte Fred Henry, der sich zu ärgern begann.

Aber sie antwortete nicht. Alle schwiegen erbittert und wie Leute, die das Nutzlose ihrer Mühe eingesehen haben. Malcolm grinste albern.

»Bis Mittwoch mußt du jedenfalls wissen, was du willst«, sagte Joe laut. »Sonst mußt du dir schon 'ne Wohnung im Rinnstein suchen.«

Ihr Gesicht verfinsterte sich, aber sie änderte ihre Haltung nicht.

»Da geht Jack Fergusson!« rief Malcolm, der ziellos aus dem Fenster sah.

»Wo?« rief Joe laut.

»Eben vorbeigegangen.«

»Kommt er rein?«

Malcolm verrenkte sich den Hals, um die Gittertür sehen zu können.

»Ja«, sagte er.

Es gab eine stumme Pause. Mabel saß wie eine Verurteilte oben am Tische. Dann tönte ein Pfiff aus der Küche. Der Hund sprang auf und bellte scharf. Joe öffnete die Tür und brüllte:

»Komm doch rein!«

Der Eintretende war ein junger Mann. Er war dicht vermummt, in Überrock und purpurnem, wollenem Halstuch, und seine Tuchkappe, die er nicht abnahm, hatte er tief ins Gesicht gezogen. Er war mittelgroß, sein Gesicht war ziemlich lang und blaß, seine Augen blickten müde.

»Hallo, Jack! Tag, Jack!« riefen Malcolm und Joe. Fred Henry sagte nur: »– Jack.«

»Na, wie stehts?« fragte der Gast. Die Frage war offenbar an Fred Henry gerichtet.

»Noch so. Mittwoch müssen wir raus sein. – Hast du dich erkältet?«

»O ja. Und wie!«

»Warum bleibst du denn nicht zu Hause?«

»Ich und zu Hause bleiben?! Das wird mir vielleicht mal gelingen, wenn ich nicht mehr auf den Beinen stehen kann.« Der junge Mann war heiser. Er sprach mit leisem Anklang an schottische Mundart.

»Das is ne verflixte Geschichte, wenn ein Doktor mit so'nem Husten herumkrächzt, was?« sagte Joe mit lärmendem Humor. »Sieht für die Patienten bös aus, wie?«

Der junge Arzt wandte ihm langsam den Kopf zu.

»Dann fehlt dir am Ende auch was, hm?« fragte er spöttisch.

»Nicht daß ich wüßte. Du verdammter Kerl – hoffentlich nicht. Wieso?«

»Na, weil du dir so viel Sorge wegen der Patienten machst, dachte ich, du wärst am Ende selbst einer.«

»Verdammt noch mal, nein, ich bin noch nie Patient für so'n aufgeregtes Huhn von Doktor gewesen, und ich werds auch hoffentlich nicht«, gab Joe zurück.

In diesem Augenblick stand Mabel vom Tische auf, und nun war es, als würden alle sich erst jetzt ihres Vorhandenseins bewußt. Sie begann das Geschirr zusammenzuräumen. Der junge Arzt sah zu ihr hinüber, aber er sprach sie nicht an. Er hatte sie auch nicht begrüßt. Sie verließ mit dem Teebrett das Zimmer; ihr Gesicht war teilnahmslos und unbeweglich wie immer.

»Wann wollt ihr denn losfahren, alle miteinander?« fragt der Doktor.

»Ich nehme den Zug um elf Uhr vierzig«, antwortete Malcolm. »Fährst du mit der Kutsche runter, Joe?«

»Ja. Ich hab dir doch schon gesagt, daß ich mit der Kutsche runterfahre, nicht?«

»Na schön. Dann wirds wohl Zeit, daß wir sie klarmachen. – Auf Wiedersehen, Jack – für den Fall, daß wir uns vor meiner Abreise nicht mehr sehen sollten«, sagte Malcolm und schüttelte dem Doktor die Hand.

Er ging hinaus; Joe folgte ihm und sah aus wie ein Hund, der den Schwanz zwischen die Beine klemmt.

»Also das ist doch wirklich eine verteufelte Geschichte«, rief der Doktor, als er mit Fred Henry allein war. »Vor Mittwoch gehts also los, was?«

»So lautet der Regimentsbefehl.«

»Und wohin – nach Southampton?«

»Nach Southampton.«

»Verteufelte Geschichte!« rief Fergusson mit einer Art von gelassenem Zorn.

Und dann schwiegen sie eine Weile Beide.

»Ihr sitzt alle bös in der Tinte, was?« fragte Fergusson.

»Das kann man wohl sagen.«

»Tja – du wirst mir fehlen, Freddy, mein Junge«, sagte der junge Arzt.

»Du wirst mir auch fehlen, Jack«, antwortete Fred Henry.

»– verdammt fehlen«, sagte der Doktor nachdenklich.

Fred Henry wandte sich zur Seite. Da gab es ja nichts weiter zu sagen. Mabel kam wieder herein, um das letzte Geschirr vom Frühstückstisch zu holen.

»Und was werden Sie beginnen, Miß Pervin?« fragte Fergusson. »Sie fahren wohl zu Ihrer Schwester –?«

Mabel sah ihn an mit dem unverwandten, gefahrdrohenden Blick, bei dem ihm immer unbehaglich zumute wurde, weil seine leichte und oberflächliche Sicherheit ins Wanken kam.

»Nein«, sagte sie.

»Also was um Himmels willen willst du denn aber tun? Sag doch, was du tun willst!« rief Fred Henry mit zwecklosem Ungestüm.

Sie wandte nur den Kopf weg und fuhr in ihrer Arbeit fort. Sie faltete das weiße Tischtuch zusammen und legte statt dessen die Samtdecke auf den Tisch.

»Das brummigste Biest, das je durch die Gegend getrabt ist!« knurrte ihr Bruder.

Sie beendete ihre Arbeit mit vollkommen teilnahmslosem Gesicht; der junge Arzt wandte den aufmerksamen Blick während der ganzen Zeit nicht von ihr. Dann ging sie hinaus.

Fred Henry sah ihr nach, mit weitaufgerissenen blauen Augen, die zornige Feindseligkeit sprühten; seine Lippen preßten sich zusammen, und er verzerrte das Gesicht in erbitterter Ratlosigkeit.

»In Fetzen kannst du sie reißen – du kriegst kein Wort weiter aus ihr heraus«, sagte er. Es klang heiser und gepreßt.

Der Doktor lächelte schwach.

»Na, und was hat sie denn nun eigentlich vor?« fragte er.

»Schlag mich, wenn ich es weiß!« gab Fred Henry zurück.

Einen Augenblick schwiegen beide. Dann wandte sich der Doktor zur Tür.

»Ich sehe dich doch heute abend noch, wie?« fragte er.

»Ist recht – aber wo? Wollen wir rüber nach Jeßdale?«

»Ich weiß nicht recht. Ich hab mich dermaßen erkältet – – Na, einerlei – ich werde jedenfalls mal zu den ›Mond und Sternen‹ rüberkommen.«

»Da sollen Lizzie und May mal auf ›ihren Abend‹ verzichten, was?«

»Sollen sie – wenn ich mich nachher noch so scheußlich fühle wie jetzt.«

»Mir ists einerlei – –«

Die Beiden gingen durch den Flur zum Hinteren Ausgang. Das große Haus, von allen Dienstboten verlassen, war verödet. Hinter dem Hause war ein kleiner gepflasterter Hof; dann kam man in ein großes, mit feinem roten Kies bestreutes Hofgeviert, zu dessen beiden Seiten Stallungen lagen. Dahinter erstreckten sich, sanft abfallend, die nassen, winterdunklen Felder ins offene Land.

Aber die Stallungen waren leer. Joseph Pervin, der Vater der Geschwister, ein Mann ohne irgendwelche Bildung, hatte sich einen ziemlich bedeutenden Pferdehandel geschaffen. Damals waren die Stallungen voll von Pferden, es war ein lärmender Betrieb und ein fortwährendes Kommen und Gehen von Pferden und Händlern und Stallburschen. Und in der Küche drängten sich die Dienstboten. Seit kurzem aber war es abwärts gegangen. Joseph Pervin hatte sich zum zweitenmal verheiratet, um das verlorene Geld wieder hereinzubringen. Nun war er tot, der ganze Betrieb war vor die Hunde gegangen, und es gab nichts mehr als Schulden und drohenden Untergang.

Monatelang hatte Mabel in dem großen Hause ohne Dienstboten gewirtschaftet und den Haushalt für ihre unfähigen Brüder mühsam beisammengehalten. Sie führte ihn zwar schon seit zehn Jahren; früher aber hatten ihr unbeschränkte Mittel zur Verfügung gestanden. Mochte es auch noch so roh und ungeschliffen im Hause zugehen – das Bewußtsein des Reichtums machte sie trotz allem stolz und zuversichtlich. Mochten die Männer schmutzige Reden führen, mochten die Mägde in der Küche einen üblen Ruf haben, mochten die Brüder uneheliche Kinder in die Welt setzen – solange Geld da war, fühlte Mabel sich sicher, hatte sie rücksichtslosen Stolz und hochfahrende Zurückhaltung.

Niemals kamen Gäste ins Haus; nur Händler und ungeschliffenes Mannesvolk. Mabel hatte keinerlei weiblichen Verkehr, seitdem ihre Schwester aus dem Hause gegangen war. Aber sie machte sich nichts daraus. Sie ging regelmäßig zur Kirche, sie sorgte für ihren Vater. Und sie lebte im Gedenken an ihre Mutter, die sie schon verloren hatte, als sie vierzehn Jahre alt war, und die sie geliebt hatte. Auch ihren Vater hatte sie geliebt – auf andere Art: sie hatte sich auf ihn verlassen, sie fühlte sich sicher durch ihn; bis er sich mit vierundfünfzig Jahren wieder verheiratete. Da verhärtete sie sich im Trotz gegen ihn. Und nun war er gestorben und hatte sie alle in hoffnungsloser Verschuldung zurückgelassen.

Mabel hatte unter dieser Zeit des Armseins sehr gelitten. Dennoch vermochte nichts den wunderlich mürrischen, tierhaften Stolz zu erschüttern, der jedes Mitglied der Familie beherrschte. Nun aber war das Ende da – für Mabel. Trotz alledem war sie entschlossen, weder rechts noch links zu blicken. Sie wollte, was auch kommen mochte, ihren eigenen Weg gehen. Es war nicht ihre Art, das Steuer ihres Lebens aus der Hand zu geben. Gedankenlos, in dumpfer und zäher Beharrung, lebte sie vom einen Tage zum anderen dahin. Warum sollte sie denken? Warum sollte sie Irgendwem antworten? Das Ende war da, einen Ausweg gab es nicht mehr; das war doch genug. Sie brauchte nun nicht mehr wie eine Diebin durch die Hauptstraße des Städtchens zu schleichen und jedem Blick auszuweichen. Sie war der Erniedrigung ledig, in den Läden die billigsten Lebensmittel kaufen zu müssen. Mit alledem war nun Schluß. Sie dachte an keinen Menschen mehr, nicht einmal an sich selbst. Diese Gedankenlosigkeit, diese zähe Beharrung war wie ein Entrücktsein im Herannahen einer Erfüllung, einer glorreichen Erhöhung: war die Pilgerschaft zu ihrer toten Mutter, die in der Glorie lebte.

Nachmittags packte sie eine Schere, einen Schwamm und eine kleine Scheuerbürste in ein Köfferchen und verließ das Haus. Es war ein grauer, winterlicher Tag; düster und dunkelgrau dehnten sich die Felder, der Rauch naher Gießereischlote verdunkelte die Luft. Rasch und wie in Heimlichkeit schritt Mabel auf der Landstraße dahin, ohne sich um Irgendwen zu kümmern; so gelangte sie durch das Städtchen zum Friedhof.

Hier fühlte sie sich immer so geborgen, als ob niemand sie sehen könnte – obwohl sie natürlich den Blicken Aller ausgesetzt war, die an der Friedhofsmauer entlang gingen. Dennoch – wußte sie sich erst einmal im Schatten der mächtigen, düster aufragenden Kirche, inmitten der Gräber, so fühlte sie sich ganz sicher vor der Welt: die dicke Friedhofsmauer barg sie, als wäre sie in ein anderes Land entrückt.

Sorgsam stutzte sie das Gras auf dem Grabe, sorgsam ordnete sie die rötlichweißen kleinen Chrysanthemen in dem zinnernen Kreuz. Dann holte sie sich einen leeren Krug von einem benachbarten Grabe, füllte ihn mit Wasser und reinigte gewissenhaft, mit peinlichster Sorgfalt den marmornen Grabstein und den Kappenstein mit dem Schwamm. Die Arbeit schenkte ihr tiefe Befriedigung. Sie fühlte sich der Welt ihrer Mutter ganz nahe, unmittelbar nahe. Sie tat alles mit äußerster Achtsamkeit, sie war auf diesem parkähnlichen Friedhof einem Gefühl reinen Glückes so nahe, als käme sie durch die Arbeit, die sie hier tat, in eine köstliche und aller Trennung entrückte Verbindung mit ihrer Mutter. Denn das Leben, durch das sie in der Welt hier unten wandern mußte, war weit weniger wirklich als die Welt des Todes, die das Vermächtnis ihrer Mutter war. Doktor Fergussons Haus stand unmittelbar an der Kirche. Fergusson, als besoldeter Assistenzarzt, war sozusagen der ärztliche Packesel der ganzen Gegend. Auf seinem eiligen Wege zu den Patienten, die zur Behandlung ins Krankenhaus kamen, mußte er am Friedhof vorüber und sah, ihn mit raschem Blick überfliegend, Mabel Pervin bei ihrer Arbeit am Grabe. Sie war so ganz in ihre Arbeit versunken und so fern; das war wie ein Blick in eine andere Welt. Er fühlte sich auf rätselhafte Art im innersten Wesen berührt. Und er verhielt den Schritt und betrachtete sie, als hätte ein Bann ihn getroffen.

Sie hob den Blick, da sie seine Augen fühlte. Ihre Blicke begegneten einander. Und beide sahen sogleich ein zweitesmal hin, da ihnen zumute war, als wären sie irgendwie ertappt worden. Er lüftete die Kappe und setzte seinen Weg fort. Aber ganz deutlich, wie eine Erscheinung, blieb in seinem Bewußtsein die Erinnerung an ihr Gesicht, das sich von der Betrachtung des Grabsteines auf dem Kirchhof hob und ihn mit langsam ihm zuwandernden großen unheildrohenden Augen ansah. Ja, unheildrohend war dieses Antlitz gewesen. Wie ein magnetischer Bann ging es von ihm aus. Ihre Augen hatten eine düstere Gewalt, die ganz und gar von ihm Besitz ergriff, als hätte er ein starkes Rauschmittel getrunken. Vorher hatte er sich schwach und erschöpft gefühlt. Jetzt strömte das Leben in ihn zurück, und er fühlte sich befreit von seinem eigenen ärgerzerfaserten alltäglichen Selbst.

So rasch wie möglich erledigte er seine Dienstpflichten im Krankenhaus und füllte den wartenden Patienten hastig billige Arzneien in ihre Flaschen. Dann, immer mit der gleichen Hast, rannte er wieder fort, um noch vor dem Tee eine Anzahl von Fällen in einem anderen Teil seines Bezirks zu besuchen. Wenn es irgend möglich war, erledigte er seine Berufswege zu Fuß; besonders aber dann, wenn er sich nicht wohl fühlte. Er glaubte, daß die Bewegung für ihn die beste Behandlung war.

Die Nachmittagsdämmerung sank herab. Es war ein grauer, toter, winterlicher Nachmittag, dessen träge, feuchte, schwere Kälte alles durchdrang und alle Kräfte tödlich lähmte. Warum aber sollte er auch denken und beobachten? Eilig erstieg er den Hügel und nahm den schwarzen Schlackenweg, der quer durch die dunkelgrünen Felder führte. Fern, in einer flachen Geländemulde, lag das Städtchen, zusammengedrängt, wie ein schwelender Aschenhaufen: ein Rundturm, ein Spitzturm, ein Haufen niedriger roher erloschener Häuser. Und an dem ihm zugewandten Saum des Städtchens, schräg in die Senke geschmiegt, lag Oldmeadow, das Haus der Pervins. Er sah deutlich die Ställe und die Nebengebäude, ihm zugekehrt in der Geländemulde. Ja, dachte er – dahin werde ich nun auch nicht mehr oft kommen! Wieder einmal war ihm ein Zufluchtsort verloren, wieder eine Stätte genommen: die einzige Gesellschaft, an der ihm lag in dieser fremden häßlichen kleinen Stadt, wurde ihm geraubt. Nun gab es nichts mehr als Arbeit, Schinderei, unablässiges Gerenne von einer Bergmanns- und Eisenarbeiterwohnung zur anderen. Es verzehrte seine Kraft – und doch war er in diese Arbeit leidenschaftlich vernarrt. Es wirkte wie ein Anregungsmittel auf seine Nerven, wenn er durch die Arbeiterhäuser ging und in das innerste und geheimste Leben dieser Menschen eindrang. Für seine Nerven war das Erregung und Befriedigung zugleich. Er kam dem tiefsten Wesen und Leben dieser rauhen, schwerfällig sprechenden Menschen mit den starken und schweren Leidenschaften so unmittelbar nahe. Wohl murrte er, wohl behauptete er das ›verfluchte Loch‹ zu hassen. Aber es erregte ihn eben doch, und die Berührung mit den rauhen, starkempfindenden Menschen war wie ein Reizmittel, das unmittelbar in seine Nervenbahnen gelangte.

Unterhalb von Oldmeadow, in der grünen, flachen, wassergesättigten Feldermulde, lag ein tiefer viereckig geformter Weiher. Als des Doktors rascher Blick über die Landschaft hinstreifte, entdeckte er eine schwarzgekleidete Gestalt, die durch das Gattertor auf das Feld ging und sich zum Weiher hinab bewegte. Er sah zum zweiten Male hin. Das mußte doch Mabel Pervin sein –? Sogleich waren seine Sinne wach und gespannt.

Was wollte sie da am Weiher? Er stieg den Pfad bis zur Höhe des Hügels hinan und spähte angestrengt hinunter. Die kleine schwarze Gestalt drunten im schwindenden Licht war gerade noch wahrnehmbar für ihn. Und doch sah er sie, die sich dunkel auf so dunklem Grund bewegte, mit einer fast hellsichtigen Kraft: das war eher ein geistiges Schauen als ein körperliches Wahrnehmen. Wenn er die Aufmerksamkeit seines Blickes anspannte, sah er sie ganz deutlich. Aber er wußte: wenn er in dieser dicken, widerlich beklemmenden Dämmerung den Blick von ihr verwandte, so würde er sie nicht wiederfinden.

Er folgte aufmerksam ihren Bewegungen; sie schritt geradeaus und angespannt dahin, mehr wie von fremder Kraft gelenkt als aus eigenem Willen sich bewegend – das Feld hinab und auf den Weiher zu. Da stand sie einen Augenblick am Ufer. Sie hob nicht ein einziges Mal den Kopf. Und nun schritt sie langsam in das Wasser hinein. Der Doktor stand unbeweglich, als drunten die kleine schwarze Gestalt langsam und zielbewußt der Mitte des Weihers zuschritt: sehr langsam, Schritt für Schritt ging sie tiefer in das reglose Wasser hinein und hielt auch dann nicht inne, als das Wasser ihr schon bis zur Brust reichte. Und dann, im Dämmerlicht des toten Nachmittags, sah er sie nicht mehr.

»So was!« rief er. »Ist denn das zu glauben!«

Und er rannte geradenwegs von der Höhe hinab, lief über nasse, durchweichte Felder, bahnte sich den Weg durch die Hecken – rannte hinab in die Tiefe aus stumpfem winterlichem Dunkel. Es dauerte mehrere Minuten, bis er den Weiher erreichte. Schwer atmend stand er am Ufer. Er sah nichts von ihr. Seine Blicke drangen ein in das tote Wasser. Ja: das da unter der Oberfläche war vielleicht der Schatten ihres schwarzen Kleides.

Langsam wagte er sich in den Weiher hinein. Der Boden bestand aus tiefem, weichem Lehm, seine Füße sanken ein, und das Wasser umklammerte mit tödlicher Kälte seine Beine. Seine Bewegungen rührten den kalten modrigen Schlamm auf, der faulig im Wasser aufwallte: er spürte den Gestank. Widrig drang es ihm in die Lungen. Es ekelte ihn, aber er gab nicht nach; er schritt tiefer in den Weiher hinein. Das kalte Wasser ging ihm bis an die Schenkel, bis an die Lenden, jetzt bis an den Unterleib. Sein ganzer Unterkörper war versunken in der widerlichen kalten Flut. Und der Boden war so weich und unergründlich und trügerisch, daß er fürchtete, er würde bis über den Mund unter Wasser geraten. Es konnte nicht schwimmen, und er hatte Angst.

Er kauerte sich ein wenig zusammen, spreizte unter Wasser die Hände und tastete hierhin und dorthin, um zu versuchen, ob er sie fassen konnte. Das tote Wasser des Weihers griff mit kalten Wellen nach seiner Brust. Abermals ging er ein wenig tiefer in den Weiher hinein, abermals tastete er unter Wasser umher. Und er berührte ihr Kleid. Aber es entschlüpfte seinen Fingern wieder. Er mühte sich verzweifelt, es zu packen.

Dabei nun verlor er das Gleichgewicht und ging unter. Gräßlich und erstickend würgte ihn das erdige und faulige Wasser, und ein paar Augenblicke kämpfte er wie irrsinnig. Schließlich, ihm schien eine Ewigkeit vergangen, faßte er wieder Fuß, konnte sich erheben und hielt Umschau. Er atmete heftig und wußte, daß er wieder in der Welt war. Dann sah er aufs Wasser hinab. Sie war neben ihm emporgetaucht. Er packte ihr Kleid, zog sie zu sich heran und wandte sich, um dem Ufer zuzuwaten.

Er ging sehr langsam und vorsichtig, mit allen Sinnen und Kräften auf das allmähliche Vorankommen bedacht. So stieg er langsam aus dem Wasser empor und gewann Las Ufer. Nun waren nur noch seine Beine im Wasser, und er wußte mit dankbarer Erleichterung, daß er dem tödlichen Griff des Weihers entronnen war. Er hob Mabel empor und stolperte das Ufer hinan, heraus aus dem gräßlichen, grauen, nassen Lehm.

Er legte Mabel am Ufer nieder. Sie war völlig bewußtlos und triefte von Wasser. Er sorgte dafür, daß sie das verschluckte Wasser wieder hergab, und machte Wiederbelebungsversuche. Und er brauchte nicht sehr lange zu arbeiten, bis er merkte, daß ihre Atmung wiedereinsetzte; der Atem kam und ging regelmäßig. Noch eine kurze Weile, und er fühlte ihr erwachendes Leben unter seinen Händen; sie kam wieder zu sich. Er trocknete ihr das Gesicht, hüllte sie in seinen Überzieher, warf einen Rundblick in die dämmerige, düstergraue Welt; hob sie auf und stolperte am Ufer dahin und über die Felder.

Es war ein unausdenkbar langer Weg, und die Last wurde ihm so schwer, daß ihm zumute war, als würde er das Haus niemals erreichen. Schließlich aber war er doch am Stallungshof und dann im Hof hinter dem Hause. Er öffnete die Tür und ging ins Haus. Sn der Küche legte er sie auf die Kaminmatte und rief. Das Haus war leer. Aber hinter dem Gitter brannte das Feuer.

Abermals kniete er nieder und war um sie bemüht. Sie atmete regelmäßig, ihre Augen waren weit offen, und man hätte sie bei Bewußtsein glauben können; dennoch vermißte er etwas im Ausdruck der Augen. Ihr Bewußtsein umfaßte ihr Selbst, aber es erfaßte nicht die Umwelt.

Er lief nach oben, holte Laken von einem Bett und wärmte sie am Feuer. Dann befreite er Mabel von den durchnäßten, erdig riechenden Kleidern, rieb sie mit einem Handtuch trocken und hüllte sie nackt in die Laken. Schließlich ging er ins Eßzimmer, um nach irgendwelchem Alkohol Umschau zu halten. Er fand einen Rest Whisky, trank selbst einen Schluck und flößte auch ihr etwas ein.

Die Wirkung zeigte sich sofort. Sie sah ihm voll ins Gesicht – so, als hätte sie ihn schon seit einiger Zeit gesehen, wäre sich dessen aber erst jetzt bewußt geworden.

»Doktor Fergusson?« sagte sie.

»Ja«, gab er zurück.

Er zog gerade seinen Rock aus, in der Absicht, sich oben im Hause irgendwelche trockenen Kleidungsstücke zu suchen. Er konnte den Gestank des fauligen, lehmigen Wassers nicht ertragen und hatte zudem eine Todesangst um seine eigene Gesundheit.

»Was hab ich gemacht?« fragte sie.

»In den Weiher sind Sie marschiert«, antwortete er. Ihn hatte ein Schüttelfrost gepackt, als wäre er fieberkrank, und es fiel ihm schwer, sich um sie zu bemühen. Ihre Augen ruhten voll auf ihm, und ihm war, als schwände ihm das Bewußtsein, während er hilflos ihre Blicke erwiderte. Dann aber ließ das Jittern langsam nach, und das Leben strömte in ihn zurück; dunkel und noch ohne Erkenntnis, aber schon wieder voll Kraft.

»War ich geistesgestört?« fragte sie, indessen ihre Augen ihn unverwandt festhielten.

»In dem Augenblick – vielleicht«, antwortete der Doktor. Er war nun ganz ruhig, well seine Kraft zurückgekehrt war. Die seltsame zerrende Spannung war von ihm gewichen.

»Bin ich auch jetzt noch geistesgestört?« fragte sie.

»Ja – sind Sie das?« Er überlegte einen Augenblick.

»Nein«, sagte er dann wahrheitsgemäß. »Ich kann jetzt keine Anzeichen mehr entdecken.« Er wandte das Gesicht zur Seite. Ihm war beklommen zumute, denn er war verwirrt und hatte das dunkle Empfinden, daß sie ihm nun an Kraft überlegen war. Und während des ganzen Gesprächs verwandte sie den Blick nicht von ihm. »Können Sie mir nicht sagen, wo ich ein paar trockene Kleidungsstücke für mich finde?« fragte er.

»Sind Sie um meinetwillen in den Weiher gesprungen?« fragte sie.

»Gesprungen nicht«, antwortete er. »Gegangen. Aber untergetaucht bin ich trotzdem – gründlich.«

Einen Augenblick schwiegen Beide. Er zögerte. Ihn verlangte sehr danach, nach oben zu gehen und in trockene Kleider zu kommen. Aber es war noch ein anderes Verlangen in ihm. Es war, als hielte sie ihn fest. Sein Wille schien eingeschlummert, und da stand er nun willenlos vor ihr, schlaff. Aber er fühlte sich ganz von Wärme durchdrungen. Er spürte nichts mehr von Schüttelfrost, obwohl ihm die Kleider durchnäßt am Leibe klebten.

»Warum haben Sie es getan?« fragte sie.

»Weil ich nicht wollte, daß Sie eine derartige Torheit begehen sollten«, antwortete er.

»Es war keine Torheit«, sagte sie und sah ihn noch immer unverwandt an (sie lag am Boden, ein Sofakissen unter dem Kopf). »Es war das Rechte für mich. Ich wußte ganz genau, daß es das Rechte war.«

»Ich will jetzt mal gehen und das nasse Zeug ausziehen«, sagte er. Aber auch jetzt hatte er nicht die Kraft, sie zu verlassen, wenn sie selbst ihn nicht fortschickte. Das war, als hielte sie das Leben seines Leibes in ihren Händen, und als könnte er sich nicht aus der Verstrickung befreien. Oder – vielleicht wollte er es auch gar nicht.

Plötzlich fuhr sie in sitzende Stellung auf. Und nun wurde sie sich ihres Zustandes bewußt. Sie fühlte die Laken auf ihrer Haut, sie spürte ihre hüllenlosen Glieder. Einen Augenblick war es, als würde sie den Verstand verlieren. Sie blickte um sich, mit wilden Augen, als ob sie etwas suchte. Und sie sah ihre am Boden verstreuten Kleider.

»Wer hat mich ausgezogen?« fragte sie, und ihr Blick ruhte voll und unentrinnbar auf seinem Gesicht.

»Ich«, antwortete er. »Ich mußte Sie doch wieder zu sich bringen.«

Einige Augenblicke saß sie da und starrte ihn mit furchtbaren Augen an. Ihre Lippen waren auseinandergerissen.

»Lieben Sie mich denn?« fragte sie.

Er stand nur da und starrte sie an, gebannt. Ihm war, als schmelze seine Seele dahin.

Sie rutschte auf den Knieen zu ihm hin, sie schlang ihre Arme um ihn, um seine Beine, sie preßte ihre Brüste an seine Kniee, seine Schenkel, sie hielt ihn gepackt mit seltsamer, krampfiger Gewißheit; sie zog seine Schenkel zu sich heran, preßte sie an ihr Gesicht, an ihre Brust, sie sah zu ihm auf mit flackernden, demütigen Augen, in denen es doch schon wie Verklärung leuchtete, in denen der Triumph der ersten Besitzergreifung brannte.

»Sie lieben mich«, stammelte sie in seltsam trunkener Verzückung, sehnsüchtig und siegesgewiß und voll Vertrauen. »Sie lieben mich. Ich weiß, daß Sie mich lieben. Ich weiß es.«

Und sie küßte leidenschaftlich seine Kniee – den nassen Stoff über seinen Knieen, küßte leidenschaftlich und wahllos seine Kniee, seine Beine, als wäre ihr Bewußtsein für alles Andere erloschen.

Er blickte hinab auf ihr wirres, nasses Haar, ihre wilden, nackten, tierhaften Schultern. Er war überrascht, verwirrt, erschreckt. Nie hatte er auch nur mit einem Gedanken Liebe für sie empfunden. Er hatte sich auch nie gewünscht, daß er sie lieben möchte. Als er sie rettete und wieder zu sich brachte, war er Arzt, und sie war Patientin. Auch nicht einer seiner Gedanken hatte ihr persönlich gegolten. Mehr noch: dies Hineintragen des Persönlichen war ihm höchst zuwider, war eine Kränkung seiner Berufsehre. Es war abscheulich, wie sie so dalag und seine Kniee umschlang. Es war abscheulich. Alles in ihm lehnte sich dagegen auf. Und doch – und doch hatte er nicht die Kraft, sie zu verlassen.

Wieder sah sie zu ihm auf, mit demselben flehentlichen Ausdruck machtvoller Liebe; wieder leuchteten ihre Augen in diesem unfaßbaren, erschreckenden Glanz des Triumphes. Dieser Glanz einer Verklärung, der von ihrem Antlitz ausstrahlte wie ein Licht von innen, nahm ihm die Kraft. Und doch hatte er nie daran gedacht, sie zu lieben. Nie hatte er daran gedacht. Und es war ein hartnäckiger Trotz in ihm, der sich nicht ergeben wollte.

»Sie lieben mich«, stammelte sie in tiefer trunkener Gewißheit. »Sie lieben mich.«

Ihre Hände zogen ihn, zogen ihn zu ihr herab. Er erschrak – ja, er erschrak ziemlich heftig. Denn er hatte wirklich gar nicht die Absicht, sie zu lieben. Und doch zogen ihre Hände ihn zu ihr herab. Er streckte rasch die Hand aus, um Halt zu suchen, und traf ihre nackte Schulter. Ihm war, als griffe er in eine Flamme, als er ihre weiche Schulter berührte. Nein, er wollte, er wollte sie nicht lieben: sein ganzer Wille lehnte sich dagegen auf, ihr zu verfallen. Es war furchtbar. Und doch – wundervoll war es, ihre Schulter zu berühren, schön war das Leuchten ihres Gesichts. Ist sie vielleicht von Sinnen? fragte er sich. Er hatte ein Grauen davor, ihr zu verfallen. Und doch war ein unbenennbares, sehnsüchtiges Verlangen in ihm.

Er hatte, von ihr hinweggewandt, starr zur Tür geblickt. Aber seine Hand blieb auf ihrer Schulter. Sie war plötzlich ganz still geworden. Er blickte auf sie herab. Nun las er Furcht und Zweifel in ihren weit offenen Augen; der Glanz ihres Antlitzes erstarb, ein Schatten kündigte schon wieder die furchtbare graue Blässe an. Er ertrug es nicht, daß die Frage ihres Blickes wie eine Berührung nach ihm griff; unerträglich war es, daß hinter dieser Frage der Tod lauerte.

Mit einem lautlosen Aufstöhnen ergab er sich und ließ er es geschehen, daß sein Herz sich ihr hingab. Ein gütiges Lächeln erschien plötzlich auf seinem Gesicht. Und ihre Augen, die ihn keinen Augenblick losließen, füllten sich langsam, langsam mit Tränen. Er sah, wie das wunderbare Wasser in ihren Augen aufstieg: das war wie eine Quelle, die langsam aufdringt. Und ihm war, als stünde sein Herz in Brand und schmölze dahin in seiner Brust.

Er ertrug es nicht mehr, keinen Augenblick mehr, sie anzublicken. Er fiel auf die Kniee und umschlang ihren Kopf mit beiden Armen und drückte ihr Gesicht an seinen Hals. Sie hielt ganz still. Das ist doch, als wäre mir das Herz gebrochen, dachte er: und es brannte wie in Todesqual in seiner Brust. Und er fühlte, wie ihre langsam rinnenden, heißen Tränen seinen Hals benetzten. Aber er vermochte sich nicht zu bewegen.

Er fühlte, wie die heißen Tränen seinen Hals benetzten und auf seine Brust hinabrannen, und er verharrte reglos, eine jener Zeitspannen hindurch, in die sich für uns Menschen eine Ewigkeit drängt. Aber es ging jetzt nicht anders mehr, als daß er ihr Gesicht fest an seinen Körper preßte; nie mehr konnte er sie loslassen. Nie mehr konnte er seinen Arm, der so fest ihren Kopf umschloß, lösen. In alle Zukunft müßte es so bleiben, dachte er; in alle Zukunft müßte mein Herz diese Qual fühlen, die mir doch zugleich Leben bedeutet. Und er blickte, ohne es zu wissen, auf ihr feuchtes, weiches Haar hinab.

Dann, ganz plötzlich, spürte er den abscheulichen Geruch des fauligen Wassers. Und im gleichen Augenblick löste sie sich von ihm und sah ihn an. Ihre Augen waren sehnsüchtig und unergründlich. Er fürchtete sich davor, und so begann er sie zu küssen, ohne zu wissen, was er tat. Er ertrug diesen furchtbaren, sehnsüchtigen, unergründlichen Blick ihrer Augen nicht.

Als sie ihm ihr Gesicht wieder zuwandte, glomm ein leises, zartes Rot in ihren Wangen auf, und da dämmerte in ihren Augen auch schon wieder dieser grauenhafte Glanz der Freude, der ihn tief erschreckte, und nach dem es ihn dennoch jetzt verlangte: denn furchtbarer noch als er war der Ausdruck des Zweifels.

»Liebst du mich?« fragte sie – es war ein zögerndes Stammeln.

»Ja.« Das Wort kostete ihn schmerzliche Anstrengung. Nicht etwa weil es nicht die Wahrheit gewesen wäre. Sondern weil es eine noch zu neue Wahrheit war: das Wort, mit dem er sie aussprach, riß eine neue Wunde in sein eben erst getroffenes Herz. Und er wünschte eigentlich auch gar nicht, daß es die Wahrheit sein möchte – selbst jetzt nicht.

Sie hob ihr Gesicht zu ihm empor, und er neigte sich über sie und küßte sie auf den Mund, zart, mit dem einen einzigen Kuß, der ein Pfand für alle Zukunft ist. Und da er sie küßte, spürte er wieder schmerzlich sein Herz in der Brust. Nie hatte er die Absicht gehabt, sie zu lieben. Nun aber war es geschehen. Er war übers Meer gefahren zu ihr, und alles, was er hinter sich gelassen hatte, war klein und nichtig geworden.

Nach dem Kuß füllten ihre Augen sich wieder langsam mit Tränen. Sie saß still, von ihm weggerückt, den Kopf zur Seite geneigt, die Hände im Schoß gefaltet. Ganz langsam tropften ihre Tränen. Sie gab keinen Laut von sich. Auch er saß reglos und stumm auf dem Kaminteppich. Wieder dachte er: dein Herz ist gebrochen; und es war, als ob der seltsame Schmerz da in seiner Brust seine Lebenskraft verzehrte. War das nun zu fassen: daß er sie lieben sollte? Daß so für ihn die Liebe aussah? Daß er auf solche Art zur Strecke gebracht wurde? Er – als Arzt?! Wie sie alle über ihn spotten würden, wenn sie es wüßten! Schon der Gedanke, daß sie es erfahren könnten, war tödliche Qual für ihn.

Und in der wunderlich nackten Qual dieses Gedankens sah er sie abermals an. Sie saß in Grübeln versunken. Er sah eine Träne fallen, und sein Herz brannte in heiß aufschießender Flamme. Zum ersten Male gewahrte er, daß eine ihrer Schultern ganz unbedeckt, daß einer ihrer Arme nackt war; er sah eine ihrer kleinen Brüste: undeutlich, denn es war beinahe dunkel geworden im Zimmer.

»Warum weinst du?« fragte er, und seine Stimme klang verändert.

Sie sah zu ihm auf, und nun kam ihr wohl zum ersten Male die Lage, in der sie sich befand, zum Bewußtsein: ihre Augen verdunkelten sich vor Scham.

»Ich weine ja gar nicht; wirklich nicht«, sagte sie, und ihr Blick verriet ein wenig Angst.

Seine Hand legte sich sacht um ihren nackten Arm.

»Ich liebe dich! Ich liebe dich!« sagte er mit einer leisen, zitternden Stimme, die ganz den sonstigen Klang verloren hatte.

Sie erschauerte und senkte den Kopf. Der sanfte, gleichsam durchdringende Griff seiner Hand auf ihrem Arm machte sie beklommen. Sie sah zu ihm auf.

»Ich will jetzt gehen«, sagte sie. »Ich will jetzt gehen und dir ein paar trockene Kleider holen.«

»Warum denn?« fragte er. »Ich fühle mich ganz wohl.«

»Ich möchte aber gehen«, sagte sie. »Und ich möchte auch, daß du dich umziehst.«

Er ließ ihren Arm los, und sie hüllte sich in das Bettlaken. Dabei sah sie ihn halb ängstlich an. Und noch immer blieb sie sitzen.

»Küsse mich«, sagte sie sehnsüchtig.

Er küßte sie, aber flüchtig und ein wenig ärgerlich.

Dann, nach einer Sekunde, erhob sie sich, im nervösen Kampf mit dem Laken, in das sie verwickelt war. Er betrachtete sic, wie sie in ihrer Verlegenheit bemüht war, sich aus dem Gewirr freizumachen und sich so einzuhüllen, daß sie gehen konnte. Sein Blick war eine unbarmherzige Musterung: das wußte sie. Und als sie nun ging und das Laken hinter sich dreinschleppte – als er ein Aufschimmern ihrer Füße und ihres weißen Beines erhaschte, versuchte er sich vorzustellen, wie es gewesen war, als er sie in das Laken hüllte. Dann aber wollte er sichs auch wiederum nicht vorstellen: denn in jenem Augenblick hatte sie ihm noch nichts bedeutet, und alles in ihm lehnte sich gegen die Erinnerung auf: soundso hat sie ausgesehen, als sie dir noch nichts bedeutete – – –

Er schrak auf: im dunklen Hause fiel Irgendetwas mit gedämpftem Geräusch zu Boden. Dann hörte er ihre Stimme: »– da hast du was zum Anziehen.« Er stand auf, ging zur Treppe und sammelte die Kleidungsstücke auf, die sie ihm heruntergeworfen hatte. Dann kehrte er zum Feuer zurück, um sich abzureiben und umzuziehen. Als er fertig war, sah er grinsend an sich hinunter; er kam sich komisch vor. Das Feuer war herunter gebrannt; er legte Kohlen nach. Es war nun ganz dunkel im Hause, nur von der Straßenlaterne, die jenseits der Taxusbüsche stand, drang ein schwacher Lichtschein herein. Der Doktor entzündete die Gaslampe; Zündhölzer fanden sich auf dem Kaminsims. Dann leerte er die Taschen seines Anzugs aus und warf das Bündel nasser Kleidungsstücke in den Spülraum. Schließlich sammelte er auch Mabels durchnäßte Kleider ein, ganz behutsam, und legte sie als gesondertes Bündel auf den Kupferkessel im Spülraum.

Er sah auf seine Taschenuhr: sie war stehen geblieben. Die Wanduhr zeigte auf sechs. Es war Zeit für ihn, wieder zum Krankenhause zu gehen. Er wartete eine Weile, aber Mabel kam nicht herunter. So rief er denn am Fuße der Treppe: »Ich muß gehen!«

Fast unmittelbar darauf hörte er sie herunterkommen. Sie trug ihr bestes Kleid aus schwarzem Voile, und ihr Haar war noch feucht, aber sorgsam gescheitelt. Sie sah ihn an und mußte wider Willen lächeln.

»In der Aufmachung gefällst du mir nicht«, sagte sie.

»Sehe ich sehr schlimm aus?« fragte er.

Beide fühlten sich befangen.

»Ich sorge für eine Tasse Tee«, sagte sie.

»Nein, ich muß gehen.«

»Mußt du wirklich?« Wieder sah sie ihn mit weit offenen, angespannt forschenden, zweifelvollen Augen an. Und wieder wußte er, daß er sie liebte: der Schmerz in seiner Brust sagte es ihm. Er ging zu ihr und neigte sich, um sie zu küssen, zart, leidenschaftlich, mit dem Kuß, der aus seinem schmerzenden Herzen kam.

»Und mein Haar riecht so widerlich«, flüsterte sie unruhig. »Und ich bin so abscheulich, so abscheulich. Nein, nein – ich bin zu abscheulich.« Sie schluchzte bitterlich und herzzerbrechend. »Du kannst mich ja gar nicht lieb haben. Ich bin so abstoßend – – –«

»Unsinn, Unsinn, sei doch nicht töricht«, suchte er sie zu trösten. Er hielt sie im Arm und küßte sie. »Ich hab dich lieb, ich will dich heiraten, wir lassen uns trauen, ganz, ganz schnell – morgen schon, wenns geht.«

Sie aber, von furchtbarem Schluchzen geschüttelt, rief:

»Ich weiß, daß ich abscheulich bin. Abscheulich. Ich weiß, daß ich dir widerlich sein muß.«

»Nein, ich hab dich lieb, ich hab dich lieb!« Das war alles, was er sagte – und er sagte es in dem furchtbaren Ton, der ihr fast noch mehr Entsetzen einflößte als die grauenhafte Angst, daß er sie etwa nicht liebte.


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