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Edith mit dem Schwanenhals

»Arsène Lupin, was halten Sie vom Inspektor Ganimard?«

»Viel Gutes, lieber Freund.«

»Viel Gutes? Aber warum versäumen Sie dann keine Gelegenheit, um ihn lächerlich zu machen?«

»Das ist eine schlechte Angewohnheit, die ich aufrichtig bereue. Aber was wollen Sie? Das ist die Regel. Ein guter Beamter der Polizei, da sind haufenweise tüchtige Kerls, die beauftragt sind, für Ordnung zu sorgen, uns gegen die Apachen zu schützen, die sich für uns anständige Leute töten lassen – und als Dank haben wir nur Spott und Verachtung für sie! Das ist doch idiotisch!«

»Bravo, Lupin, Sie sprechen wie ein guter Bürger.«

»Was bin ich denn sonst? Wenn ich über anderer Leute Eigentum meine etwas eigenen Gedanken habe – ich schwöre es Ihnen, sobald es sich um mein Eigentum handelt, habe ich ganz andere Ansichten! Den Teufel, es sollte sich keiner einfallen lassen, sich an meinem Eigentum zu vergreifen! Dann werde ich wild. Oho! Meine Börse, meine Brieftasche, meine Uhr. Pfoten weg! Lieber Freund, ich habe die Seele eines Konservativen, die Instinkte eines kleinen Rentners und Respekt vor allen Traditionen und allen Behörden. Und deswegen empfinde ich für Ganimard große Achtung und tiefe Dankbarkeit.«

»Aber wenig Bewunderung.«

»Auch viel Bewunderung. Außer dem unbezähmbaren Mut, der Spezialeigenschaft aller Kriminalbeamten, besitzt Ganimard sehr wertvolle Eigenschaften, Entschluß- und Urteilskraft. Ich habe ihn bei der Arbeit gesehen. Ein ganzer Kerl. Kennen Sie eigentlich die sogenannte Geschichte von Edith mit dem Schwanenhals?«

»Natürlich.«

»Das heißt gar nicht. Diese Geschichte ist vielleicht die Geschichte, die ich am besten vorbereitet hatte, mit der größten Sorgfalt und Vorsicht, die ich in das stärkste Dunkel und in das undurchdringlichste Geheimnis gehüllt hatte und bei deren Ausführung die äußerste Beherrschung vonnöten war. Die reine Schachpartie: gelehrt, streng und mathematisch. Und Ganimard hat den Knäuel schließlich doch entwirrt. Jetzt kennt man dank ihm die Wahrheit. Und ich kann Ihnen nur sagen: eine durchaus nicht alltägliche Wahrheit.«

»Kann man sie hören?«

»Gewiß ... früher ... oder später ... sobald ich Zeit habe ... Aber heute abend tanzt die Brunelli in der Oper, und wenn sie mich nicht auf meinem Platze sieht ...«

Meine Begegnungen mit Lupin sind selten. Er geht nicht oft aus sich heraus. Nur nach und nach, brockenweise, habe ich die Phasen der Geschichte notieren und sie dann in ihrer Gesamtheit mit allen Einzelheiten festhalten können.

Als vor etwa drei Jahren ein von Brest kommender Zug in Rennes einlief, fand man die Tür eines Packwagens erbrochen, der auf Rechnung des Oberst Sparmiento lief. Dieser reiche Brasilianer reiste mit seiner Gattin im gleichen Zuge.

Der erbrochene Packwagen enthielt eine ganze Sendung von Gobelins. Der Kasten, der den einen Gobelin enthielt, war erbrochen und das Kunstwerk gestohlen.

Oberst Sparmiento klagte gegen die Eisenbahngesellschaft und verlangte erheblichen Schadenersatz für die Wertverminderung seiner Sammlung durch den Diebstahl des einen Gobelins.

Die Polizei suchte. Die Gesellschaft setzte eine große Prämie aus. Als man zwei Wochen später auf der Post einen schlecht verschlossenen Brief öffnete, kam man dahinter, daß der Diebstahl unter Arsène Lupins Leitung ausgeführt worden war und daß ein Kolli am nächsten Tage nach Nordamerika aufgegeben werden sollte. Am gleichen Abend entdeckte man den Gobelin in einem Koffer, der am Saint-Lazare-Bahnhof zum Aufheben abgegeben worden war.

Folglich ein Fehlschlag. Lupin war derart enttäuscht, daß er seiner schlechten Laune in einem Briefe an Sparmiento Ausdruck gab, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ: »Ich bin so anständig gewesen, nur einen zu nehmen. Das nächste Mal nehme ich alle zwölf. Wen's juckt, der kratze sich! A. L.«

Der Oberst Sparmiento bewohnte seit einigen Monaten ein Haus inmitten eines kleinen Gartens an der Ecke der Rue de la Faisanderie und der Rue Dufrénoy. Der Oberst war ein ziemlich starker Mann, mit breiten Schultern, schwarzen Haaren und gebräuntem Teint; er zog sich mit maßvoller Eleganz an. Er hatte eine ungewöhnlich schöne Engländerin geheiratet, deren Gesundheit jedoch sehr zart war; das Abenteuer mit den Gobelins ging ihr sehr nahe. Vom ersten Tage an bat sie ihren Mann, er solle sie, ganz gleich an wen, verkaufen. Der Oberst hatte eine zu hartnäckige Natur, um dem nachzugeben, was er mit Recht die Laune einer Frau nannte. Er verkaufte nichts, aber er verdoppelte die Vorsichtsmaßregeln und umgab sich mit allen Mitteln, die einen Einbruch unmöglich machen können.

Um nur die auf den Garten gehende Fassade überwachen zu brauchen, ließ er zunächst alle Fenster des Erdgeschosses und im ersten Stock, die nach der Rue Dufrénoy gingen, zumauern. Dann sicherte er sich die Mitarbeit eines Spezialhauses, das für unbedingte Sicherheit seiner Villa bürgte. Man richtete bei ihm an jedem Fenster, an dem Gobelins hingen, eine selbsttätige und unsichtbare Vorrichtung an, deren Mechanismus nur er kannte und die bei der geringsten Bewegung sämtliche elektrische Lampen der Villa zum Brennen und eine ganze Maschinerie von Glocken zum Läuten brachte.

Außerdem waren die Versicherungsgesellschaften, an die er sich wandte, mit einer größeren Versicherung nur einverstanden, wenn er nachts im Erdgeschoß seiner Villa drei von ihnen gestellte und bezahlte Männer unterbrachte. Zu diesem Zwecke suchten sie drei ehemalige Kriminalbeamte aus, die sicher und erprobt waren und Lupin tödlich haßten.

Sein Personal kannte der Oberst seit geraumer Zeit. Dafür übernahm er die Verantwortung.

Nachdem all diese Maßnahmen getroffen worden waren und man die Verteidigung der Villa wie die einer Festung organisiert hatte, gab der Oberst eine Art Einweihungsfest, zu dem die Mitglieder der beiden Klubs eingeladen waren, deren Mitglied er war, und außerdem eine gewisse Anzahl von Damen, Journalisten, Sammlern und Kunstkritikern.

Sobald man das Tor hinter sich hatte, schien es, als betrete man ein Gefängnis. Die drei am Fuß der Treppe aufgestellten Beamten fragten nach den Einladungskarten und sahen die Ankömmlinge mißtrauisch an. Man hatte den Eindruck, sie würden zur Leibesvisitation schreiten und Fingerabdrücke nehmen.

Der Oberst, der im ersten Stock seine Gäste begrüßte, entschuldigte sich lachend und erklärte glücklich alle Dispositionen, die er zur Sicherung seiner Gobelins getroffen hatte.

Seine Frau stand neben ihm, reizend, jung und anmutig, blond, bleich und schmiegsam, etwas melancholisch und sanft, mit jenem Gesichtsausdruck, den Menschen haben, die vom Schicksal bedroht sind.

Als alle Gäste versammelt waren, schloß man das Gartentor und die Tür zum Vestibül. Dann ging man in die Zentralgalerie, in die man durch zwei gepanzerte Doppeltüren gelangte und deren Fenster, die durch Eisenstäbe geschützt waren, mit gewaltigen Läden versehen waren. Hier hingen die zwölf Gobelins.

Es waren unvergleichliche Kunstwerke, die nach dem Vorbilde des berühmten Gobelin von Bayeux, den man der Königin Mathilde zuschreibt, die Geschichte der Eroberung Englands darstellen. Im XVI. Jahrhundert vom Nachkommen eines Waffengefährten Wilhelms des Eroberers bestellt und von Jean Gosset, einem berühmten Weber aus Arras ausgeführt, waren sie fünfhundert Jahre später in einem alten Schloß in der Bretagne wieder aufgefunden worden. Davon unterrichtet, hatte der Oberst sie für fünfzigtausend Francs erworben. Sie waren zehnmal soviel wert.

Aber der schönste von den zwölf Gobelins, der eigenartigste, obwohl nicht auf Anregung der Königin Mathilde geschaffen, war der, den Lupin gestohlen und den man ihm wieder abgenommen hatte. Er stellte Edith mit dem Schwanenhals dar, die unter den Toten von Hastings den Leichnam ihres Geliebten Harold, des letzten Sachsenkönigs, sucht.

Vor der naiven Schönheit der Zeichnung, vor den erloschenen Farben, vor der belebten Gruppierung der Gestalten und vor der furchtbaren Traurigkeit der Szene gerieten die Gäste in Begeisterung. Edith mit dem Schwanenhals, die unglückliche Königin, neigte sich wie eine zu schwere Lilie. Ihr weißes Kleid umfloß ihren hingegossenen Körper. Ihre langen Hände machten eine entsetzte und flehentliche Bewegung. Und nichts war schmerzerfüllter als ihr Profil, in dem sich das melancholischste und verzweifeltste Lächeln ausdrückte.

»Ein ergreifendes Lächeln,« bemerkte einer der Kritiker, »ein Lächeln voller Reiz, das mich übrigens an das Lächeln Ihrer Gattin erinnert, Herr Oberst.«

Und da die Bemerkung richtig zu sein schien, fuhr er fort:

»Auch noch andere Punkte, die ich sofort bemerkt habe, erscheinen mir sehr ähnlich: die sehr anmutige Krümmung des Nackens ... und auch etwas in der Silhouette, in der Haltung ...«

»Es ist so wahr,« sagte der Oberst, »daß mich diese Ähnlichkeit zum Ankauf der Gobelins bewogen hat. Und dann kommt noch ein anderer Grund hinzu. Durch einen sonderbaren Zufall heißt meine Frau Edith ... Seither nenne ich sie Edith mit dem Schwanenhals ...«

Und der Oberst fügte lachend hinzu:

»Ich hoffe, daß die Ähnlichkeit da aufhört! Und daß meine liebe Edith nicht, wie in der Geschichte, den Leichnam ihres Geliebten zu suchen hat! Gott sei Dank! Ich bin wohl und munter und habe nicht die geringste Lust zu sterben. Allerdings, wenn die Gobelins verschwinden ... dann könnte ich wirklich den Kopf verlieren ...«

Er lachte bei diesen Worten, aber sein Lachen fand kein Echo, und bei allen Erzählungen, die man in den nächsten Tagen hörte, herrschte dieses peinliche Gefühl weiter. Die Gäste erwiderten nichts.

Irgendeiner wollte scherzen:

»Sie heißen doch nicht Harold, Herr Oberst?«

»Weiß Gott: nein!« und er blieb heiter, als er diese Worte aussprach. »Nein, ich heiße nicht so, und ich habe nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Sachsenkönig.«

Alle waren sich später darüber einig, daß in diesem Augenblick, als der Oberst seinen Satz beendete, von den Fenstern her (von dem rechts oder von dem in der Mitte – darüber waren die Meinungen geteilt) das erstemal ein helles, kurzes, klares Läuten ertönte. Dem Läuten folgte ein Schreckensschrei der Frau Sparmiento, die ihren Mann beim Arm packte. Der Oberst rief:

»Was ist das? Was soll das bedeuten?«

Unbeweglich blickten die Gäste nach den Fenstern. Der Oberst wiederholte:

»Was soll das bedeuten? Das verstehe ich nicht! Nur ich allein kenne den Platz der Glocken ...«

Im gleichen Augenblick – auch hier Einstimmigkeit der Zeugenaussagen – wurde es mit einem Schlage völlig dunkel, und zwar überall: in allen Salons und in allen Zimmern, und im gleichen Augenblick ertönte der ohrenbetäubende Lärm aller Glocken und Läutewerke.

Einige Sekunden herrschte die törichtste Unordnung und das wüsteste Entsetzen. Die Frauen schrien. Die Männer hämmerten mit den Fäusten gegen die verschlossenen Türen. Man stieß sich. Man schlug sich. Man trat auf die Leute, die zu Boden fielen. Es war die Panik einer Menge bei einem Brande oder bei der Explosion einer Granate. Den Tumult übertönte die Stimme des Obersten:

»Ruhe! ... Rühren Sie sich nicht! ... Ich stehe für alles ein! ... Der Lichtschalter ist in der Ecke ... da ...«

Und wirklich: er bahnte sich einen Weg durch die Menge und erreichte die Ecke der Galerie, und plötzlich schien das elektrische Licht wieder, während gleichzeitig das rasende Läuten aufhörte.

Da wurde in der plötzlichen Helligkeit ein seltsames Schauspiel sichtbar. Zwei Frauen waren ohnmächtig geworden. In die Knie gesunken und bleich hing Frau Sparmiento am Arme ihres Gatten; sie glich einer Toten. Die Männer sahen mit ihren verschobenen Krawatten aus wie Kämpfer.

»Die Gobelins sind da!« schrie irgendeiner.

Man war sehr erstaunt, als ob das Verschwinden der Gobelins allein die natürliche Folge und die einzig plausible Erklärung dieses Abenteuers hätte sein müssen.

Aber nichts hatte sich verändert. Einige kostbare Bilder hingen noch an den Wänden. Und obwohl der Lärm im ganzen Hause zu hören war, und obwohl in allen Räumen gleichzeitig völlige Dunkelheit geherrscht hatte, hatten die Wächter niemanden eintreten oder sich Eintritt erzwingen sehen ...

»Übrigens,« sagte der Oberst, »nur die Fenster der Galerie sind mit Apparaten versehen; ich bin der einzige, der ihren Mechanismus kennt, und außerdem waren sie nicht aufgezogen.«

Man lachte über den Alarm, aber man lachte ohne Überzeugung und aus einem gewissen Schamgefühl heraus, denn jeder fühlte die Sinnlosigkeit seines Verhaltens. Und man beeilte sich, dieses Haus zu verlassen, in dem man trotz allem in einer Atmosphäre von Unruhe und Beklemmung atmete.

Zwei Journalisten blieben; der Oberst trat zu ihnen, nachdem er sich um seine Frau gekümmert und sie ihren Kammerfrauen übergeben hatte. Zu dritt veranstalteten sie mit den Detektiven eine Untersuchung, die übrigens nicht die geringste interessante Einzelheit an den Tag brachte. Dann ließ der Oberst eine Flasche Champagner öffnen. Und erst zu vorgerückter Stunde – genau um zwei Uhr fünfundvierzig – verließen die Journalisten das Haus, ging der Oberst in sein Zimmer und zogen sich die Detektive in den für sie im Erdgeschoß reservierten Raum zurück.

Abwechselnd zogen sie auf Wache. Die Wache bestand darin, sich wach zu halten, dann eine Runde im Garten zu machen und schließlich in die Galerie hinaufzugehen.

Diese Vorschrift wurde pünktlich ausgeführt, nur nicht von fünf bis sieben Uhr in der Frühe, wo der Schlaf sie überwältigte und sie keine Runde mehr machten. Draußen aber war es hellerlichter Tag. Und hätten sie sich nicht außerdem beim geringsten Glockenzeichen erhoben?

Als einer von ihnen um sieben Uhr zwanzig die Galerie aufschloß und die Läden öffnete, mußte er feststellen, daß die zwölf Gobelins verschwunden waren.

Später hat man diesem Manne und seinen Kameraden vorgeworfen, nicht unmittelbar Alarm geschlagen und mit den Nachforschungen begonnen zu haben, ohne den Obersten zu benachrichtigen und das Polizeirevier zu verständigen. Warum aber ist diese so entschuldbare Verzögerung der Tätigkeit der Polizei so hinderlich gewesen?

Wie dem auch sei – der Oberst wurde erst um halb neun Uhr verständigt. Er war bereits fertig angezogen und im Begriff auszugehen. Die Nachricht schien ihn nicht besonders aufzuregen, mindestens aber beherrschte er sich ausgezeichnet. Aber die Anstrengung schien zu groß zu sein, denn plötzlich sank er auf einen Stuhl und überließ sich einige Augenblicke einem wahren Anfall von Verzweiflung, der bei einem scheinbar so energisch aussehenden Manne doppelt peinlich anzusehen war.

Nachdem er seine Fassung wiedergewonnen hatte, ging er in die Galerie, prüfte die nackten Wände, setzte sich dann vor einen Tisch, schrieb schnell einen Brief, den er in einen Umschlag steckte und versiegelte.

»Hier,« sagte er, »ich habe es eilig ... eine dringende Verabredung ... hier ist ein Brief für den Polizeikommissar.«

Und da die Wächter ihn beobachteten, fügte er hinzu:

»Ich teile dem Kommissar meinen Eindruck mit ... mir kommt ein Verdacht ... vielleicht prüft er meine Vermutung nach ... Ich selbst will nicht müßig gehen ...«

Er eilte von dannen, mit Bewegungen, an deren Erregtheit die Wächter sich eines Tages erinnern sollten.

Einige Minuten später erschien der Polizeikommissar. Man gab ihm den Brief. Er enthielt folgende Worte:

»Meine geliebte Frau möge mir den Kummer, den ich ihr bereite, verzeihen. Bis zum letzten Atemzuge wird ihr Name auf meinen Lippen sein.«

So stürzte sich der Oberst Sparmiento in einem Augenblick von Wahnsinn, nach einer Nacht, in der die nervöse Anspannung gleichsam ein Fieber in ihm entfacht hatte, dem Selbstmorde entgegen. Würde er den Mut aufbringen, eine solche Handlung zu begehen? Oder würde ihn im letzten Moment seine Vernunft zurückhalten?

Man benachrichtigte Frau Sparmiento.

Während man Untersuchungen anstellte und die Spur des Obersten zu finden suchte, wartete sie bebend und voller Entsetzen.

Am späten Nachmittag erfolgte ein Telephonanruf aus Ville d'Avray. Nach der Durchfahrt eines Zuges hatten Leute beim Verlassen eines Tunnels den entsetzlich verstümmelten Leichnam eines Menschen gefunden, dessen Gesicht kaum zu erkennen war. Die Taschen enthielten keinerlei Papiere. Aber das Signalement entsprach dem des Obersten.

Um sieben Uhr abends stieg Frau Sparmiento in Ville d'Avray aus dem Automobil. Man führte sie in ein Zimmer des Bahnhofs. Als man das Tuch zurückschlug, erkannte Edith, Edith mit dem Schwanenhals, den Leichnam ihres Gatten.

Unter diesen Umständen hatte Lupin, wie man zu sagen pflegt, keine gute Presse.

»Er muß sich in acht nehmen!« schrieb ein ironischer Chronist, der die allgemeine Ansicht treffend wiedergab, »es bedarf nicht vieler solcher Geschichten, damit er alle Sympathie, mit der wir ihm gegenüber bisher wahrlich nicht gegeizt haben, verliert. Lupin ist annehmbar nur, wenn er seine Schurkereien zum Schaden wucherischer Bankiers, zweifelhafter Hochstapler oder finanzgewaltiger Aktiengesellschaften begeht. Und vor allem darf er nicht töten! Hände eines Einbrechers – meinetwegen, aber nicht die Hände eines Mörders! Wenn er auch nicht getötet hat, so ist er doch für diesen Tod verantwortlich. An ihm klebt Blut. Die Waffen seines Wappens sind rot ...«

Zum Zorn und zur Empörung der Öffentlichkeit gesellte sich das Mitleid, das Ediths bleiches Gesicht hervorrief. Die Gäste vom Abend vorher kamen zu Worte. Man erfuhr die erschütternden Einzelheiten des Abends, und sofort bildete sich eine Legende um die blonde Engländerin, eine Legende, die dem volkstümlichen Abenteuer der Königin mit dem Schwanenhals einen geradezu tragischen Zug entlehnte.

Und trotzdem konnte man sich nicht enthalten, die geradezu außergewöhnliche Virtuosität zu bewundern, mit der der Diebstahl ausgeführt worden war. Die Polizei erklärte ihn sofort auf folgende Art und Weise: da die Detektive – was später bestätigt worden war – sofort bemerkt hatten, daß eines der drei großen Galeriefenster offen stand, war kaum daran zu zweifeln, daß Arsène Lupin und seine Helfershelfer durch dieses Fenster eingestiegen waren. Eine sehr plausible Annahme. Aber wie hatten sie: 1. beim Kommen und Gehen das Gartentor passieren können, ohne bemerkt zu werden? 2. Den Garten durchqueren und auf dem Beet eine Leiter aufstellen können, ohne eine Spur zu hinterlassen? 3. Läden und Fenster öffnen können, ohne das Läutewerk auszulösen?

Das Publikum verdächtigte die drei Wächter. Der Untersuchungsrichter verhörte sie sehr lange, forschte in ihrem Privatleben nach und erklärte formell, daß sie über jeden Verdacht erhaben seien.

Man hatte keinerlei Anhaltspunkte für die Wiederauffindung der Gobelins.

In diesem Augenblick kam der Oberinspektor Ganimard aus Indien zurück, wo er nach dem Abenteuer mit dem Diadem und Sonja Krischnoffs Verschwinden und auf Grund eingehender Angaben von Seiten ehemaliger Helfershelfer von Lupin dessen Spur verfolgt hatte. Da er wieder einmal von seinem alten Gegner hereingelegt worden war und annahm, Lupin habe ihn nach dem fernen Osten gelockt, um sich seiner während der Geschichte mit den Gobelins zu entledigen, bat er seine Vorgesetzten um einen vierzehntägigen Urlaub, besuchte Frau Sparmiento und versprach ihr, ihren Gatten zu rächen.

Edith war in jenem Zustande, wo der Gedanke an Rache den quälenden Schmerz nicht zu verdrängen vermag. Am Abend der Bestattung noch hatte sie die drei Wächter entlassen; das gesamte Personal, das sie zu grausam an die Vergangenheit erinnerte, ersetzte sie durch einen alten Diener und eine alte Kammerfrau. Gleichgültig gegen alles, schloß sie sich in ihr Zimmer und ließ Ganimard volle Handlungsfreiheit.

Er richtete sich im Erdgeschoß ein und begann mit seinen sorgsamen Untersuchungen. Er begann von vorn, forschte im Viertel nach, studierte den Plan des Hauses und ließ jedes Läutewerk zwanzig-, dreißigmal gehen.

Nach vierzehn Tagen bat er um Verlängerung seines Urlaubs. Der damalige Chef der Kriminalpolizei, Dudouis, besuchte ihn und überraschte ihn auf einer Leiter in der Galerie.

An diesem Tage gab der Inspektor die Vergeblichkeit seiner Nachforschungen zu.

Aber am übernächsten Tage fand Dudouis, der abermals zu ihm kam, den Oberinspektor in großen Sorgen vor. Vor ihm lag ein Bündel Zeitungen. Von Fragen bestürmt murmelte Ganimard schließlich:

»Ich weiß nichts, gar nichts, aber ein verteufelter Gedanke läßt mich nicht los! ... Aber die Sache ist derart irrsinnig! ... Und gibt auch keine Erklärung ... Im Gegenteil, die Sache wird dadurch nur noch verwirrter ...«

»Was denn?«

»Bitte haben Sie ein wenig Geduld! ... Lassen Sie mich nur machen ... Aber sollte ich Ihnen eines Tages telephonieren, dann springen Sie sofort in ein Auto und verlieren Sie keine Minute! Dann nämlich wäre ich am Ziel!«

Es vergingen weitere achtundvierzig Stunden. Eines Morgens erhielt Dudouis einen Rohrpostbrief.

»Ich reise nach Lille.« Unterschrift: »Ganimard.«

Der Tag verging ohne Nachrichten; ebenso der nächste.

Aber Dudouis hatte Vertrauen. Er kannte Ganimard und wußte, daß der alte Kriminalist sich nicht ohne Gründe festbiß. Wenn Ganimard »losging«, dann hatte er gewichtige Gründe dazu.

Und richtig, am Abend des zweiten Tages wurde Dudouis ans Telephon gerufen.

»Herr Dudouis?«

»Ja, Ganimard?«

Da sie beide vorsichtig waren, vergewisserten sie sich erst einmal gegenseitig ihrer Identität. Dann fuhr Ganimard hastig fort:

»Sofort zehn Mann. Und bitte kommen Sie selbst mit, Herr Dudouis.«

»Wo sind Sie?«

»Im Hause, im Erdgeschoß. Aber ich erwarte Sie hinter dem Gitter im Garten.«

»Ich komme. Im Auto natürlich?«

»Jawohl. Lassen Sie das Auto hundert Schritte vorher halten. Ein leiser Pfiff, und ich öffne.«

Die Sachen spielten sich ab, wie Ganimard es vorgeschrieben hatte. Kurz nach Mitternacht, als in den oberen Stockwerken alle Lichter verlöscht waren, glitt er auf die Straße und ging Dudouis entgegen. Ein schneller Kriegsrat wurde abgehalten. Die Beamten gehorchten Ganimards Befehlen. Dann gingen Dudouis und der Inspektor gemeinsam zurück, durchquerten lautlos den Garten und schlossen sich unter den größten Vorsichtsmaßregeln ein.

»Nun und?« fragte Dudouis. »Was bedeutet das alles? Wir benehmen uns wie Verschwörer ...«

Aber Ganimard lachte nicht. Niemals hatte ihn sein Vorgesetzter in so großer Erregung gesehen, und ihn mit so schwankender Stimme sprechen hören.

»Etwas Neues, Ganimard?«

»O ja! ... Aber ich wage selbst noch nicht, daran zu denken ... Trotzdem täusche ich mich nicht ... Ich weiß die Wahrheit ... Alles andere ist unmöglich ...«

Er wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn, und als Dudouis ihn fragte, beherrschte er sich, stürzte ein Glas Wasser hinunter und begann:

»Lupin hat mich oft genug hereingelegt ...«

»Ganimard,« unterbrach ihn Dudouis, »wozu die Umwege ... Sagen Sie mir doch in zwei Worten, worum es sich handelt.«

»Nein, Herr Dudouis, Sie müssen die verschiedenen Phasen kennen, die ich durchlaufen habe. Verzeihen Sie, aber ich halte das für unerläßlich.«

Und er wiederholte:

»Ich sagte also, daß Lupin mich oft genug hereingelegt hat. Aber in diesem Duell, in dem ich bisher immer unterlegen war, habe ich wenigstens an Erfahrung gewonnen, ich habe seine Taktik kennengelernt. In der Gobelinangelegenheit habe ich mir sofort zwei Fragen vorlegen müssen:

1. Da Lupin niemals etwas tut, ohne zu wissen, worauf er hinaus will, mußte er Sparmientos Selbstmord als eine mögliche Folge des Verschwindens der Gobelins ins Auge fassen. Trotzdem hat Lupin, der einen Abscheu vor Blutvergießen hat, die Gobelins gestohlen.«

»Fünf- bis sechshunderttausend Francs sind immerhin verlockend ...«

»Nein, ich wiederhole nochmals: ganz gleich bei welcher Gelegenheit, und wenn es um Millionen und aber Millionen ginge, niemals würde Lupin töten oder die Veranlassung zu einem Tode sein wollen. Das ist der erste Punkt.

2. Wozu der Lärm, am Abend vorher, anläßlich des Einweihungsfestes? Augenscheinlich, um zu erschrecken, nicht wahr, um in wenigen Minuten eine Atmosphäre von Unruhe und Entsetzen zu schaffen, und außerdem, um von einem Verdacht abzulenken, den man sonst hätte fassen können ... Verstehen Sie das nicht?«

»Nein.«

»Allerdings,« sagte Ganimard, »allerdings ist die Sache auch nicht ganz klar. Auch ich habe, als ich mir diese Fragen vorgelegt habe, zuerst nicht recht verstanden. Trotzdem hatte ich den Eindruck, daß ich auf dem rechten Wege sei. Ja, es stand außer jedem Zweifel, daß Lupin den Verdacht ablenken wollte, auf sich ablenken wollte, wohlverstanden, damit die Person, die die Sache leitete, im Dunkeln bleiben könnte.«

»Ein Komplice?« fragte Dudouis, »ein Komplice, der als Gast die Läutewerke in Gang setzte? Und der sich nachher im Hause verbergen konnte?«

»Ganz recht ... ganz recht ... Sie sind nahe daran! Es steht fest, daß die Gobelins nicht von jemand gestohlen wurden, der sich eingeschlichen hatte, sondern von jemand, der im Hause geblieben war; ebenso ist es sicher, daß man bei einer Prüfung der Gästeliste und bei genauester ...«

»Nun?«

»Gewiß, auch da gibt es ein Aber ..., denn die drei Detektive hatten bei Ankunft und auch bei Abfahrt der Gäste die Liste in der Hand. Dreiundsechzig Gäste sind gekommen und dreiundsechzig Gäste sind gegangen. Folglich ...«

»Ein Diener also?«

»Nein.«

»Die Detektive?«

»Nein.«

»Aber ... aber ...,« sagte Dudouis ungeduldig, »wenn der Diebstahl von innen aus begangen wurde ...«

»Das steht unzweifelhaft fest. Alle meine Nachforschungen gingen auf dasselbe hinaus. Und meine Überzeugung wurde nach und nach so groß, daß ich eines Tages dazu kam, folgende verblüffende Formel zu finden:

Theoretisch und praktisch hat die Tat nur mit Hilfe eines im Hause wohnenden Komplicen begangen werden können. Es war aber kein Komplice vorhanden.«

»Sinnlos«, sagte Dudouis.

»In der Tat sinnlos, aber im Augenblick, da ich diesen Satz aussprach, wurde mir die Wahrheit klar.«

»Wie bitte?«

»Oh, eine sehr dunkle Wahrheit, die unvollständig und ungenügend war. Aber mit diesem Faden mußte ich bis ans Ende gehen. Verstehen Sie mich?«

Dudouis schwieg. In ihm ging dasselbe vor wie in Ganimard. Er murmelte:

»Wenn es keiner der Gäste ist, keiner von den Dienern und auch nicht die Detektive, dann bleibt doch keiner mehr übrig ...«

»Doch, es bleibt noch jemand übrig ...«

Dudouis erbebte, als habe er einen Stoß erhalten, und sagte mit einer Stimmung, der man deutlich seine Erregung anmerken konnte:

»Aber nein, das ist ja unmöglich ...«

»Warum?«

»Aber ...«

»Bitte, Herr Dudouis ...«

»Unmöglich! Wie! Sparmiento sollte Lupins Komplice gewesen sein!«

Ganimard mußte grinsen:

»Ausgezeichnet. Lupins Komplice ... So erklärt sich alles. Nachts, während die drei Wächter unten wachten oder vielmehr schliefen, denn der Oberst hatte ihnen nicht ganz einwandfreien Champagner zu trinken gegeben, nimmt besagter Oberst die Gobelins von den Wänden und reicht sie aus den Fenstern seines Zimmers, denn dieses Zimmer, im zweiten Stock, geht auf eine andere Straße, die nicht bewacht wurde, da die unten liegenden Fenster vermauert sind.«

Dudouis dachte nach; dann zuckte er die Achseln:

»Unmöglich!«

»Warum denn?«

»Warum! Wenn der Oberst Lupins Komplice gewesen wäre, hätte er nach dem Gelingen des Coups doch nicht Selbstmord verübt!«

»Und wer sagt Ihnen, daß er sich getötet hat?«

»Wie denn! Man hat ihn doch tot aufgefunden!«

»Bei Lupin, das habe ich Ihnen schon einmal gesagt, gibt es keine Tote.«

»Der Tote war aber wirklich. Außerdem hat Frau Sparmiento ihn wiedererkannt.«

»Das habe ich mir gedacht, Herr Dudouis. Auch mich hat dieses Argument geplagt. Plötzlich hatte ich statt eines Individuums drei: 1. Arsène Lupin als Einbrecher; 2. seinen Komplicen, den Obersten Sparmiento; 3. einen Toten. Zuviel des Guten! Man verschone mich mit weiteren!«

Ganimard nahm ein Bündel Zeitungen und zeigte eine davon Dudouis.

»Sie erinnern sich doch ... Als Sie kamen, blätterte ich in den Zeitungen ... Ich suchte, ob sich in jener Zeit nicht ein Unfall abgespielt hätte, der mit unserer Geschichte zusammenhinge und meine Vermutung bestätigen könnte. Lesen Sie bitte einmal diese Notiz.«

»Ein sonderbarer Vorfall wird uns von unserem Korrespondenten aus Lille mitgeteilt. Im Leichenschauhaus der Stadt hat man gestern früh das Verschwinden einer Leiche festgestellt, der Leiche eines Unbekannten, der sich am Abend vorher unter die Räder der Dampf-Straßenbahn geworfen hatte ... Man hat keinerlei Anhaltspunkte, um dieses Verschwinden zu erklären.«

Dudouis blieb eine Weile in Nachdenken versunken. Dann sagte er:

»Und da glauben Sie ...«

»Ich komme gerade aus Lille,« antwortete Ganimard, »und meine Nachforschungen beheben jeden Zweifel. Der Leichnam ist in der Nacht geraubt worden, in der Sparmiento sein Einweihungsfest gab. Er ist mit einem Automobil direkt nach Ville d'Avray geschafft worden, wo das Automobil bis zum Abend in der Nähe der Eisenbahnlinie blieb.«

»Folglich«, vervollständigte Dudouis, »in der Nähe des Tunnels.«

»Daneben.«

»Sodaß der Leichnam, den man fand, dieser Leichnam war, dem man Sparmientos Kleider angezogen hatte.«

»Ganz recht.«

»Wozu aber dann die ganzen Abenteuer? Wozu der Diebstahl des einen Gobelins, sein Wiederauffinden und dann der Diebstahl der zwölf Gobelins? Wozu das Einweihungsfest? Der Lärm? Wozu das alles? Ihre Geschichte hält nicht Stich, Ganimard!«

»Sie hält nicht Stich, weil Sie, wie ich, mitten auf dem Wege stehenbleiben, weil die Geschichte zwar schon seltsam genug ist, man aber trotzdem noch weitergehen, dem Unwahrscheinlichen und Verblüffenden noch viel näherkommen muß. Warum denn nicht? Es handelt sich doch schließlich um Arsène Lupin! Müssen wir uns bei ihm nicht gerade auf das Unwahrscheinlichste und Verblüffendste gefaßt machen? Müssen wir nicht die tollste Vermutung berücksichtigen? Und wenn ich sage die tollste, so ist das Wort nicht richtig. Denn all das ist im Gegenteil von bewundernswerter Logik und kindlicher Einfachheit. Komplicen? Komplicen verraten. Wozu? Wenn es so natürlich und bequem ist, allein zu handeln, selbst mit eigenen Händen und mit eigener Kraft!«

»Was sagen Sie da? ... Was sagen Sie da? ... Was sagen Sie da?« stammelte Dudouis und wurde mit jedem Worte fassungsloser.

Ganimard mußte abermals grinsen.

»Ja, das nimmt Sie etwas mit, nicht wahr? Es geht Ihnen wie mir an jenem Tage, da Sie mich hier besuchten und der Gedanke mir das erstemal gekommen war. Ich war starr vor Staunen. Und trotzdem! Ich kenne den Kunden! Ich weiß, wozu er fähig ist! ... Aber die Geschichte ist zu toll!«

»Unmöglich! Unmöglich!« wiederholte Dudouis leise.

»Im Gegenteil, durchaus möglich und sehr logisch und sehr normal, durchsichtig wie das Wunder der Dreifaltigkeit! Es handelt sich um die dreifache Gestalt eines und desselben Menschen! Ein Kind würde so eine Aufgabe in weniger als einer Minute lösen! Lassen wir den Toten fort, dann bleiben Lupin und Sparmiento. Lassen wir noch Sparmiento fort.«

»Dann bleibt Lupin«, sagte der Chef der Kriminalpolizei

»Ganz recht, Lupin, ganz einfach Lupin – zwei Silben, fünf Buchstaben. Lupin, dem man seine brasilianische Aufmachung herunterreißen muß. Lupin, der von den Toten auferstanden ist, Lupin, der seit einem halben Jahr in den Obersten Sparmiento verwandelt, in der Bretagne herumreist, von der Entdeckung der zwölf Gobelins hört, sie kauft, den Diebstahl inszeniert, um die Aufmerksamkeit auf sich – Lupin – zu lenken und von sich – Sparmiento – abzulenken, Lupin, der mit großem Getöse vor den Augen des Publikums das Duell Lupin contra Sparmiento und Sparmiento contra Lupin in Szene setzt, das Einweihungsfest veranstaltet, seine Gäste erschreckt und, als alles bereit ist, den letzten Entschluß faßt – auch für Lupin – und stirbt; stirbt, ohne verdächtigt zu werden, ohne verdächtigt werden zu können! Von der Menge beklagt, hinterläßt er, um den Gewinn einzustecken ...«

Hier hielt Ganimard inne, sah Dudouis in die Augen, und fuhr dann in einem Tone, der die Bedeutung seiner Worte unterstrich, fort:

»Hinterläßt er eine untröstliche Witwe.«

»Frau Sparmiento! Glauben Sie wirklich ...«

»Zum Teufel,« sagte Ganimard, »man zieht doch nicht so eine Geschichte auf, wenn am Ende nicht etwas herauskommen soll ..., wenn man nicht einen großen Nutzen davon hat!«

»Aber der Nutzen scheint mir im Verkauf der Gobelins zu bestehen, der Lupin in Amerika oder sonstwo gelingen wird ...«

»Gewiß, aber das hätte ja auch der Oberst Sparmiento tun können. Vielleicht noch besser. Da liegt noch etwas anderes vor.«

»Etwas anderes?«

»Sie vergessen, daß der Oberst Sparmiento das Opfer eines großen Diebstahls war, und daß, wenn er selbst gestorben ist, seine Witwe noch am Leben ist. Folglich wird seine Witwe das Geld einstecken.«

»Wer wird was einstecken?«

»Na, die Versicherungssumme natürlich!«

Dudouis war starr. Jetzt wurde ihm das ganze Abenteuer in seiner wahren Bedeutung klar. Er murmelte:

»Stimmt ... stimmt ... der Oberst hatte seine Gobelins versichert ...«

»O ja! Und für keinen Pappenstiel!«

»Für wieviel?«

»Achthunderttausend Francs!«

»Achthunderttausend Francs!?«

»Ganz recht. Bei fünf verschiedenen Gesellschaften.«

»Hat Frau Sparmiento schon Geld erhalten?«

»Sie hat gestern hundertfünfzigtausend Francs erhalten, zweihunderttausend Francs heute während meiner Abwesenheit. Die anderen Zahlungen verteilen sich über diese Woche.

»Das ist ja entsetzlich! Man hätte doch ...«

»Was? Zunächst haben sie meine Abwesenheit ausgenutzt, um die Zahlungen zu erreichen. Bei meiner Rückkehr habe ich durch eine zufällige Begegnung mit einem der Direktoren von den Zahlungen der Versicherungen erfahren.«

Der Chef der Kriminalpolizei schwieg ziemlich lange; dann sagte er:

»Trotzdem: ein Kerl!«

Ganimard hob den Kopf.

»Allerdings, eine Canaille, aber ein starker Gegner, das muß man sagen. Um seinen Plan durchzuführen, mußte er vier bis fünf Wochen so vorgehen, daß niemand am Obersten Sparmiento auch nur den geringsten Zweifel hegen durfte. Alle Wut und alle Untersuchungen mußten sich gegen Arsène Lupin richten. Man mußte schließlich einer armen bedauernswerten Witwe gegenüberstehen, der armen Edith mit dem Schwanenhals, dem rührenden Geschöpf, das so bezaubernd war, daß die Herren von den Versicherungsanstalten fast glücklich waren, ihr etwas in die Hände legen zu dürfen, was ihren Kummer milderte. Und so geschah es.«

Die beiden Männer standen dicht nebeneinander und sahen sich in die Augen.

Dudouis fragte:

»Wer ist diese Frau?«

»Sonja Krischnoff! Die Russin, die ich damals im Zusammenhange mit der Diademgeschichte verhaftet hatte und der Lupin zur Flucht verhalf.«

»Sind Sie dessen sicher?«

»Unbedingt. Wie alle Welt durch Lupins Machenschaften abgelenkt, hatte ich ihr zuerst nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Aber als ich die Rolle durchschaut hatte, die sie spielt, da ist mir verschiedenes wieder eingefallen. Natürlich ist sie Sonja, die sich in eine Engländerin verwandelt hat ... Sonja, die sich aus Liebe zu Lupin ohne weiteres töten ließe.«

Dudouis nickte mit dem Kopf:

»Ein guter Fang, Ganimard.«

»Ich habe noch etwas Besseres.«

»So? Was denn?«

»Lupins alte Amme.«

»Victoire?«

»Sie ist hier, seitdem Frau Sparmiento die Witwe spielt. Sie ist Köchin.«

»Oho,« sagte Dudouis, »mein Kompliment, Ganimard!«

»Ich habe noch etwas Besseres!«

Dudouis zuckte zusammen.

»Was wollen Sie damit sagen, Ganimard?«

»Meinen Sie denn, ich hätte Sie zu stören gewagt und dazu um diese Zeit, wenn es sich nur um dieses Wild gehandelt hätte? Sonja und Victoire – die hätten ruhig warten können!«

»Nun?« fragte Dudouis, der allmählich des Inspektors Erregung zu begreifen begann.

»Ja, ja, Sie haben es erraten!«

»Er ist da?«

»Er ist da.«

»Verborgen?«

»Nicht im geringsten, nur verkleidet. Als Diener, ganz einfach.«

Dudouis machte keine Bewegung, sprach kein Wort. Lupins Kühnheit verschlug ihm den Atem.

Ganimard grinste:

»Die Dreifaltigkeit ist noch um eine vierte Persönlichkeit vermehrt worden. Edith mit dem Schwanenhals hätte Dummheiten machen können – die Gegenwart des Meisters war nötig, und er hat die Unverschämtheit besessen, zurückzukommen. Seit drei Wochen wohnt er meiner Untersuchung bei und überwacht meine Fortschritte.«

»Haben Sie ihn wiedererkannt?«

»Lupin erkennt man nicht wieder. Er schminkt und verwandelt sich so vollendet, daß man ihn nicht wiedererkennen kann. Und außerdem wäre ich gar nicht darauf gekommen ... Aber als ich heute abend Sonja auf der Treppe beobachtete, hörte ich, wie Victoire mit dem Diener sprach und ihn ›Mein Junge‹ nannte. Jetzt ging mir ein Licht auf! ›Mein Kleiner‹ – so hat sie ihn stets genannt. Jetzt wußte ich Bescheid.«

»Jetzt haben wir ihn«, sagte Dudouis. »Jetzt kann er uns nicht mehr entwischen.«

»Nein, das kann er nicht, weder er noch die beiden Frauen ...«

»Wo sind sie?«

»Sonja und Victoire im zweiten und Lupin im dritten Stock.«

»Aber«, äußerte Dudouis plötzlich beunruhigt, »sind die Gobelins nicht gerade durch jene Fenster verschwunden?«

»Jawohl.«

»Dann kann doch Lupin auch auf diesem Wege fliehen, da die Fenster nach der Rue Dufrénoy hinausgehen?«

»Allerdings, aber ich habe meine Maßnahmen getroffen. Unmittelbar nach Ihrer Ankunft habe ich vier Mann unter die Fenster in der Rue Dufrénoy postiert. Strengste Vorschrift: sobald sich jemand am Fenster zeigt und hinaussteigen will, wird geschossen. Der erste Schuß blind, der zweite scharf!«

»Gut, Ganimard, Sie haben an alles gedacht, und morgen früh ...«

»Abwarten! Bei dem Schurken muß man Handschuhe anziehen! Da muß man auf alles achten! Wenn er einen seiner Tricks à la Lupin anwendet? Nur keine Scherze! Wir haben ihn! Los, vorwärts!«

Und Ganimard stürzte ungeduldig hinaus, durchquerte den Garten und ließ ein halbes Dutzend Beamte ins Haus.

»So! Ich habe den Befehl gegeben, in der Rue Dufrénoy die Waffen zur Hand zu nehmen und auf die Fenster anzulegen. Los!«

Das Hin und Her hatte einen gewissen Lärm verursacht, der den Bewohnern des Hauses bestimmt nicht entgangen war. Dudouis war in einer Zwangslage. Er entschloß sich zum Handeln.

»Vorwärts!«

Sie stiegen zu acht mit ihren Brownings die Treppen hinauf, ohne große Vorsicht; sie wollten Lupin überraschen, bevor er Zeit fände, sich zu verteidigen.

»Öffnen Sie!« heulte Ganimard und stürzte sich gegen die Tür des Zimmers, das Frau Sparmiento bewohnte.

Mit einem Stoß seiner Schulter drückte er die Tür ein.

Im Zimmer war niemand; niemand in Victoires Zimmer!

»Sie sind oben!« rief Ganimard. »Sie sind zu Lupin in die Mansarde gegangen. Achtung!«

Alle acht stiegen in den dritten Stock. Zu seiner großen Überraschung fand Ganimard die Tür zur Mansarde offen und die Mansarde leer. Auch die anderen Räume waren leer.

»Himmeldonnerwetter!« fluchte er, »wo sind sie hin!??«

Da rief ihn Herr Dudouis. Er war in den zweiten Stock hinuntergegangen und hatte festgestellt, daß das eine Fenster nicht geschlossen, sondern nur angelehnt war.

»Sehen Sie,« sagte er zu Ganimard, »diesen Weg haben sie eingeschlagen: den gleichen wie die Gobelins. Ich hatte es Ihnen ja gesagt ... die Rue Dufrénoy.«

»Dann hätte man doch auf sie geschossen,« sagte Ganimard, außer sich vor Wut, »die Straße wird doch bewacht!«

»Sie werden geflohen sein, bevor die Straße bewacht wurde.«

»Als ich mit Ihnen telephonierte, waren sie alle drei in ihren Zimmern.«

»Dann sind sie aufgebrochen, während Sie im Garten auf mich warteten.«

»Aber warum? Warum? Sie hatten keinen Grund zur Flucht, weder heute noch morgen, noch sonstwann, nachdem sie die Versicherungssummen eingesteckt hatten.«

Doch, sie hatten einen Grund, und Ganimard erfuhr ihn, als er auf dem Tisch einen Brief sah, der seinen Namen trug. Er öffnete den Brief und las. Er war in jenen Ausdrücken abgefaßt, wie man sie bei Zeugnissen für Dienstboten anwendet, mit denen man zufrieden war:

»Ich, Endesunterzeichneter, Arsène Lupin, Gentleman-Einbrecher, Ex-Oberst und Ex-Leiche, bescheinige hiermit, daß pp. Ganimard während seines Aufenthaltes hier im Hause die hervorragendsten Eigenschaften bewiesen hat. Aufmerksam und hingebend hat er ohne den geringsten Anhaltspunkt in musterhaftem Verhalten einen Teil meiner Pläne zum Scheitern gebracht und den Versicherungsgesellschaften vierhundertfünfzigtausend Francs gerettet. Ich beglückwünsche ihn dazu und sehe ihm gern nach, daß er nicht geahnt hat, daß das Telephon unten mit dem Telephon in Sonja Krischnoffs Zimmer zusammenhängt, und daß er durch sein Telephongespräch mit dem Herrn Chef der Kriminalpolizei mir gleichzeitig die Mitteilung machte, mich aus dem Staube zu machen. Ein verzeihlicher Fehler, der die Bedeutung seiner Verdienste nicht verdunkeln und die Wichtigkeit seines Sieges nicht in Frage stellen kann.

Wofür ich ihn bitte, meine aufrichtige Bewunderung und die Versicherung meiner lebhaften Sympathie entgegennehmen zu wollen.

Arsène Lupin.


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