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VIII. Vorbereitungen zum Kampfe

Die Ereignisse kamen Marescal zu Hilfe. Da Aurelie an ihr Zimmer gefesselt war und nicht fliehen konnte, war Raouls Plan zunichte geworden. Marescal traf sofort seine Maßnahmen: die Pflegerin, die Aurelie zu behüten hatte, war Marescals Kreatur. Raoul erfuhr mühelos, daß sie ihm täglich Bericht erstattete. Hätte sich Aurelies Zustand gebessert, so wäre Marescal zur Tat geschritten. Da er nicht handelte, schloß Raoul, daß er seine guten Gründe haben müsse.

Raoul hatte einige gleichsam unfreiwillige Schlußfolgerungen ziehen müssen. Er ahnte jetzt die im Grunde einfache Wahrheit, weniger aus den Dingen selbst, als durch eine geistige Anstrengung, und er begriff, daß er nicht locker lassen dürfe.

Er sah deutlich gewisse Handlungen, aber die Motive blieben ihm dunkel. Die Personen des Dramas erschienen ihm noch als Automaten. Wollte er wirklich siegen, so genügte es nicht, Aurelie von Fall zu Fall zu schützen, sondern er mußte die tiefen Ursachen erforschen, die auf alle diese Menschen während der tragischen Nacht eingewirkt hatten.

Alles in allem, sagte er sich, gibt es vier Hauptdarsteller, die alle um Aurelie kreisen und sie alle verfolgen: Guillaume, Jodot, Marescal und Brégeac. Die einen verfolgen sie aus Liebe, die anderen, um ihr das Geheimnis zu entreißen. Die Verschmelzung beider Elemente, Liebe und Habgier, bestimmen das ganze Abenteuer. Guillaume kommt im Augenblick nicht in Frage, Brégeac und Jodot beunruhigen mich nicht, solange Aurelie krank ist. Bleibt Marescal. Und dieser Feind muß überwacht werden.

Gegenüber von Brégeacs Haus war eine leere Wohnung, in der Raoul sich einrichtete. Bediente Marescal sich der Pflegerin, so hielt sich Raoul an das Dienstmädchen. Dreimal führte ihn das Mädchen, während die Pflegerin abwesend war, zu Aurelie ins Zimmer.

Das junge Mädchen schien ihn nicht zu erkennen. Sie war vom Fieber noch so geschwächt, daß sie nur einige unzusammenhängende Worte sprechen konnte, dann fielen ihr wieder die Augen zu. Aber sie hörte ihn, das stand fest, und es schien, als ob seine ruhige, sichere Stimme eine gute Wirkung auf sie ausübe.

»Ich bin es, Aurelie. Sie sehen, ich halte mein Versprechen. Seien Sie unbesorgt, ich werde Sie von allen Nachstellungen befreien. Ich denke nur an Sie und rekonstruiere Ihr Leben. Ich glaube an Ihre Unschuld. Und glaubte schon daran, auch als ich Sie beschuldigen mußte.

Ich bitte Sie nur um eins: wenn man Sie fragt, geben Sie keine Antwort. Wenn Ihnen jemand schreibt, geben Sie keine Antwort. Wenn Sie von hier abreisen sollen, weigern Sie sich. Haben Sie Vertrauen, auch in den grausamsten Stunden. Ich bin da, denn ich liebe Sie und lebe nur für Sie.«

Das Gesicht des jungen Mädchens entspannte sich. Sie schlief, wie von einem glücklichen Traum gewiegt, ein.

Raoul schlich in Brégeacs Zimmer und suchte nach Papieren oder Anhaltspunkten, die ihm hätten helfen können. Vergeblich.

Auch in Marescals Wohnung in der Rue de Rivoli machte er mehrmals gründliche Haussuchung.

Er zog auch sorgfältige Erkundigungen im Ministerium des Innern ein, in dem die beiden Männer arbeiteten. Ihre Gegnerschaft und ihr Haß waren aller Welt bekannt. Jeder wurde an höchster Stelle gestützt. Um ihre Köpfe kämpften im Ministerium und im Polizeipräsidium Vorgesetzte. Der Dienst litt darunter. Die beiden Männer beschuldigten einander schwerer Verfehlungen. Man sprach von einer Pensionierung. Wer von beiden würde daran glauben müssen?

Eines Tages sah Raoul, der sich hinter einem Vorhang versteckt hatte, wie Brégeac sich Aurélies Bett näherte. Er war ziemlich groß, hatte eine ganz gute Haltung, sein mageres gelbes Gesicht war das Gesicht eines Gallenkranken; immerhin war er eleganter und vornehmer als der gewöhnliche Marescal. Aurelie erwachte, er neigte sich über sie; sie sah ihn an und sagte hart:

»Lassen Sie mich in Ruhe ... Lassen Sie mich in Ruhe ...«

»Aber ich bitte dich, mein armes Kind«, sagte er mit sichtlichem Schmerz ... »Du hast vielleicht recht: zuerst habe ich immer dein Geheimnis wissen wollen, jetzt aber quält mich nur der eine Gedanke, daß du mich nicht liebst und mich niemals lieben wirst.«

Sie wollte nichts mehr hören und wandte sich ab. Er fuhr jedoch fort:

»Während des Fiebers hast du oft von den Mitteilungen gesprochen, die du mir machen wolltest. Bezogen sie sich auf deine unsinnige Flucht mit Guillaume? Wohin hat der Schurke dich entführt? Was war aus euch geworden, bevor du dich in das Kloster zurückzogst?«

Sie antwortete nicht, aus Erschöpfung, vielleicht auch aus Verachtung.

Er schwieg. Nachdem er fortgegangen war, sah Raoul, als auch er sich entfernte, daß sie weinte.

Nach zwei Wochen, in denen Raoul es nicht hatte an Nachforschungen fehlen lassen, hätte jeder andere den Mut verloren. Die großen Probleme blieben, abgesehen von einigen unbedeutenden Einzelheiten, ungelöst.

Trotzdem hatte Raoul nicht die Empfindung, daß er seine Zeit verliere. Abwarten ist oft besser als handeln. Zudem begann er klarer zu sehen. Außerdem hatte er das beruhigende Bewußtsein, sich mitten auf dem Schauplatz zu befinden, auf dem der Kampf zweifellos entbrennen mußte. Das gegenseitige Vorbereiten, gleichsam das Schärfen der Waffen, würde eines Tages zum Zusammenstoß führen.

Das erste Wetterleuchten kam eher als Raoul dachte. Es erhellte einen Teil der Dunkelheit, von dem Raoul glaubte, dort könne nichts Wichtiges geschehen.

Eines Morgens sah er von seinem Fenster aus, in seiner Maskierung als Lumpensammler, Jodot.

Jodot trug einen Sack auf der Schulter, in den er seine Beute barg. Er lehnte ihn gegen die Hausmauer, setzte sich auf den Bürgersteig und begann zu essen, indem er im nächsten Müllkasten herumstocherte. Seine Bewegung schien mechanisch, aber schon nach kurzer Zeit hatte Raoul bemerkt, daß er nur die zerknitterten Umschläge und die zerrissenen Briefe herausangelte. Er prüfte sie zerstreuten Blickes, dann suchte er weiter. Zweifellos interessierte ihn Brégeacs Korrespondenz.

Nach einer Viertelstunde warf er den Sack wieder über die Schulter und ging fort. Raoul folgte ihm bis nach Montmartre, wo Jodot einen Lumpenhandel betrieb.

Er kam drei Tage hintereinander wieder und vollführte jedesmal seine zweideutigen Operationen. Aber am dritten Tage bemerkte Raoul, daß Brégeac am Fenster stand und Jodots Bewegungen beobachtete. Als Jodot sich auf den Weg machte, folgte ihm Brégeac unter Wahrung sorgfältiger Vorsichtsmaßnahmen. Raoul begleitete sie alle beide. Vielleicht käme er jetzt dahinter, wie Jodot und Brégeac zusammenhingen?

Sie erreichten auf einigen Umwegen das äußerste Ende des Boulevard Bineau und schließlich die Ufer der Seine. Einige bescheidene Villen wechselten mit unbebautem Gelände ab. Gegen eine dieser Villen lehnte Jodot seinen Lumpensack, setzte sich und aß.

So verblieb er etwa vier oder fünf Stunden, ständig überwacht von Brégeac, der in einer Entfernung von etwa dreißig Metern im Vorgarten eines kleinen Restaurants saß, und von Raoul, der auf der Uferböschung lag und rauchte.

Als Jodot fortging, ging Brégeac nach einer anderen Richtung, als ob für ihn die Angelegenheit jedes Interesse verloren hätte; Raoul ging ins Restaurant, unterhielt sich mit dem Besitzer und erfuhr, daß die Villa, an der Jodot sich ausgeruht hatte, einige Wochen vorher noch den Gebrüdern Loubeaux gehört hatte, die im D-Zuge nach Marseille ermordet worden waren. Das Gebäude war von Gerichts wegen versiegelt worden und wurde von einem Nachbar bewacht, der jeden Sonntag einen Spaziergang unternahm.

Raoul war zusammengefahren, als er den Namen der Brüder Loubeaux gehört hatte. Jodots Benehmen gewann an Bedeutung.

Raoul fragte eindringlicher und erfuhr, daß die beiden Brüder zur Zeit ihres Todes kaum noch in der Villa gewohnt hatten, die lediglich als Zwischenlager für ihren Weinhandel gedient hatte. Sie hatten sich von ihrem Sozius getrennt und reisten auf eigene Rechnung.

»Von ihrem Sozius?« fragte Raoul.

»Gewiß, sein Name steht noch auf dem Schild neben der Tür: ›Gebrüder Loubeaux & Jodot‹.«

»Jodot?«

»Ganz recht. Ein dicker Mann mit rotem Gesicht, der wie ein Jahrmarktsriese aussah. Seit über einem Jahr hat er sich hier nicht mehr blicken lassen.«

Jodot war also der Teilhaber der beiden Brüder gewesen, die er dann ermordet hatte! Da war es kein Wunder, daß man ihn in Ruhe gelassen hatte, denn man ahnte ja nichts davon, daß er mit den Ermordeten in irgendeiner Verbindung gestanden hatte, zumal Marescal davon überzeugt war, daß er, Raoul, der Dritte im Bunde sei! Warum aber kam Jodot hierher, an den Ort, wo seine Opfer gewohnt hatten? Und warum überwachte Brégeac diese Expedition?

Die Woche verlief ohne Zwischenfälle. Jodot ließ sich vor Brégeacs Haus nicht mehr sehen. Da Raoul überzeugt war, daß er am Sonntagvormittag zu der Villa zurückkehren würde, stieg er am Samstagabend über den Zaun und stieg durch eines der Fenster im ersten Stock in das Haus ein.

In diesem Stockwerk waren noch zwei Zimmer eingerichtet. An gewissen Anzeichen konnte man erkennen, daß sie durchstöbert worden waren. Von wem? Vom Untersuchungsrichter? Von Brégeac? Von Jodot? Und wozu? Raoul rannte sich nicht fest. Hatten andere nichts gefunden, so würde er auch nichts finden. Er richtete sich häuslich in einem Sessel ein, um darin die Nacht zu verbringen. Er stellte seine Taschenlampe auf einen Tisch und griff nach einem auf dem Tische liegenden Buch, über dem er prompt einschlief.

Die Wahrheit enthüllt sich nur denen, die sie erzwingen. Man glaubt, sie sei meilenweit entfernt, und plötzlich kommt ein Zufall und setzt sich an ihre Stelle. Das einzige Verdienst des Suchenden besteht darin, daß er zu ihrem Empfange Vorbereitungen getroffen hat.

Als Raoul erwachte, sah er das Buch wieder vor sich und betrachtete den Einband, der aus einem schwarzen Leinen bestand, wie ihn etwa die Photographen benutzen, um ihren Apparat zuzudecken.

Er suchte. Im Gerümpel eines mit Stoffetzen und Papieren gefüllten Wandschrankes fand er einen solchen Stoff, aus dem drei tellergroße Stücke herausgeschnitten waren.

»Da haben wir's«, sagte Raoul. »Von hier also stammen die drei Masken der Banditen im Expreßzug. Dieser Stoff ist der unwiderlegbare Beweis dafür.«

Jetzt erschien ihm die Wahrheit so natürlich, durch ihre Einfachheit stellenweise sogar so belustigend, daß er in der tiefen Stille des Hauses laut auflachen mußte.

Um acht Uhr morgens machte der Verwalter des Hauses im Erdgeschoß seinen Rundgang und verbarrikadierte die Türen. Um neun Uhr ging Raoul in den Speisesaal hinunter, ließ die Läden geschlossen, öffnete jedoch das Fenster über der Stelle, wo Jodot sich hinzusetzen pflegte.

Jodot war pünktlich. Er kam mit seinem Sack und lehnte ihn an die Mauer. Dann setzte er sich und aß. Und während er aß, sprach er vor sich hin, aber so leise, daß Raoul nichts hören konnte. Zu seiner Mahlzeit, die aus Aufschnitt und Käse bestand, trank er Rotwein; dann rauchte er eine Pfeife, deren Rauch bis zu Raoul emporstieg.

Er rauchte eine zweite und dann eine dritte Pfeife. So vergingen zwei Stunden, ohne daß Raoul den Grund zu diesem langen Aufenthalt erraten konnte. Durch den Spalt der Läden sah man die beiden Beine, die mit Lumpen umwickelt waren, und die ausgetretenen Stiefel. Dahinter sah man den Fluß. Spaziergänger kamen und gingen. Brégeac war vermutlich auf seinem Posten im Vorgarten des Restaurants.

Einige Minuten vor zwölf Uhr sagte Jodot folgende Worte:

»Nun? Nichts Neues? Sie ist ja ziemlich hartnäckig?«

Es war, als ob er nicht mit sich selbst, sondern mit jemanden in seiner Nähe spräche. Aber er war immer noch allein und es war niemand in seiner Nähe.

»Verflucht,« brummte er, »ich sage dir doch, daß sie da ist! Ich habe sie nicht einmal, ich habe sie hundertmal in der Hand gehabt und mit meinen eigenen Augen gesehen. Hast du auch alles gemacht, was ich dir gesagt habe? Die ganze rechte Seite des Kellers – wie neulich die ganze linke? Na ... du mußt doch gefunden haben ...«

Er schwieg ziemlich lange, dann fuhr er fort:

»Man könnte es vielleicht anderswo versuchen und bis zu dem leeren Gelände hinter dem Hause vorstoßen, falls er die Flasche vor der Geschichte im Expreßzug dorthin geworfen haben sollte. Das wäre auch ein gutes Versteck. Wenn Brégeac den Keller durchsucht hat, an draußen hat er vielleicht nicht gedacht. Geh und such. Ich warte.«

Raoul lauschte nicht weiter. Er hatte nachgedacht und zu verstehen begonnen, als Jodot vom Keller sprach. Dieser Keller mußte sich von einem Ende des Hauses bis zum anderen erstrecken, mit einem Luftloch nach der Straße und einem zweiten nach der Rückseite des Hauses. Die Verbindung auf diesem Wege war nicht schwierig.

Raoul eilte in den ersten Stock; aus einem der Zimmer konnte man das freie Gelände übersehen, und es war ihm möglich, ohne weiteres die Richtigkeit seiner Vermutungen bestätigt zu finden. Mitten auf unbebautem Boden – wo eine Tafel mit der Aufschrift »Zu verkaufen« stand – suchte in einem Haufen alten Eisengerümpels, inmitten zerbrochener Flaschen und zerschlagener Fässer, ein kleiner, kümmerlicher sieben- bis achtjähriger Junge mit der Gewandtheit eines Eichhörnchens. Das Gebiet seiner Nachforschungen, die ausschließlich einer Flasche zu gelten schienen, war ziemlich begrenzt. Falls Jodot sich nicht irrte, mußte die Operation bald vorüber sein. So war es auch. Nach zehn Minuten richtete das Kind sich wieder auf und rannte, ohne Zeit zu verlieren, mit einer staubbedeckten Flasche auf die Villa zu.

Raoul turnte ins Erdgeschoß, um den Keller zu erreichen und dem Kinde seinen Raub abzunehmen. Aber die Kellertür, die er im Vorzimmer gesehen hatte, ließ sich nicht öffnen, und er mußte seinen Posten am Fenster wieder beziehen.

Jodot murmelte:

»Hast du's? Ah! Famos! Jetzt bin ich ›gewappnet‹, Brégeac kann mir den Buckel herunterrutschen. Schnell, verkrümle dich!«

Der Kleine mußte sich »verkrümeln«, das heißt, er mußte aus dem schmalen Luftloch wie ein Frettchen in den Sack kriechen, ohne daß eine verdächtige Bewegung sein Vorhaben verraten hätte.

Jodot erhob sich, nahm seine Last auf die Schulter und ging fort.

Und ohne zu zögern, verletzte Raoul die Siegel, öffnete gewaltsam die Türen und verließ die Villa.

Dreihundert Meter vor ihm ging Jodot und trug den Helfer, der für ihn das Souterrain von Brégeacs Haus und den Keller der Villa der Brüder Loubeaux durchsucht hatte.

Hundert Meter hinter ihm schlängelte sich Brégeac unter den Bäumen entlang.

Und Raoul bemerkte, daß auf der Seine ein Angler in der gleichen Richtung ruderte: Marescal.

So wurde Jodot von Brégeac, Brégeac und Jodot von Marescal, und alle drei wurden von Raoul verfolgt.

Einsatz dieses vergnüglichen Spiels war eine Flasche.

Eigentlich erschütternd, dachte Raoul. Jodot hat die Flasche, aber er weiß nicht, daß ihm drei andere bereits auf den Fersen sind, um ihm die Flasche wieder zu entreißen!

Jodot blieb stehen. Brégeac auch. Marescal ruderte nicht weiter, und Raoul bremste.

Jodot hatte den Sack heruntergleiten lassen, so daß das Kind sich ausruhen konnte. Er setzte sich auf eine Bank und betrachtete die Flasche; er bewegte sie und ließ sie in der Sonne blitzen.

Brégeac trat auf. Er hielt seinen Augenblick für gekommen und näherte sich behutsam.

Er hatte einen Sonnenschirm geöffnet und hielt ihn sich wie einen Schild vors Gesicht. Marescal in seinem Kahn verschwand unter einem weiten Strohhut.

Als Brégeac nur noch drei Schritt von der Bank entfernt war, machte er den Schirm zu und sprang, ohne sich um die Spaziergänger zu kümmern, auf Jodot zu, entriß ihm die Flasche und floh eine Straße entlang, die nach den Festungswällen führte.

Dieses Manöver wurde geschickt und schnell ausgeführt. Jodot war zuerst verblüfft, zögerte, schrie, nahm seinen Sack, setzte ihn wieder ab, als ob er fürchtete, mit dieser Last nicht schnell genug laufen zu können, und wurde somit außer Gefecht gesetzt.

Marescal, der den Überfall vorhergesehen hatte, war gelandet und hatte die Verfolgung aufgenommen. Raoul schloß sich an. Die Flasche hatte nur noch drei Bewerber.

Wie ein guter Champion kümmerte sich Brégeac nur um das Rennen und sah sich nicht um. Marescal wiederum dachte nur an Brégeac und drehte sich auch nicht um. So gab es auch für Raoul keine Hemmungen. Wozu auch?

In zehn Minuten erreichte man die Porte des Ternes. Brégeac war so warm, daß er seinen Überzieher auszog. An ihrer Endstation stand eine Elektrische, und zahlreiche Fahrgäste warteten an der Haltestelle, um aufzusteigen und nach Paris zu fahren.

Brégeac tauchte in dieser Menge unter.

Marescal auch.

Der Andrang war so groß, daß es Marescal mühelos gelang, Brégeac die Flasche aus der Tasche zu ziehen, ohne daß dieser es merkte. Marescal kehrte um und nahm die Beine in die Hand.

In Wirklichkeit, lachte Raoul in sich hinein, arbeiten alle beide für mich!

Als Raoul an die Haltestelle kam, sah er, wie Brégeac wieder aus der Elektrischen aussteigen wollte und sich nur mit Mühe durch die Menge winden konnte, um dem Dieb nachzurennen.

Marescal wählte Parallelstraßen, die wesentlich enger und gewundener sind. Er rannte wie ein Besessener. Als er an der Rue de Wagram stehenblieb, war er außer Atem. Das Gesicht war schweißbedeckt, die Augen waren blutunterlaufen und die Adern geschwollen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er konnte nicht mehr.

Er kaufte eine Zeitung und wickelte die Flasche ein, nachdem er sie einen Augenblick angesehen hatte.

Dann nahm er sie unter seinen Arm und machte sich wankenden Schrittes wieder auf den Weg, wie einer, der sich nur noch durch ein Wunder aufrechterhalten kann. Der »schöne« Marescal war nicht wiederzuerkennen. Sein Kragen war zerknittert, aus seinen Schnurrbartenden tropfte es.

Kurz vor der Etoile kam ihm ein Herr mit einer großen schwarzen Brille entgegen, der eine Zigarette rauchte. Der Herr vertrat ihm den Weg – er bat ihn nicht um Feuer – er blies ihm einfach den Rauch ins Gesicht und lächelte dazu in liebenswürdigster Weise.

Der Kommissar riß die Augen auf. Er stammelte:

»Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«

Wozu fragte er eigentlich noch? Er wußte sehr genau, daß es sein ewiger Gegner war.

Und dieser Mann tippte mit einem Finger auf die Flasche und sagte in geradezu herzlichem Tone:

»Komm, ablegen! ... Sei brav zu Herrchen ... Ablegen! Pfui, darf denn ein Herr wie du mit einer solchen Flasche unter dem Arm spazierengehen? Komm, Rodolphe, sei lieb und nett zu mir ...«

Marescal rührte sich nicht. Es war, als sei er gelähmt, und er ließ sich widerstandslos die Flasche fortnehmen.

In diesem Augenblick kam Brégeac. Er war auch vollkommen außer Atem. Er hatte weder die Kraft, sich auf den dritten zu stürzen oder Marescal um Auskunft zu bitten. Beide glotzten dem Herrn mit der dunklen Brille nach, der ein Taxi angehalten hatte und ihnen im Davonfahren einen liebenswürdigen Gruß zuwinkte.

Als Raoul zu Hause war, wickelte er die Flasche aus. Es war eine Literflasche, wie man sie für Mineralwasser verwendet, eine alte Flasche ohne Korken aus dunklem, undurchsichtigem Glas. Auf dem schmutzigen, vollkommen verstaubten Etikett, das trotzdem irgendwie geschützt gewesen sein mußte, konnte man, in großen Druckbuchstaben, bequem lesen:

Verjüngungswasser

Darunter standen einige schwer lesbare Zeilen, offenbar das Rezept dieses Wundermittels:

Doppelkohlensaures Natron 1349 gr
" Doppelkohlensaures Kali 0435 gr
" Doppelkohlensaures Kalk 1000 gr
.....................................................................................
.....................................................................................
etc. etc.

Aber die Flasche war nicht leer. Im Innern bewegte sich etwas: es klang nach Papier. Er drehte die Flasche um, schüttelte sie, aber es kam nichts heraus. Da nahm er einen Faden, den er am Ende verknotete, und auf diese Weise gelang es ihm, mit großer Geduld ein schmales, zusammengewickeltes Stück Papier herauszuangeln, das mit einem roten Bändchen umwickelt war. Als er es auseinandergefaltet hatte, sah er, daß es nur die Hälfte eines gewöhnlichen Blattes war, daß der untere Teil abgeschnitten oder vielmehr ungleich abgerissen worden war. Man sah mit Tinte geschriebene Buchstaben, aber viele fehlten; er konnte ungefähr folgendes entziffern:

»Die Beschuldigung ist wahr. Ich bin allein verantwortlich für das begangene Verbrechen. Weder Jodot noch Loubeaux haben etwas damit zu tun. Brégeac.«

Raoul hatte auf den ersten Blick Brégeacs Handschrift wiedererkannt, aber die Tinte war mit der Zeit verblaßt. Das Papier mochte gut fünfzehn oder zwanzig Jahre alt sein. Was war das aber für ein Verbrechen? Und gegen wen war es begangen worden?

Er dachte lange nach. Dann schloß er folgendes:

Die Geschichte ist so dunkel, weil zwei Fäden ineinanderlaufen. Zwei Abenteuer kreuzen sich; das erste Drama hat das zweite hervorgerufen, nämlich den Überfall im Expreßzug, an dem die beiden Loubeaux, Guillaume, Jodot und Aurelie beteiligt sind. Das erste liegt schon lange Zeit zurück, und heute liegen sich die beiden Hauptbeteiligten, nämlich Brégeac und Jodot, in den Haaren.

Die Situation, die dem Nichteingeweihten verwirrter denn je erscheinen muß, wird mir nun immer klarer. Die Stunde des offenen Kampfes naht: es geht um Aurelie. Oder vielmehr um das Geheimnis, das auf dem Grunde ihrer schönen grünen Augen liegt. Wer Herr ihres Blickes oder ihrer Gedanken sein kann, wird auch hinter das Geheimnis kommen, das schon so viele Opfer gefordert hat.

Und in diesem Wirbel aus Haß und Rache vertritt Marescal mit seinem Ehrgeiz und seinem nachtragenden Eifer die irdische Gerechtigkeit. Auf der anderen Seite stehe ich ...

Er bereitete sich auf das sorgfältigste vor; er war doppelt energisch, zumal jeder der Gegner mit äußerster Vorsicht zu Werke ging. Brégeac hatte zwar keine direkten Beweise gegen die Pflegerin, die in Marescals Diensten stand, und gegen das Mädchen, dem Raoul seine Nachrichten verdankte, entließ sie jedoch alle beide. Die auf die Straße gehenden Fenster wurden verhängt. Andererseits wurden Marescals Agenten in der Straße bemerkbar. Nur Jodot tauchte nicht wieder auf. Zweifellos war er durch den Raub von Brégeacs Geständnis einer wertvollen Waffe beraubt und hatte sich in Sicherheit gebracht.

Diese Periode dauerte etwa vierzehn Tage. Raoul hatte sich der Frau des Ministers vorstellen lassen, der Marescal protegierte; es war ihm gelungen, das Vertrauen dieser nicht mehr ganz jungen Dame zu gewinnen, die außerordentlich eifersüchtig war und vor der ihr Mann kein Geheimnis hatte. Raouls Aufmerksamkeiten machten ihr große Freude. Ohne sich ihrer Rolle bewußt zu werden – sie wußte auch nicht, daß Marescal Aurelie liebte – hielt sie Raoul Schritt für Schritt über die Absichten des Kommissars auf dem laufenden: vor allem über die Art, wie er mit des Ministers Hilfe Brégeac und seine Hinterleute zu stürzen hoffte.

Raoul hatte Angst. Der Angriff war so gut organisiert, daß er sich fragte, ob er ihm nicht zuvorkommen sollte, indem er Aurelie entführte und so den Plan seiner Gegner zunichte machte.

Das Problem wäre dadurch nicht gelöst worden. Er hätte auch dann noch einmal von vorn beginnen müssen.

So widerstand er der Versuchung.

Als er eines Nachmittags nach Hause kam, fand er einen Rohrpostbrief vor. Die Gattin des Ministers teilte ihm die letzten Entscheidungen mit, vor allem Aurelies Festnahme, die am nächsten Tage, am zwölften Juli, nachmittags drei Uhr, stattfinden sollte.

Er schlief ruhig wie ein Heerführer am Vorabend einer Entscheidungsschlacht. Um acht Uhr stand er auf. Der entscheidende Tag begann.

Als gegen Mittag seine Aufwartung, seine alte Amme Victoire, durch den Hintereingang mit der Markttasche heimkam, drangen sechs Mann, die auf der Treppe gestanden hatten, gewaltsam in die Küche ein.

»Ist Ihr Herr da?« fragte der eine. »Los, lügen nützt nichts! Ich bin der Kommissar Marescal und habe einen Haftbefehl gegen ihn.«

Zitternd und totenbleich antwortete Victoire:

»In seinem Arbeitszimmer.«

»Führen Sie uns.«

Er legte Victoire eine Hand auf den Mund, damit sie ihren Herrn nicht warnen könne; dann gingen sie einen langen Korridor entlang, an dessen Ende Victoire auf ein Zimmer deutete.

Raoul konnte sich nicht zur Wehr setzen. Er wurde gepackt und umschnürt, wie ein Paket. Marescal sagte nur wenige Worte:

»Sie sind der Führer der Banditen aus dem Expreß. Sie heißen Raoul de Limézy.«

Dann wandte er sich an seine Leute:

»Ins Polizeigefängnis! Hier ist der Haftbefehl. Und Vorsicht! Kein Wort über die Person unseres lieben ›Kunden‹! Tony, Sie sind mir für ihn verantwortlich. Auch Sie, Labonce! Fort! Um drei Uhr vor Brégeacs Haus. Dann werden wir uns das Fräulein und den Stiefvater vornehmen.«

Vier Mann schleppten den Verhafteten fort. Marescal hielt den fünften zurück; er hieß Sauvineux.

Marescal durchsuchte das Arbeitszimmer. Er beschlagnahmte einige nichtssagende Papiere und Gegenstände. Aber beide fanden sie die Flasche nicht, auf der Marescal vor vierzehn Tagen flüchtig die Worte »Verjüngungswasser« hatte lesen können.

Sie gingen in ein benachbartes Restaurant essen. Dann kamen sie zurück. Marescal ließ nicht locker.

Um ein Viertel nach zwei Uhr entdeckte Sauvineux endlich unter der Marmorverkleidung des Kamins die gesuchte Flasche. Sie war mit einem Korken versehen und sorgfältig versiegelt.

Er schüttelte sie und stellte sie dann vor eine elektrische Lampe: sie enthielt ein winziges Papierröllchen.

Er zögerte. Sollte er das Papier lesen?

»Nein ... nein ... Vor Brégeac! ... Bravo, Sauvineux, Sie sind ein tüchtiger Kerl! Jetzt sind wir dicht am Ziel: ich habe Brégeac in der Hand, und die Kleine hat keinen Beschützer mehr! Jetzt haben wir beide noch ein Wörtchen miteinander zu reden!«


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