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Es war in dem Monate, da der Heiland zwischen Ochs und Eselein in einem Stalle geboren worden war. Jesus war ein kleines Knäblein, wie alle anderen kleinen Knäblein in Flandern: zwischen seinen zarten Händchen hielt er die Brüste seiner Mutter Maria, kugelrund wie die Äpfelchen. Man hätte wahrhaftig glauben können, er sei tatsächlich in diesem uralten Städtchen nahe am Meere zur Welt gekommen. Die heiligen Märtyrer auf den Kirchen blickten so strahlend drein, als sollte wirklich eine neue Menschheit erstehen. Diejenigen von ihnen, die nicht gerade ihr Haupt unterm Arme trugen, neigten sich spähend aus ihren Nischen vor, um zu sehen, ob sie nicht schon von jenseits der Türe im Anzug sei.
Seit dem ersten Advent führte Ivo Mabbe das Leben eines Heiligen. Da sein Geschäft im Winter feierte, hatte er wohl reichlich Muße, mit der großen Brille auf der Nase, immer wieder in seinem heiligen Matthäus zu lesen. Der Ofen schnaubte, ein Rest von Knoblauch- und Zwiebeldüften, je nach dem Tage, schwebte über dem Gemach. Der Finke in seinem Bauer schmetterte. Und Sankt Walburgis' mächtiger Schatten fiel von so hoch oben herab, daß es war, als lebte er am Grunde einer Tonne. Man mußte jetzt schon um drei Uhr die Lampe anstecken.
Sein eifriges Studium des Lebens Christi brachte es zuwege, daß in dem Seilhändler ein überströmendes Mitgefühl für seine Nebenmenschen emporquoll und er aus tiefster Seele zum Himmel flehte, es möge ihm gegönnt sein, auch etwas für die Menschheit zu tun. Eine fast krankhafte, dürstende Sehnsucht war in ihm nach er wußte selbst nicht was für einem Opfer.
Ganze Stunden lang blieb er so in seine Gedanken verloren. Er hoffte immerzu, der Herr würde ihm doch endlich seine Bestimmung offenbaren wenn er noch in verstärktem Maße Buße übte. Er zwang sich, jeden Morgen dreißig Vaterunser und dreißig Ave herzusagen und ebenso viele des Abends, vor dem Schlafengehen. Er versagte sich den Zucker für seinen Nachmittagskaffee, dann sogar den ganzen Kaffee; er trank nun nichts anderes mehr als Wasser. Während einer ganzen Woche hielt er sich von Cordula ferne. Aber am siebenten Tage ließ sie ihm durch ihre alte Magd melden, sie habe soeben ein Kistchen »Brügger Biskoten« erhalten. Da vermochte er nicht länger der Versuchung zu widerstehen.
Das ward ein köstlicher Abend! Vor ihm stand eine mächtige Kaffeekanne, und langsam, mit halbgeschlossenen Augen, tauchte er die Biskoten ein, ihren feinen Safran- und Kassonadeduft wie einen Vorgeschmack der höchsten Glückseligkeiten genießend. Er dachte nimmer an Entsagung oder Nächstenliebe, er, der nicht einmal diesem kleinen, leiblichen Genuß zu widerstehen vermochte. Drei Viertel des Kistchens verspeiste er. Maria Magdalena lächelte nur mit ihren schönen Zähnen.
Das war sein Verderben, diese Naschhaftigkeit, die ihn immer nach allen Torten, Makronen, Biskoten und den vielen anderen guten Dingen so lüstern werden ließ, daß um dieses kurzen Genusses willen sein Seelenheil in Gefahr geriet. Ach! wie gut er das Paradies der Bauern verstand, mit seinen Näpfen voll kaltem Milchreis und Platten voll schmalzstrotzender Krapfen, indes die Engelein, die Löckchen wie Lammfelle geringelt, Flöte bliesen oder mit langen Fiedelbögen sanft über die Saiten strichen. Könnte er nur einer solchen Glückseligkeit durch ein musterhaftes Leben teilhaftig werden! Seine Eltern hatten auch nicht anders gedacht als er. Und Ivo war, trotz seines hageren Fastengesichtes, denn doch nichts anderes als ein echter, vlämischer Christ, mit einem gar elastischen, empfindsamen Magen und einem Fettfleck auf der violetten Tunika.
»Ach, du guter Gott,« seufzte er an jenem Abend auf dem Heimwege, »warum hast du auch so viele gute, begehrenswerte Dinge erschaffen, daß wir, selbst während wir sündigen, dich noch loben und preisen müssen?«
Und, mitten im Dunkel der Nacht kicherte er in sich hinein und rieb sich zärtlich den Magen. – – –
Indessen begann ein Stern über dem Meere aufzutauchen: die Fischer hatten ihn gesehen, wie er sich in der Richtung auf die Dörfer zu bewegte. Und sie sprachen davon, daß es derselbe sei, der die Hirten in Judäa heimgesucht hatte. Und eines Nachts begannen all die schönen goldenen und kristallenen Glocken zu klingen und zu singen. Als die Leute von Furnes erwachten, meinten sie die Hirten mit Sackpfeifen und Ziehharmonika von den Dünen herabkommen zu hören.
»Weihnachten! Heilige Weihnachtszeit!« flüsterte Ivo, sich die Augen reibend.
Rasch, noch ehe er Licht machte, griff er unter sein Kopfkissen. Noch nie seit seiner frühesten Kindheit hatte Barbara es unterlassen, ihm, während er schlief, dem flandrischen Brauche gemäß, einen »Kuke« aus feinem Weizenmehl mit einem kleinen Jesus aus buntem Zucker unters Kopfkissen zu legen.
»Weihnachten! Heilige Weihnachtszeit!« wiederholte er, während er lange den Duft des heiligen Kuchens einsog.
Dieses Erwachen mitten in der Nacht erfüllte ihn mit Freude. Er sprach sein Gebet, sprang aus dem Bette und öffnete das Fenster. Der ganze Himmel mit seinem Sternengeglitzer drang in seine Stube. Schier unübersehbar funkelten die Sternlein in der blauen Unendlichkeit wie die kleinen aufblinkenden Signalfeuer der Fischerboote auf dem Meere. Er fragte sich, welcher von ihnen es wohl gewesen sein mochte, der über der heiligen Krippe stillgestanden war. Und er erinnerte sich einer anderen, ähnlichen Sternennacht, wo er geräuschlos die Ladentür geöffnet hatte und davon gegangen war. Das war nun schon zehn Jahre her. Er war die Landstraße entlang gewandert, bis er das Meer vor sich sah. Dann hatte er sich auf die Dünen niedergesetzt. Er wußte nicht, was er eigentlich dort hatte erschauen wollen: er hatte nur immerdar gewartet. Es war eine ungemein milde und klare Nacht gewesen, eine wahrhaft heilige Nacht. Die Strandkaninchen nahmen sich wie kleine, bläuliche Flecken in dem Sande aus; der Wind klang wie brausendes Hallelujajauchzen. Da plötzlich hatte er den Himmel sich öffnen gesehen: ein leuchtendes Kreuz strahlte im Weltenraume auf, dessen unteres Ende auf der Erde fußte und dessen Oberteil sich im Schoße Gottes verlor. Ringsherum streuten die himmlischen Heerscharen eine Fülle von Rosen aus. Bei Morgenanbruch erwachte er. Es war das eine der schönsten Erinnerungen seines Lebens.
Ivo schloß das Fenster und zündete die Kerze an. Draußen hörte man schon Türen klappern; aus weiter Ferne drang Glockengeläute herein.
Als er die Kirche betrat, waren all die Leutchen der Heiligen Schrift bereits versammelt, so wie in jener früheren Nacht. Ivo arbeitete sich bis zum Chore vor und mischte sich unter die vom Platze hereinströmende Menge. Als ersten bemerkte er Wishje Brad, der ihn begrüßte. In dem goldigen Lichtglanz hielten sie sich dicht Seite an Seite. Ivo war froh, die Wärme dieses rechtschaffenen Menschenkindes so nah neben sich zu fühlen. Der kleine Fischer begann alsogleich zu beten; seine Zähne klapperten vor Eifer. Sicherlich war er ein gut Teil der Nacht dem funkelnden Sternlein nachgegangen. Das war wirklich noch ein Mann des guten alten Glaubens, mit einem Herzen gleich einem Heiligenschrein, darin ein Tröpflein von Christi Blut niemals vertrocknete.
Andächtig faltete die anwesende Gemeinde, eine dunkle, reglose Masse, die Hände. Scharf zeichneten sich die Knochen der Gesichter in dem Dämmerdunkel ab, vereinzelte helle Lichter tanzten auf Nacken und Stirnen. Das waren lauter echte Menschen vom westflandrischen Schlag, eigenwillig, geduldig, fromm, ergeben und schweigsam. Einen großen, sanften Kindertraum in den blauen Augen, starrten sie ins Geflacker der Wachskerzen auf die Krippe. Für diese einfältigen Leutchen war Christus abermals geboren worden. Da hätte man lange reden können, ihr Glaube stand unerschütterlich fest.
Die kleine Jungfrau Maria dort drüben im Chor auf samtenem Stuhle, mit dem gekrausten Federbusche auf ihrem Hute, glich einem himmlischen Vogel. Die Tochter des Brauers Sporkin galt für die reichste Partie des Städtchens. Sie war artig, bescheiden und wohl erzogen; es hieß, daß der Sohn des Richters Lampernisse ihr wahrscheinlich eines Tages den Brautring an den Finger stecken würde. Wenn in den Kneipen die Rede darauf kam, so gab es dann wohl immer den einen oder den anderen, der es etwas seltsam fand, daß sich die heilige Jungfrau zu Leuten gesellen sollte, die einstmals ihren Sohn hätten zum Tode verdammen können. In dem seltsamen Städtchen Furnes wußte man eben niemals so ganz genau, zu welcher Zeit sich die Dinge ereigneten; die Begebenheiten erhielten alle einen heiligen Doppelsinn. Inmitten all der vielen Nazarener, Apostel und heiligen Frauen, die da in den kleinen Häuschen mit buchsumhegten Gärtchen wohnten, lebte man wie in einer Vorstadt des Paradieses.
Der Priester erschien, das Heilige Sakrament in der Hand und gefolgt von Diakonen und Glöckchen schwenkenden Chorknaben; und alsogleich setzte die Orgel ein. Ivo senkte das Haupt und schloß die Augen; er betete ebenso inbrünstig wie Wishje Brad an seiner Seite. Er war nicht mehr Christus, der Nazarener, er war nur mehr ein schlichter, demütig Betender. Die Stimmen der Sänger rührten ihn bis zu Tränen. Sein Glaube war süß, lind, beglückend; inbrünstig aus tiefster Seele betete er das Kindlein an, ohne das er niemals hätte auf dem Esel reitend in Jerusalem einziehen können. Es war ein Zustand zwischen Wirklichkeit und Traum: sein ganzes Sein schien wie jenseits der Grenzen des Lebens entrückt.
Die Erde wich langsam unter ihm zurück, indes er selbst, wie von einer göttlichen Kraft gehoben, mit den zur Wölbung aufsteigenden Weihrauchspiralen in ferne Höhen emporschwebte. Die Augen in seinem hageren Gesichte brannten vor fiebernder Inbrunst und Liebe. Es war, als erlebte er jetzt in Wirklichkeit all die schönen, naiven heiligen Bilder aus dem alten Almanach, der Cordula gehörte. Er hörte die Hirten hinter der Hecke Flöte blasen; die Könige entzündeten im Stalle wohlriechende Räucherkerzlein; das Öchslein ließ seine Kinnbacken wie zwei Mühlsteine hin und her gehen; der Negerkönig Balthasar grinste verzückt mit seinen dicken, wulstigen Lippen, die wie ein paar Feigen aus seinen glänzenden Backen vorragten. Ivos Herz bebte auf seinen Lippen. Sein ganzer Körper war feucht vor eitel Wonne und Entzücken, als befände er sich vor einer Menge köstlicher Gerichte in einer mollig warmen Stube. Unverwandt blickte er nach den hohen Wölbungen empor, wo die funkelnden Kerzen in einem leichten Nebel von Weihrauchdämpfen wie ewiges Morgenrot gluteten. Das war so süß, wie ein seliger Tod mitten im Schoße der guten Engelein.
Ein Gedränge von Neueintretenden brachte die versammelten Andächtigen ins Wanken. Herodes und Melchior murrten wie zwei richtige Herrscher. Aber welche Kirche hätte wohl jemals genügend Platz für alle, die in der Christnacht nach Gebet und Liebe dürsten? Ivo wurde hinter einen Pfeiler gedrängt, wo sich für gewöhnlich die armen Leute aus den Hintergäßchen aufzustellen pflegten. Ein beißender Gestank von Hering und Tang entströmte ihren Kleidern. Da gab es auch mehrere alte Väterchen, von denen ein übler Geruch wie von schlecht gepflegten Geschwüren ausging. »Was für ein Gestank!« dachte Ivo Mabbe bei sich. »Und doch: Jesus ist mehr für diese als für die Reichen auf dem Kreuze gestorben.«
Nun, damit drückte er nur eine Empfindung aus, die ihm erst seit kurzer Zeit aufgestiegen war. Vordem hätte er sich entsetzt, wenn er jemanden anderen so reden gehört hätte. In einem kleinen Städtchen zählt derjenige, der nicht einmal das geringste Stückchen Dach über sich besitzt, überhaupt nicht. Es gilt nur der Metzger, der Bäcker, der Krämer, der Schneider, der Schuster, der Zimmermann; dann noch der Notar, der Steuereinheber und die Rentner. Diese beschließen untereinander, was die anderen zu denken und zu sagen haben. Auch Ivo hatte es nicht anders gehalten; und nun begann sein Herz mählich einen Keim zu treiben, wie eine während langer Zeit unfruchtbar gebliebene Zwiebel.
Er suchte Wishje Brad; aber das kleine Männchen war fort. Eine andere, eine elende, leidende Menschenmenge umringte ihn. Drüben zogen die Schriftgelehrten vor Staunen die Brauen hoch, daß Christus sich unter dieses Gesindel mengte. Die alten Väterchen hingegen sahen ihn gerührt, mit vor Dankbarkeit feuchtschimmernden Augen an. Und ihm selbst war es, als erblickte er all diese Leute zum allerersten Male. »Wie traurig sie sind!« dachte er. »Mit welch fürchterlichem Gewicht muß das Leben auf ihnen lasten! … Wenn nur ihr abscheulicher Gestank nicht gar so unangenehm wäre! … Möglich, daß ihre Seele weniger übel riecht als ihr Gewand!« …
Wo holte er nur solche Gedanken her, er, ein Sohn des Seilhändlers, der bei seinen Lebzeiten durchaus nicht als besonders wohlwollend für die Armen galt?
Versonnen betrachtete er die Bischofsmützen oder Wogenkämmen gleichenden Strebepfeiler da oben, auf denen der Kiel des göttlichen Schiffes zu ruhen schien. Die Wände weiteten sich ins Unendliche. Die Wölbungen verloren sich in dem schimmernden Nebel des Lichtermeeres. In leichten Flöckchen wirbelte der Weihrauch um Marmor und Gold. Eine himmlische Musik, ein Gesang inbrünstig betender Stimmen entströmte plötzlich dem Innern der Orgel. Ivo fühlte sein Herz mit übermenschlicher Stärke hämmern. »Herr, mein Gott!« betete er, in die Knie sinkend, »sollte es nicht auch mir gegeben sein, meinem Nächsten das Opfer meiner selbst darzubringen?« Das war die Idee, die er schon einmal gehabt hatte, aber damals war sie noch eine junge Idee gewesen, die noch ein wenig schwach auf den Füßen stand. Jetzt aber war sie mächtig und hinreißend schön geworden, tief in seinem Leben wurzelnd.