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(1902)
… Die Leser erinnern sich wohl noch, welches Aufsehen das Referat des Adelsmarschalls von Orel, M. A. Stachowitsch, auf dem Missionarkongreß über die Notwendigkeit der gesetzlichen Anerkennung der Gewissensfreiheit hervorgerufen hat. Die konservative Presse, allen voran die »Moskowskije Wjedomosti«, heult und gebärdet sich wie toll gegen Herrn Stachowitsch, sie weiß kaum, wie sie ihn beschimpfen soll, und geht fast soweit, den ganzen Adel von Orel des Staatsverrats anzuklagen, weil Herr Stachowitsch wiederum zum Adelsmarschall gewählt worden ist. Diese Wahl aber ist wirklich eine lehrreiche Erscheinung, die bis zu einem gewissen Grade den Charakter einer Demonstration des Adels gegen die Willkür und Niedertracht der Polizei bedeutet.
»Stachowitsch« – so versichern die »Moskowskije Wjedomosti« – »ist nicht so sehr Adelsmarschall, als vielmehr Mischa Stachowitsch, der Bruder Lustig, die Seele der Gesellschaft, der Schönredner …« (1901, Nr. 348 Artikel des zarentreuen »Moskowskije Wjedomosti« (»Moskauer Nachrichten«) vom 18. Dezember 1901, dem die folgenden drei Zitate entnommen sind..) Um so schlimmer für euch, ihr Herren Verteidiger des Polizeiknüppels! Wenn sogar die lebenslustigen Gutsbesitzer von Gewissensfreiheit zu reden begonnen haben, so bedeutet das, daß die Zahl der Gemeinheiten, die unsere Popen im Verein mit unserer Polizei begehen, Legion sein muß.
»… Was hat unsere leichtsinnige ›Intelligenz‹, aus der die Herren Stachowitsch hervorgehen und die ihnen zujubelt, zu tun mit unserem Heiligtum, unserer rechtgläubigen Religion und unserem innigen Verhältnis zu ihr? …«
Wiederum: um so schlimmer für euch, ihr Herren Verteidiger des Absolutismus, der Rechtgläubigkeit, des Volkstums! Schön müssen denn doch die Zustände unseres Polizeiabsolutismus sein, wenn er sogar die Religion so sehr mit Gefängnisgeist durchtränkt hat, daß die »Stachowitsche« (die keinerlei feste Ueberzeugung in religiösen Dingen haben, aber, wie wir weiter unten sehen werden, an dem Weiterbestand der Religion interessiert sind) von völliger Gleichgültigkeit (wenn nicht Haß) gegen dieses berüchtigte »Volksheiligtum« durchdrungen werden!
»… Sie nennen unseren Glauben Verirrung!! Sie verhöhnen uns, weil wir dank dieser ›Verirrung‹ die Sünde fürchten und sie fliehen, weil wir, ohne zu murren, unsere Pflichten erfüllen, so schwer sie auch sein mögen, weil wir Kraft und Mut finden, Leid und Entbehrungen zu ertragen, und im Erfolg und Glück keinen Stolz kennen …«
Also das ist's! Das Heiligtum der rechtgläubigen Kirche ist darum so teuer, weil es lehrt, ohne zu murren Leid zu ertragen! Fürwahr, ein vorteilhaftes Heiligtum für die herrschenden Klassen! Wenn die Gesellschaft so eingerichtet ist, daß eine verschwindende Minderheit Reichtum und Macht genießt, die Masse aber ständig »Entbehrungen« zu dulden und »schwere Pflichten« zu tragen hat, so ist die Sympathie der Ausbeuter für eine Religion völlig verständlich, die die irdische Hölle ohne Murren zu ertragen lehrt um eines angeblichen himmlischen Paradieses willen. In ihrem hitzigen Uebereifer beginnen die »Moskowskije Wjedomosti« sich zu verplaudern. Und sie haben sich so sehr verplaudert, daß sie unversehens die Wahrheit gesagt haben. Man höre weiter:
»… Sie ahnen nicht einmal, daß, eben dank dieser ›Verirrung‹, sie, die Herren Stachowitsch, sich satt essen, ruhig schlafen und lustig leben.«
Heilige Wahrheit! So ist es, dank der ungeheuren Verbreitung der religiösen »Irrtümer« in den Volksmassen, »schlafen ruhig« sowohl die Stachowitsche wie die Oblomows Titelheld eines Romans von Gontscharow, Typus eines Gutsbesitzers, der sein Leben im Träumen von allerhand schönen Dingen verbringt, aber nie die Energie aufbringt, sie zu verwirklichen. und alle unsere Kapitalisten, die von der Arbeit dieser Massen leben, und schließlich auch die »Moskowskije Wjedomosti« selber. Und je mehr die Aufklärung im Volke verbreitet wird, je mehr die religiösen Vorurteile durch das sozialistische Bewußtsein verdrängt werden, um so näher wird der Tag des proletarischen Sieges sein, der alle geknechteten Klassen aus ihrer Versklavung in der gegenwärtigen Gesellschaft erlöst …
Aus »Iskra« Nr. 16, 1. Februar 1902; vgl. Lenin, »Sämtliche Werke«, Bd. IV, 2. Halbband, S. 116 ff.