Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Gil Blas sieht die Schauspieler von Granada spielen; in welches Staunen ihn der Anblick einer Komödiantin versetzte, und was daraus entstand.

 

Garcias war noch nicht zum Saal hinaus, als zwei sehr sauber gekleidete Kavaliere eintraten, die sich in meiner Nähe setzten. Sie begannen sich über die Komödianten der granadischen Truppe und über eine neue Komödie zu unterhalten, die man gerade spielte. Dies Stück erregte nach ihren Reden in der Stadt beträchtliches Aufsehn. Ich bekam Lust, mir abends die Vorstellung anzusehn. Seit ich in Granada war, war ich noch nicht im Schauspiel gewesen. Da ich fast immer beim Erzbischof gewohnt hatte, der die Komödie mit dem Bann belegte, hatte ich mich gehütet, mir dies Vergnügen zu gönnen. Meine ganze Unterhaltung hatte in den Homilien bestanden.

Ich ging also, sobald es Zeit war, ins Theater, und ich fand eine zahlreiche Menge vor. Bald darauf erschien der Gracioso, um das Spiel zu eröffnen. Sowie er erschien, entfesselte er ein allgemeines Händeklatschen, woran ich erkannte, daß er einer jener verwöhnten Schauspieler war, denen das Parterre alles verzeiht. Wirklich konnte dieser Komödiant keine Geste machen, kein Wort sagen, ohne Beifall zu erwecken. Man bezeigte ihm das Vergnügen, mit dem man ihn sah, nur zu sehr. Und er mißbrauchte dies Wohlwollen auch. Ich merkte, daß er sich auf der Bühne oft vergaß, und daß er das Vorurteil zu seinen Gunsten auf schwere Proben stellte. Hätte man gezischt, statt Beifall zu klatschen, so wäre man oft gerechter gewesen.

Auch beim Anblick einiger andrer Schauspieler klatschte man, und besonders bei einer Schauspielerin, die eine Zofenrolle spielte. Ich beobachtete sie genau; und es gibt keine Worte, um die Überraschung zu malen, mit der ich Laura in ihr erkannte, meine teure Laura, die ich noch in Madrid bei Arsenia vermutete. Ich konnte nicht daran zweifeln, daß sie es war. Ihre Figur, ihre Züge, ihre Stimme, alles versicherte mir, daß ich mich nicht täuschte. Aber, als traute ich meinen Augen und Ohren nicht, fragte ich einen Kavalier, mir zur Seite, nach ihrem Namen. Wie! woher kommt Ihr? sagte er. Ihr seid offenbar erst eben gelandet, da Ihr die schöne Estella nicht kennt.

Die Ähnlichkeit war zu vollkommen, als daß ich mich hätte täuschen können. Ich begriff, daß Laura beim Wechsel des Berufs auch den Namen gewechselt hatte; und da ich neugierig war, über sie zu erfahren – denn das Publikum kennt alle Geheimnisse der Leute vom Theater –, so erkundigte ich mich bei demselben Nachbarn, ob diese Estella irgendeinen vornehmen Liebhaber hätte. Er erwiderte, seit zwei Monaten sei ein großer portugiesischer Herr, der Marquis von Marialva, in Granada, der viel für sie aufwende. Er hätte mir noch mehr gesagt, hätte ich nicht befürchtet, ihn durch meine Fragen zu ermüden. Ich dachte nur noch an Laura, an Estella, und ich nahm mir vor, am folgenden Tage zu der Schauspielerin zu gehn. Ich war nicht ohne Sorge, welchen Empfang sie mir bereiten würde: ich hatte Grund zu der Annahme, daß mein Anblick ihr in ihrer glänzenden Lage nicht viel Freude machen dürfte; ich sagte mir sogar, eine so gute Schauspielerin könnte, um sich an einem Mann zu rächen, mit dem unzufrieden zu sein sie alles Recht hatte, ganz wohl tun, als kennte sie ihn nicht. All das schreckte mich jedoch nicht ab. Nach einer leichten Mahlzeit – denn andre gab es in meiner Herberge nicht – zog ich mich in ungeduldiger Erwartung des folgenden Tages in mein Zimmer zurück.

Ich schlief wenig und stand mit Tagesgrauen auf. Aber da ich annahm, die Geliebte eines großen Herrn werde so früh nicht zu sehen sein, so brachte ich zunächst drei bis vier Stunden damit hin, mich rasieren, pudern und parfümieren zu lassen. Ich wollte mich so vor ihr zeigen, daß sie nicht zu erröten brauchte. Ich ging gegen zehn Uhr aus, erkundigte mich nach ihrer Wohnung und begab mich zu ihr. Der Kammerfrau, die mir öffnete, sagte ich, ein junger Mann wünsche Frau Estella zu sprechen. Das Mädchen trat ein, um mich zu melden, und ich hörte gleich darauf ihre Herrin mit gehobener Stimme sagen: Wer ist dieser junge Mann? Was will er? Laß ihn eintreten!

Ich schloß daraus, daß ich den Augenblick schlecht gewählt hatte, daß ihr portugiesischer Liebhaber bei der Toilette war, und daß sie nur deshalb so laut sprach, um ihm zu zeigen, daß sie keine verdächtigen Besuche empfinge. Damit traf ich die Wahrheit; der Marquis von Marialva verbrachte fast alle Vormittage bei ihr. Ich machte mich also auf ein schlimmes Kompliment gefaßt. Aber als diese originelle Schauspielerin mich sah, lief sie mit offenen Armen auf mich zu und rief wie begeistert: Ah, mein Bruder, Ihr seid es, den ich sehe! Und sie umarmte mich wiederholt. Dann wandte sie sich zu dem Portugiesen und sagte: Verzeiht, wenn ich in Eurer Gegenwart der Stimme des Bluts folge. Ich kann meinen Bruder, den ich zärtlich liebe, nach drei Jahren der Trennung nicht wiedersehn, ohne ihm meine Freundschaft zu bezeigen. Ah, mein lieber Gil Blas, fuhr sie fort, gebt mir Nachricht von meiner Familie: wie habt Ihr sie verlassen?

Ich war einen Augenblick in Verlegenheit; aber schnell erkannte ich Lauras Absicht, und ich antwortete, indem ich auf ihre List einging, mit einer Miene, die der Szene angepaßt war: Dem Himmel sei Dank, liebe Schwester, unsern Eltern geht es gut. Ohne Zweifel, erwiderte sie, seid Ihr erstaunt, mich in Granada als Komödiantin zu finden; aber verurteilt mich nicht, ohne mich zu hören. Ihr wißt, vor drei Jahren glaubte mein Vater mich vorteilhaft zu versorgen, indem er mich dem Hauptmann Don Antonio Coello zur Frau gab. Er führte mich aus Asturien nach Madrid, wo er geboren war. Sechs Monate darauf zog er sich durch seine Heftigkeit einen Ehrenhandel zu. Er tötete einen Kavalier, der sich hatte einfallen lassen, mir einige Aufmerksamkeit zu erweisen. Der Kavalier gehörte vornehmen Leuten an, die großen Einfluß hatten. Mein Mann floh mit allem Geld und allen Edelsteinen nach Katalonien. Er schiffte sich in Barcelona ein, setzte nach Italien über, nahm bei den Venezianern Dienste und fiel schließlich in Morea im Kampf gegen die Türken. Mittlerweile wurde sein Gut, unser einziger Besitz, eingezogen und ich wurde zu einer unbedeutenden Witwe. Wozu sollte ich mich in meiner Not entschließen? Eine anständige junge Witwe ist sehr in Verlegenheit. Nach Asturien konnte ich nicht zurückkehren. Was hätte ich dort auch beginnen sollen? Von meiner Familie hätte ich statt allen Trostes nur Worte des Beileids erhalten. Andrerseits war ich zu gut erzogen, um mich in ein lockeres Leben zu stürzen. Was also sollte ich tun? Ich wurde, um mir meinen Ruf zu erhalten, Schauspielerin.

Ich verspürte so starken Lachreiz, als ich Laura ihren Roman in dieser Weise schließen hörte, daß ich mich nur mit Mühe bezwang. Es gelang mir jedoch, und ich sagte sogar mit ernster Miene zu ihr: Liebe Schwester, ich lobe Euer Verhalten, und ich freue mich, Euch so ehrenhaft versorgt in Granada wiederzufinden.

Der Marquis von Marialva, dem kein Wort von all dem entgangen war, nahm alles wörtlich, was Don Antonios Witwe herzuleiern für gut befand. Er griff sogar in die Unterhaltung ein: er fragte mich, ob ich in Granada oder anderswo in Stellung sei. Ich war einen Augenblick im Zweifel, ob ich lügen sollte; aber da ich das nicht für nötig hielt, so sagte ich die Wahrheit. Von Punkt zu Punkt erzählte ich, wie ich in den erzbischöflichen Palast gekommen war, und wie ich ihn verlassen hatte; es belustigte den portugiesischen Edelmann sehr. Freilich verspottete ich trotz des Melchior gegebenen Versprechens seine Gnaden ein wenig. Das lustigste dabei war, daß Laura, im Glauben, ich dichte wie sie eine Fabel, so laut lachte, wie sie es nicht getan hätte, hätte sie gewußt, daß ich nicht log.

Als ich meinen Bericht mit dem gemieteten Zimmer schloß, kam man und meldete, daß gedeckt war. Ich wollte mich alsbald zurückziehn, aber Laura hielt mich auf: Was wollt Ihr, lieber Bruder? sagte sie. Ihr eßt bei mir. Ich dulde nicht einmal, daß Ihr noch länger in einem möblierten Zimmer bleibt. Ihr sollt in meinem Hause essen und wohnen. Laßt Eure Sachen nur heute abend bringen; ein Bett ist für Euch vorhanden.

Der portugiesische Edelmann jedoch, dem diese Gastfreundschaft vielleicht nicht behagte, ergriff das Wort und sagte: Nein, Estella, Ihr wohnt hier nicht bequem genug, um jemanden bei Euch aufzunehmen. Euer Bruder scheint ein muntrer Junge zu sein, und da er Euch so nahe angeht, interessiere ich mich für ihn. Ich will ihn in meinen Dienst nehmen. Er soll mein liebster Sekretär werden; ich mache ihn zu meinem Vertrauensmann. Wenn er will, so mag er heute abend zur Nacht zu mir kommen: ich werde befehlen, daß man ihm ein Zimmer bereithält. Und wenn ich, wie ich hoffe, in der Folge mit ihm zufrieden bin, so werde ich ihn instand setzen, sich über seine zu große Aufrichtigkeit gegen den Erzbischof zu trösten.

Ich dankte dem Marquis, und meinem Dank folgte der Lauras, der meinen noch übertraf. Reden wir nicht mehr davon, unterbrach er, das ist abgemacht. Damit grüßte er seine Theaterprinzessin und ging. Sie ließ mich sofort in ein Kabinett treten, wo sie, da wir allein waren, ausrief: Ich müßte ersticken, wenn ich nicht endlich lachen könnte. Sie warf sich in einen Sessel, hielt sich die Seiten und überließ sich ganz ihrer maßlosen Lachlust. Es war mir unmöglich, ihrem Beispiel nicht zu folgen, und als wir uns ausgelacht hatten, sagte sie: Gestehe, Gil Blas, wir haben eine lustige Komödie gespielt! Aber den Ausgang hatte ich nicht erwartet. Ich wollte dir nur Bett und Tisch verschaffen; und um es dir schicklicherweise anbieten zu können, gab ich dich für meinen Bruder aus. Ich bin entzückt, daß der Zufall dir eine so gute Stellung bietet. Der Marquis von Marialva ist ein großmütiger Herr, der noch mehr für dich tun wird, als er versprochen hat. Eine andre, fuhr sie fort, hätte vielleicht einen Menschen, der seine Freunde verläßt, ohne ihnen Lebewohl zu sagen, nicht so gut aufgenommen. Aber ich gehöre zu den guten Mädchen, die einen Schelm, den sie geliebt haben, immer mit Freuden wiedersehn.


 << zurück weiter >>