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Onésime Coche erwachte mit ausgeruhtem Körper und dumpfem Kopf gegen halb elf Uhr vormittags. So viele quälende und wirre Träume hatten seinen Schlaf gestört, daß er seine Gedanken nur mit Mühe zu ordnen vermochte. Staunend fand er sich zunächst in diesem Zimmer, das er niemals vorher gesehen hatte, und verwundert sah er sich angekleidet auf einem Bette liegen. Das Zimmer war kalt, trübselig und schien unsauber. Die helle rosa und blaugeblümte Tapete zeigte dunkle Flecken, die von Feuchtigkeit oder Fett herrühren mochten. Das Bettzeug war zweifelhaft. Der kleine Teppich vor dem Bette war geflickt und stark abgenützt, und an einem Kleiderständer hing ein alter Frauenrock. – Erst, nachdem sein Blick all dies umfaßt hatte, tauchte die Erinnerung an den nächtlichen Besuch in seiner Wohnung, an all die Boulevards und Straßen, durch die er planlos geirrt war, wieder in ihm auf, und jetzt erinnerte er sich auch wieder an das Geräusch der verfolgenden Schritte, die er hinter sich zu hören geglaubt hatte …
Er war verfolgt worden? – War dies auch wirklich anzunehmen? Viel einfacher und natürlicher war doch die Vermutung, daß jener Mann, den er am Boulevard Saint Michel erblickt hatte, nichts weiter als ein harmloser Passant gewesen sei … Doch er hatte genau denselben Weg gehabt … Ja, war er denn durch einen ausgestorbenen Stadtteil gegangen? … Konnte der Mann nicht einfach auf dem Wege nach seiner Wohnung gewesen sein? – Und doch hatte Coche ein banges Zittern nicht verwinden können, als sein Auge auf den Blick jenes Mannes getroffen war! – Die Angst, die er für einen Augenblick zum Schweigen gebracht glaubte, nahm wieder von ihm Besitz. Gefühle des Schreckens und quälender Pein, die sein Geist früher nur dunkel geahnt hatte, wurden ihm allzu vertraut. Er begriff jetzt jede Qual, er vermochte jeden verzweifelten Ausbruch, der sie zur Ursache hatte, zu entschuldigen, er fühlte es so gut, daß ein Verbrecher gehetzt und umstellt gleich einem wilden Tiere wie dieses die letzten Kräfte zusammenrafft, um den Verfolgern die Stirn zu bieten, sich blindwütig auf ihre Reihen stürzt, nicht um sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen, nur aus dem Trieb, im Blutrausch, im Mord das Entsetzen all der endlos durchwachten Nächte zu vergessen. Das furchtbare Drama jeder Gefangennahme spielte sich vor seinem Geiste ab. Er sah sich selbst schon von brutalen Händen überwältigt und zu Boden geworfen, er fühlte den heißen Atem seiner Gegner an seinem Gesichte, Stricke und Fesseln an den Gelenken …
Heftig schüttelte er die grauenhaften Bilder seiner Phantasie von sich ab und erregt schritt er durch das kleine Zimmer. Als er an das Fenster kam, blickte er, ohne daß er gewagt hätte, den Vorhang beiseite zu schieben, auf die Straße. Auf dem gegenüberliegenden Fußsteig ging mit langsamen Schritten ein Mann auf und ab. Coche glaubte zu sehen, daß er die Augen nach seinem Fenster wandern ließ, und wich unwillkürlich zurück, ohne indes seinen Blick von dem Fremden dort unten lassen zu können. Ein zweites Mal sah er, wie dieser heraufschaute. Da überlief ihn ein Zittern und kalter Schweiß begann seinen Körper zu bedecken. Ein Zweifel war nicht mehr möglich. Dieser Mann dort unten wartete auf jemand, bewachte jemand, und der überwacht, auf den gelauert wurde, war – er selbst! Coche wollte diesen widersinnigen Gedanken verscheuchen, doch er vermochte ihn nicht mehr aus seinem Geiste zu bannen, und wieder begannen die wüsten Bilder von Kampf und Ueberwältigung, die sich ihm vorhin aufgedrängt hatten, vor seinen Augen zu flimmern.
Verzweifelt wehrte er sich gegen die überhitzten Gebilde seiner Phantasie, seiner überreizten Nerven. Er vermochte kaum mehr zu unterscheiden, wo der feste Boden der Wirklichkeit aufhörte und wo seine Fieberträume begannen … Er wußte sich belauert, bewacht. War er es wirklich? – Träumte er oder standen diese Männer leibhaftig vor dem Hause? Andere schienen jetzt die Treppe heraufzuschleichen, er hörte das Holz unter ihren Schritten krachen. Das Geräusch verstummte, dann war es wieder hörbar. Ein ersticktes Flüstern, gedämpfte Stimmen klangen bis zu ihm. Worte, Bruchstücke von Sätzen unterschied er:
»Dort drinnen … Kein Geräusch …«
Und dann wieder nichts … Stille, Schweigen … Was sollte er tun? Er war umstellt … Unter den Fenstern lauerten sie, nach dieser Seite war eine Flucht unmöglich. – Vor der Türe draußen warteten sie … nur eine zweite Tür noch im Zimmer und die war mit Eisenklammern gehalten. So viel Zeit, sie zu sprengen, blieb ihm nicht … Was also tun? Warten, bis jene Tür dort von denen draußen eingeschlagen wurde und mit vorgesenktem Kopfe auf die Eindringenden losstürmen? – Ja, dies war das beste!
Er zog seinen Revolver, entsicherte ihn und wartete in die Ecke beim Fenster gedrückt … Die Stimmen draußen – Wahrheit oder Traum? – wurden deutlicher. Scharf klangen die Worte:
»Bei der geringsten Bewegung … verstanden?«
Und wieder Stille. Kein einziger Wagen auf der Straße, alles Leben schien mit einem Male unterbrochen. Nur das Ticken eines Weckers aus einem der Nebenzimmer klang im Raum … Plötzlich ein Klopfen an der Türe … Coche fand es selbstverständlich, er hatte es nicht anders erwartet. Nicht einen Augenblick rechnete Onésime Coche mit der Möglichkeit, daß dies ein Kellner sein könne. – Man klopfte ein zweites Mal. Und plötzlich wurde die Türe geöffnet. Coche hatte so sicher damit gerechnet, die Türe von heftig dagegengestemmten Schultern eingedrückt, zu sehen, daß er ganz entgeistert nur nach der Klinke starrte, die sich soeben ganz leicht bewegt hatte und dabei vergaß er vollkommen, daß er am Abend viel zu müde gewesen war, um die Türe zu versperren. Als ihm dann einfiel, den Revolver in Anschlag zu bringen, fühlte er schon seine Arme gepackt, seine Schultern nach rückwärts gerissen, seine Handgelenke umklammert. Ueberraschung und körperlicher Schmerz waren so heftig, daß er die Waffe fallen ließ und widerstandslos gefesselt werden konnte. Erst jetzt begriff er, was geschehen war, daß seine Träume allzu rauhe Wirklichkeit geworden, und daß er gefangen war! Aufrecht stand er da, die Heftigkeit, mit der die Ereignisse ihn überrumpelt hatten, lähmte jedes Erstaunen. Erst allmählich wich es wie ein Schleier von seinen Augen und die Besinnung kehrte ihm zurück. Er hörte die spöttische Stimme des Polizeikommissärs sprechen:
»Meine Verehrung, Herr Onésime Coche!«
Und diese Stimme erst rief ihn vollends in die Gegenwart.
Da ging eine sonderbare Wandlung in ihm vor, ein Alp wich von ihm, er fühlte es wie eine Erleichterung, daß sich nun endlich ereignet hatte, wovor er seit vier Tagen bangte: seine Verhaftung.
Nun also würde er endlich ausruhen, endlich wieder schlafen können! Zum ersten Mal vielleicht seit jener Nacht vom 13. fühlte er klar und deutlich, daß sein Ziel erreichbar war, daß sein Triumph als Reporter nun beginne. Seine Züge entspannten sich unwillkürlich, er atmete tief und ruhig und lächelte mit ein wenig verachtender Ironie.
Nachdem man ihn vom Kopf bis zu den Füßen durchsucht, nachdem man das Bett, die Matratzen, Leinentücher und Polster durchwühlt hatte, befahl der Kommissär, ihn abzuführen.
»Verzeihen Sie,« wandte Coche ein und er freute sich, den Klang seiner eigenen Stimme wieder hören zu können, »wäre es zudringlich, Herr Kommissär, Sie zu fragen, was dies alles bedeuten soll?«
»Das werden Sie wohl selbst ahnen …«
»Ich weiß bloß, daß Ihre Leute sich auf mich geworfen haben, daß sie mich überwältigten, fesselten – ich kann sogar behaupten, daß sie die Handschellen fester zuzogen, als unbedingt nötig gewesen wäre – aber es ist mir nicht vollkommen klar, wozu alle diese Gewaltakte dienen … Ich nehme an, daß man mir eine Aufklärung nicht verweigern wird … Wenn ich mich noch so sehr bemühe, vermag ich in meiner Erinnerung nicht das kleinste Pressevergehen zu entdecken. Und selbst, wenn ich mich täuschen sollte und mir doch derartiges vorgeworfen wird, kann ich den großen Apparat, den Sie hier aufbieten, nicht begreifen. Zehn Kriminalbeamte haben sich hier versammelt, und unter ihnen erkenne ich einen Herrn« – Coche wies auf Javel – »der mir die besondere Aufmerksamkeit erwies, seit gestern Abend nicht von meinen Fersen zu weichen.«
Coche zeigte wieder eine solch sichere Ruhe, daß Javel, der Kommissär und alle anderen, einen Augenblick schwankend geworden, sich sagten: »Das ist nicht möglich! Wir müssen uns geirrt haben …« Doch gleich überlegten sie weiter:
»Warum aber hat er uns mit dem Revolver in der Faust empfangen, wenn er ein so ruhiges Gewissen besitzt?«
Und diese Betrachtung weckte im Kommissär und in Javel die Erinnerung an die übrigen schwerwiegenden Verdachtsgründe, die gegen Coche vorlagen. Dies genügte, jeden Zweifel in ihnen zu ersticken, und Coche wurde von zwei Kriminalinspektoren die Treppe hinuntergeführt.
An der Schwelle seiner Kanzlei brummte der Hotelbesitzer erzürnt:
»Und so komme ich um mein Geld …«
»Mein armer Herr,« entgegnete Coche, »ich bin darüber wirklich vollkommen verzweifelt, aber diese Herren haben es für nötig gefunden, sich meiner Brieftasche zu bemächtigen, und so müssen Sie sich wohl indessen an sie wenden …«
Vor dem Hause waren schon Müßiggänger angesammelt. Mit einem Gefühl der Scham machte Coche die wenigen Schritte durch das Spalier neugieriger Blicke bis zu dem wartenden Wagen. Als die Pferde sich in Bewegung setzen wollten, kreischte eine gellende Stimme aus der Menge:
»Tötet den Mörder! Tötet ihn!«
Immer findet sich in der Menge einer, der alles weiß. So war auch hier das Geheimnis durchgesickert. Sogleich erklangen neue Schmährufe, wilde, wütende, atemlose Schreie hoben sich von einem Grollen ab, das von allen Seiten die Worte wiederholte: »Tötet ihn!«
Ehe man sich dessen versah, war der Wagen umringt, Männer, Frauen und Kinder fielen den Pferden in die Zügel, klammerten sich an die Räder und Federn und brüllten:
»Laßt ihn aus, wir selbst wollen ihn haben, sterben muß er!«
Ein Inspektor steckte erregt den Kopf aus dem Wagenfenster und schrie dem Kutscher zu:
»Worauf warten Sie denn? Fahren Sie los, zum Teufel nochmal …«
Polizisten, die herbeigelaufen kamen, befreiten endlich den Fiaker, der unter allgemeinem Toben zu fahren begann. Die Hitzigsten liefen noch eine ganze Strecke mit und ihr Brüllen dröhnte Coche in den Ohren.
Der saß in seine Ecke gedrückt und hatte seit dem Verlassen des Hotels den Mund nicht mehr geöffnet. Schüchtern hatte er bloß zum Danke mit dem Kopfe genickt, als der Kriminalbeamte, der neben ihm saß, die Vorhänge zugezogen hatte, um ihn den neugierigen Blicken der Straße zu entziehen. Die Schreie und Drohungen all dieser fremden Menschen hatten ihn zuerst erschreckt, doch dann mit einem tiefen Ekel erfüllt. Das also war das Volk von Paris, das klügste und freidenkendste der Welt? Mit einem solchen wilden Hasse verfolgte man einen Menschen, von dem man nicht das geringste wußte, nur weil man sah, daß er ins Gefängnis geführt wurde?
Die leichte Ironie, in der er sich nach seiner Verhaftung gefallen hatte, war verweht. Die Justiz erschien ihm jetzt als ein weit komplizierteres Getriebe als er vermutet hatte. An eines ihrer Werkzeuge, das er neben Polizisten, Beamten und Richtern vergessen hatte, war er eben peinlich erinnert worden: die öffentliche Meinung.
Sicherlich verstummte ihre Stimme vor den Türen der Gerichtssäle. Gewiß ließen die Richter sich bloß von dem gesammelten Beweismaterial und ihrer Kenntnis der Gesetze leiten. Wo aber findet sich ein Mensch, der von sich behaupten könnte, so stark, so gerecht und so überlegen zu sein, daß er sich dem Einflusse der öffentlichen Meinung vollkommen zu entziehen vermöchte? Jeder Beschuldigte hat das Urteil der Oeffentlichkeit fast eben so sehr zu fürchten wie das seiner Richter.
Nach dem ersten flüchtigen Verhör wurde Coche in eine kleine Zelle des Kommissariats gebracht. Vor der Türe hörte er die Polizisten miteinander sprechen und von Zeit zu Zeit tauchte hinter dem kleinen Guckloch der Türfüllung ein Auge auf, das ihn beobachtete.
Gegen Mittag frug man ihn, ob er Hunger habe. Er bejahte, obgleich der bloße Gedanke an Essen ihn schaudern ließ. Um nicht allzu erregt zu erscheinen, wählte er aufs Geratewohl aus der Speisekarte eines nahen Restaurants, die man ihm vorlegte, sein Mittagessen. Man brachte es ihm auf kleinen, schweren, dicken Tellern, das Fleisch war in ganz kleine Bissen zerschnitten, das Gemüse von einer Schichte geronnenen Fettes überzogen. Coche versuchte zu essen, doch vermochte er nur wenige Bissen herunterzuwürgen, dagegen trank er gierig den ganzen Wein und das Wasser, das man ihm gebracht hatte und begann sodann, von einem plötzlich erwachten Verlangen nach Bewegung, Luft und Freiheit erfaßt, in der Zelle auf und ab zu wandern. – Außer mit den Handschellen, die ihn nicht wenig in die Gelenke geschnitten hatten, war er eigentlich nicht sonderlich gequält worden. Er hatte sich die Beamten brutaler gedacht und sich schon darauf vorbereitet gehabt, unter Berufung auf sein Recht als freier Bürger, mit lauter Stimme eine entsprechende Behandlung zu fordern, solange kein Richter ihn verurteilt hätte. – Eigentlich hatte er vor allem sich selbst durchaus anders erwartet …
Niemals in den letzten Tagen, wenn er an seine Haltung nach der erwarteten Verhaftung dachte, hatte er daran gezweifelt, seinen vollen Lebensmut und seine überlegene Heiterkeit bewahren zu können. Wenige Stunden im Gefängnis hatten indes schon genügt, seine Meinung zu ändern. Nach und nach begann der ungewöhnliche Ernst seiner Handlungsweise in ihm aufzudämmern, und schon jetzt, bevor er mit den Gerichten in Berührung gekommen war, erschreckte ihn alles, was er um sich fand. Eines nur war tröstlich in allen seinen Betrachtungen, dies war der Gedanke, daß es ihm ja jederzeit, wenn er genug davon haben würde, freistände, der ganzen Komödie ein Ende zu bereiten. – Mit einbrechender Nacht wurde seine Stimmung noch düsterer. Nichts weckt sicherer das Heimweh nach häuslicher Behaglichkeit, nach einem Kaminfeuer, in dem die Scheite knistern, nach der gemütlichen Lampe, dem sauber gedeckten Tisch und dem ganzen heimlichen Zauber eines gutgeführten Hauses, als das verräterische Frösteln, das sich abends in düsteren, kahlen Räumen ausbreitet, in denen gedämpft die Geräusche der Straße verklingen. – Die Polizisten im Vorzimmer hatten sich um einen Tisch versammelt, auf dem eine rauchende Lampe brannte, und der Gestank des Petroleums vermengte sich mit dem Geruch nach Leder und nach feuchtem Bettzeug, der ihm schon seit dem Morgen Unbehagen verursachte. Und trotzdem reckte er sich auf die Zehenspitzen und preßte sein Auge gierig an das Guckloch, um voll Neid die friedlichen Männer dahinter zu betrachten und jene Lampe anzustarren, von der ein Schimmer jenes Lichtes ausging, das ihm in seiner Zelle so sehr fehlte.
Gegen sechs Uhr wurde seine Türe geöffnet. Er meinte, daß man ihn zum Verhör führen wolle, doch ein Polizist legte ihm die Handschellen an und stieß ihn durch verschiedene Gänge in einen kleinen Hof. Hier fand er schon zwei arme, zerlumpte Gesellen, einen blassen, grinsenden Burschen mit einem Zigarettenstummel im Mundwinkel und zwei verkommene Weiber, die ihn an jene rothaarige Frau vom Boulevard Lannes erinnerten. Ein Polizist ließ die Gefangenen einzeln an sich vorübergehen, zählte sie ab und befahl ihnen, den Zellenwagen zu besteigen, der bereit stand. Coche, der als Letzter an der Reihe war, nahm in einer der Zellen Platz. Die Türe schloß sich hinter ihm und der Wagen humpelte im müden Trab seiner alten Pferde über das Pflaster.
Jetzt begannen wahrlich harte Prüfungen. Doch welche Genugtuung sollte ihnen folgen, wenn er sein Spiel mit den Beamten der Polizei aufdecken würde, wenn er alle seine Erfahrungen, die er hier sammelte, dann preisgeben konnte! Dies sagte er sich mehr zum Troste als aus innerer Ueberzeugung, obwohl er immer noch nicht daran zweifelte, daß eine einzige Nacht des Schlafes in einem weichen Bett genügen würde, ihm seinen Kampfesmut und seine ganzen geistigen Fähigkeiten wiederzugeben.
Am Morgen nach der Einlieferung in das Untersuchungsgefängnis und auch am folgenden Tage sah er niemand außer seinen Wärtern. Obwohl die Einsamkeit ihn bedrückte, fühlte er sich anfangs weniger erregt, als er es in den letzten Tagen gewesen war, da er Paris noch frei durchstreifte.
Den ganzen Tag lag er ausgestreckt auf seiner Bettstelle. Nachts schlief er recht gut, bloß die grelle, elektrische Lampe, die gerade über seinem Kopfe angebracht war, störte ihn. Dann begann er die unaufhörliche Beobachtung und Ueberwachung immer quälender zu empfinden. Nachdem er anfangs die Einsamkeit gefürchtet hatte, sehnte er sich jetzt danach, daß sie nicht immer wieder unterbrochen würde. Der Gedanke, daß man jede seiner Bewegungen beobachtete, wurde ihm fürchterlich. Und ein Zweifel, den er wohl anfangs zurückstieß, der aber von Stunde zu Stunde quälender wurde, ließ ihn die Frage stellen: Warum, auf welche Beweise hin hatte man ihn verhaftet?
Gewiß, er wußte, was man ihm vermutlich vorzuwerfen hatte, doch bisher hatte es ihm niemand in formeller Weise bestätigt, so daß er sich, ohne offiziell den Grund seiner Verhaftung zu kennen, im Gefängnis fand. Wenn er nun doch wegen eines anderen Verbrechens eingesperrt wäre? Unzählige Fälle von unschuldig Verurteilten, denen erst ein Zufall zu ihrem Rechte verholfen hatte, kamen ihm in Erinnerung. Sich gegen eine Anklage zu verteidigen, zu der er selbst das Beweismaterial geliefert hatte, fühlte er sich fraglos stark genug. Nicht aber, um Beschuldigungen zu entkräften, die das Spiel des Zufalls angehäuft haben mochte.
Und andere Fragen, die die kahlen Wände seiner Zelle ihm vorlegten, blieben ebenso unbeantwortet.
Wie hatte er nur so schnell gefaßt werden können? Welche Unvorsichtigkeit konnte die Polizei auf seine Spur gelenkt haben?
Und er überlegte ernstlich, ob nicht unbekannte Mächte schon von Beginn ab, schon in der Nacht des Verbrechens, jeden seiner Schritte verfolgt haben konnten.
Wie unwahrscheinlich diese Annahme auch zuerst scheinen mochte, der Gedanke wollte ihn nicht mehr verlassen. Je hartnäckiger er sich einstellte, desto möglicher erschien er ihm, bis er schließlich wahrscheinlich und dann zur Gewißheit wurde.
»So habe ich also,« grübelte er weiter, »vier Tage lang von einem unsichtbaren Wesen begleitet, gelebt, dessen Blicke mich keinen Augenblick verließen, – die mir vielleicht jede meiner Handlungen diktierten? – Wer weiß? – Vielleicht beherrschte mich dieses Wesen schon, bevor ich das Haus des Mordes betrat? – Und wenn es mir den ganzen Plan der Komödie, die ich spielte und die ich jetzt noch spiele, suggeriert hätte … dann wäre ich ja seiner Gewalt ausgeliefert … Dann wäre ja jedes meiner Worte, jede meiner Gesten nur die Vollziehung seiner Befehle … Und wenn dieser, in undurchdringlichem Dunkel beschließende Gebieter wünschen sollte, daß ich mich selbst dieses Verbrechens beschuldige, das ich nicht begangen habe, wenn er alle Einzelheiten jener Nacht aus meinem Gedächtnisse löschen würde – müßte ich auch dann noch gehorchen?«
Seine Aufregung steigerte sich von Minute zu Minute. Er begann hastig mit zitternder Hand Erinnerungen niederzuschreiben und las sie klopfenden Herzens durch, um sich zu überzeugen, daß nur die eigenen Gedanken und keine fremden Einflüsse seine Feder gelenkt hatten.
Doch seine Zweifel wollten nicht mehr verstummen. Die Einsamkeit und die Ungewißheit, in der er lebte, ließen ihn jede kühle Ueberlegung verlieren und er vermochte sich aus dem wirren Kreise, in den seine Gedanken sich nun einmal eingesponnen hatten, nicht mehr zu befreien. »Wenn ich nur ein Werkzeug in den Händen eines höheren Willens gewesen sein sollte,« war die Schlußfolgerung seiner Phantasien, »dann wäre alles, was ich jetzt tun wollte, zwecklos, denn ich könnte auch jetzt nichts anderes versuchen als das, was jener, dem ich mich nicht zu widersetzen vermag, nur diktiert …«
Bald lebte er nur noch in einem Traume, unempfindlich gegen alles, was um ihn geschah, und wartete geduldig und ergeben wie ein Orientale, daß die äußeren Ereignisse eine Lösung seiner Zweifel bringen möchten. Fast war es ein glücklicher Zustand, in den er sich versponnen hatte, der wohl seine Tatkraft, seinen Willen in jeder Weise gelähmt hielt, aber doch eine große Gleichgültigkeit über ihn breitete, die ihn auch nicht verließ, als er – nach drei Tagen zermürbenden Alleinseins mit seinen Gedanken – den Wagen bestieg, der ihn zu seinem Untersuchungsrichter führen sollte.