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IX.

Es war ein später, kalter Frostabend, als Anton in Iserlohn die Schwelle des kleinen Hauses überschritt, in dem Margarethe wohnte, und an ihre Thüre klopfte. Eine helle Stimme, wie sie nicht von den Lippen der Alten erklingen konnte, rief »Herein!« Anton öffnete die Thür und gelähmt vor freudigem Schreck, standen er und Marie sich gegenüber, bis sie sich wortlos in die Arme stürzten, und Margarethens Anruf sie wieder trennte.

Das Zimmer war spärlich von einer Lampe erleuchtet; die alte Margarethe lag darnieder, fast unsichtbar hinter den riesigen Federkissen und den Vorhängen von weiß und blau carirter Leinwand, die das Himmelbett verhüllten. Die alten Nußbaummöbel, welche sie von dem Vicar ererbt, sahen trotz ihrer dunklen Farbe blank und sauber aus; Mariens [127] Nähzeug lag auf dem Tische vor dem Bette der Muhme, ein helles Feuer brannte in dem kleinen eisernen Ofen, und der alte, abgenutzte Lehnstuhl von Leder, in dem der Vicar gestorben war, das kleine, ebenfalls mit gewürfelter Leinwand überzogene Sopha erschienen Anton schöner, heimischer, behaglicher als alle Pracht des Vaterhauses, als der kalte Luxus, an dessen Anblick er gewöhnt war von Jugend auf.

Margarethe, die schnell ihres Staunens Herr geworden war, fragte ihn, wo er herkäme, und erfuhr mit sichtlicher Genugthuung, daß er nach Westphalen gekommen sei, um für immer hier als Landwirth zu leben und sich auf diese Weise der Geliebten näher zu stellen. Marie hörte ihm mit leuchtenden Augen zu, bog sich dann hernieder, ergriff seine Hand, küßte sie und sagte kaum hörbar: »Das lohne Euch Gott!« Dann aber sah sie so freudestrahlend, so zukunftsicher zu ihm empor, daß Anton fühlte, jetzt, erst jetzt durch diesen Schritt halte sie ihr Glück für sicher und gewiß. Er wollte sie in seine Arme nehmen, sie entzog sich ihm sanft und setzte sich nieder, mit bebender Hand die Arbeit zu beginnen, während Margarethe erzählte, wie ihr die Gicht gefallen sei auf das lahme [128] Bein, wie sie schon seit Wochen fast immer darnieder gelegen und der Bruder ihr nun nach den Feiertagen die Marie in die Stadt gebracht habe, weil der Doctor ihr das Aufstehen ganz und gar verboten, und wie sie nicht daran gedacht habe, daß nun ihre Gicht Anton und Marie zusammenführen solle.

Marie arbeitete schweigend weiter, Antons Augen ruhten entzückt auf ihrer Schönheit. Endlich, als Margarethe fort und fort erzählt hatte und gefragt nach Diesem und Jenen, legte Marie das Nähzeug still zusammen und sagte leise: »Ich kann nicht nähen, Muhme, es versetzt mir den Athem!« – und dann sah sie mit gefalteten Händen so verklärten Antlitzes zu dem Geliebten hinüber, daß ihr stummes Glück ihn bannte auf seinen Platz und er nicht den Muth fand, sie zu stören, nicht den Muth, sie in Margarethens Gegenwart zu umarmen.

»Recht ist's mir nicht« sagte diese, »daß Ihr hier seid, aber da es nicht mein Wille war, so wird's wohl Gottes Wille sein, daß Ihr gekommen seid, und so eßt denn mit uns, ehe Ihr weiter geht. Setze die Suppe zurecht, Marie.«

Mit dem Befehle, etwas zu schaffen, schien ein anderes Leben in das Mädchen gekommen zu sein, es [129] fand sich in der Wirklichkeit wieder. Rührig holte sie ein frisches Tischtuch aus dem Nußbaumschranke, dessen Lavendelduft das ganze Zimmer erfüllte, breitete es über den Tisch, holte den Suppennapf, Teller, Brot, Butter, kleine Käse und den Schinken herbei, die sie vom Birkenhofe mitgebracht hatte, und nun war es Anton, der nicht müde werden konnte, Marien mit staunender Liebe zu betrachten, so reizend dünkte sie ihm in der Geschäftigkeit, so schön in dem Bewußtsein des Glücks, das seine Gegenwart über sie verbreitete.

Margarethe sah ernst und zufrieden auf das junge Paar. »Mir ist,« sagte sie, »als wenn Euer Einzug in Griesbach mir den Einzug nach dem Birkenhof bahnte, und mich verlangt dorthin, seit ich nicht aufstehen kann vom Lager. Ich möchte die Augen zumachen, wo ich Vater und Mutter die Augen zugedrückt habe; ich möchte auch gern auf unserm Kirchhof begraben sein. Macht, junger Herr, daß ich dahin komme; denn wenn die Marie Eure Frau wird, dann kann ich wieder einziehen mit Ehren, von wo mich der Bruder mit seinem Wort vertrieben hat. Dann ist Böses mit Gutem vergolten, und so will's unser Herrgott haben.«

[130] »Nun, Marie, wollen wir die Muhme einführen in den Birkenhof? Was meinst Du?« fragte Anton.

»Je eher, je lieber!« rief sie und fügte dann, wie erschrocken über das eigne Wort, leise hinzu; »Ich habe Euch so gar lieb!«

Da konnte sich Anton nicht länger halten, er nahm das Mädchen in seine Arme und küßte sie von Herzen, und auch Margarethe sagte:

»Ja! küßt sie nur; denn es muß genug sein für viele Zeit. Ihr kommt nicht wieder, so lange die Marie hier ist, aber heute könnt Ihr bleiben, so spät Ihr mögt.«

Unter Küssen und Scherzen, unter Planen für die Zukunft flogen die Abendstunden dahin, Anton erkannte in dem Mädchen eine solche Klarheit der Einsicht und des Urtheils für Alles, was innerhalb ihres bisherigen Gesichtskreises lag, daß er sich doppelt freute, diesen Gesichtskreis einst erweitern zu können und die eignen Anschauungen zu berichtigen an Mariens reiner Ursprünglichkeit. Sie wußte, was ihr fehle, ihm zu genügen; aber sie betheuerte mit solchem Ernste, Alles lernen zu wollen, und versicherte so ehrlich, wie ihr alles Lernen leicht geworden sei, und wie sie einen sehr guten und willigen Kopf gehabt [131] habe von Kindheit an, daß Anton sie viel weniger hätte lieben müssen, um ihr nicht Alles zu glauben, um nicht noch mehr von ihr zu erwarten, als sie selbst von sich verhieß.

Der Wächter hatte bereits die zehnte Stunde verkündet, als Marie ihn zum Aufbruch mahnte, weil die Muhme nur immer zu Anfang der Nacht schlafe und dann mit ihren Schmerzen wachen müsse bis zum hellen Morgen. »Habe ich doch warten können,« sagte sie, »ehe ich Euch wiedergesehen hatte, wie sollte ich nicht still warten können, nun Ihr hier wart und mir gesagt habt, daß Ihr mein denkt, und daß wir nicht lassen wollen von einander. Geht nun in Gottes Namen! Ich werde gut schlafen mit dem Herzenstrost und will der armen Muhme ihr Bischen Schlaf nicht rauben.«

Auch Antons Seele war voll tiefen Friedens. Er stand auf und ging, wie Marie es ihm geheißen hatte. »Wenn ich nicht wiederkommen soll, Margarethe,« bat er, »so erlaubt, daß Marie mir schreibt, und daß ich ihr schreibe.«

Aber Margarethe ließ sich im Gegentheil auf das Bestimmteste versprechen, daß Anton keinerlei Verkehr mit dem Mädchen unterhalten solle, und Marie [132] meinte, dann wolle sie sich manchmal hinsetzen und Briefe an ihn schreiben, als wenn sie abgeschickt werden sollten, um sich einzuüben mit der Feder; denn sie schreibe nur schlecht.

Mit festem Glauben an einander, voll treuer Liebe trennten sie sich an jenem Abend, und Anton fuhr am frühen Morgen nach Griesbach hinaus, wo er mit Eifer sich seinem neuen Berufe hingab, der ihm bald lieb und immer lieber wurde.

Indeß trotz Margarethens Verlangen wurde das Versprechen nicht gehalten, daß Anton Marie nicht sehen sollte. Keine Woche verging, ohne daß er nach Iserlohn kam, keine Woche, in der er sie nicht sah. Anfangs genügte es ihm, zu wissen, daß sie noch in der Stadt, noch bei der Muhme sei, und sie im Vorbeireiten am Fenster oder vor der Thüre des Hauses stehen zu sehen. Bald aber wagte er es einmal spät Abends, wie er das erste Mal gekommen war, an Margarethens Thür zu klopfen, und weder der Tadel der Alten, noch Mariens Scheu vor dem Vater und vor bösem Leumund hielten ihn ab, von Zeit zu Zeit wiederzukehren, bis Margarethe ihm erklärte, daß sie Marie nach dem Birkenhofe zurückschicken und lieber elend und verlassen allein bleiben, als etwas [133] dulden wolle, was dem Mädchen und den Ihrigen Unehre machen könnte.

»Wärt Ihr unsersgleichen,« sagte sie, »so solltet Ihr kommen früh und spät, und kein Hahn würde darum krähen. Aber da Ihr einen vornehmen Vater habt, da wir nicht aller Tage Abend erlebt haben, so bleibt dem Mädchen fern, bis sie Euch angetraut ist vor Gott und Menschen; denn es fällt Euch selbst zur Schande aus, wenn Ihr jetzt Verkehr habt mit Eurer künftigen Frau.«

Daß gegen Margarethens so fest ausgesprochenen Vorsatz nichts auszurichten sei, darauf kannte sie Anton bereits, und selbst Marie bat ihn, nicht wiederzukommen, weil in den nächsten Tagen die Landwehr zusammengezogen werden sollte und der Freienfelder Friedrich dazu in die Stadt kommen müßte, der Alles verrathen und verderben könnte.

So ging der März den Liebenden einsam hin, und in der politischen Welt hatten sich indeß die Zustände einer neuen Entscheidung genaht. Der König von Preußen war zum deutschen Kaiser erwählt worden Am 28. März 1849 wählte die Frankfurter Nationalversammlung König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen zum »Kaiser der Deutschen«.. Mariens Vater, der ohnedies in Düsseldorf bei der Regierung zu thun gehabt, hatte sich so eingerichtet, daß er gerade auf den Tag dorthin gegangen war, wo [134] die Herren Deputirten von Frankfurt dort durchpassirten; denn in seiner ganzen Gegend hatte man sich gedacht, daß dies große Ereigniß Jeder selbst mit ansehen müßte, der dies irgend möglich machen könnte.

Der Kunz hatte sogar seinen Jüngsten mitgenommen in die Stadt, zum ersten Mal im Leben, damit er in seinen alten Tagen einst sagen könne, er habe es erlebt, er sei dabei gewesen, als das zerstückelte Deutschland wieder ein Kaiserreich geworden sei, und er selbst habe die Deputirten mit eignen Augen gesehen, die die deutsche Kaiserkrone nach Berlin gebracht.

Auch in der ganzen Stadt Iserlohn, wohin der Kunz von Düsseldorf gekommen, war Jubel und Freude, der Hofbauer selbst war ganz aufgeregt davon. Er hoffte, nun werde Alles gut werden, die katholische Kirche werde nun ihre Güter wieder erhalten und ihre Macht, der Zoll werde abgeschafft, das Militairwesen eingerichtet werden, wie in Amerika, wo man nicht Millionen verschwende für die Soldaten in Friedenszeiten und doch Krieg führen könne, wenn es einmal noth thäte, und er neckte den Friedrich damit, der mit ihm zur Stadt gekommen war, daß er nun sich nur noch zum Abschied recht satt tragen möge an dem rothen Kragen auf blauem Rock; denn [135] mit diesem werde es nun wohl auch bald ein vernünftiges Ende haben. Indeß schon am andern Tage danach klangen die Berichte aus Berlin gar nicht so, wie man sie erwartet hatte, und der Lieutenant von des Friedrichs Compagnie hatte gesagt, sie machten sich den Teufel was aus der deutschen Einheit, die von den verdammten Demokraten erfunden wäre, um Alles drunter und drüber zu bringen. Sie wären Preußen, und Preußen wollten sie bleiben und ihres Königs Rock tragen zur Vertheidigung des Königs gegen das aufwieglerische Gesindel, das ihn zum Kaiser machen möchte über ein Deutschland, das noch gar nicht da wäre, blos um ihm den Thron und das Land zu nehmen, welches sein Erb und Eigenthum sei. Wenn sie aber erst dem König sein Eigenthum genommen hätten, dann werde es auch an den Adel, an die Bauern und an deren Grundbesitz gehen, und ehe sie das zugeben wollten, würden sie sich todtschlagen lassen. Damit hatte der Lieutenant seine deutsche Kokarde abgerissen und die Soldaten hatten Dasselbe gethan. Der Friedrich schwur hoch und theuer, daß kein Mensch ihn wieder dahinbringen sollte, den schwarz-roth-goldnen Plunder an die Mütze zu stecken und den Demokraten zu Liebe einmal von Haus und [136] Hof zu gehen. Er wolle das Narren überlassen wie dem Geheimrathssohn, der mit der deutschen Kokarde in der Stadt herumlaufe, wofür er ordentliche Händel mit dem Lieutenant gehabt habe.

Es gab heftigen Streit zwischen den Männern, und der Hofbauer, der am Fenster saß, an dem Marie nähte, wollte eben wieder mit seinen Gründen gegen Friedrich losfahren, als er den Kopf nach der Straße wendend, Anton vorbeigehen, grüßen und Marie wie den Morgenhimmel bei Sonnenaufgang roth werden sah.

»Wie kommt denn der hierher,« fragte er.

Aber Marie war nicht im Stande zu antworten, so daß die alte Margarethe, die recht schwach und elend geworden war von dem langen Krankenlager, sich erkundigen mußte, von wem die Rede sei.

»Von des Geheimraths Sohn!« sagte der Kunz, »und warum weiß ich's nicht, daß er bei Euch gewesen ist; denn er hat nicht von ohngefähr hierher gesehen, der hat das Haus gekannt.«

»Er hat einmal von ohngefähr das Haus gefunden, die Marie am Fenster gesehen und ist gekommen, zu fragen, wo sie herkommt und was wir machen,« [137] antwortete Margarethe; »ich hatte nicht daran gedacht, denn es ist Wochen her seitdem.«

Kunz fragte nicht weiter, aber er hatte auch die Lust verloren, mit Friedrich länger zu streiten, es schien ihm sogar lieb zu sein, als dieser endlich ging. Marie gab ihm das Geleit und machte sich dann in der Küche zu thun, weil ihr ganz angst und beklommen war unter des Vaters Augen, die so ausfragend auf ihr gelegen hatten, daß es war, als wollte er ihres Herzens Tiefstes ans Tageslicht bringen und vor sein Gericht ziehen. Auch der Margarethe war's nicht wohl im Zimmer; das Deckbett lag so schwer auf, sie meinte, sie müßte dran ersticken, selbst die kleine Nachtkappe drückte ihr den Kopf. Sie nahm sie ab, und wie der Kunz, sobald sie allein waren, vor ihr Bett trat, lag sie da mit ihrem eisgrauen Haar über den blassen, eingefallenen Wangen und hatte das kleine Crucifix vom verstorbenen Vicar in ihrer Hand, das immer über ihrem Lager hing. Sie hatte es ergriffen, wie man einem Freund und Tröster die Hand reicht; denn es ahnte ihr, daß sie mit dem Bruder etwas würde zu bestehen haben.

Voll zornigen Mißtrauens war der vor ihr Bett getreten. Wie er sie aber in ihrer blassen Verfallen [138]heit ansah, sank ihm das Herz. Sie sah gerade aus wie seine Mutter selig in ihren letzten Tagen, sie hatte ja auch in seiner Jugend wie eine Mutter gehandelt an ihm, und er hatte es ihr im Grunde schlecht gelohnt. Er stand unschlüssig da, Zorn und Rührung kämpften in ihm; er lockerte sich das schwarze Halstuch, strich sich das Haar hinter die Ohren, zog das Beinkleid in die Höhe, Alles bloß, um Zeit zu gewinnen, um zu überlegen, ob er reden oder schweigen sollte, aber endlich konnte er's doch nicht niederkämpfen.

»Margarethe,« sagte er, »es ist etwas vorgegangen mit der Marie und dem jungen Menschen schon in Pyrmont, wo der Freienfelder Friedrich es mir hat beweisen wollen, und ich hab's nicht hören wollen, damit er's nicht glauben sollte. Aber es ist auch jetzt was vorgegangen, was Du weißt. Habe ich Dir dazu mein Kind in die Stadt schicken müssen, daß es seinen ehrlichen Namen hier zu Markt trägt. Was hat sie mit dem Werder?«

Margarethe richtete sich mühsam in die Höhe, hob das Crucifix empor, legte die Hand darauf und sagte: »So wahr mir dieser mein Heiland helfen mag in dieser und jener Welt, er meint's ehrlich, er [139] wird Marien heirathen und gut machen, was sein Großvater an mir verbrochen hat!«

Der Hofbauer lachte hell auf mit so bitterm Ton, daß es Margarethe durch Mark und Bein fuhr; dann riß er die Stubenthür hastig auf und rief: »Pack Dein Bündel, Marie, ich will wegfahren mit Dir!« worauf er mit großen Schritten vor Margarethens Bett trat und ihr sagte: »Du siehst, ich thue ihr nichts und kann Dir nichts thun; denn Du bist elend und krank. Aber jetzt sind wir quitt. Ich habe Dir Unehre gethan im Zorn bei heißem Blut, als ich jung war; ich habe Dich gekränkt, daß Du mein Haus verlassen hast auf Nimmerwiederkehren. Ich hab's aber gut gemacht auf jede Art und Weise. Ich habe Dir meine Kinder anvertraut, und Du hast Mutterrecht gehabt an dem Mädchen von Kindheit auf – dafür hast Du mit kaltem Blut und grauem Haar mein Kind in Elend und Schande gestürzt und ihr den Kopf verrückt – das ist schlimmer, als was ich Dir gethan, nun sind wir Beide quitt!«

»Bruder,« entgegnete Margarethe, »hat schon Einer einen falschen Eid geschworen von Allen, die im Birkenhof geboren sind!«

Der Hofbauer antwortete ihr nicht, sondern wollte [140] ihr im Zorn den Rücken wenden. Sie aber bog sich weit vor, ergriff mit ihrer starkknochigen Rechten des Bruders Hand so fest, daß er bleiben mußte, und sagte:

»Jetzt höre auch Du mich aus. Mein Leben lang hat's mir wie ein Stein auf der Seele gedrückt, daß ich Vater und Mutter und dem Vicar und Dir das Leid angethan mit dem Werder, das doch auch mein Unglück gewesen ist, und ich habe immer gedacht, daß ich's gut machen möchte; denn es hat mir nicht eine Stunde Ruh' gelassen im Gewissen. Glaubst Du, daß ich nun, wo es bald mit mir zu Ende geht, mein Gewissen noch schwerer beladen will? Wenn der Anton Werder es nicht ehrlich meint, will ich verdammt sein in alle Ewigkeit, und wenn ich geduldet habe, was ich nicht hätte dulden sollen zwischen ihm und der Marie, so will ich auch verdammt sein. Und nun geh' und mach' das Kind so elend mit Deinem blinden Zorn, wie Du mich einst gemacht hast! Nimm sie mit Dir, er wird sie zu holen kommen von dort so gut wie von hier!«

Dabei drückte sie des Bruders Rechte so gewaltsam, das es selbst dem starken Manne wehe that und er sich losmachen wollte, aber die Hand Margarethens war zu Eis erstarrt, sie war zurückgesunken auf [141] ihre Kissen, und Kunz mußte die festgekrampfte Hand der Schwester gewaltsam von der seinen lösen, um ihr nur erst beispringen zu können; denn sie lag wie eine Todte da. Er rief nach Marien; sie fingen an die Leblose zu waschen mit kaltem Wasser, zu reiben mit heißen Tüchern, aber es wollte Alles nichts helfen, und als Kunz den Doctor holte, als Margarethe mit dessen Beistand wieder zu sich kam, erklärte der Doctor, die Gicht sei der Kranken nach innen getreten, und sie werde kaum mit dem Leben davon kommen; denn sie sei sehr schwach geworden in den letzten Tagen.

Dem Hofbauer perlte der kalte Schweiß auf der Stirn. Es tönte ihm immer wie »Mörder, Mörder!« in den Ohren, und doch mußte er es sich sagen, daß er Recht gethan habe. In der Nacht, während Marie selber todtenblaß an der Muhme Bett saß, die in fürchterlichem Fieber allerlei Wirres durcheinander sprach, gingen die Gedanken in wildem Lauf durch des Hofbauers Gehirn, der auch keinen Schlaf finden konnte auf Mariens Bett. Er verwünschte die pyrmonter Reise, die Städter und Alles, was Werder hieß. Er nahm sich vor, sich und die Seinen noch viel fester abzuschließen gegen die Welt, deren [142] Sittenverderbniß nun schon zum zweiten Male Unglück in seine Familie bringe. Daß der junge Werder es ehrlich meine, daß der alte Werder seinem Sohne jemals eine Heirath mit einer Bauerntochter zugeben werde, das konnte kein Mensch glauben, der mehr Einsicht hatte als die alte Margarethe; würde er selbst doch nicht sein einziges Kind einem Scharrwerker oder Instmann geben, warum sollte denn der Geheimrath nicht auch halten auf seinen Stand? Daß Marie fort müßte aus Iserlohn, war ihm gar kein Zweifel; denn in derselben Stadt durfte sie nicht bleiben! Aber wie konnte er sie jetzt fortnehmen von der todtkranken Schwester? Bleiben in Iserlohn, um zu sehen, daß Anton nicht mehr ins Haus käme, das konnte er auch nicht; er hatte sich Pferd und Wagen bestellt an die Eisenbahn, und darum mußte er fort. Freilich brauchte er nur den Friedrich als Aufpasser zu lassen, aber das durfte er sich selbst nicht anthun, das hieß sich selbst ins Gesicht schlagen. Er sann hin und her, endlich fiel ihm ein, es sei in einer guten Sache immer am Besten, den geraden Weg zu wählen. Er wollte, wie es ihm zukomme, am Morgen zu dem jungen Manne gehen, ihm die nackte Wahrheit vorhalten und ihm verbieten, sich im Hause der alten Margarethe sehen zu [143] lassen, so lange sein Kind unter ihrem Dache bleiben müsse, und das werde der befolgen; denn als ein schlechter Mensch war Jener ihm nie vorgekommen.

Wie er zu dem Entschlusse gelangt war, konnte er schlafen. Am Morgen trat er, mit Hut und Stock in der Hand, zum Ausgehen gerüstet, vor die Tochter hin und fragte, wo der junge Herr Werder wohne.

»In Griesbach, fünf Stunden von hier,« antwortete sie, und da sie des Vaters Ueberraschung in seinen Zügen sehen mochte, sagte sie: »Er ist nicht hier gewesen seit Wochen und Monden, weil die Muhme mich hat nach dem Birkenhof schicken wollen, wenn er anders käme, als mich zur Frau zu holen, und ich will ihn gewiß nicht wiedersehen – nur laß mich bei der Muhme bleiben, daß doch eines von ihrer Freundschaft da ist, wenn sie stirbt.« Dabei weinte sie bitterlich, und auch in Kunz stieg eine tiefe Traurigkeit auf, weil Mariens Worte ihm bewiesen, daß Margarethe nicht so schuldig sei, als er sie geglaubt hatte. Er fragte Marien, wie oft Anton gekommen, was er ihr gesagt, was er versprochen habe? Sie erzählte Alles, so weit ihre Scheu vor dem strengen Vater es zuließ, über dessen Gesicht die Gedanken wie dunkle Wolkenschatten hinzogen; aber er sprach kein Wort, [144] sondern legte nur Hut und Stock weg, ließ den kleinen Sohn aufstehen, den er mit sich hatte, packte sein Bündel zusammen, frühstückte und hatte noch immer nicht ausgesprochen, ob die Tochter mit ihm kommen oder bei der Muhme bleiben sollte.

Endlich zog er die Uhr heraus und sagte: »Ich muß fortmachen, Du bleibst hier. Wenn's nicht besser wird, so schreib es, dann schicke ich die Mutter herein; daß Du Niemand wiedersiehst, den Du nicht wiedersehen sollst, das ist abgemacht.« Darauf schritt er der Thüre zu, wendete aber wieder um, ging ans Bett, nahm der alten Margarethe Hand, die davon gar nichts fühlte, und sprach zu Marie:

»Sieh selbst, wohin es führt. Willst Du auch einmal so jämmerlich daliegen ohne Mann und Kind? Es ließe mir im Grabe nicht Ruh', wenn es so mit Dir enden sollte wie mit ihr!«

Damit ging er hinaus. Wie er sich aber im Flur kopfschüttelnd mit dem Rockärmel über die Augen fuhr, wußte Marie nicht, über wen der Vater weine, über die Muhme oder über sie.


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