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Erstes Kapitel.

Es war im Jahre achtzehnhundert vier und vierzig, als in Paris ein Deutscher, mit ehrfurchtsvoll gezogenem Hute vor der Julisäule stand, deren goldener Genius in der klaren Helle eines Herbstmorgens funkelte. Endlich riß er sich aus seiner Betrachtung los und ging in eines der Estaminets, die den Platz umgeben.

Er schritt durch den Flur und trat in die kleine Stube. An den mit grobem Weißzeug bedeckten Tischen saßen einige Ouvriers. Sie hatten ihre Flasche Landwein vor sich, und Brod und Käse, die sie mitgebracht. Das Zimmer war lang und schmal, das Licht fiel nur sparsam durch ein Fenster hinein, dessen kleine, runde Scheiben, trüb gebrannt von der Sonne, alterthümlich in Blei gefaßt waren. Ganz in der hintern Ecke des Raumes, an einem kleinern Tische, nahe am Kamine, nahm ein Mann sein Frühstück ein, der sich durch seinen eleganten Ueberrock von den Blousenträgern am Fenster unterschied. Er schien als ein Stammgast von der Wirthin mit besonderer Achtsamkeit behandelt zu werden.

Der Eintretende forderte ein Dutzend Austern, eine halbe Flasche Chablis, und ließ sich dann nieder, indem er die Anwesenden betrachtete. Aber grade die Theilnahme, mit der er sich in dem Estaminet umsah, brachte den Wirth, der ihm mit höflicher Geschäftigkeit die verlangten Dinge auftrug, zu der Frage: »Der Herr ist wohl kein Franzose, obschon er unsere schöne Sprache ganz vortrefflich redet.«

Der Fremde lächelte. Außer der Bestellung des Weines und der Austern hatte er keine Sylbe weiter gesprochen, sagte aber freundlich: »Sie haben Recht, ich bin ein Ausländer!«

»Vielleicht ein Deutscher?« fragte der Wirth. »Wir haben viele Deutsche unter unseren Kunden, auch Monsieur (er zeigte auf den Herrn am Kamine), der uns seit zehn Jahren alltäglich mit seinem Besuche beehrt, ist ein Deutscher!«

Der Fremde blickte, ohne dem Wirthe zu antworten, nach seinem Landsmann hinüber. Dieser mochte ein Fünfziger sein, aber die Sorgfalt, welche er offenbar auf sein Aeußeres verwendete, ließ ihn jünger erscheinen als er war. Er trug über einem ganz schwarzen Anzuge einen hellfarbigen Ueberrock nach englischem Schnitte. Ein weißer Filzhut, feine Handschuhe, ein Rohrstock mit silbernem Knopfe und gefirnißte Stiefel, verriethen den Anspruch auf eine Lebensstellung, welche der Fremde mit dem täglichen Besuch des bescheidenen Estaminets nicht recht zusammen zu reimen wußte, so daß er sich von der Neugier ergriffen fühlte, das Gesicht des Frühstückenden zu sehen, was ihm bisher nicht vollständig gelungen war, weil derselbe halb von ihm abgewendet und ganz mit seiner Mahlzeit beschäftigt dagesessen hatte.

Kaum aber hatte der Fremde sich erhoben und unter dem Vorwande Etwas von der Wirthin zu verlangen, sich dem Kamine genähert, als der Stammgast von seinem Teller aufschaute, die Brille an die Augen drückte, das Austermesser aus der Hand fallen ließ, und sich mit dem Ausruf: »Herr Gott, Doctor!« dem eben so Ueberraschten um den Hals warf, welcher Mühe hatte, in dem wohlfrisirten, behäbigen Manne den alten Studenten-Vater Larssen wieder zu erkennen.

»Seit wann bist Du hier?« fragte Larssen mit dem Ausdruck des freudigsten Erstaunens, während er den Freund von Kopf bis Fuß betrachtete.

»Ich kam heut Morgen an!«

»Aber was brachte Dich hier in dieses Viertel?«

»Der Bastilleplatz und die Julisäule!« antwortete der Doctor mit gewohnter Kürze.

»Ich hatte Deine Verurtheilung zu zehnjährigem Gefängnisse gelesen,« sagte Larssen noch unter dem Eindruck der Ueberraschung, »und ich dachte mir, bei seinen katonischen Grundsätzen wird er sich ein Pflichtbewußtsein daraus machen, für die sogenannte Freiheit sich einsperren zu lassen, was beiläufig eben solche Narrheit wäre, als zur Feier eines Erndtefestes zu fasten. Indeß dem Deutschen ist eben Alles zuzutrauen! Um so erfreuter macht mich jetzt Dein Hiersein!« Er gab ihm dabei die Hand und wiederholte: »Ich freue mich sehr! ich freue mich sehr, Doctor! und Du kannst auf mich zählen. Ich werde Dir nützlich sein! kein Pariser kennt Paris wie ich es kenne. Ich werde Dir sehr nützlich sein!«

Der Doctor sah ihn verwundert an. Es war ihm neu, sich Larssen als eine Autorität und vollends als seinen Beschützer zu denken, er gönnte ihm aber die Genugthuung, während Larssen, getheilt zwischen Freude und Gastlichkeit, in fortdauernder Bewegung blieb. Er befahl der Wirthin sein und des Doctors Frühstück zusammen zu stellen, räumte Hut und Rock fort, dem Freunde einen behaglichen Platz am Kamine zu bereiten, sprach dabei heimlich mit dem Wirthe, die beste Weinsorte zu verlangen, und fragte den Doctor nach alten Freunden in der Heimath, mit einer Liebe und Theilnahme, welche selbst durch die Sarkasmen nicht zu verbergen waren, mit denen er seines Vaterlandes gedachte.

Die Ouvriers waren auf den Vorgang achtsam geworden. Einer von ihnen, den seine große Gestalt eben so vortheilhaft auszeichnete, als sein gescheutes Gesicht, sagte gegen die Deutschen gewendet: »Es ist schön, in der Fremde einen Landsmann zu finden!«

»Und einen Solchen!« entgegnete Larssen, der, gewöhnt an die Freimüthigkeit der französischen Arbeiter, ihnen die Gelegenheit zu der Unterhaltung nicht abschneiden wollte, welche Jene offenbar anzuknüpfen suchten. »Der Herr ist ein politischer Flüchtling,« fügte er hinzu, »ein Mann des Volkes, den man verfolgt hat!«

Sogleich erhob sich der Arbeiter, schenkte sein Glas voll, trat an den Doctor heran und sagte: »Sein Sie willkommen, und auf Ihr Wohl mein Herr!«

Auch die anderen Blousenmänner waren aufgestanden und stießen mit dem Doctor an, der ihren Gruß mit unverkennbarer Bewegung erwiderte.

»Sie bleiben in Frankreich?« fragte einer der Franzosen.

Der Doctor antwortete bejahend. »Daran thun Sie wohl!« meinte der Arbeiter. »Wir haben nicht die Freiheit, die wir haben müßten, um uns zu dem vernünftigen Zustande der Gleichheit und Brüderlichkeit zu erheben, aber eine Despotie wie in Deutschland und in Rußland finden Sie hier nicht, und Sie werden doch in Paris leben. Paris tröstet über Vieles mein Herr!«

Die Anderen stimmten in das Lob ihrer Heimath ein, und Alle entfernten sich dann mit freundlichem Lebewohl.

»Nun!« fragte Larssen wohlgefällig, »was sagst Du zu meinen Franzosen?«

»Wie sprechen diese Menschen, wie einfach und edel drücken sie sich aus!« rief der Doctor.

»Nicht wahr,« meinte der Andere, »man lernt hier glauben an die Helden der Revolution, an die Marschälle und Herzöge des Kaiserreichs, die hinter dem Pfluge und aus dem Pastetenladen hervorgegangen, sich Königen und Kaisern an die Seite stellen konnten! Man lernt hier begreifen, was ein Volk und von welchem Gewichte der Wille eines selbstbewußten Volkes ist! Die Menschen sprechen hier gut, das ist wahr, und wo sie mit den Worten nicht ausreichen, da sprechen Eisen und Steine für sie, und diese Ausdrucksweise ist dann sehr verständlich!« Er lachte mit seinem alten heisern Ton in sich hinein, und trank ein neues Glas des kühlen Weines hinunter.

Der Doctor schwieg. Wohl hatte er diese Zustände, wohl hatte er den Bildungsgrad des französischen Arbeiters gekannt, sie vermochten ihn nicht zu überraschen, indeß die Wirklichkeit ergriff ihn dennoch wieder mit ihrer ganzen Macht.

Sein erster Weg nach seiner Ankunft hatte dem Greveplatze, der zweite der Bastille gegolten, aber erst das lebende Wort der Lebenden hatte den Eindruck vollendet, den das historische und das gegenwärtige Paris auf einen Menschen seines Charakters machen mußten. In der Heimath von Freund und Feind stets als eine Autorität angesehen, war er sich oftmals alt erschienen, jetzt empfand er sich plötzlich wieder jung, und wie mit einem Zauberschlage aus einem Lehrenden in einen Lernenden verwandelt. Die Fülle neuer Eindrücke erfrischte ihn, ohne ihn zu zerstreuen, aber schon an diesem Morgen empfand er den Schmerz über den weiten Abstand zwischen seinem Vaterlande und Frankreich nur zu sehr.

Larssen seiner Seits konnte der Freude über des Doctors Anwesenheit kein Ende finden. »In meinem Leben,« sagte er, »habe ich keine so angenehme Ueberraschung gehabt als Deine heutige Ankunft. Ja! daß ich Dir es ehrlich gestehe, ohne Dich eitel darauf zu machen, ich habe mich ab und zu nach Dir gesehnt, seit ich mir die ehrbareren Verhältnisse errungen habe, die zu suchen der Baron mich damals so unvorbereitet nach Paris geschickt hat. Denn ich habe jetzt nicht nur ehrbarere, sondern ehrbare, sehr ehrbare, ein deutscher Gelehrter würde sagen, sehr brillante Verhältnisse hier in Paris!«

Er zog dabei, als ob es zufällig geschähe, die goldene Uhr aus der Tasche, die er an einer reichen Kette trug, und ließ sein Auge prüfend über die Kleidung seines Freundes gleiten.

»Man merkt Dir's an,« sagte der Doctor, »daß Du rangirter lebst, Du siehst gesund aus und bedeutend jünger als Du bist!«

»Lieber Freund! das macht Paris! Paris! Man hat nicht Zeit zu rosten, keine Falte, keine Runzel prägt sich in uns fest. Greift Dich heute die Tragik eines großen Weltgeschickes schmerzlich an, so glättet morgen das Lachen im Vaudeville Deine Stirne. Und dann die Kleidung! Suche mir in Paris einen Schneider, der einen Rock mit solchen vorsündfluthlichen Schößen, mit so widernatürlichem Kragen macht, wie Du ihn trägst! Du mußt zu meinem Schneider gehen! – Er ist ein Engländer, aber geschult in Paris! – Solidität und Eleganz! – Sieh, wie das Alles sitzt und wie's genäht ist!«

Er hielt damit dem Doctor den Arm hin, indem er auf die sauberen Nähte seines Ueberziehers zeigte. Der Doctor blickte sie flüchtig an und meinte: »Du sollst mich berathen, wenn ich neuer Kleider bedarf, sage mir aber vor allen Dingen, wie Du lebst?«

»Unübertrefflich gut!«

»Aber Du mußt viel arbeiten, nach Deinen Briefen, und« – –

»Und das war sonst nicht nach meiner Neigung,« unterbrach ihn Larssen, »indeß die Neigungen ändern sich. Ich habe den Sybaritismus der Ruhe nach der Arbeit leider nur zu spät kennen lernen. Ich habe nicht gewußt, daß ein solides Dasein Reize hat, und große Reize, lieber Freund!« –

»Wer streitet das? –

»Ich habe es bestritten!« rief Larssen. »Anfangs wollten mir auch die Versuche nicht gelingen, mir ehrenwerthere Verhältnisse zu begründen. Das Jahrgeld, das ich vom Baron hatte, verhalf mir auch weniger dazu, als später das Geld, das ich nicht hatte. Denn daß ich's kurz mache, Noth und Hunger haben etwas sehr Aufklärendes, sehr Ueberzeugendes!« – Er schwieg hier eine Weile, als fesselten Erinnerungen seine Gedanken, dann sprach er heiter: »Kannst Du, alter Kato! Dir wohl den alten Vater Larssen in solider Behaglichkeit denken? Und doch habe ich eine solide Behaglichkeit! Ich habe einen kleinen Salon, ein Schlafzimmer und ein Entrée. Ich bezahle allmonatlich mein Frühstück in dem Estaminet, das ich besuche, um zu rasten, wenn ich alltäglich meine journalistische Rundreise über die Boulevards mache. Ich habe ein festes Engagement mit Firmin Didot für seine philologischen Unternehmungen, ich esse für zwei Franken – wie man nur in Paris zu essen versteht. Ich habe nicht nur keine Schulden, sondern vielmehr eine kleine Rente, und dieses Alles danke ich dem Gelde, das ich zu einer gewissen Zeit durchaus nicht hatte. Es liegt eine symbolische Lehre in dem alten Satze: Gott hat die Welt aus Nichts geschaffen. Das Nichts ist höchlich schöpferisch!«

Der Doctor hatte ihn ruhig enden lassen, weil er dem alten Genossen die Freude gönnte, sich seiner günstigen Verhältnisse zu rühmen, dann sagte er plötzlich: »Wie gehts Cornelien?«

»Cornelie Nordheim ist wohl und munter!« antwortete Larssen mit einer gewissen formellen Feierlichkeit, die ihm zur Gewohnheit geworden war, sobald er sich nicht in persönlichen Ergüssen gehen ließ. »Cornelie Nordheim ist wohl, und tief versenkt in Studien zu ihrer neuen Arbeit. – Weiß sie, daß Du hier bist?«

»Ich habe ihr von Brüssel, wo ich einen Tag verweilte, gemeldet, daß ich käme.«

»So hat sie die Nachricht auch erhalten. Ich konnte sie aber gestern nicht besuchen, denn ich hatte einem Debüt beizuwohnen! Ich gelte viel bei Cornelie, sehr viel! Sie vergißt nicht, daß sie mir ihr Glück und ihren Ruhm verdankt – und nicht sie allein verdankt mir ihr Glück! Ich habe eine Celebrität geschaffen, eine Celebrität! – Ich werde Dir davon erzählen, wie wunderbar im Leben sich Alles compensirt!«

Er brach bei diesen Worten ab, und schlug dem Doctor vor, ihn zu der gemeinsamen Freundin hinzuführen, dieser aber wies das Anerbieten zurück. Er mochte Cornelie weder in der Bewegung dieses Ankunfttages, noch in Larssen's Begleitung wiedersehen, sondern bat ihn, der Freundin seine Ankunft mitzutheilen, und sie zu benachrichtigen, daß er morgen in der Frühe zu ihr kommen wolle.

Larssen sagte das zu und verweilte dann mit warmem Lobe bei Cornelien, die sich nach ihrer Flucht unter dem Namen Nordheim in Paris niedergelassen hatte.

Fest entschlossen, keine der Verbindungen und Vorzüge zu benutzen, die sie ihrem Vater dankte, fremd in der großen Stadt, hatte sie sich an Larssen gewendet und ihn gebeten, ihr bei der ersten Einrichtung rathend beizustehen. Er hatte das mit seiner gewohnten Genauigkeit und mit dem freudigen Gefühle gethan, der Tochter zu vergelten, was er dem Vater schuldete; aber der Rath, den er Cornelien gewährte, die Stellung, welche er ihr allmählich erringen half, waren nicht im Sinne des Barons gewesen.

Die Zinsen von Corneliens mütterlichem Erbe konnten bei ihren Lebensgewohnheiten für ihren Bedarf nicht ausreichen. Wollte sie sich nicht zu Entbehrungen verdammen, wollte sie nicht aller Freiheit, allem höheren Genuß entsagen, wozu die gesunde Lebenskraft sich nie entschließen soll, so mußte sie nach ihrer Ankunft in Paris in eigener Arbeit die Mittel finden, die ihr fehlten. Durch mehrjährige Erfahrung im Unterrichten geübt, hatte sie Larssen gebeten, ihr Schülerinnen für die deutsche Sprache zu verschaffen; indeß das sorgsame Auge des Freundes hatte nur zu bald bemerkt, daß Cornelie kein Genügen in dieser Beschäftigung zu finden vermochte. So lange sie in ihren Armenschulen das Lehren als ein religiöses, gottgefälliges Werk betrachtet, hatte es sie befriedigt, jetzt, da nur die Nothwendigkeit des Erwerbes sie dazu zwang, schien es ihr schwer und todt.

Sie sehnte sich nach anderer Wirksamkeit. Sie hatte Stunden, in denen der Rückblick in die Vergangenheit sie lähmte, und obschon weit entfernt, die Schritte zu bereuen, die sie gethan, konnte sie der schmerzlichen Erinnerungen doch immer noch nicht Meister werden. So kam es, daß Larssen, als sie eines Tages ihm mit leidenschaftlicher Erregung von der Entwicklung und Wandlung ihrer Ansichten gesprochen hatte, ihr den Rath ertheilte, dichterisch zu gestalten, was sie bewegte.

»Schreiben Sie sich von der Seele, was sich in Ihrer Seele regt,« hatte er gesagt. »Lassen Sie das Publikum Ihre Erlebnisse theilen. Sie hören damit auf, Ihnen allein zu gehören, auf Ihnen allein zu lasten, Sie in gewissem Sinne abzusondern. Machen Sie den Leser zum Theilnehmer dessen, was Sie immer noch bedrückt, und die Schwere desselben wird leichter, Sie werden endlich damit fertig werden.«

Der Vorschlag hatte sie überrascht, aber ihre Phantasie hatte ihn schnell ergriffen, weil er einem lebhaft empfundenen und doch nicht klar erkannten Bedürfniß ihres Wesens entgegengekommen war, und noch an demselben Tage hatte sie sich niedergesetzt, ihre inneren Erfahrungen im verhüllenden Gewande der Dichtung darzustellen.

Mit staunender Freude ward sie bei der Arbeit ihrer Schöpferkraft gewahr. Schon nach wenig Monaten lag ein Roman im Manuscripte vor ihr, den sie kaum als ihr eigenes Werk anzuerkennen wagte, in so begeisterter Erregung hatte sie ihn geschrieben, so fremd, so gänzlich von ihr losgelöst erschienen ihr die Thatsachen und Zustände, die er behandelte.

Larssen hatte ihr einen Verleger dafür geschafft, das Buch ward unter ihrem angenommenen Namen in die Welt geschickt. Das deutsche Publikum nahm es mit einer ungewöhnlichen Anerkennung auf, und plötzlich fand Cornelie sich unter die literarischen Celebritäten eingereiht, sah sie sich in neue Verbindungen gezogen und zu jener Freiheit der Entwicklung hingeführt, die sie seit längerer Zeit für sich erstrebte.

Mit dieser inneren Befriedigung hatte eine bedeutende Veränderung in Corneliens Charakter begonnen. Seit ihre Phantasie einen Spielraum gefunden, in dem sie sich frei und ungehemmt bewegen konnte, wurden ihre Anschauungen des Lebens maßvoller und klarer. Seit sie aufgehört, sich der einzige Gegenstand des Nachdenkens und der Betrachtung zu sein, gewann sie ihre ursprüngliche Einfachheit wieder, und mit dem gefundenen Lebenszwecke, mit dem erkannten Berufe, hatte sich eine wachsende Ruhe über ihr ganzes Wesen verbreitet. Ihre Gesundheit war erstarkt, eine ihr fremde Heiterkeit über sie gekommen, und immer klarer hatte sie in die Vergangenheit zu blicken vermocht.

Je deutlicher sie die eigenen Fehler und Irrthümer erkannt, um so milder war ihr Urtheil, um so geneigter war sie zur Versöhnung geworden mit allen denen, von welchen ihr Lebensweg sie abgetrennt. Als die Kritik sich günstig für sie entschieden, die Theilnahme des Publikums sich für ihre Arbeit ausgesprochen, hatte sie ihrem Vater geschrieben. Sie hatte demüthig Verzeihung erbeten für die Eigenmächtigkeit ihres Handelns, und liebevoll um Liebe und um Nachsicht angefleht. Da sie sich frei und selbstständig empfand, erschien ihr die kindliche Unterordnung leicht, und mit Zuversicht hatte sie versprechen können, fortan durch keine Gewaltsamkeiten dem Vater Aergerniß zu geben. Sie hatte diesem Briefe ihre Dichtung beigefügt und es hervorgehoben, daß kein äußerer Anlaß sie zur Demuth und zur Heimkehr dränge, daß sie aber bereit sei, sich allen Wünschen ihres Vaters zu fügen, welche ihrer persönlichen Freiheit und ihrer neuen Laufbahn nicht zu nahe träten.

Die Anerkennung, welche der Baron der geistigen Begabung zollte, seine Theilnahme an der Literatur, seine Freude an dem Gelungenen in derselben, hatten sie einem günstigen Bescheide entgegen sehen lassen, aber diese Erwartung hatte sie getäuscht. Weit davon entfernt, die neue Lebensrichtung seiner Tochter zu billigen, hatte der Baron sich auf das Entschiedenste gegen Corneliens literarische Thätigkeit, gegen die literarische Thätigkeit der Frauen im Allgemeinen, ausgesprochen.

»Eine Frau,« hatte er ihr geschrieben, »welche ihr innerstes Denken der Menge darlegt, giebt sich geistig Preis, und zerstört die heilige Schutzwehr, hinter der sie selbst der Rohe nicht leicht anzutasten wagt, die wahre Weiblichkeit. Eine solche Frau hat etwas Unheimliches für die Menschen, mit denen sie lebt. Wo sie zu lieben, sich hülfreich und demüthig hinzugeben hätte, muß sie beobachten, um Stoff zu finden für jene Schilderungen des intimen Lebens, die allein dem Weibe zugänglich sind, will sie nicht mit frecher Hand alle Bande brechen, welche sie an ihr Geschlecht, an Sitte und an Tugend fesseln.

Deine Herzensergießungen, die Du so hochtönend mit dem Titel eines Romanes belehnest, haben mich verletzt, haben mir tiefern Schmerz bereitet, als alle die früheren unglückseligen Schritte, welche zu thun Du für Deine Entwicklung ebenfalls unerläßlich glaubtest. Jeder, der den wahren Namen der Verfasserin erfährt, wird die Originale zu ihren Gestalten leicht zu finden wissen. – Ich aber will mich und die Meinen weder in dieser noch in einer andern Maske, ich will die Neugier des Pöbels nicht auf mich gerichtet sehen. Ich will nicht bewundert, nicht getadelt sein um meiner Tochter willen. Ich war und bin mir selbst genug, ich bedarf keiner Anerkennung, keiner neuen Ehre.

Die Ehre, welche mein und meines Hauses ist, habe ich vertreten und werde das auch ferner thun. Im Sinne dieser Ehre weiß ich es Dir Dank, daß Du unsern alten Namen nicht in Dir dem Urtheile des ersten besten Journalisten Preis gegeben, daß Du Deine Bekenntnisse unter einem Namen hast erscheinen lassen, der mit dem unsrigen so wenig gemein hat, als Deine Pläne und meine Wünsche für Dein Wohl!

Ich kann, ich will verzeihen, denn ich möchte nicht unversöhnt von meiner Tochter scheiden, und das Alter fängt an auf mir zu lasten; indeß meine Verzeihung hat einen Preis. –

Entsage dem unglücklichen literarischen Wesen. Gieb den unweiblichen Gedanken auf, durch eigene Bedeutung Etwas sein zu wollen. – Tritt in den Kreis der weiblichen Pflichten, in Dein Vaterhaus zurück, und Deine Heimath und Dein Vater sollen Dir ein Schutz sein gegen jede Unbill. Ueberlasse es denen, die ihr Schicksal in der namenlosen Menge geboren werden ließ, sich eine Stellung zu schaffen, sich einen Namen zu machen. Die Freiin von Heidenbruck, die Tochter Deines Vaters, hat eine Stellung, einen Namen in der Welt und bedarf keines andern. Meine volle Vergebung und meine Liebe sollen Dir nicht fehlen, aber ich begehre dafür Deine Rückkehr zu Dir selbst, Deine Rückkehr in den Bereich der Weiblichkeit, deren festgezogene Schranken noch kein Weib jemals ungestraft durchbrochen hat.«

Cornelie war nicht allein, als sie den Brief empfing. Eine Freundin, jünger als sie selbst, befand sich in dem Zimmer und war beschäftigt, ein Notenheft mit einer Partitur zu vergleichen.

Mit zitternder Hand eröffnete Cornelie des Vaters Antwort. Ihr Busen hob sich, ihre Augen füllten sich mit Thränen, während sie dieselbe las. Die Freundin blickte besorgt zu ihr hinüber, ohne jedoch eine Frage an sie zu richten. Als sie den Brief beendet hatte, blieb Cornelie eine Weile nachdenkend, dann faltete sie das Blatt zusammen, verschloß es, und sprach ruhig, indem sie sich zu ihrer Gefährtin wendete, der sie liebevoll den Arm um den schönen Nacken legte: »Wir bleiben bei einander! Ich kann und darf nicht rückwärts gehen, wie mein Vater es verlangt, so giebt es keine Vermittlung zwischen ihm und mir.«

Die Freundin ergriff die Hand der Stehenden. »Ich könnte Deines Vaters Härte segnen, dächte ich nur an mich!« sagte sie, »aber Du bist traurig, Cornelie!«

»Ja, ich bin traurig!« entgegnete sie, »traurig, wie Jeder es sein muß, der auf den Sieg des Vernünftigen rechnet, und ihn noch immer weiter hinaus geschoben sieht; traurig, wie Jeder, dessen Hingebung verschmäht wird. – Und dennoch,« fuhr sie nach kurzem Schweigen fort, »dennoch fühle ich, daß die Heimath kein Boden mehr für mich gewesen wäre. Du und ich, wir sind noch nicht am Ziele. Laß uns denn muthig vorwärts gehen und auf einander bauen. Es hat sich ja so Vieles uns zum Glück gewendet, seit wir uns gefunden haben!«

»O Alles! Alles!« rief das Mädchen. »Wie denke ich des Tages, da ich zu Dir kam, verzagend, gebrochen in der tiefsten Seele! Ich wagte kaum, Dir meine Dienste anzubieten, ich war darauf gefaßt, von Dir zurückgewiesen zu werden, und Du –«

»Laß das, laß das, Regine!« besänftigte Cornelie. »Man soll so schmerzliche Erinnerungen nicht heraufbeschwören. Laß sie ruhen! Ein Jeder hat Erlebnisse, die er vergessen muß. Sie sind vorüber! Das ist ja genug!«

Damit umarmte sie die Freundin und ging zu ihrem Schreibtisch, auch Regine setzte sich zur Arbeit nieder.

Der wunderbare Zufall, der auf dem Scheidewege des eigenen Daseins Erich's verlassene Geliebte zu ihr geführt, war für Cornelie eine Aufforderung geworden, sich Reginen's wie einer Schwester anzunehmen. Mit ihr war sie nach Paris gekommen, durch sie hatte Larssen das Mädchen wiedergesehen, auf dessen Schicksal er, ohne es zu wollen, einen so entscheidenden Einfluß ausgeübt. Eine abergläubige Scheu hatte Regine Anfangs von Larssen fern gehalten. Es war ihr gewesen, als müsse sie an einem neuen Wendepunkte ihres Lebens gehen, da er ihr nahte. Nur allmählich hatten das Mitleid und der Antheil, die er ihr bewies, ihr Zutraun zu ihm gegeben, nur langsam war es Cornelien und ihm gelungen, das verwundete Herz der Armen zu heilen.

Bald aber erkannten ihre beiden Beschützer, daß Regine nicht für Dienstbarkeit geschaffen sei, daß ein Drang nach Ausbildung, ein künstlerisches Streben in ihr glühe, und ihre große musikalische Begabung, ihre Sehnsucht sie zu entwickeln, wiesen den Pfad an, auf den man sie zu leiten hatte. Larssen, der sich wie einen Schuldner des Mädchens ansah, und der selbst ergriffen wurde von Reginens Glauben, daß er bestimmt sei, einen Einfluß auf ihr Leben auszuüben, Larssen erbot sich, ihre Aufnahme unter die Schülerinnen des Conservatoir zu vermitteln, mit dessen Vorstehern seine journalistische Thätigkeit ihn in Verbindung gebracht hatte.

Damit hatte Regine an dem Ziele ihrer Wünsche gestanden. Fortdauernd Cornelien dienstbar, hatte sie ihre musikalischen Studien begonnen, während ihre Herrin und Larssen ihre Bildung zu vollenden strebten, und ihr stetes Beisammensein mit Cornelie, Reginens ganzes Wesen immer reiner und voller zur Entwicklung brachte. So ward sie aus einer Dienerin eine Freundin für Cornelie, eine Freundin, auf deren Vorzüge diese mit der stolzen Freude glücklichen Gelingens blickte.

In solcher Weise hatten die Frauen mehrere Jahre in stiller Arbeit und in stillem Frieden mit einander gelebt, und Reginens erstes Debüt stand jetzt nahe bevor. Auf den Rath des Directors des Conservatoirs hatte sie beim Eintritt in dasselbe ihren hart klingenden Familiennamen gegen den italienischen Namen Tosta vertauscht, der für eine Uebersetzung des deutschen Valdig gelten konnte. Niemand in der Heimath wußte, wohin sie sich gewendet, auch Cornelie hatte nur geringen Zusammenhang mit derselben gehabt. Denn obschon Erich kein Widerstreben gegen die künstlerische Thätigkeit der Frauen fühlte, so war die Abneigung Sidoniens gegen eine solche um so stärker, und Erich selbst vermochte sich mit der Richtung seiner Schwester nicht zu befreunden, die sich nach ihren früheren Erlebnissen folgerecht dem Socialismus zugewendet hatte. Nur durch Friedrich und den Doctor hatte Cornelie Nachrichten über ihr Vaterhaus empfangen, und ihr Herz hatte hoch aufgewallt, da der Brief des alten Freundes ihr sein nahes Kommen gemeldet.

Als er am Tage nach seiner Ankunft bei ihr eintrat, fand er sie, wie er's erbeten hatte, ganz allein. Mit lebhafter Freude eilte sie ihm entgegen und reichte ihm die Hände, die er ergriff. Seine heftige Gemüthsbewegung machte ihn verstummen. Er stand lange vor ihr, er hielt ihre Hände gefaßt, seine Augen ruhten auf ihr, als müsse er ihrer Gegenwart sich erst versichern, als müsse er die Züge ihres Angesichtes sich neu zu eigen machen. Ihre Unbefangenheit entwich vor seinem Schweigen, und mit bewegter Stimme sprach sie: »Wir haben uns sehr lange nicht gesehen, mein Freund!«

Aber auch jetzt noch hielt die Tiefe seines Gefühles ihn gebannt. Endlich, als vermöge er seinem Empfinden nicht zu widerstehen, zog er Cornelie sanft an seine Brust, und legte seine linke Hand wie segnend auf ihr Haupt. Cornelie weinte still.

»Vom Vaterlande verbannt, müssen wir unsere wahre Heimath finden!« rief er erschüttert aus, während auch seine Augen sich mit Thränen füllten.

»O! meine Heimath!« sagte Cornelie leise und umschlang ihn mit beiden Armen, während er sie fester an sein Herz schloß, in der Gewißheit ihrer Liebe. So hielten sie sich still umfaßt, bis sie sich trennten, und es währte lange Zeit, ehe die Bewegung in ihnen ausgeklungen hatte.

Als sie dann ruhig bei einander saßen, als ihre Augen sich gesättigt hatten in dem Anschauen des geliebten Gegenstandes, sagte der Doctor: »Sie sind so schön geworden, Cornelie, wie kommt das, Liebe?«

»Weil ich nicht mehr hübsch zu sein brauchte! Dazu war ich ja nie gemacht!« antwortete sie ihm mit einem Lächeln des Glückes.

Und sie hatte die Wahrheit damit gesprochen. Sie gehörte zu den Frauen, deren großartige Formen sich nicht für jenen flüchtigen Reiz der Jugend eignen, den die oberflächige Genußsucht seichter Männer in den Mädchen sucht. Jetzt, da die gesunde Fülle reifer Jahre die Schärfe ihrer Züge gemildert, da innere Zufriedenheit ihrem Ausdruck Ruhe gegeben hatte, jetzt mußte es für den flüchtigen Beobachter fast schwer sein, in dem stattlich schönen Weibe die frühere Cornelie wiederzuerkennen.

»Ja!« meinte der Doctor, »das ist es, was so viele Frauen ruinirt. Der thörichte Anspruch an eine gewisse allgemeine Lieblichkeit, die man ungebührlich überschätzt, läßt Frauen, denen sie fehlt, für unschön gelten, und macht so viele Mädchen unzufrieden mit sich selbst. Man sagt dem Mädchen so lange, daß es ihre Aufgabe sei, den Männern zu gefallen, bis sie zur Gefallsucht getrieben werden, und in Häßlichkeit versinken, wenn man sie nicht, oder nicht mehr schön zu finden vermag. Das war ja auch Augustens Fall.«

Nach Erregungen wie Cornelie und der Doctor sie eben jetzt erfahren, nach Augenblicken, deren Größe und Bedeutung sie weit hinaushebt über das gewohnte Maaß, sehnt die gesunde Natur sich nach einem Rasten, und wie das Auge, welches nach langer Dunkelheit zum ersten Male ein strahlend helles Licht erblickt, sich abwendet, um sich allmählich an den Glanz desselben zu gewöhnen, so bedarf wahre Liebe der Stille, wenn sie sich zum ersten Male ausgesprochen hat. Daß man nach großen Krisen meist zu unbedeutenden Dingen, zu gleichgültigen Gesprächen greift, das ist kein Zufall, sondern eine Nothwendigkeit, die sich im Leben des Einzelnen, wie im Leben der Völker offenbart.

Es that Cornelien wohl, die Gedanken ablenken zu können von der neuen Welt, die sich ihr erschlossen hatte. Sie benutzte die Wendung, welche der Doctor unwillkürlich der Unterhaltung gegeben hatte. »Wie Friedrich und Auguste sich zusammenfinden konnten, ist mir stets ein Räthsel gewesen!« sagte sie.

»Und doch war die Sache so natürlich!« entgegnete der Doctor. »Auguste hatte keinen innern Halt. Die schmerzliche, wenn auch nicht unverschuldete Erfahrung, daß sie sich in den Hoffnungen betrogen, die sie auf Georg gebaut, hatte sie sehr verwundet. – Dieser Täuschung war der Gedanke gefolgt, ihm zu beweisen, was sie werth gewesen sei, das hieß in ihrem Sinn, sich durch eine glänzende Heirath an dem Treulosen zu rächen!«

»Die Unglückliche!« rief Cornelie.

»Ja, sie war unglücklich!« bestätigte der Doctor. »Sie hat traurige Jahre einer unfruchtbaren Gefallsucht durchlebt. Jedem Manne hoffte sie Liebe einzuflößen, von Jedem glaubte sie sich geliebt. Mit leidenschaftlicher Unruhe suchte sie ihre vermeinten Verehrer zu einer Erklärung zu drängen und scheuchte sie meist dadurch zurück. Ihre Stimmung verbitterte sich. Die Nothwendigkeit, inmitten eines Kreises heranwachsender jüngerer Mädchen noch zu gefallen, ward ihr immer drückender. Es war ein Jammer, die erzwungene Heiterkeit zu sehen, mit der sie sich in der Gesellschaft bewegte, bis sie sich plötzlich in das Bewußtsein zurückzog, daß keiner von den Männern, die sich ihr genaht hatten, sie zu verstehen und zu würdigen gewußt.«

»Wie furchtbar wahr,« unterbrach ihn Cornelie, »schildern Sie den Zustand, an dem bei der Art unserer Frauenerziehung so viel Tausende zu Grunde gehen!«

»Auguste ist daran zu Grunde gegangen!« sagte der Doctor. »Daß man ihren Werth verkannt, das war ihr Zorn und auch ihr Stolz. Sie schloß sich gewaltsam gegen alle Theilnahme ab, sie wollte Nichts lieben, nicht mehr an Liebe glauben. Berechnung und Pflichterfüllung waren die Hebel aller Handlungen in ihren Augen. Sie können sich kein freudenärmeres Dasein, kein liebeleereres Verhältniß denken, als jenes, welches Ihr Vater und Auguste, welches der einsame Greis und das einsam alternde Mädchen nebeneinander führten, die sich Beide in ihren Ansprüchen an die Welt und in dem Glauben an die Menschen betrogen wähnten.«

»Und die Stimmung meines armen Vaters hat sich nicht geändert?«

»In so fern wohl,« versetzte der Doctor, »als er eine warme, ich möchte sagen verehrende Zuneigung für Sidonie hegt, und als er Freude an Erich's Knaben hat. Sidonie ist die erste Person, die ihn beherrscht!«

»Aber Sie schrieben mir, daß Sie den Einfluß, den meine Schwägerin auf meinen Vater übe, für keinen günstigen erachten.«

»Ihr Einfluß ist nachtheilig für Alle, für den Baron, für Erich und besonders auch für Auguste.«

»Sie lieben Sidonie nicht, mein Freund!«

»Nein!« antwortete er. »Sidonie ist starr und kalt, und das allein verzeihe ich den Frauen nicht, weil es dem innersten Wesen ihrer Natur widerspricht – der thätigen Liebe!«

»So glauben Sie, Sidonie liebe meinen Bruder nicht?«

»Sie liebt ihn wie sie lieben kann!« sagte der Doctor lächelnd, »und so liebt sie auch ihr Kind.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, sie ist von ihrer Mutter zur Pflichterfüllung, zur Selbstbeherrschung, als zu ihrer höchsten Lebensaufgabe angeleitet. Diese Pflichterfüllung, diese Selbsterziehung hat sie zu ihrem Panier erhoben und damit sich und ihr eigenes Genügen als den Mittelpunkt aller ihrer Bestrebungen aufgestellt. Sie muß und will dem Bilde entsprechen, das sie sich von sich selbst gemacht hat. So liebt sie Erich, weil sie ihren Gatten lieben muß, so ist sie sittsam, weil sie ihm Treue gelobt hat, so liebt sie ihren Sohn, weil Mutterliebe des Weibes Pflicht ist – aber das Alles ist so fern von jener gesunden, unwillkürlichen Liebe in der Frauenbrust, als das künstliche Skelett einer Blume von dem frischen, belebenden Duft derselben!«

»Entsetzlich!« rief Cornelie, »das ist die Folge einseitiger Verstandesbildung für die Frauen! Und Erich war so sehr gemacht, durch Liebe sich beglückt zu fühlen! – Empfindet er denn, was ihm mangelt?«

»Er ist zu gut und auch zu stolz sich's zu bekennen!« sagte der Doctor. Es entstand eine Pause, Cornelie war traurig geworden. Der Freund wollte sie von den Gedanken abziehen, die sie bewegten.

»Und nun von besseren Dingen!« rief er. »Wie leben Sie Cornelie? Wie schreitet Ihre neue Arbeit vorwärts?«

»Nein!« entgegnete sie, »nicht von mir lassen Sie uns sprechen, die ganze Zukunft ist ja unser, wir Beide haben Zeit!« Der Ausdruck des Glaubens, der Freudigkeit, mit dem sie diese Worte sagte, die Liebessicherheit, mit der sie ihm in's Auge schaute, erquickten den Doctor bis in das innere Herz. »Sagen Sie mir, wie geht es Friedrich?« fragte sie.

»Es geht ihm gut, denn er entwickelt sich bei der Ausübung seines Amtes mehr und mehr zur Freiheit. Erich konnte nichts Besseres thun, als ihm nach dem Tode des Pastors die Stelle geben, und hätte Sidonie nicht seine Heirath mit Auguste vermittelt, so würde es ihm noch besser gehen!«

»Er ist also nicht glücklich mit ihr?«

»Gar nicht glücklich!« entgegnete der Doctor. »Auguste hatte in seiner Krankheit und in ihrer Verlassenheit eine Art von Zuneigung für ihn gefaßt. Seine Mutter wußte ihm diese lebhafter zu schildern als sie war, und die Dankbarkeit der alten Frau trug dazu bei, Auguste in Friedrich's Augen zu erheben. Diese ihrer Seits fühlte sich noch unglücklicher im Hause Ihres Vaters, seit Sidonie in dasselbe eingetreten war und ihr die Pflichten der Hausfrau abgenommen hatte, während das mißvergnügte Wesen des alternden Mädchens auch keine angenehme Zugabe für den jungen Haushalt sein mochte. Dazu kam des Pfarrers Tod, Friedrich's Nachfolge in dem Amte, die Nothwendigkeit für ihn, sich eine Frau zu nehmen. Die Constellation war so fest bezeichnet, daß das Zusammentreffen Friedrich's und Augustens eben so unausbleiblich, als ihr Zusammenpassen eine Unmöglichkeit war, hätte Ihre Cousine auch die Ehe mit einem bürgerlichen Landgeistlichen nicht als eine Heirath angesehen, zu der nur gänzliche Hoffnungslosigkeit sie treiben konnte. Dennoch galt und gilt ihr Bündniß für ein aus Neigung geschlossenes, und beide Gatten haben sich lange darüber gewundert, daß sie mit einander nicht fertig zu werden wußten.«

Cornelie versank in Nachdenken. »Sie haben niemals gut von der Ehe gedacht!« sagte sie nach einer Pause.

»Von der Ehe, wie sie unter uns gewöhnlich geworden ist, denke ich sehr gering.«

»Und kennen Sie Ausnahmen?«

»Ja! aber wenige, und diese habe ich stets nur da gefunden, wo unbewußte natürliche Einfachheit die Menschen einfach und natürlich empfinden ließ, oder wo die höchste Bildung und Cultur sie zu natürlicher Einfachheit zurückgeführt hatten. Gänzliche Unbefangenheit oder vollständige Erfahrung sind die unerläßlichen Bedingungen für das Glück der Ehe. Die Mehrzahl der sogenannten Gebildeten befindet sich jedoch auf jener unglückseligen Zwischenstufe einer halben, unfertigen Entwicklung, welche nur gegenseitige Ansprüche, aber nicht die Hingebung hervorbringt, die nöthig wäre, sie zu befriedigen, und – daß ich's offen bekenne – die Frauen tragen daran die meiste Schuld!«

Er war bei diesen Worten aufgestanden, in die Straße hinabzuschauen, von welcher Trommelschall empor tönte.

»Das ist die Nationalgarde!« bedeutete Cornelie.

»So gleichmüthig sprechen Sie hier die Worte aus!« rief der Doctor, »und so fern ist man in unserer Heimath davon, eine Nationalgarde, diesen bürgerlichen Schutz der Gesetze, eine gesetzgebende Volksvertretung zu besitzen, daß die bloße Forderung nach diesen unerläßlichen Bedingungen der Volkswohlfahrt dort noch für Anmaßung, ja für ein Verbrechen gilt! – Ich weiß, ich fühle es, es wird mir ewig hier zu Muthe sein, als hätte ich träge meine Arbeit, als hätte ich feige meine Fahne verlassen – und doch hatte ich keine Wahl – doch sind Sie, Sie hier, Cornelie!« setzte er begütigend mit weichem Tone hinzu.

Der Morgen entschwand ihnen, ohne daß sie es bemerkten. Cornelie sprach ihm von sich, von ihren Arbeiten, von Regina, von ihren Hoffnungen für dieselbe. Sie weihte ihn ein in all' ihr Denken, in all ihr Thun und Treiben; auch der Doctor sprach von seinen Erlebnissen und Absichten, vom Zustande des Vaterlandes und von ihren Freunden. Nur von der stillen, nie gekannten Liebesfreudigkeit, die in den Beiden brannte, sprach Keiner von ihnen an dem Tage wieder.


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