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Es giebt Epochen in dem Leben der Einzelnen so gut wie im Leben der Völker, in denen die Ereignisse von gewaltigen Kräften vorwärts getrieben zu werden, andere, in denen sie stille zu stehen scheinen. Solch ein Zeitpunkt der Ruhe trat bald nach diesen Vorgängen für Friedrich ein.
Er hatte die Scheidung angenommen, er war frei! frei selbst von der Sorge für die Zukunft und für die Zufriedenheit seiner Frau. Sein Abschied war ihm bewilligt worden, Auguste hatte das Pfarrhaus verlassen, der Vicar die Stelle am Dome angetreten, und Friedrich war von Stillberg's Neigung für Auguste unterrichtet worden. Er wußte, daß diese sowohl als ihr Onkel die unverkennbare Bewerbung des Dompredigers mit Wohlgefallen wachsen sahen. Indessen so aufrichtig er Augusten jede Lebensfreude wünschte, so lebhaft er ihr jeden Ersatz gönnte, den die Zukunft ihr bieten konnte, vermochte er bei diesen Nachrichten einer schmerzlichen Empfindung nicht Herr zu werden.
Es widerstand ihm, sich seine Gattin als das Weib eines Anderen zu denken. Sein Gemüth, seine Phantasie schraken davor zurück. Ein trüber Schatten deckte an solchen Tagen in seinem Herzen selbst Helenens Bild. Er hatte lange aufgehört, die Ehe als einen heiligen Zwang zu betrachten, und doch brauchte er Zeit und Ueberwindung, sie als eine freie, also lösbare und neuzuschließende Hingebung ansehen zu lernen. Er war reif genug, eine Theorie nicht zu verwerfen, weil die Folge derselben ihm augenblicklich wehe that, und klar genug, es natürlich zu finden, daß er vergessen ward, wo er keine Ansprüche mehr zu machen, keine Pflichten mehr zu erfüllen, und wo er eigentlich nie auf dem rechten Boden gestanden, nie eine wirkliche Herzensheimath gefunden hatte.
Um so erfreulicher aber mußten ihm die Beweise der Anhänglichkeit sein, welche er fortdauernd von denjenigen Mitgliedern seiner früheren Gemeinde erhielt, die sich von der Kirche losgesagt hatten. Ihr Verlangen freilich, daß er heimkehren und als ihr Prediger unter ihnen weilen möge, glaubte er ablehnen zu müssen, obschon aus den eingepfarrten Dörfern noch mehrere seiner früheren Zuhörer sich mit den ersten Dissidenten verbunden und sich verpflichtet hatten, ihm ein Jahrgeld zu zahlen. Rücksichten auf Erich hielten ihn davon zurück. Er mochte sich dem alten, treuen Freunde in solcher Weise nicht feindlich gegenüberstellen, und schlug den Dissidenten also vor, für's Erste gar keinen Geistlichen zu wählen, sondern den Schulmeister zu ihrem Lehrer und Leiter anzunehmen, dessen Gesinnung und Einsicht er in gleichem Maße schätzte. Daneben erbot er sich, demselben mit Rath zur Hand zu gehen, bis die Dissidenten ihre Angelegenheiten mit der Dorfgemeinde geordnet und von der Regierung ihre Anerkennung erlangt haben würden.
Und wie er der Berather seiner früheren Pfarrkinder verblieb, so ward er aus der Ferne auch ein befreiender Tröster für die Gräfin.
Jemehr Helene sich einlebte in seine Anschauungsweise, um so gleichgültiger erschienen ihr die Zwecke, die sie rund um sich her verfolgen sah. Seit Jahren eingebannt in die Atmosphäre der diplomatischen Kreise, hatte auch sie sich allmälig gewöhnt, das Schicksal der Völker nach dem Wohlbefinden der herrschenden Dynastien zu beurtheilen, und sich in der trügerischen Ruhe, welche sie umgab, ausschließlich mit den eigenen Empfindungen beschäftigt. Denn wie der vornehme Reiche sich abzusperren weiß gegen den physischen Lärm und die Kälte, welche von Außen eindringen und sein Behagen stören könnten, so hatte man sich in jenen Kreisen absichtlich gegen den Ton der grollenden Geistesbewegung in den Völkern abgesperrt, und gegen den immer lautern Ruf um das Recht der freien Selbstbestimmung.
Friedrich's Briefe, und noch mehr seine Werke schreckten die Gräfin zuerst aus ihrer Sicherheit empor. Was sie für Uebertreibung gehalten hatte von den Lippen und aus der Feder Anderer, das ward ihr zur Wahrheit, wenn der Mann es aussprach, dem sie mit ihrer ganzen Glaubensbedürftigkeit vertraute. Sie fing an um sich zu blicken, auf die Bewegung der Zeit zu achten. Dabei mußte sie es inne werden, daß ein Verständniß der Gegenwart ohne Einsicht in die Geschichte der Vergangenheit nicht möglich sei. Und wie die Leidenschaft für den Cavaliere sie einst zur Künstlerin gemacht, so ward ihre Neigung für Friedrich ihr ein Sporn, sich ernster zu unterrichten, denn sie gehörte zu den Frauen, die nur durch das Herz zu lernen vermögen. Was aber in solchem Sinne aus Liebe unternommen wird, pflegt meist in doppeltem Betrachte förderlich zu sein. Während Helene sich belehren wollte, um Friedrich's Studien und Gedankenentwickelung zu folgen, fand sie selbst den Frieden. Der Hinblick auf die Vergangenheit, auf all die Menschen und die Menschengeschlechter, die einst gekränkt in ihren Rechten, beeinträchtigt in ihren billigsten Anforderungen aus dem Leben gingen, machte sie das eigene Dasein anspruchslos betrachten. Die Weltgeschichte lehrte sie die Entsagung, die der Glaube und das Christenthum ihr nicht zu geben vermocht hatten. Sie lernte den Werth des Lebens nicht nach befriedigten Empfindungen, sondern nach Thaten schätzen. Ihre Sehnsucht nach eigenem Glück begann zu schweigen vor dem Wunsche, ihr Leben an einen festen Zweck in ernster Treue selbstlos hinzugeben. Ein Ideal von entsagender Liebe, das sich an ihre Jugenderinnerungen knüpfte, das in harmonischem Einklang den Anfang und das Ende ihres Daseins verbinden sollte, ward in ihrem Geiste rege, und Friedrich's Scheidung bot ihr schnell den Weg, es zu verwirklichen.
Es freute sie, daß sie gebunden, daß sie von ihm getrennt war. Nicht mehr Genuß, sondern demüthige Hingabe ihres ganzen geistigen Seins an eine reichere Natur, das war es, was sie suchte. Ihre eigne künstlerische Begabung dünkte sie gering neben der dichterischen Schöpferkraft, mit welcher Friedrich die erhabenen Gedanken sittlicher Freiheit und Schönheit vertrat. Alles Große und Gute, das ihr begegnete, empfing sie in sich als einen Gewinn für ihn, und wie sie sich einst der Verherrlichung durch den Cavaliere gefreut, so und noch viel tiefer genoß sie jetzt die Wonne, unterzugehen in den Schöpfungen eines Mannes, den sie zu ihrem sittlichen Ideal erhoben hatte. Das aber ist die rechte Liebe, die ein Glück ist an sich selber. Das ist jenes himmlische Geben, welches seliger ist als Nehmen, das ist ein Bewußtsein, das im Drange jeder Noth erhebt.
Was sie im Schooße des Katholicismus zu finden gehofft, ein Wesen, das sie schuldlos anbeten konnte in menschlicher Gestalt, eine unbedingte Hingebung, einen erhebenden Trost, eine verzeihende Liebe, das besaß sie für ihr Empfinden jetzt in Friedrich. Er kannte alle ihre Irrthümer, ihm hatte sie dieselben gebeichtet, er hatte ihr das eigene Innere klar gemacht und ihr vergeben. Seine treue, unerschütterliche Liebe, sein Glaube an die innere Reinheit ihrer Seele waren ihre Erlösung, und sie empfing sie als die göttliche Gnade des Menschen für den Menschen.
Hatte einst der Taumel der Leidenschaft sie blind gemacht für das Unrecht, das sie an dem Grafen begangen, war ihr das eigene Unglück als ein unverdientes erschienen, so hatte Friedrich sie gelehrt, es als die nothwendige Folge, als die Buße der Unwahrheit anzusehen, mit der sie in die Ehe eingetreten war, und Helenens religiöse Natur ergriff mit Lebhaftigkeit den befreienden Gedanken einer solchen Buße.
Ihr Verhältniß zu dem Grafen gewann dadurch eine andere Gestalt. Sie konnte ihn nicht lieben, Geschehenes nicht ungeschehen machen, aber sie wünschte zu vergüten, was in ihrer Macht stand. Freiwillig brachte sie ihre Freiheit zum Opfer. Da sie ihm nicht Gattin zu sein vermochte, beschloß sie, ihm dienstbar zu werden in töchterlicher Hingebung; aber der Charakter des Grafen machte ihr das schwer.
Der Mann, welcher die Lehre von den erfüllten Thatsachen von jeher zu seinem Princip erhoben hatte, kannte die Reue nicht, vermochte nicht an sie zu glauben. Und hätte Helene ihm die Wandlung ihres Herzens mit allen ihren Triebfedern kund thun wollen, er würde sie nicht verstanden, er würde sie unbegreiflicher gefunden haben, als ihr früheres Unrecht gegen ihn, sie würde ihm als leere Schwärmerei lächerlich, ja verächtlich erschienen sein. Was Helene auch that, sich ihm dienstbar und unterwürfig zu beweisen, der Graf betrachtete es mit Mißtrauen. Ihre Ausdauer steigerte dasselbe. Hatte er in den Jahren seiner vollen Kraft seine Eifersucht zu verbergen, seine Kränkung mit Stolz im tiefsten Herzen zu verschließen gewußt, so machte ihn die Schwäche des beginnenden Greisenalters unfähig, diese Rolle fortzuspielen. Mit dem scharfsichtigen Blick argwöhnischer Menschenkenntnis folgte er dem Thun und Treiben seiner Frau, während er sich doch wieder dieser Ueberwachung schämte. Bald glaubte er Helene durch eine neue Leidenschaft an die Gesellschaft gefesselt, wenn sie mit ruhiger Heiterkeit sich selbst in denjenigen Kreisen bewegte, die ihr sonst nicht zusagend gewesen waren; bald glaubte er einen Nebenbuhler in seiner Nähe zu haben, wenn er die Zufriedenheit betrachtete, welche die Gräfin in häuslicher Zurückgezogenheit zu fühlen schien, aber alle seine Vermuthungen erwiesen sich als grundlos, bis er endlich des Briefwechsels gewahr ward, den Helene mit Friedrich unterhielt.
Einsam in seinem Cabinette hielt er den letzten Brief der Gräfin in der Hand. Mit düsterem Blicke las er die Aufschrift. Der Name Friedrich Brand, den er so häufig im Zusammenhange mit Augusten, mit der Cousine seiner Frau gehört hatte, klang ihm plötzlich fremd, und dennoch war es ihm, als habe er einmal in irgend einer Beziehung zu dem Träger desselben gestanden, die mit Auguste nichts gemeinsam hatte. Er glaubte einmal auch einen Mann dieses Namens gekannt zu haben, aber er wußte nicht an welchem Orte und wußte kein bestimmtes Bild mit demselben zu verbinden, obgleich eine ihm mißfällige Erinnerung sich an diesen Namen knüpfte. Das steigerte seine Unruhe, seine Gereiztheit. Haß zu fühlen gegen einen Menschen, von dessen Persönlichkeit man keine Vorstellung hat, ist unerträglich, denn die ganze Gewalt der Leidenschaft fällt auf den Hassenden zurück.
In dumpfem Sinnen starrte er die Aufschrift an. Es war ihm, als müsse ihm aus den Schriftzügen das Bild des Mannes entgegentreten. Seine Hand zuckte das Siegel zu erbrechen, aber er warf den Brief mit Heftigkeit zur Seite.
»Friedrich Brand! Friedrich Brand!« wiederholte er in finsterem Brüten, während er im Zimmer auf und nieder ging. »Friedrich Brand!« rief er, als zufällig die Gräfin eintrat, und mit schnellem Schritte ihr entgegentretend fragte er sie: »Wer ist dieser Friedrich Brand, Helene?«
Die Gräfin wechselte die Farbe. »Wer er ist?« sagte sie, indem sie ihren Gatten betroffen ansah. »Du fragst mich, wer er ist?«
»Was hast Du mit ihm?« fuhr der Graf auf, »was ist er Dir, dieser Pfarrer Brand?«
»Er ist mein Freund!«
Der Graf lachte höhnisch auf. »Und diese Freundschaft hast Du mir verschwiegen durch die langen Jahre unserer Ehe?«
»Ich hatte Nichts zu verschweigen, denn ich hatte keinen Zusammenhang mit ihm, bis –«
»Bis Du zu Hause warst und diese Freundschaft sich entzündete!« spottete der Graf.
»Ich habe ihn nicht wiedergesehen seit ich zum ersten Male aus dem Vaterhause schied!« betheuerte Helene. Der Graf blieb in sichtlichem Kampfe vor ihr stehen, auch Helene schien in sich nach einem Entschlusse zu ringen. Es entstand eine Pause.
»Höre mich an, Hippolyt!« sprach sie endlich, »aber unterbrich mich nicht. Was ich Dir zu sagen habe, enthält Deine und meine Zukunft in sich!« –
Der Graf wollte sein altes Lächeln versuchen, aber es war etwas in der Ruhe und dem feierlichen Ernste seiner Gemahlin, was ihn daran hinderte. Er rückte den Sessel von seinem Schreibtisch in ihre Nähe und ließ sich nieder, während seine Augen mit durchbohrender Schärfe auf sie gerichtet waren.
»Du fragtest mich, was Friedrich Brand mir sei?« sagte die Gräfin bewegt. »Er ist das Unglück und das Glück meines Lebens gewesen.« Sie hielt inne, als müsse sie sich sammeln für den Rückblick, den sie beabsichtigte. Des Grafen Züge waren wie versteinert.
»Du hast Friedrich Brand gesehen,« hob sie nach kurzem Zaudern an, »an dem Tage, da er zum ersten Male in Erich's Gesellschaft unser Haus betrat, der Sohn eines Handwerkers, ein armer Student!«
»Er? Er ist es?« rief der Graf aufspringend, da plötzlich das Bild jenes Jünglings in ihm auftauchte, der ihm einst so schroff gegenüber gestanden hatte. »Jener lächerliche Phantast, den die Deinen aus deutscher Philanthropie soutenirten? Er also ist der Freund?«
Die Gräfin antwortete nicht auf diese Frage. »Ich habe ihn geliebt!« sagte sie sanft, »und ward von ihm getrennt. Als ich Deine Braut geworden war, trieb es mich, Dir zu sagen, welch eine Wunde in meinem Innern blutete. Deine eigenen Worte, Deine Ansicht von der Thorheit solchen Vertrauens, schlossen mir den Mund, und ich wurde Dein Weib.«
Sie schöpfte Luft und drängte die Thränen zurück. »Damals,« fuhr sie fort, »sah ich ihn zum letzten Male. Ein Zufall führte uns zusammen. Ich sah ihn einen flüchtigen Augenblick, und niemals wieder. Wir schieden herzzerrissen; aber ich hatte den festen Willen, dem Ideale zu entsprechen, das er in mir erblickte, den festen Willen, Dir ein Weib zu werden, das er ehren konnte, da er es nicht lieben durfte!«
»Und wer trägt die Schuld, daß Du es nicht geworden?« rief der Graf.
»Du, Hippolyt! Du trägst die Schuld!« entgegnete die Gräfin mit einer ruhigen Festigkeit, vor der ihr Gatte verstummte. »Wärst Du ein Mann gewesen voll Glauben an das Weib, voll Glauben an die wahre Bedeutung der Ehe, Du hättest Dich und mich gerettet. Mit einem wunden Herzen, gewohnt an die leitende Hand gütiger und doch strenger Elternliebe, gehorsam und unerfahren wie ein Kind, so ward ich Dein Weib. Ich bedurfte eines Schutzes, eines Führers. Ich habe ihn nicht in Dir gefunden. Die Welt, in der Du lebtest, ehrte weder Sittlichkeit noch Treue. Alle huldigten dem Erfolge, Du und sie Alle lebten für den Schein. Du machtest mich zum Spielball Deiner Eitelkeit. Um nicht für eifersüchtig zu gelten, überließest Du die Unerfahrene dem verwirrenden Strudel einer entsittlichten Gesellschaft, und« – fuhr sie leidenschaftlicher fort – »als dann die Stunde der Versuchung mir kam, als ich vom Taumel erfaßt, meiner selbst nicht Herr war, als es Gnade, Barmherzigkeit, als es Pflicht von Dir gewesen wäre, mich zurückzureißen von dem Abgrunde, zu dem meine Verblendung mich getrieben hatte – da hast Du keine Hand gereicht, mich zu halten, da hast Du, der allein es konnte, der es mit einem Worte vermocht hätte, mich nicht gerettet. Mit kalter Härte hast Du mich verdammt, als ich noch schuldlos war, mit kaltem Stolze hast Du mir die Freiheit gegeben. Ich glich dem Rasenden, der Gift begehrt zu seiner Labung – Du hast es mir gereicht. Dein und mein Leben ward vergiftet!« –
Sie schwieg erschöpft. Der Graf war bleich geworden wie ein Todter. Er hatte die geballte Rechte gegen die Stirne gepreßt, seine blutlosen Lippen bebten. Er fühlte sich unter einem schweren Banne. Plötzlich fuhr er dagegen auf, wie Einer, der um jeden Preis sich helfen will. »Was soll mir das?« rief er. »Was soll mir dieser Vorwurf? Was hat er mit dem Pastor Brand gemein? Was ist Dir Brand? Darauf verlang' ich Antwort!«
»Brand ist mein Wohlthäter!« entgegnete Helene.
»Das geht zu weit!« rief der Graf empört. »Erwäge Deine Worte!«
»Er ist mein Wohlthäter und der Deine!« wiederholte die Gräfin, »denn er hat mich verzeihen, mir und Dir verzeihen gelehrt. Er hat die Selbstverachtung, er hat den Haß aus meiner Seele genommen, mit dem ich Dich in Stunden der Verzweiflung anklagte. Er hat mich entsagen, und nach Vergütung, nach Versöhnung ringen lehren!«
»Und Du hast also wirklich diesen Lehrer, diesen Erlöser nicht wiedergesehen?«
»Niemals, Hippolyt!«
»Aber woher diese wundervolle Freundschaft? woher dieser wunderbare Einfluß?« fragte der Graf.
»Erich sah die Versunkenheit meines Herzens. Er wies mich an Brand, an seinen Freund, an ihn, der mir zugethan war mit der reinen Liebe unserer Jugend.«
»Ihm also dank ich diesen Freundschaftsdienst!« rief St. Brézan, froh einen Gegenstand zu haben, an den sein Zorn sich halten konnte. »Ihm also, Erich dank ich ihn! – das werde ich ihm nicht vergessen!«
Die Gräfin erschrak vor dem Ausdruck seiner Züge. »Du thust ihm Unrecht!« sagte sie lebhaft.
»Unrecht? und er hat Dich zu dieser neuen Liaison verlockt? Unrecht? und er weiß um dieses Verhältniß, das Dich so plötzlich für die Tugend begeistert, so plötzlich zur Entsagung bereit macht? Halte mich wofür Du willst – nur solchen Glauben fordere nicht von mir!«
»Daß Du unfähig bist, an das Gute zu glauben, ist von jeher unser Verderben gewesen und wird es bleiben in die Ewigkeit!«
»Entsagung!« hohnlachte der Graf. »Und wenn ich von Dir forderte, dieser reinen Freundschaft zu entsagen? Wenn ich dies Pfand begehrte als Zeichen Deiner Sinnesänderung, als Bürgschaft für die Reinheit dieser Freundschaft?«
Die Gräfin verstummte.
»Nun Helene? wo sind jetzt die Entsagung, die Erhebung, zu der der fromme Pastor Dich bekehrt hat? Wo ist des treuen Freundes reine Jugendliebe, an die nicht zu glauben, ein Verbrechen sein soll? Ich bin kein Gläubiger! ich gestehe es. Ich bedarf der Zeichen, um zu glauben.«
Die Gräfin war in heftigster Erregung. Ihr innerer Kampf spiegelte sich in ihren Mienen wieder. Es brannte ihr im Herzen, dieses Verhältniß, an dem sie sich erhoben hatte, das ihre Stütze für die Zukunft sein sollte, durch ihres Mannes gerechten Argwohn entweiht zu sehen. Sie konnte es nicht ertragen, Friedrich beschuldigen zu hören. Der Gedanke, dem Freunde zu zeigen, was seine Lehre ihr gefruchtet habe, vereinte sich mit dem religiösen Zuge ihrer Seele, der sie zur Buße trieb, sie zu einem Opfer zu bestimmen.
»Was begehrst Du?« fragte sie mit einem Ausdruck, in welchem ihr innerer Kampf erzitterte.
»Gieb diesen Briefwechsel auf!« sagte der Graf mit kurzer Schärfe.
»Hippolyt!« bat sie mit flehendem Tone.
»Gieb diesen Briefwechsel auf! Schwöre es mir!« wiederholte der Graf mit festem Beharren, »und ich will Dir glauben!« Er stand vor ihr, ihrer Antwort gewärtig. Sie zauderte, sie zu geben. Ein Zug befriedigten Hohnes spielte um seinen Mund.
Die Gräfin sah es, und erhob sich plötzlich. »Ich werde nicht mehr an ihn schreiben. Ich schwöre es Dir!« sagte sie mit Feierlichkeit, während große Thränentropfen leise über ihre Wangen glitten. »Noch heute will ich es ihm sagen!«
St. Brézan war betroffen. In ungläubiger Verwirrung blickte er die Gräfin an.
»Und dieser Brief hier?« fragte er, indem er ihr denselben hinhielt, um nicht durch eine Antwort zeigen zu müssen, wie unerwartet Helenens Entschluß ihm gekommen sei.
Helene blickte den Grafen, blickte den Brief an, nahm ihn aus seinen Händen und zerriß ihn wortlos.
»Ich werde Dir die Zeilen geben, die ich heute an ihn schreibe. Du wirst die Güte haben, für diesen letzten Brief zu sorgen!« sagte sie mit äußerer Ruhe und verließ das Gemach.
Der Graf sah ihr sprachlos nach. Ein tiefer Haß brütete in seiner Seele. Seine leuchtenden Augen stachen unheimlich ab gegen seine erschlafften Wangen und seine zuckenden Lippen.
»Wie sie ihn liebt!« rief er endlich. »Welche Macht er über sie besitzt! Zu welchem Fanatismus er sie aufgestachelt hat, dieser Elende! Und Erich ist es! Erich, dem ich das verdanke!«
Er hatte die Hände im Zorne zusammengekrampft, und starrte lange in die verlöschende Flamme des Kammes. Dann setzte er sich nieder. Mechanisch ergriff er das Schüreisen, und stieß planlos den hellen Stahl in die Kohlen, aus denen eine prasselnde Gluth dämonisch hervorloderte. Hie und da brannte eine blaue, züngelnde Flamme empor, zuckte auf, schwankte und erlosch knisternd. Endlich lag die rothe Kohlenmasse ruhig in gleichmäßigem Verglühen. Der Graf ward achtsam, und als wolle er die todte Kohle zu neuem Brennen zwingen, so leidenschaftlich schürte er sie auf. Aber der Brennstoff war erloschen, und mit Heftigkeit warf er das Eisen von sich, daß es auf die Einfassung des Kamines fiel und das Klirren der Kamingeräthe unheimlich durch das Zimmer schallte.
Mit rascher Entschiedenheit ging er zu seinem Arbeitstische, und setzte sich zum Schreiben nieder. Indeß kaum hatte er einige Zeilen auf das Blatt geworfen, als er es zerriß und sich wieder erhob.
»Flammen auf erlöschender Gluth!« sagte er bitter. »Aber im Haß ist auch Leben! und ich hasse sie, Alle! Alle!«
An diesen Haß, der sich gleichmäßig gegen Friedrich wie gegen Erich wendete, an seiner brennenden Eifersucht gegen Helene, klammerten sich fortan die Gedanken des Grafen fest. Unfähig, das Bedürfniß nach freiwilliger Buße zu verstehen, das seine Gemahlin zur Entsagung trieb, traute er ihrem Schwure nicht.
Alle Briefe, welche sie schrieb oder empfing, gingen durch seine Hände, jeder ihrer Schritte, jede ihrer Handlungen ward von ihm bewacht. Er, der einst in seinen Mannesjahren mit dem Anscheine stolzer Gleichgültigkeit Helenens leidenschaftliche Verwirrungen geduldet, der ihren vielbesprochenen Galanterien kalte Ruhe entgegengesetzt hatte, der Helenens anerkannte Günstlinge als Freunde in seinem Hause bewirthet, er konnte jetzt das reinere Verhältniß Helenens zu dem Geliebten ihrer Jugend nicht ertragen, und unterlag den Qualen dieser Eifersucht auf den Entfernten. Je sorgfältiger er aber, seinem Charakter getreu, diese Empfindungen der Welt verbarg, um so tiefer und verzehrender gruben sie sich in sein Inneres, um so nachtheiliger wirkten sie auf sein Befinden. Eine Nervenreizbarkeit, welche das Leben an seiner Seite immer schwerer machte, zerstörte den Anschein männlicher Kraft, der ihm bisher geblieben war. Mit Verzweiflung sah er das allmälige Zusammensinken seiner stolzen Gestalt, das Erschlaffen seiner festen Züge, wenn er auf die noch immer strahlende Schönheit seiner Gattin blickte. Aller Spott, den er sonst gegen ähnliche Verhältnisse gehört und selbst empfunden hatte, wurde in seiner Erinnerung lebendig, um ihn zu quälen. Ueberall glaubte er ihn zu vernehmen. Er fühlte sich beleidigt, so oft man ihn in gewohnter Weise um sein Befinden befragte, und bald ward ihm der Gedanke an die große Ungleichheit der Jahre, welche sich zwischen ihm und der Gräfin jetzt immer unverkennbarer aussprach, so unerträglich, daß er mit angstvollem Selbstbetruge zu allen Mitteln griff, mit welchen die Kunst das Alter zu verbergen strebt. Er, der es stets für die schwerste Schmach gehalten hatte, sich in der Meinung der Gesellschaft eine Blöße zu geben, verdammte sich jetzt zu der lächerlichen Rolle eines Jugend heuchelnden Greises.
Hatte die Gräfin gegen ihn in den Jahren seiner Kraft gefehlt, so trug sie jetzt seine Schwäche mit ausharrender Ergebung. Wie sie einst sich aus der Liebe einen Cultus blinder Hingebung gemacht, so schuf sich ihre ursprünglich religiöse Natur jetzt aus der Buße einen Cultus. Abgeschnitten durch des Grafen Eifersucht auch von dem Verkehre mit ihrem Bruder, ohne alle Nachricht von Friedrich, außer derjenigen, welche seine literarische Thätigkeit ihr brachte, suchte sie sich in seinem Geiste zu entwickeln, nach seinem Sinne zu leben.
Da er die Kunst liebte, kehrte sie wieder zu ihrer Staffelei zurück, und der sittliche Ernst, der durch Friedrich über sie gekommen war, machte sich auch in der Art ihrer jetzigen Arbeiten geltend. Hatte sie früher, nach Anleitung des Cavaliere und der modernen Italiener überhaupt, für den Effect gearbeitet und viel in die Natur hineincomponirt, so beschränkte sie sich nunmehr auf jene demüthige Nachahmung der Natur, die sich bewußt ist, mit allem liebevollen Streben ihr Vorbild doch nicht erreichen zu können. Und wie mit ihrer reinen keuschen Liebe eine neue Jungfräulichkeit in Helene erwacht war, so begann auch für ihr künstlerisches Schaffen eine neue Epoche. Die Kunst ward ihr ein Heiligthum, dem sie zu dienen hatte, die Arbeit eine erhebende Kraft. Sie verlangte nicht mehr danach, ihre Bilder ausgestellt zu sehen, sie hatte auch nicht mehr die Nothwendigkeit, sie zu verkaufen. Ihre Skizzenbücher machten es ihr leicht, viele der Gegenden Italiens zu malen, welche Friedrich vorzugsweise liebte, und unter ihren fleißigen Händen entstand auf diese Weise eine Reihenfolge von Gemälden, von seltener Schönheit und von großem Werthe, die sie einst, ohne zu wissen wann und wie, in Friedrich's Hände übergehen zu sehen hoffte.
Unbesorgt um den Eindruck, den sie in der Gesellschaft machte, bemüht, den Grafen nicht immer wieder auf's Neue durch den Anblick ihrer Schönheit zu eifersüchtiger Vergleichung mit sich selbst zu reizen, begann sie den Schmuck zu meiden. Ihre Kleidung ward einfacher und ernster, und wie ihre Theilnahme an den rauschenden Lustbarkeiten der großen Welt sich verminderte, so wuchs ihre Neigung, sich den Menschen und den Classen anzuschließen, deren Interessen und Bestrebungen Friedrich theilte. Und selbst in diesem fernen Norden fehlte es an solchen nicht.
Trotz des strengen Verbotes waren die Werke der französischen Socialisten und Dichter, die Werke von Louis Blanc und Proudhon, von George Sand und Eugen Sue in der Residenz vielfach verbreitet, und grade in der Aristokratie gab es Männer und Frauen, die sich mit begeistertem Glauben den Lehren zuneigten, welche eine neue staatliche Liebesreligion, eine neue, göttliche Menschenliebe verkündeten. Zu ihnen hielt sich die Gräfin, und die Zuversicht der einstigen Welterlösung durch die Freiheit des Gedankens, ließ sie geduldig ausharren in der Atmosphäre allgemeiner und persönlicher Knechtschaft, in der sie sich bewegte.