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Diese Schrift, 1886 von Liebknecht »im Auftrag von Hamburger Arbeitern« verfaßt, wurde als Flugschrift in Hamburg und Umgebung verteilt. 1889 gab Liebknecht sie zusammen mit drei weiteren Flugschriften als Bd. 29 der »Sozialdemokratischen Bibliothek« heraus unter dem Titel »Trutz-Eisenstirn. Erzieherisches aus Puttkamerun, Ein vierblättriges Broschürenkleeblatt nebst einem Anhang von Vetter Niemand, London 1889«. Diese Ausgabe, die sich in der Bibliothek des Museums für Geschichte der Stadt Leipzig und der Leipziger Arbeiterbewegung befindet, liegt unserer Wiedergabe zugrunde.
Deutschland im Wonnemonat des achten Jahres der Sozialistengesetzschande
Die Vertreter und Organe der Regierung werden nicht müde, die Sozialdemokratie als eine anarchistische Umsturzpartei hinzustellen und für alles, was in anderen Ländern durch sogenannte Anarchisten geschieht, solidarisch haftbar zu machen. In Deutschland selbst finden die Herren kein Wasser auf ihre Reaktionsmühle, weil dank der trefflichen Organisation unserer Partei und der Zielbewußtheit der Genossen die deutsche Arbeiterbewegung in musterhafter Ruhe sich vollzieht und mehr und mehr sich die Sympathien aller Volksklassen mit alleiniger Ausnahme derer erobert, die ein persönliches Interesse an der Fortdauer der herrschenden Mißstände in Staat und Gesellschaft haben.
Unsere Vertreter haben es im Reichstag gesagt: bloß der Sozialdemokratie verdanken wir es, daß der Anarchismus durch das Sozialistengesetz nicht großgezogen worden ist. Und das ist die unbestreitbarste Wahrheit. Der deutschen Polizei und dem deutschen Polizeiminister von Puttkamer verdanken wir es sicherlich nicht. Herr von Puttkamer hat sogar verraten, daß es ihm sehr lieb wäre, wenn der Anarchismus in Deutschland wucherte. Sagte er doch einst offen im Reichstage, die Anarchisten à la Most seien ihm lieber als die deutschen Sozialdemokraten, denn jene trügen doch wenigstens keine Maske, und die Sozialdemokraten seien nur verkappte Anarchisten. Herr von Puttkamer hat mit diesem denkwürdigen Ausspruch zweierlei kundgetan:
Erstens, daß er vom Wesen des Anarchismus sowohl als der Sozialdemokratie nicht die leiseste Ahnung hat; zweitens, daß er die friedliche Umgestaltung und Erneuerung des Staats und der Gesellschaft nicht will.
Wir wollen ihm beweisen, daß er nicht weiß, was Sozialdemokratie und Anarchie ist.
Also Anarchie und Sozialdemokratie soll im wesentlichen dasselbe sein und zwischen beiden nur ein Gradunterschied obwalten. Betrachten wir die zwei Wörter ihrem Ursprung und Inhalt nach. Beide sind fremder Abstammung – das eine (Anarchie) griechischen, das andere (Sozialdemokratie) gemischten, halb lateinischen, halb griechischen Ursprungs. Anarchie heißt: Abwesenheit einer Herrschaft, Abwesenheit einer Leitung und hat im modernen Sprachgebrauch die Bedeutung gewonnen: Abwesenheit des Staats, Negation des Staats oder im schärfsten Ausdruck: Vernichtung des Staats. Wie in der vorletzten Reichstagssession anläßlich der Belagerungszustandsdebatte In der Reichstagsdebatte zur Denkschrift über den nach § 28 des Sozialistengesetzes verhängten Kleinen Belagerungszustand in Berlin, Hamburg, Altona und Harburg prangerten die sozialdemokratischen Redner, darunter Wilhelm Liebknecht, das Polizeiregiment an und verwiesen darauf, daß das Sozialistengesetz und die willkürliche Repressivpolitik »das wesentlichste Beförderungsmittel des sogenannten Anarchismus« ist. Zugleich stellten sie das Lockspitzelsystem des preußischen Innenministers Puttkamer bloß, der durch agents provocateur anarchistische Aktivitäten gelenkt hatte. dem Polizeiminister Puttkamer vom Abgeordneten Liebknecht unter die Nase gerieben wurde – jedoch ohne belehrenden Erfolg, da jener Herr der Belehrung nicht zugänglich ist –, haben nur drei Richtungen oder Gruppen den Namen Anarchisten sich selbst beigelegt und mit Recht geführt:
Die extremen Bourgeois und Freihändler, welche die Gesellschaft in ihre Atome auflösen, den Staat abschaffen und alles dem »freien Spiel der Kräfte«, der gegenseitigen Anziehung oder Abstoßung der Atome oder Individuen, überlassen wollen. Herr Faucher – heute eine verschollene Größe, bis Anfang der sechziger Jahre aber viel genannt –, einer der deutschen Hauptwortführer dieser Richtung, erklärte die Anarchie für das Ideal der freihändlerischen Bourgeoisie. Zur Durchsetzung und vollen Entfaltung des Kapitalismus der freien Konkurrenz forderte die aufstrebende Bourgeoisie die Nichteinmischung des Staates in Gewerbe- und Handelsbelange, die Beseitigung der Ein- wie Ausfuhrzölle, der indirekten Steuern, des staatlichen Protektionismus usw. Die Freihandelsparole war Bestandteil des bürgerlichen Liberalismus, der entsprechend dem »freien Spiel der Kräfte« den Individualismus betonte. Der bürgerliche Individualismus stellte eine politisch-ideologische Wurzel des Anarchismus dar.
Ungefähr gleichzeitig wurde die Fahne der Anarchie von dem kleinbürgerlichen Sozialpolitiker Proudhon in Frankreich entfaltet. Proudhons Gesellschaftskritik richtete sich gegen das Großeigentum (»Eigentum ist Diebstahl«), die Ursache des Elends suchte er aber nicht in der Produktions-, sondern in der Zirkulationssphäre. Mittels zinsfreien Kredites, Produktion und Austauschs ohne Bank- und Handelskapital sollte auf gesetzlichem Wege eine Gesellschaft der gegenseitigen Unterstützung (mutualité) und ein anarchistischer Föderalismus erreicht werden. Proudhon, der den Begriff »Anarchismus« prägte, verwischte den tatsächlichen Klassengegensatz zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, wandte sich gegen den realen Klassenkampf, gegen proletarische Kampforganisationen und gegen die proletarische Revolution. Durch die I. Internationale konnte der Einfluß des Proudhonismus wesentlich zurückgedrängt werden. Ein in den Karbonari-Mantel des Revolutionärs gehüllter Philister, predigte Proudhon – übrigens ein genialer Querkopf – die »absolute Freiheit«, die absolute Vernichtung jeglicher Herrschaft, die absolute Staatlosigkeit.
Und auf diese Proudhonsche Anarchie propfte dann schließlich noch als dritter Evangelist und Konfusionist der Anarchie der Russe Bakunin seine politisch-soziale Weisheit, die zwar von revolutionären Phrasen ordentlich triefte, in Wirklichkeit aber ebenso unrevolutionär und unsozialistisch war wie die Proudhonsche Urweisheit. Der an den Proudhonismus anknüpfende, in sich höchst widersprüchliche Bakunismus wurde um 1870 zur Hauptströmung des Anarchismus. Mit seiner militanten Feindschaft zum Marxismus, der von den realen Bedingungen abstrahierenden putschistischen Taktik, der Negierung des politischen Kampfes und der Unterschätzung der Organisation der Arbeitermassen, der Ablehnung jeden Staates, auch der Diktatur des Proletariats, desorientierte er die Arbeiterbewegung und bedrohte die revolutionäre Einheit der internationalen Arbeiterbewegung.
Daß die Fauchersche Bourgeoisanarchie nichts Sozialistisches oder Sozialdemokratisches an sich hat, wird Herr Puttkamer wohl von selbst zu kapieren imstande sein. Daß die Proudhonsche und Bakuninsche Spielart ebensowenig mit Sozialismus und Sozialdemokratie zu tun hat, wird Herr Puttkamer vielleicht kapieren, wenn er die vor 1848 erschienene, seit kurzem ins Deutsche übersetzte Streitschrift von Marx: »La Misère de la Philosophie, Réponse à la Philosophie de la Misère« – »Das Elend der Philosophie, Antwort auf die Philosophie des Elends« von Herrn Proudhon, Vgl. MEW, Bd. 4, S. 63 ff. durchstudiert; und ferner die authentische, von Marx und Engels verfaßte Denkschrift über »die angeblichen Spaltungen in der Internationale« sowie die Broschüre von Engels: »Die Bakunisten an der Arbeit.« Vgl. MEW, Bd. 18, S. 3 ff. und 476 ff.
Nimmt Herr Puttkamer sich die Mühe, diese drei Schriften zu lesen – die wir auch jedem unserer Leser aufs wärmste empfehlen –, so wird es ihm wenigstens etwas schwerer fallen, das alberne Polizeimärchen von der Identität im Wesen der Anarchie und Sozialdemokratie dem Reichstage noch fürderhin aufzutischen.
Wir sahen soeben, was Anarchie ist.
Betrachten wir nun für einen Augenblick das Wort und den Begriff Sozialdemokratie. Es bedeutet seinem Ursprung und Inhalt nach: die Volksherrschaft im sozialistischen Staat – oder den sozialistischen Staat mit Volksherrschaft: den sozialistischen Volksstaat.
Es ist wahr, innerhalb unserer Partei ist die Ansicht zum Ausdruck gelangt, mit dem ganzen Begriff des Staats und der Herrschaft müsse gebrochen werden Liebknecht hatte – u. a. in »Wissen ist Macht« – selbst dieser Ansicht Ausdruck verliehen, die den Zugang zum Verständnis der Diktatur des Proletariats von vornherein verbaute. Er korrigierte sich hier, begründete aber die Notwendigkeit des sozialistischen Staates vor allem mit der »Regelung der Produktion« und ließ die politische Funktion des proletarischen Staates – und damit einen zentralen Punkt der Auseinandersetzung mit dem Anarchismus – außer acht. und es sei viel richtiger, von einer sozialistisch organisierten Gesellschaft zu sprechen, die wir, unter voller Gewährleistung der Freiheit des Individuums, erstrebten. Allein bei Lichte besehen ist der Streit doch nur ein Wortstreit. Ob man die sozialistisch organisierte Gesellschaft »Staat« nennen will oder nicht, ist sehr gleichgültig, und wenn bei uns von Volksherrschaft die Rede ist, wird niemals an Herrschaft in dem Sinne der Unterdrückung oder Ausbeutung gedacht, nicht an Herrschaft einiger, die als notwendige Ergänzung die Knechtschaft anderer haben muß, sondern im Sinne der Regierung durch das Volk – wobei allerdings zugegeben werden muß, daß das Wort »Volk« ein sehr dehnbarer Begriff ist, so daß seinerzeit zum Beispiel Fürst Bismarck im Reichstag von sich sagen konnte: »Auch ich bin Volk.«
Wie dem nun sein möge, das steht fest: Die Sozialdemokratie – und in bezug auf diesen Punkt herrscht die vollständigste Einstimmigkeit – erstrebt eine nationale und internationale Regelung der gesamten Produktion – eine Regelung, die ohne Zentralisation, ohne zentrale Verwaltung für die einzelnen Produktionszweige sowohl als für die Gesamtheit aller einfach nicht denkbar ist.
Und diese Zentralisation, diese einheitliche Regelung der Produktion – und wohlgemerkt: eine Regelung, die sich der Natur der Sache nach nicht auf ein einzelnes Land beschränken kann, sondern sich auf die wirtschaftlichen Gesamtverhältnisse der Welt erstrecken muß, also in der vollsten Bedeutung des Wortes sozialistische Weltwirtschaft sein wird – ist das diametrale Gegenteil dessen, was die Anarchisten aller drei Gattungen erstreben, denn alle drei Gattungen haben das miteinander gemein, daß sie das sozialdemokratische Grundprinzip der planmäßigen, zentralisierten Organisation auf das schroffste verwerfen.
»Aber Most und sein Anhang! Das sind doch Anarchisten, die im wesentlichen dasselbe Ziel verfolgen wie die Sozialdemokratie!« hören wir die »Norddeutsche Allgemeine« uns zupindtern.
»Most und sein Anhang!« Wo ist denn Most und sein Anhang? Wenn wir von den Reden des Herrn von Puttkamer absehen, der seit Jahren mit unermüdlichem, einer besseren Sache würdigen Eifer für Most und seinen Anhang offizielle Reklame macht, weil er Most und seinen Anhang als Popanz braucht, haben wir in Deutschland von Most und seinem Anhang bis dato nichts verspürt, außer dann und wann eine bald ohne, bald mit polizeilicher Erlaubnis eingeschmuggelte Sendung von Schriften, in denen auf jede Beschimpfung des herrschenden Systems hundert Beschimpfungen der deutschen Sozialdemokratie kommen und die zum Teil von notorischen Agenten der deutschen Polizei – wir erinnern an den »einäugigen Wolff« – verfaßt sind. Most, ein führender Funktionär der Sozialdemokratie, war unter dem Eindruck des Sozialistengesetzes auf anarchistische Positionen abgeglitten und bereits vom Wydener Parteikongreß 1880 aus der Partei ausgeschlossen worden. Die Angriffe auf die revolutionäre Sozialdemokratie und die terroristische Taktik, die Most in der von ihm ab 4. Januar 1879 (zunächst in London) herausgegebenen »Freiheit« propagierte, arbeiteten faktisch der preußisch-deutschen Polizei in die Hände, die mehrere Spitzel als Mitarbeiter oder gar Vertraute von Most lanciert hatte, darunter auch Wolff als Korrespondenten der »Freiheit« in Altona.
Was die Ziele des Herrn Most betrifft, so sind sie uns ebenso unbekannt wie ihm selber. Trotz der dringendsten Aufforderung hat er sich noch nicht entschlossen, auch nur den Schatten eines Programms zu entwerfen. Und er wird es auch niemals tun, aus dem einfachen Grunde, weil er keines hat.
Herr Most, dessen schwächlicher Körper und wenig kräftiger Geist die Probe des Sozialistengesetzes nicht zu bestehen vermochten, ist das Opfer des Sozialistengesetzes geworden. Ohne die schändlichen Verfolgungen, die seine körperliche und geistige Gesundheit untergruben, und ohne die Ächtung durch das infame Sozialistengesetz hätte er es vielleicht bei gereifterem Denken zu einem passablen Journalisten gebracht. Dank diesen schmachvollen Verfolgungen, dank diesem schmachvollen Proskriptionsgesetz ist er das geworden, was er ist – eine lebendige Anklage gegen die Puttkamer und Genossen; die für ihn verantwortlich sind und an deren Rockschößen er hängt. Daß dieser Unglückliche bei seinem überreizten Hirn in seiner ohnmächtigen Wut die tollsten Drohungen ausstößt und seine Ohnmacht durch blutrünstige Kraftphrasen zu verdecken sucht, ist psychologisch so natürlich, daß nur bodenlose Dummheit oder bewußte Unehrlichkeit in diesem Gepolter Berechnung oder gar ein politisches System erblicken können. Und der Anhang Mosts! Wo ist er denn? In Deutschland nicht, in der Schweiz nicht, in England nicht – sonst hätte Most das Feld dort behauptet. Und in Amerika ist er nach ephemeren kurzlebigen Schwindel- und Schwadroniererfolgen völlig isoliert und hat nicht den geringsten Einfluß auf die große Arbeiterbewegung.
Ohne den direkten und indirekten Vorschub, welchen die deutsche Polizei, insbesondere Herr von Puttkamer, dem Herrn Most geleistet hat, wäre dieser längst von der politischen Bildfläche verschwunden.
Einige Anhänger hat Most freilich – und wir kennen sie ziemlich genau; allein gerade weil wir sie ziemlich genau kennen, wissen wir auch, daß einem großen Teil dieser Anhänger Beziehungen zur deutschen Polizei nachzuweisen sind. Man lese nur die amtliche Denkschrift über das Anarchistentreiben in der Schweiz.
»Aber die Ermordung Rumpfs, der Prozeß Reinsdorf, die Ermordung Eiserts usw. Der besonders heimtückisch gegen die Arbeiterbewegung operierende Leiter der politischen Polizei in Frankfurt (Main), Rumpf, wurde im Januar 1885 umgebracht. Als angeblicher Täter wurde – trotz zweifelhafter Indizien – der Schuhmachergeselle Lieske verurteilt und hingerichtet. Der Wechselagent Eisert war mit seinen beiden Söhnen am 10. Januar 1884 einem Raubmord zum Opfer gefallen, der ein Glied in einer Kette anarchistischer Attentate bildete. – das sind doch Tatsachen, die Sie nicht ableugnen können und die auf eine weitverzweigte Organisation schließen lassen« – hören wir aus dem Munde eines Reptils ertönen.
Gemach! Nur nicht Verschiedenartiges durcheinandergemengt! Die Ermordung Rumpfs erklärt sich zur Genüge aus dessen Wirken und Vergangenheit. Dazu bedurfte es keiner Verschwörung oder sonstigen politischen Organisation. Und wenn Most hinternach Lieske, den – obendrein sehr zweifelhaften – Mörder Rumpfs, als den Seinigen beansprucht, die Tat gewissermaßen als sein eigenes Werk hingestellt hat, so war dies nur eine kindliche Renommage, von ihm verübt, um dem ob seiner Tatenlosigkeit immer mehr ihn bedrohenden Fluch des Lächerlichen zu entgehen.
Von Reinsdorf, der bis zum Niederwalddenkmal Für die Enthüllung des Niederwalddenkmals, die unter Beteiligung Wilhelms I. als chauvinistisches »Nationaldenkmal für den Krieg von 1870/71« am 28. September 1883 erfolgte, hatte der Anarchist August Reinsdorf ein Dynamitattentat vorbereitet, das jedoch infolge Regenwetters, dilettantischer Ausführung und der Mitwirkung von Polizeiagenten mißlang. Erst im Dezember 1884 fand vor dem Reichsgericht der Prozeß statt; von acht Angeklagten wurden drei zum Tode verurteilt und zwei, darunter Reinsdorf, im Februar 1885 hingerichtet. stets in polizeilicher Begleitung marschierte und nicht einen Moment, seit er den politischen Schauplatz betrat, diese polizeiliche Begleitung abschütteln konnte, haben wir hier nicht im Ernste zu reden. Sein Prozeß hat zweierlei zur klarsten Evidenz gebracht: daß die Polizei ein Attentat nötig hatte und daß Leute vom Schlag eines Reinsdorf keine Partei hinter sich haben und innerhalb des deutschen Proletariats vollkommen vereinsamt sind.
Und nun die Raubmorde!
Sie sind der beste Beweis, daß hinter den Männern, von denen sie gepredigt wurden, das Proletariat nicht steht. Das Proletariat ist revolutionär, aber es verabscheut den Meuchelmord, den Raubmord. Wer den Kardinalunterschied zwischen Krieg und Mord, zwischen Klassenkampf und Privatverbrechen nicht begreift, hat überhaupt von der revolutionären Arbeiterbewegung keinen Begriff. Bei jeder Revolution – 1789, 1830, 1848 in Frankreich, während der Märztage in Deutschland –, kurz, überall und zu allen Zeiten hat das revolutionäre Volk durch schärfstes Vorgehen gegen Räuber und Spitzbuben sich vor der Verwechslung mit gemeinen Verbrechern zu bewahren gesucht. Auf diesen Moment hat Liebknecht in seiner neun Jahre vor dem Sozialistengesetz erschienenen Broschüre »Zu Trutz und Schutz« aufmerksam gemacht, und im »Sozialdemokrat« ist es Dutzende von Malen gebührend hervorgehoben worden.
Verbrecher, wie die Mörder der Eisertschen Kinder und anderer unschuldigen und wehrlosen Menschen, gehören zu keiner politischen Partei. Eine Organisation, welche sie zu Mitgliedern zählte und mit Kenntnis ihres Charakters als Mitglieder duldete, wäre keine politische Organisation, sondern eine Räuber- und Mörderbande.
Und so denkt nicht bloß die Arbeiterschaft Deutschlands – so denkt das arbeitende Volk aller Länder; und es ist eine niederträchtige Verleumdung des Proletariats und seiner heiligen Sache, es der Gemeinschaft mit derartigen Verbrechern zu zeihen.
Damit soll indes keineswegs gesagt sein, daß jedes Verbrechen gegen die Person mit Notwendigkeit ein gemeinsames Verbrechen sein müsse. Betrachtet doch sogar das Strafgesetzbuch zum Beispiel das Duell nicht als ein gemeines Verbrechen.
Genug – wir haben gesehen, daß die Anarchie oder der Anarchismus in keiner Form irgend etwas mit der Sozialdemokratie zu tun hat. Und wir haben uns jetzt bloß noch in wenigen Worten mit einer ganz willkürlichen und unrichtigen Anwendung des Wortes zu beschäftigen. Anarchist soll ein Sozialdemokrat sein, der in der Gewalt das einzige Mittel der Rettung erblickt.
Wer unsere – ganz unanfechtbare – Definition der Worte Sozialdemokratie und Anarchie gelesen hat, weiß, daß es eine contradictio in adjecto, ein Widerspruch zwischen Haupt- und Eigenschaftswort, ein reiner Unsinn ist, von einem anarchistischen Sozialdemokraten zu reden. Ein Sozialdemokrat kann kein Anarchist, ein Anarchist kein Sozialdemokrat sein.
Die Unrichtigkeit und Sinnlosigkeit des Ausdrucks beiseite gelassen, müssen wir jedoch zugeben, daß es wirklich Sozialdemokraten gibt, welche den sogenannten »gesetzlichen Weg« für verkehrt halten und von der Gewalt das Heil erwarten.
Es bringt uns dies naturgemäß zur Frage der Taktik, welche wir nachstehend in sachlicher Ruhe und mit rückhaltloser Offenheit behandeln wollen, wobei wir selbstverständlich, um den Kern der Sache nicht zu verfehlen, in das Wesen unserer Partei eingehen müssen.
Die Sozialdemokratie ist eine politische Partei, welche, gleich allen übrigen Parteien, mit den realen Verhältnissen zu rechnen hat.
Wir wollen unseren Grundsätzen den Sieg verschaffen. Diesem Zweck haben wir alles andere unterzuordnen.
Ist der Sieg unserer Sache aber eine Frage des Willens, der frommen Wünsche, oder ist er eine Machtfrage?
Es hat sonderbare Käuze gegeben, die da meinten, wenn man die Revolution nur wolle, ernst, energisch, mit konzentrierter Willenskraft wolle, dann werde die Revolution sein.
Was für den religiösen Aberglauben Gott, das ist für diesen politischen Aberglauben der Wille.
»Gott hat die Welt aus dem Nichts geschaffen. Der Wille kann die Revolution aus dem Nichts schaffen.«
Die politische Wunderschöpfung hat vor der Polizei geradeso schlecht bestanden wie die religiöse Wunderschöpfung vor der Wissenschaft.
Man weiß, welch lächerliches Ende die »Revolution« genommen hat, welche ein paar hitzköpfige italienische Anarchisten (Bakunisten) in den siebziger Jahren mit ihrem »revolutionären« Willen und einigen im entscheidenden Momente nicht losgehenden Flinten versuchten. Nachdem sich die italienische Arbeiterbewegung unter dem Einfluß der I. Internationale Ende der sechziger Jahre von mazzinischen Positionen der Klassenzusammenarbeit gelöst hatte, erlangte der Bakunismus vorherrschenden Einfluß. Erst nach dem Bruch mit den anarchistischen Doktrinen konnte sich 1882 die Italienische Arbeiterpartei bilden.
Die »Revolution«, welche auf dem Genter Kongreß 1875 von den spanischen »Anarchisten« (Bakunisten) versprochen wurde, ist trotz des revolutionären »Willens« und den relativ günstigen Umständen ausgeblieben.
Und wo ist die Revolution, welche Hans Most seit sieben Jahren »will«?
Der »Wille« tut's halt nicht.
Die Verhältnisse müssen geeignet, die notwendigen Machtfaktoren vorhanden sein.
Womit nicht gesagt sein soll, daß der individuelle »Wille« für die revolutionären Berechnungen wertlos sei. Keineswegs. Er ist unzweifelhaft ein sehr wesentlicher Machtfaktor. Wenn man eine Armee von willenlosen Schwachköpfen in die denkbar günstigste Situation versetzt, wird sie nichts ausrichten, während eine kleine Zahl energischer Männer den Sieg an ihre Fahne heftet.
Individuum und Verhältnisse stehen im Wechselverhältnis zueinander. Wie der Mensch das Produkt der Verhältnisse, so die Verhältnisse das Produkt des Menschen. Je kräftiger die Individualität, desto größeren Einfluß wird sie auf die Gestaltung der Verhältnisse haben und umgekehrt.
Ein Pescheräh, Pescherähs sind ein auf der niedrigsten Entwicklungsstufe stehender Stamm auf dem Feuerland-Archipel. (Anm. Wilhelm Liebknecht.) den wir in die englischen Kulturverhältnisse bringen, wird durch sie nicht plötzlich – von der Rasse abgesehen – zu einem Engländer gemacht werden. Und ebensowenig wird ein Engländer – ausgerüstet mit allen Vorteilen der englischen Kultur –, wenn in die Verhältnisse der Pescherähs gebracht, sie durch seinen »Willen« auf die Höhe der englischen Kulturverhältnisse erheben können. Das eine wie das andere erheischt längere Zeit.
Es gibt freilich eine sozialistische Anschauung, welche, von der ganz richtigen Ansicht ausgehend, daß die Entwicklung der politischen und gesellschaftlichen Dinge sich nach bestimmten, durch kein Individuum zu durchbrechenden Gesetzen vollzieht, zu dem Trugschlusse springt: Das Individuum könne die Hände in den Schoß legen; auf das Individuum komme es nicht an; das, was nach den Naturgesetzen notwendig sei, werde geschehen, ob das Individuum wünsche, wolle, handle oder ob es untätig, gleichgültig zuschaue.
Diese den Mantel der Wissenschaft beanspruchende Anschauung läuft auf den Schicksalsglauben des Altertums, auf den Fatalismus der Türken und die Prädestinationslehre des Kalvinismus hinaus.
Wahr ist, daß die Naturgesetze durch den Willen des Menschen nicht abgeändert werden können und daß dies von denjenigen Gesetzen, welche die menschlichen Dinge regieren, genau ebenso gilt wie von denen, welche die Körperwelt beherrschen.
Unter den tüchtigen und edlen Cäsaren ging der Verfall des Römerreichs nicht minder stetig und schnell vor sich wie unter den unfähigen und schlechten.
Und haben wir es doch erlebt, daß nach der politischen Niederlage des deutschen Bürgertums im Jahre 1848 das Bürgertum unter der Regierung seiner Gegner tatsächlich zur Herrschaft kam, das heißt sich zur herrschenden Klasse entwickelte und dem Staat und der Gesellschaft seinen Stempel aufdrückte! Nur scheinbar, nur in der äußeren Form kann den Naturgesetzen zuwidergehandelt, kann ihre Wirksamkeit vorübergehend aufgehoben werden.
Fürst Bismarck, der Feind der großen Städte, kann zum Beispiel – ein zweiter Nero – Berlin zerstören, aber wenn er sich auf den Kopf stellt, kann er nicht verhindern, daß die modernen Arbeitsverhältnisse die Menschen und Produktionsmittel immer mehr konzentrieren.
Dieser Konzentrationsprozeß wird erst dann aufhören oder modifiziert werden, wenn die unleugbaren Nachteile, welche die Zusammenhäufung von riesigen Menschenmassen mit sich führt, durch eine vollkommenere Produktionsmethode, durch Verbesserung der Verkehrsmittel und überhaupt durch eine weiter fortgeschrittene Kultur beseitigt werden können, ohne daß wir auf die außerordentlichen Vorteile der Menschenkonzentrierung zu verzichten haben.
An einem solchen Wendepunkt sind wir, falls nicht alles trügt, jetzt bereits angelangt. Der gemeinschädliche Gegensatz zwischen Stadt und Land, welcher die menschliche Kulturgeschichte durchzieht, wird sich unter dem Druck des Bedürfnisses in eine höhere Einheit auflösen, und ermöglicht durch die Vervollkommnung der Verkehrsmittel, wird die Harmonie zwischen Stadt und Land sich dergestalt herstellen, daß die Stadt Land, das Land Stadt wird und die Vorteile der Stadt dem Land, die des Landes der Stadt zuteil werden, ohne daß diese und jenes ihrer ursprünglichen Vorteile verlustig gehen.
Dann wird das Ideal, zu dessen Verwirklichung der reaktionäre Wille des Fürsten Bismarck nicht ausreichte, durch die Revolution der ökonomischen Verhältnisse sich revolutionär verwirklichen.
Kann nun so auch das Individuum nicht gewalttätig in die ehernen Naturgesetze eingreifen, so kann es doch, im Einklang mit ihnen handelnd, den Entwicklungsprozeß wesentlich fördern, indem es einerseits positiv die Tätigkeit der organischen Funktionen anfeuert und vermehrt, anderseits Störungen verhütet und abhält.
Dem Staats- und Gesellschaftsorganismus stehen wir hier genauso gegenüber wie dem Organismus unseres Körpers.
Wer in Unkenntnis der physiologischen Naturgesetze gewaltsam in die Funktionen des menschlichen Körperorganismus eingreift, bewirkt dadurch keine organische Umgestaltung, sondern nur eine Störung, die zu Krankheit und, auf die Spitze getrieben, zum Tod führen muß.
Wer aber in richtiger Erkenntnis der physiologischen Naturgesetze den Körper diesen Gesetzen entsprechend pflegt und in die ihm entsprechenden Existenzbedingungen bringt, alle störenden Einflüsse sorgfältig fernhält, der befördert das Wachstum des Körpers und sichert ihm die Gesundheit.
Ganz so mit dem Staats- und Gesellschaftsorganismus. Nur mit dem einzigen Unterschied, daß letzterer nicht so leicht zu zerstören, allerdings auch nicht so leicht von schädlichen Einflüssen zu befreien ist wie ein Menschenkörper.
Kurz, die Einwirkung des Individuums auf den Staats- und Gesellschaftsorganismus ist vorhanden – würde doch ohne sie der Staats- und Gesellschaftsorganismus gar nicht existieren!–, und mit der Fähigkeit ist zugleich die Pflicht gegeben, in einer dem Organismus heilsamen Weise einzuwirken.
Wer indifferent in Untätigkeit verharrt, sei es aus Resignation, weil das Individuum am Gange der Dinge ja doch nichts ändern könne, sei es in dem einst modischen Schulglauben, daß jeder Versuch der Einwirkung von Übel sei, und absolutes Gehenlassen (laisser faire, laisser aller) das allein Richtige sei, der handelt, um bei dem Vergleich des Staats- und Gesellschaftsorganismus mit dem menschlichen Körper zu bleiben, um kein Haar breit vernünftiger als jemand, der seinen Körper nicht kleiden, nicht waschen wollte, mit einem Wort, ihn in viehischem »Naturzustand« verkommen ließe.
Nicht gewaltsames Eingreifen in die Wirkung der Naturgesetze!
Nicht passives Nichtstun!
Verständnisvolles Fördern des Entwicklungsprozesses in Staat und Gesellschaft!
Das ist es, was not tut.
Und damit haben wir die drei Systeme und Parteien gezeichnet, welche jetzt die politische Bühne einnehmen.
Das gewaltsam eingreifende Regiment eines Bismarck, der den Staats- und Gesellschaftsorganismus nicht als lebenden Körper, sondern als toten Kadaver betrachtet, an dem er die tollsten und schülerhaftesten Experimente – experimenta in corpore vili [Experimente am lebendigen Körper] – macht, planlos, heute von diesem, morgen von jenem immer gleich unwissenschaftlichen Gesichtspunkt ausgehend, stets nur der Laune, dem Nutzen des Augenblicks folgend, nicht an das Beste des Staats und der Gesellschaft denkend, nur an sich selbst, an die eigenen Sonderinteressen.
Das passive Nichtstun der Manchesterpartei, welche den Staat als einen sozialistischen und freiheitsfeindlichen Begriff negiert und abschaffen will, welche in der Gesellschaft nicht einen untrennbar zusammengehörigen, durch das Band der Solidarität verketteten Organismus, sondern ein zufälliges Aggregat von Atomen erblickt, die, jedes für sich und im Kampf mit den anderen, um die Existenz ringen: kurz, der in der Tier- und Pflanzenwelt wütende Kampf ums Dasein zum Grundgesetz der menschlichen Gesellschaft gemacht.
Und diesen beiden Richtungen: dem experimentierenden, gewalttätigen Despotismus auf der einen und dem barbarischen Egoismus des Individuums auf der anderen Seite, steht gegenüber das dritte System, die dritte Partei, der demokratische Sozialismus, welcher die Naturgesetze und die Rechte der Individuen achtet, die Solidarität der in der Gesellschaft vereinigten Menschen anerkennt und die höchste Entfaltung der menschlichen Gesellschaft und der Individuen in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft als obersten Staats- und Gesellschaftszweck erkennt.
Die Bedeutung der sozialdemokratischen Partei beruht darin, daß sie die organischen Entwicklungsgesetze des Staats und der Gesellschaft zum Ausgang nimmt und, unter Berücksichtigung der realen Verhältnisse, ein mit jenen Gesetzen im Einklang stehendes Ziel erstrebt und die Mängel dieser Verhältnisse durch konsequente und planvolle Förderung der günstigen und Abwehr und Fernhaltung der verderblichen Einflüsse zu beseitigen sucht.
Ohne die Erkenntnis der organischen Entwicklungsgesetze und ohne die Berücksichtigung der realen Verhältnisse würde die Sozialdemokratie zur impotent-sentimentalen Philanthropie herabsinken.
Nicht, daß wir das Wohl aller Menschen erstreben, macht uns zu Sozialdemokraten. Dieses Bestreben ist so alt wie das mitfühlende Menschenherz; wir haben es mit unzähligen mehr oder weniger werktätigen Menschen gemein, deren Anstrengungen zur Milderung oder gar Beseitigung des menschlichen Elends sich aber, weil nicht von der Erkenntnis der gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze durchdrungen, ganz ohnmächtig erwiesen haben und erweisen.
Was uns zu Sozialdemokraten macht, ist, daß wir das Elend und Unrecht auf Erden in ihrer organischen Entstehung begreifen; daß wir diese gesellschaftlichen Entwicklungskrankheiten – denn das sind sie – durch naturgemäße Förderung des Entwicklungsprozesses heilen wollen und daß wir das Ziel allgemeinen menschlichen Wohlbefindens statt in die Luft und in den Himmel der Phantasie auf den Boden der realen, wirtschaftlichen Verhältnisse stellen.
Auf diesem Boden müssen wir aber auch verharren, wollen wir anders nicht alle Vorteile unserer Parteistellung aufgeben. Der Boden der realen Verhältnisse ist das Kampffeld, auf dem wir unbesiegbar, des Sieges gewiß sind. Diesem Boden entrückt, stehen wir in der Luft, sind Utopisten oder Sektierer.
Die Benützung und Ausnützung der realen Verhältnisse, das ist die Taktik der Partei. Und da nun die gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse in den verschiedenen Ländern verschieden sind, so folgt, daß die Taktik derer, welche eine sozialistische Umgestaltung des Staats und der Gesellschaft erstreben, in den verschiedenen Ländern eine verschiedene sein muß.
Es ist deshalb durchaus unberechtigt, die Taktik, welche für ein Land gut ist, einem anderen oder gar allen Ländern als einzig richtige aufzwingen zu wollen.
Das geschieht leider sehr häufig, und dadurch ist Verwirrung in manche Köpfe gebracht worden. Dem im Denken nicht Geübten passiert es nur zu leicht, daß er das Unwesentliche mit dem Wesentlichen verwechselt, zwischen Zweck und Mittel nicht scharf unterscheidet und sich durch Worte und Phrasen bestechen und blenden läßt.
Was ist das Wesentliche für uns, für jeden Sozialdemokraten, gleichviel welcher Nation? Was ist der Zweck der sozialdemokratischen Bewegung?
Das ist die erste Frage.
Und die Antwort?
Die Abschaffung des gesellschaftlichen und des staatlichen Monopols, die Gleichberechtigung aller Menschen, die gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums bei möglichster Steigerung desselben. Die Verpflichtung des Staats und der Gesellschaft, jedem einzelnen Individuum den erreichbar höchsten Anteil an den Errungenschaften der Kultur zukommen zu lassen.
Das – von Einzelheiten abgesehen – wird dem Sinne nach die Antwort sein in Deutschland, Frankreich, England, Amerika – in allen Ländern der Erde, wo es Sozialdemokraten gibt. In bezug hierauf herrscht völlige Einstimmigkeit, Einstimmigkeit in bezug auf das Wesen, Einstimmigkeit in bezug auf das Ziel unserer Bewegung und Einstimmigkeit in bezug auf ihren revolutionären Charakter.
Ja, wir sind eine revolutionäre Partei. Das haben wir niemals geleugnet und werden wir niemals leugnen. Ein Narr, wer sich vor dem Worte Revolution fürchtet. Eine jämmerliche Philister- oder Polizeiseele, die bei dem Wort an das Strafgesetzbuch denkt.
Was heißt Revolution?
Umwälzung, genau nach Ursprung und Inhalt in der Bedeutung des deutschen Worts. Umdrehung um eine Achse, Umwälzung. Auf das politisch-soziale Gebiet übertragen heißt Revolution die Verdrängung eines Staats-, Regierungs-, Gesellschafts-, Wirtschaftssystems durch ein anderes, höheres, weiterentwickeltes Staats-, Regierungs-, Gesellschafts-, Wirtschaftssystem.
Zweierlei ist wesentlich zum Begriff der Revolution:
1. daß die Umwälzung eine umfassende, grundstürzende ist – daß alles Alte, Überlebte abgestoßen, das Unkraut mit der Wurzel ausgerissen wird;
2. daß ein höherer, besserer Zustand an die Stelle des beseitigten kommt.
Beides muß festgehalten werden.
Wenn die englische Regierung an den irischen Eigentumsverhältnissen herumpfuscht und die wirtschaftliche Stellung der Pächter verändert, ohne das irische und englische Landmonopol abzuschaffen, so ist das keine Revolution. Denn es fehlt das fundamental und organisatorisch Umgestaltende, welches zum Begriff der Revolution gehört.
Und wenn Fürst Bismarck einen König und verschiedene andere Fürsten zum Teufel jagt, 1866 annektierte Preußen Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt (Main). das Götzenbild des legitimen Gottesgnadentums mit Kanonen zerschießt und die deutsche Bundesverfassung gewaltsam zerstört, so ist das wohl ein Umsturz, aber es ist keine Revolution – denn es fehlt das Moment der organischen Weiter- und Höherentwicklung, welches zum Begriff der Revolution gehört.
Damit soll – im Vorbeigehen bemerkt – nicht gesagt sein, daß Deutschland seit dem Jahre 1866 nicht fortgeschritten sei. Es ist fortgeschritten – es hat kolossale Fortschritte gemacht; aber Fürst Bismarck ist an denselben unschuldig, sie fanden statt gegen seinen Willen, waren von ihm nicht vorausgesehen. Die Verhältnisse sind eben stärker als Fürst Bismarck, der die Reaktion will und der Revolution dienen muß,
»ein Teil der Kraft,
die stets das Böse will und stets das Gute schafft.«
Die Französische Revolution, die Revolution par excellence, sie war in der Tat eine Revolution. Sie fegte die letzten Reste des mittelalterlichen Feudalismus weg und schuf die Grundlagen der modernen bürgerlichen Gesellschaft.
Teils vor, teils gleichzeitig mit der Französischen Revolution vollzog sich – weniger geräuschvoll, weniger dramatisch, eine andere, noch gründlichere, noch – der Ausdruck sei uns gestattet – noch revolutionärere Revolution: die Einführung der Maschinenarbeit, welche die Arbeitsverhältnisse und damit die Basis des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens von Grund aus umgestaltete und dadurch eine in alle Lebensbeziehungen tief eingreifende Umwälzung bewirkte, die, weit gründlicher und umfassender als die sozialpolitische Umwälzung, genannt Französische Revolution, dieser ihre notwendige Ergänzung und Stütze gab.
Diese zwei, organisch zusammengehörenden, den gleichen Triebfedern entsprungenen und nur sich verschieden äußernden Umwälzungen sind wohl die bedeutungsvollsten Revolutionen, welche die Geschichte kennt. Sie haben gründlich umgestürzt und aufgeräumt und die Menschheit mit einem gewaltigen Ruck vorangebracht.
Nun steht zwar die Menschheit nie still und ist fortwährend im Wachsen, fortwährend wird das Alte abgestoßen und Neues angesetzt, und man hat darum gesagt: Die Menschengeschichte ist die Revolution in Permanenz. Allein in diesem weiteren Sinne, dessen Berechtigung wir ausdrücklich anerkennen, wird das Wort nicht von denen gebraucht, welche es der Reform entgegenstellen. Und mit diesen haben wir es hier zu tun. Ihnen zufolge – und ihre Berechtigung, dem Wort diesen Sinn zu verleihen, kann nicht bestritten werden –, ihnen zufolge gehört auch die Eigenschaft des Schnellwirkenden, mit elementarer Gewalt sich Bahnbrechenden zum Begriff der Revolution.
Wir akzeptieren das und weisen demgemäß von vornherein die Auslegung zurück, unsere Partei, die Sozialdemokratie, sei nur insofern eine revolutionäre Partei, als sie mit Bewußtsein einen Zustand erstrebe, der sich, den übrigen Parteien unbewußt, von selbst, durch die unaufhaltsame organische Revolution der Staats- und Gesellschaftsverhältnisse vollziehe.
Wäre dem so, dann wäre die Sozialdemokratie allerdings bloß ein etwas mitgliedreicher Klub (mit Zweigklubs) von gemütlichen Theoretikern, die, ohne sich um den Archimedischen Hebelpunkt abquälen zu müssen, quietistisch dem historischen Entwicklungsprozeß zuschauen und seelenvergnügt mit ansehen, wie die unverständige Masse der Feinde und Unverständigen – arglos wie die Ochsen, die zur Schlachtbank hintrotten – der Revolutionsmühle zueilen, die sie mit der Sicherheit des Fatums erfaßt und entweder zermalmt oder als andere Menschen, verjüngt, umgestaltet wieder ausmahlt.
Nein – die Sozialdemokratie will die Dinge nicht sich von selbst machen lassen, will nicht die theoretische Zuschauerrolle spielen: Sie will handeln, sie will den natürlichen Revolutionsprozeß durch persönliches kräftiges Eingreifen beschleunigen und regulieren. Sie ist keine harmlose Gelehrtenrepublik, kein wissenschaftlicher Verein, kein Debattierklub – sie ist eine politische Partei, eine revolutionäre Partei, eine Partei der revolutionären Aktion.
»Aha«, ruft uns hier ein beliebiger Puttkamer zu, »dann seid ihr also doch für den gewaltsamen Weg, für den unmittelbaren Kampf, für Putsche und Attentate.«
Mitnichten!
Wer sagt denn, daß der Begriff des gewaltsamen Losschlagens mit bewaffneter Hand, des Stechens, Hauens, Schießens mit Pulver oder Dynamit zur Revolution gehöre?
Hier steckt der Fundamentalirrtum.
Wesentliches mit Unwesentlichem vermengend, haben die »Anarchisten« – wir bedienen uns des Namens für die ganze Kategorie der »revolutionären« Wortfetischanbeter – ein der Revolution durchaus nicht wesentliches Moment zu einem wesentlichen, ja zum wahren, eigentlichen Wesen und Kern der Revolution gemacht.
Kein Zweifel, die meisten Revolutionen, von denen die Geschichte uns Meldung gibt, haben sich gewaltsam, unter Kampf und Blutvergießen vollzogen.
Und das ist sehr natürlich.
Die Anhänger des Alten, die teils durch die Gewohnheit, teils durch das Interesse an die bestehenden Zustände und Einrichtungen gefesselt sind, willigen nur widerstrebend in eine Abänderung derselben und widersetzen sich, wo und wann sie die Macht haben, häufig gewaltsam den verlangten und notwendigen Reformen. Und so kommen denn die »blutigen Revolutionen«; und der Begriff des »blutigen«, »gewaltsamen« Kampfes, des Mords und Totschlags hat sich in vielen Köpfen unauflöslich mit dem Begriff der Revolution verbunden, und das Wort Revolution zu einem Popanz für die Philister, zu einem Fetisch für die »anarchistischen« Wortanbeter gemacht. Wir haben vorhin zwei Beispiele von Revolutionen, gewissermaßen Musterrevolutionen angeführt. Wohlan: die eine derselben hatte allerdings im eminentesten Maße das dramatische Beiwerk des Gewaltsamen, des Kampfes, der anderen fehlt es. Und die Revolution, welche durch die Einführung der Maschinen bewirkt wird, ohne daß Blut dabei fließt – wenigstens nicht in Straßenschlachten und auf der Guillotine –, ist eine durchgreifendere, revolutionärere als die Französische Revolution mit ihrem imposanten Apparat von Bastillensturm, 5. Oktober, 10. August, Septemberjustiz usw.
Wenn aber die eine Revolution sich ohne, die andere sich mit Blutvergießen und Straßenkampf vollzieht, dann ist für jeden denkfähigen Menschen der Beweis erbracht, daß die Eigenschaft des Gewaltsamen, die Straßenschlacht nicht wesentlich zum Begriff der Revolution gehört.
Oder wollte man uns etwa einwenden, daß die Umwälzung durch die Maschinen nur eine ökonomische, nicht aber eine politische Revolution sei?
Dieser Einwand hätte wohl Sinn in dem Mund eines Mitgliedes der alten politischen Parteien, die von dem Wesen des Staates und der Gesellschaft keine Vorstellung haben und alles auf politische Formen reduzieren. Ein Sozialdemokrat, der als solcher gerade eine ökonomische Umgestaltung erstrebt, kann einen derartigen Einwand nicht machen, bei dem wir uns also nicht weiter aufhalten. Um aber den »anarchistischen« Wortfetischanbetern jegliches Schlupfloch zu verstopfen, wollen wir auch das Beispiel einer politischen Revolution anführen, die sich ohne Blutvergießen vollzogen hat.
Wir meinen die englische Reformbewegung, die Ende der zwanziger Jahre begann und durch Annahme der Reformbill von 1832 ihr Ziel erreichte. Gemeint ist die erste Parlamentsreform von 1832, durch die besitzende Schichten der Industriestädte das Wahlrecht erhielten, von dem die Masse der Bevölkerung nach wie vor ausgeschlossen blieb.
Der Staat und die Gesetzgebung waren bis dahin in England das Monopol der grundbesitzenden Aristokratie gewesen, die allerdings der Entwicklung der Bourgeoisie keine Hindernisse bereitete, immerhin aber ihre eigenen Sonderinteressen in einer der Bourgeoisie lästigen Weise vertreten hatte. Um dieses Monopol wurde in der Reformbewegung gerungen. Die Bourgeoisie wollte es nicht zerstören, sie wollte es für sich. Staats- und Regierungsgewalt standen der Aristokratie zur Verfügung. Für sich allein zu schwach, den Kampf siegreich zu führen, gewann die Bourgeoisie das Industrieproletariat für sich unter der falschen Vorspiegelung, ihm seinen Teil an der Siegesbeute zu gewähren. Je mehr die Bewegung anschwoll, desto hartnäckiger wurde der Widerstand der Staatsmonopolisten. Der »Iron-Duke« (der eiserne Herzog), der »Sieger in hundert Schlachten«, Lord Wellington, leitete den Widerstand und war entschlossen, der Bewegung um jeden Preis Herr zu werden. Der zurückgedämmte Strom schwoll nur um so mächtiger an. Niemals! beteuerte das Parlament. Niemals! beteuerte die Regierung. Niemals! beteuerte der »eiserne Herzog«. Und siehe da, eines Morgens war der Strom so angeschwollen, daß er, wurde ihm nicht ein Abfluß bereitet, nicht bloß die Deiche, sondern die schönen Adels- und sonstigen Schlösser dahinter wegschwemmen mußte. Und da waren das Parlament und die Regierung und der »eiserne Herzog« so vernünftig, ihr albernes »Niemals!« zu verschlucken – das Oberhaus würgte freilich drei Viertel Jahre daran – und durch Annahme der Reformbill den »Umsturz« der Verfassung, wie Lord Wellington es nannte, zu sanktionieren und den Sturm zu beschwören. Die Revolution hatte gesiegt. Das betrogene Proletariat ging leer aus.
Es war der Sieg des Tiers-État (des dritten Standes) – mit den durch die veränderte Zeit und die verschiedenen Zustände bedingten Modifikationen, und ein ebenso revolutionärer Sieg über den Feudalismus wie 1789 und das Nachspiel von 1830.
Und während Frankreich gewaltsam, in blutigem Kampf, die Bastille erstürmt und den Bourbonenthron zweimal zerbrochen hatte, erstritt sich England denselben Kampfpreis ohne blutigen Kampf, ohne Gewalttätigkeiten, etliche Straßentumulte abgerechnet.
Revolution hier wie dort.
Nur daß hier der blutige Kampf fehlt, weil die wohlorganisierten Massen es verstanden hatten, einen so imposanten »moralischen Druck« – einen solchen Druck von außen, pressure from without – auf die Regierung auszuüben, daß dieser die Lust verging, durch einen Appell an die ultima ratio, das letzte Überredungsmittel der Kanonen, eine Katastrophe herbeizuführen.
Was in England möglich war, warum sollte es in Deutschland nicht möglich sein? Mit einem »eisernen Kanzler« ist nicht schwerer fertig zu werden als mit dem »eisernen Herzog«.
Ob es wahrscheinlich – ob unseren Regierungen und den herrschenden Klassen so viel Verstand zuzutrauen, als 1831 und 1832 die Regierung und die herrschende Klasse in England bewies, das ist eine andere Frage, die wir nach den gemachten Erfahrungen ohne zu zögern mit Nein beantworten, mit der wir uns jedoch hier nicht zu beschäftigen haben.
Aus den gegebenen Beispielen erhellt zur Evidenz mit zwingender Logik, daß das Attribut des gewaltsamen, blutigen Kampfes nicht notwendig und organisch zur Revolution gehört.
Zum Überfluß seien die Wortfetischanbeter noch höflich gebeten, sich folgendes zu überlegen:
Wenn erst das »Gewaltsame«, der »blutige Kampf«, eine Umwälzung zu einer Revolution erhebt, dann liegt folgerichtig in dem Begriff des »Gewaltsamen« usw. das Wesen der Revolution.
Wäre dies der Fall, dann wäre also das Gewaltsame als solches eo ipso revolutionär, und wäre der Charakter einer Handlung, eines Ereignisses, einer Reihe von Handlungen und Ereignissen ein um so revolutionärer, je mehr das Moment des Gewaltsamen hervorträte. Nach dem vergossenen Blut könnte die revolutionäre Intensivität, der revolutionäre Wert gemessen werden – was für den Geschichtsforscher beiläufig eine bedeutende Erleichterung wäre.
Nun zeigte aber ein einfacher Blick auf das erste beste Handbuch der Geschichte, daß dies ein Unsinn ist und, wenn auch nicht vollständig, doch so ziemlich das Gegenteil der Wahrheit. Jedes Handbuch der Geschichte belehrt uns, daß mit dem steigenden Kulturfortschritt die Achtung vor dem Menschenleben, die Abneigung gegen Blutvergießen stetig zugenommen hat.
Weit entfernt, an sich etwas »Revolutionäres« zu sein, ist das Blutvergießen, das Drauf- und Dreinschlagen das reaktionärste, das barbarischste Geschäft von der Welt. Wenn es ein Kriterium der Bildung und Kultur gibt, so liegt es in der größeren oder geringeren Abneigung vor Blutvergießen. Bildung und Kultur stehen im umgekehrten Verhältnis zur Freude am Blutvergießen.
Wir verweisen auf Buckles »Geschichte der Zivilisation«, wo, wer wünscht, Näheres finden kann. Der fanatische Anbeter des Wortfetischs oder Fetischworts »Revolution« wird aber doch wohl kaum seinem Fetisch nicht die Unehre antun, behaupten zu wollen, die Revolution stehe im Widerspruch mit Bildung und Kultur, im Gegensatz zu Bildung und Kultur.
Das wäre eine Majestätsbeleidigung an der Revolution, dieser Geburtshelferin der Kultur.
Will man Beispiele zur reductio ad absurdum [Nachweis der Ungereimtheit]?
Attila und Timur Tamerlan haben nach ungefährer Schätzung fünf Millionen Menschen vom Leben zum Tode gebracht. Welche Revolutionäre!
Die Inquisition soll eine Million Menschen verbrannt und auf sonstigem Wege ins Jenseits befördert haben. Welch revolutionäres Institut!
Nicht? Dann muß aber auch auf die gedankenlose Plapperei von der heiligen »Gewalt« verzichtet werden. Will man weitere Beispiele?
Bismarck hat alles in allem wohl auch einem Milliönchen Menschen die janua vitae (die Pforte des Lebens) geöffnet, wie er sich fromm auszudrücken beliebte, als er im Norddeutschen Reichstag seine Köpfrede hielt. Welcher Revolutionär!
Und 1871, vom 18. März bis zur »blutigen Maiwoche«, diese Versailler, die im Kampf und nach dem Kampf an die fünfzigtausend Mann töteten. Welche Revolutionäre!
Und die Kommunarden, die in dem gleichen Zeitraum keine Zweitausend töteten!
Welche – Reaktionäre!
Merkt man den Aberwitz?
Das Totschlagen tut's nicht.
Im Totschlagen sind uns die Reaktionäre »über«. Die Attilas, die Timur Tamerlane, die Inquisition, Bismarck, die Versailler wollen wir getrost der Barbarei und der Reaktion überlassen, und hat einer dieser Blut-und-Eisen-Verehrer die Sache der Revolution gefördert oder tut es noch, wie der Hausmeier der Hohenzollern, gut, so ist er ein Revolutionär wider Willen, dessen Dienste wir uns übrigens sehr gerne gefallen lassen.
In der Gewaltsamkeit an sich liegt nicht nur nichts Revolutionäres, sondern etwas positiv, dem Inhalt und Zweck der Revolution Zuwiderlaufendes.
Warum sind wir eine revolutionäre Partei?
Weil wir geordnete menschenwürdige Zustände herstellen wollen und die Überzeugung gewonnen haben, daß dies nicht geschehen kann, ohne daß alle diejenigen staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen beseitigt werden, welche die Ausbeutung, die Unterdrückung, die Vergewaltigung der Menschen durch die Menschen ermöglichen und sanktionieren und die Menschen gegeneinander in den Kriegszustand versetzt haben. Diesem barbarischen Kriegszustand, dessen akuteste Äußerung die Menschenschlächterei, der Massenmord, genannt Krieg, ist, will die Sozialdemokratie ein Ende machen. Sie ist somit ganz eminent eine Friedenspartei.
Nicht eine Friedenspartei: die Friedenspartei. Jene Schwärmer vom ewigen Frieden, welche die Abschaffung des Kriegs und die Beibehaltung aller derjenigen Einrichtungen verlangen, die den Krieg mit Notwendigkeit herbeiführen – sind keine Partei –, die ehrlichen unter ihnen sind Wirrköpfe und die anderen Komödianten und Heuchler. Nur wer die Wurzel des Kriegs abgräbt, wirkt ernstlich für die Abschaffung des Kriegs, und von allen Parteien ist die Sozialdemokratie die einzige, welche es tut.
Weil wir nun dem Krieg den Krieg erklärt haben und prinzipielle Gegner der Gewalttätigkeit und der Vergewaltigung sind, sprechen wir darum der Gewalt alle Berechtigung ab? Mitnichten.
Der Gewalt gegenüber kann oft nur die Gewalt helfen, und wo der Fortschritt der Menschheit gewaltsam gehindert wird, wäre es ein Verbrechen an der Menschheit, wollte man, falls kein anderes Mittel bleibt und Aussicht auf Erfolg vorhanden ist, der Gewalt nicht Gewalt entgegensetzen. Ja selbst wo nicht die Aussicht auf momentanen Erfolg vorhanden ist, kann der Appell an die Gewalt Pflicht sein.
Es war die Pflicht der Pariser Arbeiter im März 1871, die Kommune zu proklamieren und die Republik zu retten; und mit einem Heldenmut, der jede Rücksicht kleinlicher Klugheit zurückwies, haben sie sich der Pflicht geopfert und – von Winkelrieds Geist beseelt – ihr Leben gegeben und dem Proletariat »eine Gasse gemacht«.
Es fällt uns auch nicht ein, die Taktik eines Mazzini zu verdammen, der freilich kein Sozialdemokrat und auch kein Revolutionär in unserem Sinne war – seine Taktik, zeitweilige Aufstände zu organisieren, obgleich die blutige Unterdrückung vorauszusehen war und von ihm vorausgesehen wurde. Er hatte die moralische Wirkung im Auge. Er wollte Italien von der österreichischen Fremdherrschaft befreien, und zu diesem Zwecke war es notwendig, daß der Haß der Italiener gegen die Tedecshi (Deutschen, das heißt Österreicher) fortwährend geschürt wurde. Der Zweck der Aufstände wurde erreicht, und kein Revolutionär, ja kein vernünftiger Mensch wird Mazzini einen Vorwurf daraus machen.
Wie wir zu Anfang entwickelten: in Fragen der Taktik, bei der Kampfführung kommt alles auf die Umstände an. Was in dem einen Lande revolutionäre Pflicht, Gebot der Klugheit ist, kann in dem anderen eine unentschuldbare Dummheit sein und Schlimmeres – ein Hochverrat an der Partei.
Von »anarchistischen« Fetischdienern ist uns die Nachahmung der russischen Nihilisten Gemeint sind Angehörige der »Narodnaja Wolja« (Volkswillen), die durch individuellen Terror das zaristische System zu erschüttern oder zu erstören suchten. empfohlen worden.
Bei diesem Ratschlag, den die Herren Fetischdiener sonderbarerweise nicht an die eigene Adresse gerichtet haben, wird nur eines vergessen: der himmelweite Unterschied zwischen den russischen und deutschen Verhältnissen.
In Rußland gibt es kein Volk. Die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung: der Bauernstand, ist politisch so gut wie tot. Trotz ihres Gemeindeeigentums und trotz ihrer Neigung, von Zeit zu Zeit einen Adligen am Feuer seines Schlosses zu rösten, sind die russischen Bauern in ihrer ungeheuren Mehrzahl bereit, auf den Befehl des »Väterchens« in Petersburg oder Moskau die heroischen Männer in Stücke zu reißen, welche ihr Leben dransetzen, ihnen die Freiheit zu erkämpfen. Ein Bürgertum existiert nur in embryonischen Anfängen, und demgemäß kann auch von einer Arbeiterklasse nicht die Rede sein. Der Teil der Bevölkerung, welcher politisches Leben hat, bildet eine winzige Minorität, bestehend aus dem Adel, den oberen Beamten und Offizieren und den relativ gebildeten bürgerlichen Elementen. Innerhalb dieser winzigen Minorität, dieser Minorität von Privilegierten – denn dem Bauern gegenüber ist der ärmste russische Student noch ein Privilegierter – tobt der furchtbare Kampf, dessen Zuschauer wir seit Jahren sind – wenn man von Zuschauern reden kann, wo das Ringen sich im Dunkel der Nacht, in der Heimlichkeit der Verschwörung vollzieht und nur dann und wann das Glitzern eines Dolches, das Aufblitzen eines Schusses, der betäubende Knall einer Bombe, ein dumpfes Todesröcheln die Tragödie hinter den Kulissen verrät.
Gäbe es in Rußland ein Volk, so würde es auf der einen oder anderen Seite an dem Kampf teilnehmen, und schon kraft seiner Menge kämpft das Volk öffentlich.
Das Volk fehlt, und das zwingt die Feinde des herrschenden Systems zur Verschwörung.
Und das persönliche Regiment zwingt sie zum Kampf gegen die Person.
Nirgends ist und war das persönliche Regiment so zugespitzt wie in Rußland.
Der Kaiser hat seine Macht unmittelbar von Gott; er ist niemandem verantwortlich, seine Macht ist unbeschränkt. Sein Wink ist Befehl, sein Wort ein Todesurteil, die Verbannung, lebenjährige Kettenarbeit in den Bergwerken. Eine Viertelmillion Polen hat der »milde« Alexander ohne Urteil nach Sibirien oder in die Bergwerke des Ural geschickt, wo die meisten verkommen sind.
Und in den letzten zehn Jahren hat er fünfzigtausend seiner russischen Untertanen lebendig begraben, weil sie verdächtig waren, für sich und ihr Volk nur annähernd ähnliche politische Verhältnisse zu fordern, wie sie selbst in Deutschland als selbstverständlich gelten.
Und der Zar ist der Stellvertreter Gottes auf Erden, er ist Papst und Kaiser und als Stellvertreter Gottes allmächtig und allwissend.
Nichts geschieht in dem weiten Reich, außer in seinem Namen. Der diebische Beamte, der den Bauern bestiehlt, er bestiehlt ihn im Namen und Auftrag des Kaisers, und der schurkische Polizist, der an einem Privatfeind seine Rache kühlen will, er läßt ihn aus dem Bette holen, knebeln und in einem Schlitten nach Sibirien fahren – im Namen und Auftrag des Kaisers.
Jede Spitzbüberei, jede Brutalität, welche das durch und durch korrupte Beamtentum verübt, sie wird verübt im Namen und im Auftrage des Kaisers.
Allmächtig, allwissend und – unverantwortlich. »Aber das paßt nicht zusammen«, sagt der Nihilist. »Ist der Kaiser allmächtig und allwissend, so ist er auch verantwortlich für alles, was in seinem Reiche geschieht!« Das ist eine unwiderlegliche Logik.
Die Unverantwortlichkeit leidet an der Allmacht und Allwissenheit Schiffbruch.
Durch ihre Übertreibung schlägt die gottgleiche Unverantwortlichkeit in ihr Gegenteil um. Die politische Unverantwortlichkeit des Zaren wird zur persönlichen Verantwortlichkeit. Mit seiner Person ist der unverantwortliche Zar für alles verantwortlich, was in Rußland an dem Volke gesündigt wird.
Und die tödliche Logik des Nihilismus hat dafür gesorgt, daß diese persönliche Verantwortlichkeit kein leerer Schall ist wie die offizielle Unverantwortlichkeit.
Tritt die Logik des Nihilismus schon bei Betrachtung der gegenwärtigen Zustände Rußlands zutage, so zeigt ein Blick auf die Geschichte Rußlands, daß der Nihilismus, wenn auch mit neuem Inhalt und neuen Zielen, doch nur das natürliche Produkt und die kontinuierliche Fortentwicklung russischer Zustände ist.
Man darf Rußland nicht mit den europäischen Kulturstaaten vergleichen. Rußland ist ein halbbarbarisches Land mit einem dünnen Firnis von europäischer Kultur. Man hat vielfach eine Parallele gezogen zwischen dem Rußland von heute und dem Frankreich am Vorabend von 1789. Nichts kann unzutreffender sein. In Frankreich war damals das Bürgertum bereits materiell zur Blüte und geistig zur vollen Reife gelangt: Mit seiner Literatur und seinen Ideen beherrschte es die Gesellschaft – beherrschte es selbst die herrschenden Klassen, und nicht bloß Frankreichs; und wirtschaftlich war das Bürgertum schon so weit, daß es die Zunftschranken gesprengt hatte. Es fehlte ihm nichts als die politische Herrschaft, und diese errang es sich in der Revolution, die nichts Neues schuf, sondern dem schon Vorhandenen nur seinen richtigen Ausdruck gab. Die Französische Revolution verlief freilich nicht so glatt, wie ein doktrinärer Bourgeois sie sich vorgezeichnet hätte. Der Tiers-État enthielt eben außer dem Bürgertum auch die Arbeiterelemente mit weitergesteckten, obgleich noch verschleierten Zielen, und innerhalb der verschiedenen Bestandteile des Tiers-États kam es zu Auseinandersetzungen, welche sich nicht im Rahmen parlamentarischer Diskussion bewegten. Es war ein Volk da. Und aus der Initiative des Volks gingen die »großen Tage« – les grandes journées –, die Haupt- und Staatsaktionen der Revolution hervor. Die »Führer« – das wiederholt sich mit einer wahrhaft bewundernswürdigen Regelmäßigkeit – glänzen an diesen Tagen entweder durch ihre Abwesenheit oder durch ihre Passivität. Das Volk ist es, das alles macht – das die Kommune, die Nationalversammlung, den Konvent leitet.
Und in Rußland gibt es kein Volk.
Wenn wir Parallelen ziehen wollen, müssen wir in das Mittelalter zurückgreifen, zum Beispiel in die Zeit, welche Shakespeare in seinem »Richard III.« schildert. Aus dieser Tragödie weht uns – mutatis mutandis – der echt zarisch-russische Geist entgegen, dem als sittliche Reaktion, als wildzorniger Protest der geschändeten Menschheit, der Nihilismus entspringen mußte. Der Besitz der Macht ist das um jeden Preis, mit jedem Mittel zu erstrebende Ziel. Der Ehrgeiz kennt kein Hindernis der Ethik, der Menschlichkeit. Durch offne Gewalt, durch List, durch Meuchelmord wird aus dem Weg geschafft, wer und was im Weg steht. Man lese die Geschichte Rußlands in den letzten zweihundert Jahren, und wir finden den Geist Richards III. auf dem Thron. Wüste Günstlingsherrschaft und Gift, Dolch, Säbelkoppeln und andere Mordmittel in ununterbrochener Regierungsarbeit. Kein Monarch stirbt eines natürlichen Todes – stirbt er nicht durch die Hand der Frau, des Sohns, eines Verwandten, so wird er durch adelige Verschwörer aus dem Weg geschafft, die ein gefügigeres Werkzeug brauchen. Die einzige Ausnahme ist der »große« Zar Nikolaus, der zur Abwechslung sich selbst umbrachte – wenigstens ist nicht wahrscheinlich, daß das Gift, an dem er starb, ihm von fremder Hand beigebracht wurde.
Das russische Volk – soweit von einem Volke die Rede sein kann – ist an diese kaiserlichen Todesarten gewöhnt, und die herrschende Klasse betrachtet sie als einen Teil der russischen Verfassung. »Despotismus, gemildert durch Meuchelmord! (Le despotisme moderé par l'assassinat), das ist unsere Verfassung!« belehrte zu Anfang dieses Jahrhunderts einer der Mörder Pauls I. den deutschen Gesandten Münster in Petersburg, der sich die Örtlichkeit der Erdroßlung des unglücklichen Monarchen zeigen ließ.
Der Stand der Zivilisation, wie vorhin schon bemerkt, läßt sich nach der Achtung vor dem Menschenleben messen. Im Rußland der Zaren hat das Menschenleben keinen Wert. Während des letzten Türkenkrieges Gemeint ist der Russisch-Türkische Krieg 1877/78, der u.a. zur Befreiung Bulgariens von türkischer Herrschaft führte. waren die deutschen Offiziere oft geradezu starr über die Rücksichtslosigkeit, mit der das Leben der Soldaten geopfert wurde. Und die deutschen Offiziere können in diesem Punkte doch etwas vertragen. An jenem denkwürdigen Tage, wo Zar Alexander, das »milde Väterchen«, ein zweiter Xerxes, von einer eigens errichteten Estrade den Sturm auf Plewna Am 11. und 12. September 1877 suchten russische Truppen in mehreren Sturmangriffen vergeblich, Plewna zu erobern. Die von den Türken verteidigte Stadt fiel erst nach mehrmonatiger Belagerung am 10. Dezember 1877. betrachtete, wurden dreißigtausend russische Soldaten getötet oder verwundet – und völlig zwecklos, denn die Position war im Sturm nicht zu nehmen. Doch das »milde Väterchen« wollte ein Schauspiel haben und, nicht zufrieden mit dem Hochgenuß römischer Cäsaren, die es für das non plus ultra kaiserlicher Lust hielten, wenn sie im Zirkus ein paar Dutzend oder auch ein paar Hundert Gladiatoren getötet sahen, wollte er sich am Sterben etlicher Tausender seiner treuen Soldaten und Sklaven ergötzen.
Und die Soldaten und Sklaven starben und ließen sich verstümmeln – was war ihnen das Leben? Ave Caesar morituri te salutant! Wir grüßen dich, Cäsar, wir, die in den Tod gehen! Keiner von ihnen dachte, daß es ein Frevel war, sie auf die Schlachtbank zu schicken.
Welchen Wert hatte das Leben für sie? Welchen Wert hat das Leben eines Sklaven?
Die englischen Soldaten machten schon im Krimkriege die Bemerkung, daß den russischen Soldaten das Leben so ganz gleichgültig sei.
In der Schlacht bei Inkermann Schlacht im Krimkrieg (1853–1856) am 5. November 1854. wurden bekanntlich achttausend Russen getötet, und zwar von achttausend Engländern, so daß jeder englische Soldat durchschnittlich einen Russen tötete. Wäre es nicht durch unwidersprechliches Zeugnis festgestellt, so würde die Tatsache nicht zu glauben sein. Warum liefen die Russen nicht weg, als sie merkten, daß die »dünne rote Linie« (der englischen Rotröcke) nicht zu durchbrechen war? Die Offiziere trieben sie von hinten mit Kantschus auf die Bajonette der Engländer, und die armseligen Sklaven ließen sich abstechen, fast ohne sich zu wehren. »Es war, als ob es ihnen Spaß machte«, schrieb damals ein englischer Soldat.
Als ob es ihnen Spaß machte? Warum soll es ihnen nicht wirklich Spaß gemacht haben? War der Tod ihnen nicht die Erlösung von einem Leben des Elends, der Erniedrigung, der Knechtschaft?
Deutsche, französische, englische Soldaten hätten sich nimmermehr in dieser Weise wie Hammel abschlachten lassen. Für den zivilisierten Menschen hat eben das Leben Wert, und für den unzivilisierten hat es keinen. Dem Sklaven ist das Leben wertlos, und wem das eigene Leben wertlos ist, für den hat folgerichtig auch das Leben des Mitmenschen keinen Wert.
Kurz: Nichtachtung des Menschenlebens im Zarenpalast und in den Schlössern des Adels; Nichtachtung des Menschenlebens in den Häusern und Hütten des gewöhnlichen Volkes.
Und da will man an russische Verhältnisse den deutschen und an deutsche den russischen Maßstab anlegen? Abgeschmackt!
Nur aus solchem Boden konnte der Nihilismus hervorgehen. Und aus solchem Boden mußte er hervorgehen. Der Glaube an nichts. Furcht vor nichts.
Waren bisher die russischen Zaren von kaiserlichen oder doch sehr hocharistokratischen Händen gestorben, so ist jetzt einer von plebejischen Händen gestorben. Von plebejischen? Selbst dieser Unterschied steht noch nicht einmal fest.
Was für Hände es gewesen sein mögen – die Methode war dieselbe wie traditionell seit Jahrhunderten. Nur der Zeit und den Umständen angepaßt. Statt Gift, statt einer Säbelkoppel – eine Dynamitbombe. Alexander II. wurde am 1. (13.) März 1881 durch ein Bombenattentat von Angehörigen der »Narodnaj wolja« (Volkswille) getötet. Voilà tout (Das ist alles)! Ein wesentlicher Unterschied ist das nicht, bloß ein Unterschied in der Form. Die kaiserlichen und aristokratischen Mörder von früher haben ihren modernen Nachfolgern in bezug auf die Tatsache der Tötung keinen Vorwurf zu machen. Der arme Paul, an dem fast eine Stunde lang gewürgt wurde – während der hoffnungsvolle Herr Sohn, der künftige Vater der Heiligen Allianz und fromme Verehrer der Krüdener im Nebenzimmer auf den letzten Atemzug harrte, der ihm die Zarenkrone ankündigte –, der arme Paul, der am 23. März 1801 mit seinen adligen Mördern in furchtbarer Todesangst fast eine Stunde lang rang, ehe ihm mit seiner Säbelkoppel die Gurgel erfolgreich zugeschnürt war – er hat tausendmal mehr gelitten als sein Enkel am 13. März 1881.
Die Taktik der Nihilisten ist also das Produkt der russischen Verhältnisse, gerade wie die nihilistische Bewegung selbst. Sie ist historisch die Fortsetzung jahrhundertlanger Praxis, politisch durch den persönlichen Absolutismus und den niederen Bildungsgrad des russischen Volkes geboten.
Gäbe es in Rußland ein politisch entwickeltes Volk, so würde dieses den Kampf in der Weise anderer Völker führen. In Ermangelung eines Volkes hat der politische Reformgedanke kein anderes Mittel, sich zu offenbaren, als den Revolver und die Dynamitbombe.
Der Reformgedanke.
Nicht Revolutionsgedanken – in unserem Sinne.
Was fordert das bedingte Todesurteil, welches im Februar verkündet und am 13. März vollstreckt ward? Eine Verfassung!
Gewährte der Zar eine Verfassung, so sollte sein Leben geschont und ihm Amnestie erteilt werden.
Was haben die Nihilisten in ihrem Manifest nach dem 13. März gefordert?
Eine Verfassung!
Unsere »anarchistischen« Wortfetischanbeter werden aber sicherlich nicht behaupten, daß das Verlangen nach einer Verfassung »revolutionär« sei.
In Deutschland gewiß nicht. In Rußland dagegen bedeutet eine Verfassung allerdings eine Revolution.
Die Revolution – das mögen die Herren »Anarchisten« sich merken –, die Revolution ist kein absoluter Begriff. Absolute Begriffe gibt's überhaupt nicht; sie gehören der wissenschaftlichen Mythologie an.
Dynamitbomben, um eine Konstitution zu erringen!
Man wird nicht leugnen, daß die »revolutionäre« Gewaltsamkeit des Mittels zu dem relativ harmlosen Ziel in grellem Kontrast steht.
Der Grund dieses Kontrastes ist leicht zu erkennen. Er liegt in der Schwäche der handelnden Parteien. Hätten die Männer, welche in Rußland eine Verfassung erstreben, eine mächtige Partei, ein Volk hinter sich, hätten sie eine Presse, hätten sie den Hebel des Vereins- und Versammlungsrechts, so würden sie unfehlbar andere Mittel erwählt haben.
So sind ihnen keine anderen Mittel geblieben als der Kampf von Person zu Person: die Zerstörung des Systems durch Vernichtung seines Trägers.
Die jüngsten Vorkommnisse in den Vereinigten Staaten sind der beste Beleg für die Richtigkeit der von der deutschen Sozialdemokratie befolgten Taktik. Der Handvoll von »Anarchisten « – mehr als eine Handvoll waren sie nicht –, die in Chicago Liebknecht meint offenbar die Bombenexplosion, der am 4. Mai 1886 während einer Massenkundgebung für den Achtstundentag vier Arbeiter und sieben Polizisten zum Opfer fielen. Diese Provokation, die höchstwahrscheinlich von der Polizei selbst ausging, wurde anarcho-syndikalistischen Führern der Chicagoer Arbeiterbewegung zur Last gelegt. Am 11. November 1887 wurden Georg Egel, Adolf Fischer, Albert R. Parsons und August Spieß unschuldig hingerichtet. Ohne ihre Taktik zu billigen, solidarisierte sich die internationale Arbeiterbewegung mit den Opfern der amerikanischen Klassenjustiz. eine Revolution machen wollten, hat es sicherlich nicht am »Willen« gefehlt und – nach allen Berichten – auch nicht an Mut; und was haben sie ausgerichtet? Nicht einmal zu einem ordentlichen Putsch konnten sie es bringen; die gewöhnliche Polizei reichte zur Niederwerfung der »Revolution« aus. Und das praktische Resultat? Ein Dutzend Menschen umsonst getötet, ein paar Dutzend umsonst verwundet und der Bewegung zugunsten des achtstündigen Normalarbeitstages ein schwerer Schade getan, so daß die Aussichten auf einen allgemeinen Sieg ganz geschwunden sind. Von dem gerichtlichen Nachspiel gar nicht zu reden, das weder eine Farce noch eine Komödie sein wird. Die Amerikaner verstehen in solchen Sachen keinen Spaß. Vor Worten fürchten sie sich nicht, und Worte bestrafen sie nicht. Werden aber die Worte in Taten umgesetzt und sind diese Taten ein Verstoß gegen das Gesetz, dann wird auch ernsthaft zugegriffen. Politische Verbrechen kennen sie nicht. Aber wenn ein Mensch, gleichviel ob Arbeiter, Bürger, Polizist oder Präsident der Vereinigten Staaten, getötet wird, so ist es, je nach Umständen, Mord oder Totschlag und wird nach den einschlägigen Gesetzesparagraphen bestraft.
Die »Anarchisten« von Chicago haben gelernt und gelehrt, daß, wer gegen die herrschenden Klassen mit mechanischer, physischer Gewalt vorgeht, ein verlorenes Spiel spielt, weil die mechanischen, physischen Gewaltmittel sich fast ausschließlich in dem Besitz der herrschenden Klassen befinden.
Zum Glück gibt's eine stärkere Gewalt als die rein physische und mechanische. Fürst Bismarck, der so recht eigentlich ein »anarchistischer« Gewaltmann ist, hat das zu seinem Schaden in dem Kulturkampf empfunden, wo er sich eine jämmerliche Niederlage holte. Echt »anarchistisch«, glaubte er an die Allmacht der rohen Gewalt, und siehe da, seine Allmacht war die reine Ohnmacht im Kampf mit der Kirche, die, aller mechanischen Machtmittel bar, ihre Stärke in moralischen Faktoren hat.
Ideen, selbst falsche, lassen sich nicht mechanisch vernichten. Und siegte die katholische Kirche im Kampfe mit der brutalen Gewalt, wie kann der Sieg der Sozialdemokratie zweifelhaft sein, die statt an den Aberglauben an das Wissen, statt an den Fanatismus an den zielbewußten Willen sich wendet und aus den mächtig für sie arbeitenden Verhältnissen eine unversiegbare, von Tag zu Tag wachsende Kraft einsaugt?
Unsere Taktik hat sich bisher trefflich bewährt. Das Sozialistengesetz, indem es die Feiglinge und Schwätzer aus unseren Reihen vertrieb oder in den Hintergrund scheuchte, hat sich als eine vorzügliche Schule für uns erwiesen. Die Unwissenheit, Roheit und Unehrlichkeit unserer Gegner tun das übrige und arbeiten uns durch verkehrte, brutale, räuberische Maßregeln und Handlungen systematisch in die Hände.
Und während unsere Feinde so eifrig an ihrem eigenen Grab graben, sollten wir ihnen durch Attentate oder Putsche à la Chicago noch eine Galgenfrist gewähren? So dumm sind wir nicht, Herr von Puttkamer.
Für die Attentate und Putsche lassen Sie Ihren Mahlow-Ihring sorgen.
Wir – die kämpfende, siegende Sozialdemokratie – werden dafür sorgen, daß Sie, Herr von Puttkamer, samt Ihrem Mahlow-Ihring und Ihren sonstigen Spießgesellen, mit all Ihren Krautjunkerpfiffen und Polizeikniffen verdientermaßen zuschanden werden!