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Je näher der Schnellzug der Hauptstadt Württembergs kam, desto unruhiger wurde ich. Weite fruchtbare Ebenen, Weinberge, kleine Städte mit freundlichen Häusern und ehrwürdigen Kirchtürmen, alte Schlösser auf Bergeshöhen glitten an mir vorüber, ohne daß ich ihnen auch nur einen Gedanken gewidmet hätte. Nicht einmal die zwei wandernden Juden, die in Würzburg in mein Abteil gestiegen waren, konnten mir mit ihren Patriarchenbärten und ihrer sonstigen alttestamentlichen Ausstattung das kleinste Interesse abgewinnen, ja selbst mein Gegenüber, eine hübsche junge Dame ohne das Sklavenzeichen am Ringfinger, war nicht imstande, mir auch nur die bescheidenste liebenswürdige Bemerkung zu entlocken. In meiner Tasche steckte unberührt die Berliner Morgenzeitung mitsamt dem berüchtigten Buch »Das gefährliche Alter«, und ich, der sonst die Gewohnheit hat, mit der Lokomotive um die Wette zu qualmen, ertappte mich einmal ums andre darauf, daß ich an der ausgegangenen Zigarre zog. Alle meine Gedanken drehten sich um einen Punkt, um das Wiedersehen, dem ich entgegenreiste, das Wiedersehen mit den Kameraden von den fernen, glücklichen Jagdgefilden Moghrebs. Dreizehn Jahre waren verflossen, ohne daß wir uns gesehen oder voneinander gehört hatten. Wir waren auseinander gegangen, jeder war nach seiner Heimat in sein Vaterland gezogen: aber ehe wir uns trennten, hatten wir einander hoch und teuer gelobt, uns, falls wir noch am Leben wären, am 20. Mai 1911 wieder zu sehen, und Stuttgart, die Hauptstadt Württembergs, war als Ort der Zusammenkunft erwählt worden. Diese Stadt lag nicht allein für uns alle recht bequem in der Mitte, sondern der Waldhornbläser Niam-Niam, unser Rechnungsführer, war da geboren.

»Ich werde euch zusammenblasen,« hatte er höchst feierlich erklärt, »mit einer Posaune, um die ich Meister Ephraim bemogelt habe, ja, ich werde euch von aller Welt Enden zusammenblasen, verlaßt euch darauf! Derselbe Heimdal, der ich bis auf den heutigen Tag für euch gewesen bin, werde ich auch künftig sein. Und ihr werdet mein Horn hören, wo immer eure Zelte stehen mögen, ihr werdet herbeieilen von Osten und Westen, und wir werden den königlichen Most trinken und uns der alten Tage erinnern!«

War es da ein Wunder, daß Unruhe und Spannung mich ergriffen hatten? Dreizehn Jahre sind eine lange Zeit. Manches kühne Schloß kann in einem solchen Zeitraum errichtet, manches dem Erdboden gleichgemacht werden. Viele Augen öffnen und schließen sich in dreizehn Jahren. Dreizehn Jahre! Wie viele von den Kameraden mochten noch am Leben sein, und wie viele würden sich zu dem Stelldichein einfinden? Wie würden sie jetzt aussehen, und was mochte die lange Zeit wohl aus ihnen gemacht haben? Waren sie mitgenommen und mürbe geworden, oder waren sie noch so aufrecht wie damals, und sahen sie noch mit denselben klaren, kecken Augen in die Welt hinein, wie in jenen Tagen, wo wir miteinander über die schimmernden Ebenen weit drunten im Süden hinzogen? Na – ganz spurlos war die Zeit über ihre sündigen Häupter wohl nicht hingegangen. Silberfäden wird sie in ihre Mähnen gewoben und da und dort eine neue Furche in ihre Gesichter gegraben haben. Vielleicht hatte sich auch das Leibesprofil des einen oder andern etwas kräftiger entwickelt – bei diesem Gedanken warf ich auf meine eigene kleine Rundung einen bedenklichen Blick – na meinetwegen, die wichtigste Frage war ja doch, ob sie sich ihren guten Humor und ihre Lebenslust bewahrt hatten. Sollte ihnen diese Himmelsgabe flöten gegangen sein, dann wäre es wahrlich besser, wenn wir nie mehr zusammenkämen. O weh, wie vieles habe ich in dieser Beziehung schon erlebt! Jugendfreunde, frische, fröhliche Gefährten, denen jede Stunde des Lebens ein Fest gewesen war, hatte ich als gebeugte, langweilige Gesellen mit trüben Blicken und eingetrockneten Seelen wieder getroffen: kühne, stolze Burschen, die hinauszogen, die Welt zu erobern, hatte ich zurückkehren sehen, so griesgrämig, so entmutigt, daß sie nicht wieder zu erkennen waren. Ach ja, die Zeit ist ein harter Meister für viele, sie versteht wirklich keinen Spaß!

Ich stand auf und machte einen Gang durch den langen Harmonikawagen. In einem Abteil lag ein dicker Mann auf dem Rücken und schlief. Dichtes, kohlschwarzes Haar hing ihm in die Stirn herein, und sein Gesicht verschwand fast ganz in einem struppigen Vollbart. Sein Anzug war von der Reise zerknüllt und mit Staub bedeckt, kurz der ganze Mensch sah wenig vertrauenerweckend aus. Während ich an ihm vorüberging, öffnete er die Augen halb und den Mund ganz zu einem gewaltigen Gähnen. Hu, da erkannte ich den Mann! Einen so quer stehenden, förmlich übers Kreuz gewachsenen Überzahn hatte auf der ganzen Welt nur mein alter Freund Pokoff, der russische Doktor, einer der Steppenvögel – wir nannten ihn den Kreuzschnabel – er, der immer vom Pech verfolgt wurde, aber immer mit unverwüstlichem Galgenhumor mitten durchs Unglück hindurchgewatet war. Himmel noch einmal, der reinste Buschneger war aus ihm geworden!

Schon schloß er seine müden Augen wieder, aber da konnte ich nicht mehr an mich halten, und ich pfiff das Signal, Niam-Niams altes Signal.

Wie von der Tarantel gestochen, fuhr Pokoff in die Höhe und stierte mich an. Plötzlich überlief seine Züge ein Schimmer des Wiedererkennens.

»Das gehört zum Merkwürdigsten, was ich je erlebt habe,« murmelte er. »Da liege ich hier auf dem Schragen und träume eben, du kämst zu mir, und da – ach, wie wundervoll, daß wir uns wiedersehen!«

Nachdem wir den ersten Platzregen von gegenseitigen Fragen und Antworten ausgehalten hatten, gingen wir in den Speisewagen und bestellten uns ein Glas Bier.

»Nun sag einmal, wie findest du mich?« fragte Pokoff.

»Wie einen von Gestrüpp überwachsenen Garten.«

Er wurde ernst.

»Siehst du,« sagte er, indem er seine mächtige Mähne zurückwarf, »da droben muß ich so aussehen. Gerade so wollen sie mich haben, die Idioten. Wenn mein ganzer Kopf nicht so voller Haare wäre, würde ich ihnen nicht vertrauenerweckend und prophetenhaft genug erscheinen. Du mußt nämlich wissen, daß ich ein großer Doktor in Tobolsk bin, verflucht weit weg, ganz hinten in Sibirien. Da darf man nicht frisch rasiert wie ein Lakai, oder glatt wie frisch gegerbtes Leder auftreten. Übrigens hab' ich im Sinn, den Wald jetzt, wo wir allmählich in zivilisiertere Gegenden kommen, etwas scheren zu lassen, er ist auf der Reise ohnehin stark zerzaust worden. Ich bin von Tobolsk an ohne Unterbrechung Tag und Nacht gereist, um zur rechten Zeit einzutreffen.«

»Und dein Haar ist wirklich noch ebenso schwarz und dicht wie früher,« sagte ich bewundernd.

»Ich färbe es, Väterchen – völlig waschecht, eigene Erfindung. Feodora hat es befohlen.«

»Wer ist Feodora?«

»Feodora ist meine Frau, die Tochter eines Popen aus dem Nachbarbezirk. Eine großartige Dame, dabei fromm wie eine Nonne. Jedes Jahr schenkt sie mir ein Kleines – gelegentlich auch zwei – jetzt sind es vierzehn wohlgewachsene Kinder.«

»Das ist ja ungeheuerlich, aber Gott behüte mich vor so einem Haushalt! Übrigens mußt du gute Geschäfte machen, wenn du dir so etwas leisten kannst.«

Pokoff sah mich mit seinen braunen Kinderaugen an, und ich glaubte in seinem Blick etwas Fremdes, Scheues zu bemerken.

»Ich muß bei dem Tempo bleiben,« sagte er mit einem leichten Seufzer; »die drei Tage, während der Feodora im Kindbett liegt, sind meine einzige Freizeit im ganzen Jahr.«

»Aber Pokoff!«

»Ja – sie ist tatsächlich so närrisch verliebt in mich,« sagte er zögernd mit gesenktem Blick; »aber vielleicht ist es so am besten.«

»Und jetzt hast du also deine sich pünktlich wiederholenden Ferientage?«

»Ja, das kannst du dir doch denken.«

»Nun, dann gratuliere ich, Pokoff.«

»O ich danke, aber es wird noch einen kleinen Randal absetzen, wenn ich zurückkomme, denn diesmal hab' ich an drei bis vier Wochen Ferien gedacht. Ich mußte mich doch jetzt auf den Weg machen; weißt du, das war ein heiliges Gelübde, und ich bin ein ehrlicher Kerl. Da hab' ich denn einen Einbruch verübt, hab' mir zweitausend Rubel genommen und bin durchgebrannt.«

»Du faselst – Einbruch, durchgebrannt?«

»Ja natürlich, Einbruch. Woher hätte ich sonst das Geld bekommen sollen? Feodora hat nämlich das ganze Kassenwesen unter sich, und jeder rote Heller, den ich verdiene, wandert in einen Geldschrank, der auf dem Fußboden festgeschraubt ist. Das ist doch sehr pfiffig eingerichtet, ebenfalls ihre Erfindung.«

»Na, da hast du also den Einbruch an deinem eigenen Geldschrank bewerkstelligt?« sagte ich erleichtert.

»Jawohl, es ging nicht anders, übrigens hab' ich eine Quittung hineingelegt. Anfangs wird sie wohl wütend sein und mächtig Lärm schlagen; aber ich werde ihr einen zärtlichen Brief schreiben, der ein beruhigendes Pulver für sie enthält. Dann wird sie mit Gottes Hilfe darüber hinwegkommen. Aber jetzt laß uns von etwas anderm reden,« unterbrach er sich. »Hast du in der ganzen Zeit einmal etwas von den Kameraden gehört?«

»Keine Silbe.«

»Ich auch nicht, und das ist gerade das Spannende. Wir werden dann um so mehr erfahren. Herrgott, die alten Burschen! Ich bin begierig, wie viele von ihnen noch am Leben sind. Nun, wir werden es ja bald erfahren.«

Eben fuhren wir an Ludwigsburg vorbei.

Pokoff saß in Gedanken versunken schweigend da und starrte zum Fenster hinaus.

»Lieber Freund,« sagte er endlich mit einem durchdringenden Blick auf mich, »ich muß dich notwendig noch über eine Sache aufklären. Kannst du dich noch erinnern, daß in dem Städtchen mit den schönen Silberpappeln einmal die Saiten deiner Mandoline glatt durchschnitten waren?«

»Jawohl, es war ein merkwürdiger Zufall.«

Pokoff nahm meine Hand zwischen seine beiden und sah mich flehend an.

»Du – ich – ich hab' diesen Zufall herbeigeführt, und jetzt möchte ich dich herzlich um Verzeihung dafür bitten. Aber ich hatte eine grenzenlose Wut auf dein Instrument, wenn du bei Sonnenuntergang vor der kleinen Aischa auf den Saiten klimpertest. Ich merkte wohl, wie sie auf dem besten Wege war, sich in dich zu vergaffen, und zwar nur wegen deines Instruments. Das machte mich rasend, denn ich war ja selbst in sie verliebt. Es war zu ärgerlich für mich, als ich merkte, wie ich mit jedem Tage an Boden bei ihr verlor, obgleich ich auf meiner Schalmei so schmelzend und zärtlich blies, daß selbst die Toten darüber hätten gerührt werden können. Aber wenn du dann kamst und dein Lied anstimmtest, so schrie sie mir wütend zu, ich solle meine Pfeife in den Sack stecken. Dann machte ich mich blutenden Herzens davon, sie aber kauerte sich unter den Tamariskenstrauch wie ein kleiner Vogel und hörte dir mit glänzenden Augen zu. Zum Henker – ich konnte es nicht mehr aushalten, und so knipste ich eines Nachts die verfluchten Saiten ab. Ach Väterchen, wie oft hab' ich an diese böse Tat denken müssen und sie bitter bereut! Du warst immer so gut gegen mich, und dein Herz war ohne Falsch. Kannst du mir verzeihen?«

»Von Herzen, alter Freund! Denk doch nicht mehr daran und gräme dich nicht mehr wegen der afrikanischen Schönheit in der Silberpappelstadt. Und zur Entschädigung hast du ja jetzt deine Feodora,« fügte ich etwas boshaft hinzu.

Er seufzte.

»Ja allerdings, und ich habe schon oft an das Wort denken müssen, daß es eine Nemesis in dieser Welt gibt.«

»Doch noch eins, Pokoff. Wenn ich mich recht erinnere, so streikte deine Flöte bald nach diesem Vorfall.«

»Ganz richtig. Sie war auf einmal piepsend und heiser, genau wie ein zwei Monate altes Hähnchen. Ich weiß noch heute nicht, was plötzlich in sie hineingefahren war.«

»Das will ich dir jetzt erklären, mein lieber Pokoff. Als meine Mandoline unbrauchbar geworden war, bekam ich ein bißchen Angst vor deiner Flöte, und so schnipselte ich aus lauter Freundschaft ein wenig an den Löchern herum und schmierte dann Lehm hinein.«

Pokoff erhob sich zu seiner ganzen Größe, und sein altes Marokkanerlächeln leuchtete in seinem breiten Gesicht auf.

»O du heilloser, durchtriebener ...«

»– – Stuttgart! – Alles aussteigen!«

*

In der Grabenstraße zu Stuttgart, der ehrwürdigen Stiftskirche gerade gegenüber und gleichsam noch in ihrem heiligen Schatten, liegt ein Wirtshaus mit dem Namen »Zur alten Post«. An der Querseite des Hauses, gleich unter dem spitzen Giebel, der nach der Straße zu sieht, prangt in bunten Farben das Bild einer Postkutsche, die von vier feurigen Rossen in voller Karriere gezogen und von einem uniformierten, auf seinem Horn blasenden Postillon gelenkt wird; das ist ein geradezu prächtiger Anblick. Überschreitet man die Schwelle des Wirtshauses und gelangt von da gleich in die Schenkstube, so fühlt man sich mit einem Male in die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts zurückversetzt. Der Raum ist niedrig, und die drolligen Bilder, mit denen ein mehr wohlmeinender als gerade begabter Künstler die Wände geschmückt hat, sind von Alter und Rauch stark mitgenommen. Aber der Ort hat etwas Gemütliches, ja Heimeliges an sich, er hat seine Überlieferungen. Unzählige Becher braunen, schäumenden Gerstensaftes sind hier schon durch durstige Kehlen gelaufen, während die Würfel über die weißgescheuerten Tische rollten und die mächtige »goldene Glocke« im Kirchturm von Zeit zu Zeit ihre tiefe Stimme über die Häupter der sorglosen Zechbrüder ertönen ließ. Hier sind im Laufe der Zeiten die himmelschreiendsten faustdicken Lügen, die wunderbarsten Geschichten aus Schwabens Gespensterschlössern und Märchenwäldern von fahrenden Gesellen und großsprecherischen Förstern der gespannt lauschenden Tafelrunde aufgetischt worden, während die biederen Zinkenisten vom Kirchturm ab und zu ihre schönen Choräle dazu bliesen und der prächtige Postillon in der Wirtsstube bei jedem Stundenwechsel aus der alten Schwarzwälderuhr hervortrat, um sein lustiges Signal zu schmettern. So war es einst, so ist es heute noch. Noch immer geht ein weißhaariger Wirt mit freundlichen Zügen unter seinen Gästen umher und bietet ihnen mit einem »Grüß Gott!« eine Prise seines extrafeinen Schnupftabaks an; pfui über den, der die Prise ablehnt! Noch bewegt sich ein hübsches Mädchen rührig zwischen den Tischen und bringt dem Gast seinen schönbemalten Krug mit einem herzlichen »Prosit!« diesem unnachahmlichen Prosit, dem nur der Süddeutsche den echten, warmen Herzenston zu geben vermag.

Hinter der großen Schenkstube liegt das »Allerheiligste«. Das ist ein Raum, der zwar nicht groß ist, in dem es einem aber dafür außerordentlich feierlich zu Mute wird. Hier wohnen die Geister abgeschiedener Stammgäste. Zu Lebzeiten dieser Männer war diese Stube ihr liebster Aufenthaltsort, kein Wunder, daß sie jetzt noch gern da weilen wollen. Allerdings verzehren sie nichts und geben auch kein Trinkgeld mehr. Doch das ist nicht ihre Schuld; dafür leisten sie etwas, was noch viel besser ist, sie verleihen dem Allerheiligsten einen schönen Nimbus. Und Reliquien von ihnen sind auch da: Verse in fröhlicher Weinlaune verfaßt, Sprichwörter und Wahlsprüche, die sie einst mit unsicheren Händen in eine Stuhllehne, einen Tisch oder einen Krugdeckel eingeritzt haben. Und Andenken haben sie dagelassen: eine Fahne, ein Band, einen verwelkten Kranz, ein Diplom. Alles dies verleiht dem kleinen Raum ein ehrwürdiges Gepräge. Gerade diese Kleinigkeiten sind es, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpfen. Sie rufen den Söhnen zu, da weiter zu machen, wo die Väter aufgehört haben, als ihnen der Krug aus der Hand sank. Und treu dem Gedächtnis der Toten trinken die Lebenden in der Erinnerung an sie einen Krug, zwei Krüge, unzählige Krüge. Und das ist in jeder Beziehung nur recht und billig.

In diesem Allerheiligsten saß am 25. Mai abends neun Uhr eine Gruppe von vier Männern, jeder mit seiner Pfeife und seinem Glas vor sich. Da saß vor allem Niam-Niam, der Waldhornbläser, dann zu seiner Rechten Hugh Kickaway, der Dichter, und außerdem noch Pokoff und ich. Das Wiedersehen hatte sich äußerst herzlich gestaltet. Wir waren mit unserem äußeren Menschen gegenseitig zufrieden gewesen, und betreffs des inneren hatten wir einander versichert, daß dieser bei allen unverändert sei. Überschwengliche Ausbrüche waren nicht vorgekommen – wir sind keine Klageweiber. Hugh war der einzige gewesen, der sich ein bißchen rührselig gezeigt hatte; aber da er ein Dichter war, hatten wir es ganz in der Ordnung gefunden.

Als wir kaum eine Viertelstunde beisammen gewesen waren, kamen uns die dreizehn Jahre der Trennung nur noch wie ein Traum vor. Alles, was ich mir über den Zahn der Zeit zurecht gefaselt hatte, war Blech gewesen, dieser Zahn schien überhaupt nicht an uns genagt zu haben. Selbst Pokoff sah, nachdem der Barbier sich seiner angenommen hatte, wieder menschlich aus.

»Ach du lieber Gott, ist es nicht akkurat so, als säßen wir wieder in unserm Zelt,« sagte Hugh. »Nichts fehlt als Takos Abendlied und das Gurren der Turteltauben im Olivenhain.«

»Statt dessen haben wir hier dieses köstliche Bier,« sagte Pokoff, indem er den Krug an den Mund setzte. »Das wiegt ein ganzes Fuder Turteltauben auf. Möge Gott den Mann im Himmel belohnen, der es erfunden hat!«

»O, es fehlt uns schon auch noch andres,« versetzte Niam-Niam. »Bobo fehlt uns, der Marquis und Bolton fehlen und noch zwei andre. Ich verstehe nicht, wo sie bleiben. Es ist gräßlich schofel, daß sie sich drücken.«

»Vielleicht sind sie tot,« bemerkte einer.

»Das wäre zu ärgerlich,« meinte Niam-Niam, »denn ich habe mir hier schon so viele Vergnügungen für sie ausgedacht. Es ist übrigens leicht möglich, daß Bobo abgeschoben ist. Er war von jeher ein Frechdachs. Zudem hat es ja da unten in den letzten Jahren fortwährend Krieg gegeben. Natürlich hat er es nicht lassen können, sich da drein zu mischen, der Dummrian.«

»Bobo hat keine Kugel getroffen, Hornbläser,« erklärte Pokoff bestimmt. »Du weißt recht wohl, daß er ein Amulett bei sich trägt, das ihn beschützt, und zwar eines, das unfehlbar wirkt. Zudem hat ihm die alte Hexe in Ksar prophezeit, er werde fünfundsiebzig Jahre alt werden, also kann er sich noch lange in der Welt herumtreiben.«

»Die Alte hat auch prophezeit, ich würde gehängt werden, sobald ich mein achtunddreißigstes Lebensjahr vollendet hätte,« erwiderte Niam-Niam, »und nun bin ich schon fünfundvierzig. Es ist kein Verlaß auf die alte Dame.«

»Ach, das rührt nur von einem kleinen Versehen der Schicksalsgöttin her,« meinte Pokoff, »sie hat sich eben in der Zeit getäuscht. Aber gehängt wirst du doch, Alterchen.«

»Frosch! Frosch!« schrie Niam-Niam im Fistelton und schielte dabei boshaft zu Pokoff hinüber. Die Geschichte von den Fröschen war Niam-Niams bester Trumpf, wenn der Russe anfing, ihn aufzuziehen.

»Himmel nochmal, will er nun den alten Kohl wieder aufwärmen! Du bist wirklich ein erfindungsreicher Kopf, Hornbläser,« sagte Pokoff mit einem mißbilligenden Kopfschütteln.

»In Moghrebs Land begab es sich einst, daß zwei Irländer mit einem gewissen russischen Barbaren von Tanger nach Mogoga ritten,« fuhr Niam-Niam mit unerschütterlicher Ruhe fort. »Sie waren in die Welt hinausgezogen, um das Leben und Treiben fremder Völker zu studieren, und sie waren ungeheuer gelehrt. An die Zeitungen schickten sie lange Berichte über höchst merkwürdige Beobachtungen, die sie machten, und sie wurden von ihrem ganzen Leserkreis wegen ihrer Kenntnisse und ihres Scharfblickes mächtig angestaunt. Pokoff – doch ich will lieber sagen der russische Barbar – machte sich durch seine Entdeckungen in der Naturgeschichte – er war nämlich Zoologe und Mediziner – einen besonders guten Namen. In Tanger waren sie mit drei Männern der Wissenschaft, mit Bobo, dem Marquis und noch einem, der hier unter euch sitzt, bekannt geworden, und aus dem Wissensborn dieser Männer schöpften sie wie aus einem Brunnen; ja, ich möchte fast behaupten, sie trieben Mißbrauch mit ihnen, insofern als sie die Ansichten und Erfahrungen dieser Gelehrten für selbsterworbenes Gut ausgaben, und das war nicht redlich von ihnen. – Unterbrich mich nicht, Kreuzschnabel! – Nun, diese drei ritten also eines Tages nach Mogoga, einem kleinen Nest auf dem Wege nach Tetuan. Es war um die Nachmittagszeit, kein Lüftchen regte sich, die Schwalben kreisten hoch in der Luft, und die Frösche quakten im Sumpf. Ein erquickender Regen hatte die Ebene gelabt und die Luft gekühlt. Plötzlich hielt der russische Barbar auf der alten Römerbrücke sein Pferd an. Er hatte eine naturgeschichtliche Merkwürdigkeit entdeckt. Auf jeder Seite der Brücke saßen fünf Frösche, jeder ein Likörglas vor sich und jeder eine Zigarre im Maule. Sie sahen aus wie gut genährte Mönche und zogen den Rauch ein wie ausgepichte Nikotinanbeter. Schnell machten sich die drei Entdeckungsreisenden daran, die wunderbare Erscheinung zu photographieren, und dann schrieben sie in ihre Tagebücher: ›In Marokko halten die Frösche mit Zigarren und Schnaps Siesta, genau wie wir Menschen.‹ Sie wußten ja nicht, daß der Landstreicher Bobo mit seinen Kumpanen kurz vorher an dem gleichen Platz gewesen war und die Frösche mit Seidenfäden festgebunden und mit den Glimmstengeln versehen hatte. Dies ist nämlich ein wohlbekannter Kniff in Marokko. Diese Kaltblüter können die Zigarre nicht ausspucken, sondern sind genötigt, sie zu Ende zu rauchen. Nach acht Tagen hatte das europäische Publikum die merkwürdige Geschichte mit großem Interesse gelesen. In diesem Fall wäre eine strenge Zensur recht am Platze gewesen. Meinst du nicht auch, Kreuzschnabel?«

Pokoff stand plötzlich vom Tisch auf und sah Niam-Niam triumphierend an.

»Ich sage dir, Bobo hat keine Kugel getroffen!« rief er. »Eben sehe ich ihn draußen auf der Straße, und er kommt nicht allein.«

Nein, das war wahr und wahrhaftig, er kam nicht allein. Die ganze Straße war plötzlich voller Menschen, die sich stießen und drängten und die Hälse reckten. An allen Fenstern sah man neugierige Gesichter, die Gassenjungen warfen ihre Mützen in die Höhe und umsprangen den Großtürken, der jetzt seinen Einzug in ihre Stadt hielt, mit lautem Hurrageschrei.

In der Tat, Bobo und der Marquis kamen leibhaftig daher. Die beiden waren und blieben doch immer dieselben. Jetzt hatten sie den guten Gedanken gehabt, den Taleb Ali-ben-Kaim ins Land der Ungläubigen mitzunehmen, damit auch er an dem Wiedersehen der alten Freunde teilnehme. Kein Wunder, wenn die braven Bürger von Stuttgart einigermaßen überrascht waren, als sie einen waschechten Araber mit schneeweißem Turban, himmelblauem Haik und goldgestickten Pantoffeln in ihrer Mitte sahen. So etwas kam nicht alle Tage vor. Übrigens hatte es durchaus nicht den Anschein, als fühle sich der edle Taleb von all den Kundgebungen auch nur im geringsten peinlich berührt. Er war wohl auf der Reise an dergleichen schon gewöhnt worden. Aufrecht und majestätisch schritt er zwischen Bobo und dem Marquis daher. Als er an der Tür des Wirtshauses angekommen war, winkte er den Zuschauern lächelnd mit der Hand zu, wie ein König, der seinen Untertanen für ihre Huldigung dankt und sie auffordert, sich nun zu zerstreuen.

Dann schloß sich die Tür hinter der glänzenden Erscheinung.

*

Nun waren wir zu acht in dem Allerheiligsten; Niam-Niam strahlte glückselig.

»Und es können leicht noch mehr kommen,« meinte er voller Eifer. »Wenn eine Sache erst einmal richtig in Gang gekommen ist, muß man auf alles gefaßt sein. Ich kann gar nicht sagen, wie vergnügt ich heute abend bin!« Dabei drückte er dem Taleb die Hand.

»Wie geht es in unserm glücklichen Land da drunten im Süden, Taleb?«

»Glücklich?« antwortete Taleb mit verwundertem Gesichtsausdruck. »Ach Sahabi, das Glück hat unsre Berge und Ebenen geflohen. Sorge und Kummer herrscht in unserm Land. Seit vielen Jahren hat unsre Erde nicht so viel Blut getrunken wie im letzten.«

Taleb tat einen starken Zug aus seiner Kreidepfeife und fuhr fort: »Die Wölfe reißen sich um die Beute, Sahabi, Wölfe in Schafskleidern und mit sanftem Lächeln und freundlichen Worten. Wir sehen ihre Klauen und ihre Zähne nicht, bis wir sie zu fühlen bekommen. Der schwarze Tod komme über die von meinen Landsleuten, die sie zuerst sahen und um ihren Beistand gebeten haben!«

»Er hat recht,« nahm Bobo das Wort, »sie haben die Hauptschuld daran.« Er hob drohend die geballte Faust und schüttelte sie. »Muley Hafid, du verdammter Bluthund! Warum konntest du deinen Bruder nicht in Frieden sein Reich regieren lassen, wie es der Wille deines Vaters gewesen war? Du hast das Volk gegen ihn aufgehetzt und ihm vorgeworfen, er halte es mit den Europäern. Aber du selbst bist zehnmal schlimmer und feiger als er. Der Teufel soll dich holen und dir den Wanst mit glühenden Kohlen füllen!«

»Inschaallah Wenn Gott so will!!« pflichtete Taleb fromm bei.

»In den Tagen des Muley Hassan konnten wir einigermaßen sicher von einem Ende des Landes zum andern reiten. Ja, ihr werdet es wohl noch wissen,« fuhr Bobo fort, »jetzt aber können wir kaum zwanzig Schritt vor die Stadtmauer machen, ohne Gefahr zu laufen, wie ein Sieb durchlöchert zu werden. Jetzt lodert der Haß gegen uns an allen Ecken und Enden. Und später? Ja, später wird es noch schlimmer werden. – Doch nun hört, ich will euch sagen, was ihr tun könnt –«

»Wollet nicht Zeit verlieren mit Politisieren, meine Freunde,« fiel der Marquis ein, und seine Stimme klang gar sanft und mild. »Was geschehen ist, ist geschehen und läßt sich nicht mehr ändern.«

»Ganz richtig,« bekräftigte Hugh. »Kommt, wir wollen uns nicht in andrer Leute Angelegenheiten mischen und darüber ärgern. Der Geist in uns leidet darunter, die Harmonie in uns nimmt Schaden daran, und das alles bekommt Macht über uns. Zu diesem Zweck haben wir doch nicht die lange Reise hierher gemacht. Nein, wir haben sie gemacht, um so recht behaglich miteinander und übereinander zu plaudern, wie wir es in den alten Tagen getan haben. Mit der Politik mögen die sich herumschlagen, die Lust dazu haben. Wir sind Männer des Friedens.«

Nach diesen Worten machte Hugh eine Kunstpause und schaute sich im Kreise um.

Dann fuhr er mit gedämpfter Stimme fort: »Während ich hier so unter euch sitze, lasse ich in Gedanken Palmen und Olivenbäume um uns aufwachsen, unter deren Schatten wir wieder ruhen. Und eine Quelle sprudelt aus dem Erdreich hervor und wird zu einem silberklaren Bach, der lustig an uns vorüberfließt dem großen Flusse zu. Und der köstliche Duft von Millionen von Oleanderblüten, die am Rande des Baches blühen, zieht mit in unser Herz hinein. Wir sehen die großen Vögel aus den Seen und Gräben aufsteigen und wie winzige kleine weiße Flaumflöckchen im ewigen Blau verschwinden. Und wenn wir unser Ohr dem Winde zukehren und lauschen, hören wir ganz deutlich von der schimmernden Ebene her die Schalmei des einsamen Hirten. Versteht ihr mich, liebe Freunde?«

»Ja, wir verstehen dich, o Dichter!«

»Ach, meine Freunde, wie glücklich macht mich das! In euren Augen sehe ich den Widerschein der Sonne, die über der Oase leuchtet, und spüre mit euch einen Hauch von den Wogen des geheimnisvollen Sandmeeres. Der Westwind säuselt in den Wipfeln der Palmen. Ich höre das morgendliche Horn, das die Karawane zum Aufbruch ruft, und sehe den Muezzin die Arme der aufgehenden Sonne entgegenstrecken.«

Hier wendete sich Hugh an den Marquis, seinen speziellen Freund, und fragte: »Kannst du folgen, Marquis? – Hast du den Ton im Ohr?«

Der Marquis nickte zustimmend.

»So halte ihn fest, während er noch in deiner Seele nachzittert, du immer Umherstreifender, nie Rastender. Erzähle uns, von wannen du jetzt eben kommst. Wir sind ganz Ohr.«

Hierauf lehnte sich Hugh zurück und verschränkte die Arme.

Der Marquis, der Mann der Wissenschaft, legte seine Zigarre beiseite und begann langsam und feierlich:

»Von Dagatun, einer Gegend fern in der großen Wüste, wo die kriegerischen halbjüdischen Stämme hausen, komme ich regelmäßig einmal im Jahre mit einer Straußenfedernkarawane zum heiligen Tafilet. Meine eigenen Leute habe ich auf dem geraden Weg nach Agadir vorausgeschickt. Nach Ksur Abuan ziehe ich, um eine alte Spur zu verfolgen. Dorther stammen ja unsre Sultane. Auf dem Marktplatz predige ich das Gesetz wie ein Hadj von Kããba Hadj von Kããba = Heiliger aus Kããba.. Ich beuge meine Kniee und verrichte das Gebet ›al Sabach‹ in der Sprache des glücklichen Jemen, und den ganzen Tag hindurch predige ich den Nomaden aus Süden und aus Westen bis zur Stunde ›al Moghrebs‹, wenn der Tag sich neigt. Dann bin ich müde, dann will ich ruhen. Ich begebe mich nach dem Kloster Zauia, wo Muley Ali dem Tage des Gerichtes entgegenschlummert, dem Kloster, nach dem mein Sinn strebt, und wohin mich die Spur leitet. Khamar, die Tochter des Muezzin, führt mich: sie ist schlank wie eine Dattelpalme und berückend wie die Oleanderblüten an den Ufern des Tensift.«

»›Ich will dir zu Willen sein‹, sagt sie.

»›Wenn die Sterne funkeln,‹ antworte ich, ›wenn der Nachtwind säuselt.‹

»›Komm, komm!‹ flüstert sie dicht an meinem Mund, und ihr Atem umweht mich wie der Duft der Jasminblüten. –

»Ich trete in das Kloster Zauia, und der Muezzin empfängt mich würdevoll. Er ist ein einäugiger, noch ziemlich junger Mann von dunkler Hautfarbe, der seine volle drei Ellen mißt; an seinen nackten Armen treten die Muskeln mächtig hervor, und aus seiner hochgewölbten Brust dringt die Stimme klangvoll an mein Ohr.

»›Sei willkommen, o Hadj, Allahs Diener aus der großen Wüste!‹ – –

»›El Ascha‹, die Stunde des Nachtgebets ist da. Wir steigen eine enge Treppe zu dem viereckigen Turm hinauf, von wo aus der Muezzin die Gläubigen zum Gebet auffordert. Er hebt seine Arme zum Himmel empor und ruft gegen Osten: ›La illa Allah »La illa Allah!« = »Es ist ein Gott!«!‹

»Weithin über den stillen Palmenhain und die rauschenden Wasser des Zißflusses dringt seine volltönende Stimme. Ich falle nieder und bete inbrünstig um die Freuden der Liebe, wenn die Sterne funkeln.

»›Muezzin,‹ sage ich, ›wie schön ist sie doch, diese Oase des äußersten Südens, wunderbar, märchenhaft ist sie! Sie gleicht einer Blume, die sich entfaltet, einer Jungfrau im Lenze des Lebens. Und das mächtige Sandmeer ringsumher gleicht einem gewaltigen Könige, der sehnsüchtig die grauen Arme nach ihr ausstreckt, sie zu umfangen. Tausende von Jahren schon spitzt er seine dünnen Lippen nach ihrer Schönheit. Mit Versprechungen vom ewigen Frieden hat er sie bestürmt, mit der Donnerstimme des Samums sie bedroht; zu ihren Füßen hat er den Brautschleier ausgebreitet, der aus Milliarden und aber Milliarden rinnender Sandkörner gewoben ist und den die Sonne, die Freundin der Wüste, wie Goldstaub und milchweiße Perlen erschimmern läßt. Und krank vor Liebessehnsucht zeigt er den Karawanen an langen, glühendheißen Tagen das Bild der Geliebten in all ihrer Herrlichkeit. Aber noch immer liegt die Oase da, unberührt in ihrer ganzen jugendlichen Schönheit?

»›Wahr, wahr,‹ versetzt der Muezzin mit ernstem Kopfnicken. ›Sicherlich stammst du aus dem Lande des Propheten. Du redest die Sprache der echten Wüstensöhne, sie klingt meinem Ohr gar wonniglich.‹

»›Und du, woher stammst du?‹

»›Vom M'Tugaland.‹

»›Was, so weit bist du hergekommen?‹

»›Weiter noch, o Hadj! Auch in der weißen Stadt im Norden bin ich gewesen. Dort stand ich im Dienste der Weißen, der Skorpione. Bei einem von ihnen war ich fünf Monate. Dieser Mann heuchelte Freundschaft für den Islam und mein Volk. Er hatte eine gar glatte Zunge, o Hadj, und er entlockte mir, was ich niemals hätte verraten dürfen. Setz dich, ich werde dir von ihm erzählen.‹

»Wir setzen uns einer dem andern gegenüber. Hinter den Hügeln geht der silberne Mond auf und leuchtet über die Wüste hin.

»›Siehst du,‹ sagte er, ›der Weiße kam von einem Lande, das weit jenseits des Meeres liegt. Sein Kopf war mit Kenntnissen angefüllt, und er kannte das Spiel des Lebens. In großen Büchern punktierte er, und alte Schriften erforschte er. Ich selbst habe ihm geholfen, einige von diesen Schriften den Gelehrten meines Landes zu stehlen. Ach, er war schlau und gerieben. Vielleicht hast du schon von ihm gehört?‹

»›Nein,‹ antwortete ich, ›ich kenne das weiße Otterngezücht nicht.‹

»›Nein, wahrscheinlich nicht. Ich frage nur, weil sein Name berühmt ist und du so weit herumgekommen bist. – Aber hart war dieser Mann, sehr hart. Sollte man es glauben, ich entwendete ihm eine Laterne, eine von denen mit farbigen Gläsern, und dafür überlieferte er mich dem Gefängnis.‹

»In des Muezzins Augen leuchtet es seltsam auf, und er fährt sich mit der Hand über die Stirne. Da durchzuckt es mich wie eine Erinnerung: diese Bewegung kommt mir bekannt vor.

»›Ja, o Hadj,‹ fuhr er fort, indem er näher zu mir heranrückte, ›um einer so erbärmlichen Laterne willen hat er mich ins Gefängnis werfen lassen, dann aber vergaß er mich gänzlich und zog fort aus der weißen Stadt. Du kennst unsre Gefängnisse, o Hadj! An eine einzige lange Kette geschmiedet stehen und liegen wir Gefangenen dicht an der harten Mauer. Die eisernen Bügel scheuern unser Fleisch bis auf die Knochen durch. Das tut weh, o Hadj! – – Um einer Laterne willen, Hadj!

»›Die Ratten fressen uns an, denn unsre Arme sind zu müde, um sie fortzujagen. Während der Nacht reißen diese ekelhaften Tiere unsre halbgeschlossenen Wunden wieder auf und gießen Gift in unser Blut. Wie viel bittere Tränen rinnen da wohl in das verfaulte Stroh? Wie viel Jammerrufe werden in solchen Nächten zu Allahs Thron emporgeschickt? Ach, welche Grausamkeit herrscht hier auf Erden!

»› – – Um einer Laterne willen, o Hadj! Nur um einer Laterne willen!

»›Ich hatte keinen Freund, keine Verwandten, die mir hätten Brot geben oder mich gar loskaufen können. Du weißt ja, wer keinen Freund, keinen Verwandten hat, der für ihn eintritt, muß im Gefängnis bleiben und elendiglich verhungern und verdursten. Mit den wenigen Brocken, die mir barmherzige Menschen zukommen ließen, erhielt ich mich am Leben. Aber ich sah aus wie eine wandelnde Pestleiche. In einer Nacht fraß mir eine Ratte das eine Auge aus.

»›Um einer Laterne willen, o Hadj!

»›Aber in diesen qualvollen Stunden flammte in meinem Herzen lodernde Rache gegen den weißen Lügner auf. Ich fragte die neu angekommenen Gefangenen nach ihm aus. Einer von ihnen kannte ihn. Sein Ruhm wuchs im Lande. Merkwürdig, daß du nie von ihm gehört hast, o Hadj! In der Tat, höchst merkwürdig!

»Mein Haß nahm zu, wie der Zißfluß zunimmt zur Sommerzeit, wenn der Schnee auf den Bergen schmilzt. Dieser Haß hat mich vom Tode gerettet. Ich wollte nicht sterben. Gesegnet sei der Haß!‹

»Auf welche Weise mir der Muezzin immer näher rückt, weiß ich nicht, aber der Abstand zwischen uns wird beständig kleiner, es geht ganz unmerklich vor sich, wie der Gang des Uhrzeigers. Ich sehe, wie seine mächtigen Hände sich ballen, daß die Knochen weiß hervortreten. Eine unerklärliche Angst steigt in mir auf und zugleich ein Gefühl der Schwachheit, wie ich es noch nie gekannt habe. Und während ich geradeaus ins Leere starre, sehe ich nur eines vor mir: das Auge des Muezzin. Es wächst und wächst, so wie die Glut sich zur Lohe auswächst und die Lohe zum mächtigen Brand. Aber dieses Feuer brennt und versengt nicht, im Gegenteil, es kühlt, je länger es mich umfängt, desto starrer werde ich. Meine Muskeln werden schlaff, meine Sinne schwinden allmählich wie vor dem Einschlafen. Darauf versinke ich in das Nirwana.

*

»Ich komme wieder zu mir. Mein Gesicht und mein Mantel sind naß vom Tau. Ich will meine Glieder strecken, da fühle ich – sie sind gefesselt. Ich will mich aufrichten, komme aber nicht weiter, als bis auf meine Kniee. Mit Mühe nur schleppe ich mich zur Brustwehr des Turmes und schaue hinab. Eine dunkle Tiefe liegt unter mir, und ich kann die weiße Ringmauer des Klosters nur undeutlich unterscheiden. Fern am Horizont zittert ein blaßroter Schimmer. Das muß der erwachende Tag sein. Aber ich sehe keinen Himmel und keine funkelnden Sterne, wallende Nebel der Nacht haben sie ausgelöscht.

»Plötzlich drehe ich mich auf meinen Knieen herum – und vor mir steht der Muezzin. Ein höhnisches Lächeln umspielt seine Lippen.

»›Hadj von Yemen,‹ sagt er, ›du hast lange geschlafen. Eine Nacht und ein Tag sind inzwischen vorübergegangen.‹

»›Wer bist du?‹ frage ich.

»Er kreuzt die Arme über der Brust und verneigt sich tief vor mir.

»›Dein untertänigster Diener Ismael,‹ antwortet er. ›Erkennst du mich nicht?‹

»Doch, jetzt erkenne ich ihn. Jetzt verstehe ich, wie es mit mir steht. Ich weiß, ich bin dem Tode verfallen.

»›Teurer Herr,‹ sagt er, indem er mit heuchlerischer Ehrerbietung meine Hände ergreift, die er doch selbst gefesselt hatte. Dann spuckt er darauf und stößt sie verächtlich zurück.

»›Ich nenne dich Herr,‹ fährt er fort, ›weil ich nicht Hund zu dir sagen will. Mein Stammvater erblickte das Licht der Welt fünfhundert Jahre bevor deine Mutter, die Hündin, geboren wurde. Ich will dir zeigen, was Höflichkeit ist.‹

»Im Osten wird es licht. Über den Dünen in der Ferne fällt purpurhelles Licht. Aus der Einöde vor uns wachsen dunkelbraune Kakteen heraus, und die Wipfel der Palmen schimmern in bläulichem Glanz. Der Tag bricht an.

»Der Muezzin erhebt seine Arme zum Morgengebet.

»›La illah Allah.‹

»Jetzt sieht er mich nicht mehr an, er sieht über mich weg.

»›Wie ich gelitten habe ...‹ sagt er.

»Dann schließt sich die Bodenluke wieder über ihm mit einem kaum hörbaren Geräusch.

»›... so werde ich jetzt leiden,‹ vollende ich in Gedanken seine Worte.

»Stunde um Stunde schleppt sich hin. Die Sonne geht ihre Bahn. Mit meinen Blicken verfolge ich eine Karawane, die das Tor der Stadt Ksur verläßt und wie ein langer Faden in der großen Wüste allmählich verschwindet. Getöse und Geschrei dringt vom Marktplatz zu mir herauf. Der Tag lärmt da drunten. Der Duft von Kifta Kifta = Hammelfleisch., das am Spieß gebraten wird, reizt meine Nase. Der Hunger plagt mich immer mehr. Ich höre das Geräusch der knirschenden Wasserräder. Meine Zunge ist trocken und rauh. Das Leben wird mir zur Qual.

»Zur bestimmten Stunde kommt der Muezzin und läßt seinen Ruf über die Oase hintönen. Er sieht mich nicht. Es ist, als wäre ich ein im Gefängnis Vergessener.

»Gegen Abend werden die Schatten länger – dann leuchtet es über der Wüste in tiefgoldenem Glanz: goldene Streifen ziehen sich vom Horizont herab wie goldene Kegel, und von dem fruchtbaren Erdreich der Oase wallen Nebel auf wie zitternde in perlmutterfarbigem Glanz schimmernde Flügel.

»Der Muezzin hat zum ›El Ascha‹ El Ascha = das Nachtgebet. gerufen. Und wieder bricht die Nacht an.

»Ich stütze mein Kinn auf die Brustwehr, schaue hinaus und sehe, wie die kleinen Feuer ringsum in der Oase allmählich aufleuchten. Sie knistern leise. Dunkle Gestalten kauern um die Feuerstellen herum. Die Stegreifdichter geben ihre Erzählungen zum besten, die Barden der Wüste lassen ihre Gesänge ertönen. Rauhe Männerkehlen singen die langen Kehrreime mit. Das Tam-Tam dröhnt. Ji–ji, ji–i–i! kreischen die Weiber. Der Rauch von Torf, Kif Kif, » Canabis indica« (Haschisch). und Ambra erfüllt die Luft um mich her. Ach, schrecklich ist es, Gefangener auf Zauias Turm zu sein!

»Langsam, langsam wandert die Nacht.

»Wieder ein voller Tag – lange vierundzwanzig Stunden ...

»Die Menschen haben sich in ihre Häuser verkrochen. Mann und Weib ruhen bei einander. Ringsum herrscht Friede.

»Schwerfällig richte ich mich auf die Kniee auf und wünsche mir den Tod. Mühsam arbeitet meine Lunge. In jedem Gelenk fühle ich mein Herz schlagen. Die Augenlider brennen mir wie Feuer. Und wie von tausend Nadeln – oder sind es Skorpionstacheln? – fühle ich meine Hände durchbohrt.

»Da öffnet sich die Bodenluke.

»›Khamar!‹

»Geräuschlos gleitet sie zu mir her. Ihre Augen sind wie tiefe Brunnen. Ihre Brüste sind wie reife Trauben, ihre Hüften wiegen sich in wollüstigem Tanz. Mit offenen Armen geht sie auf mich zu.

»›Khamar!‹ rufe ich. ›Endlich kommst du!‹

»Da tritt sie einen Schritt zurück. Sie legt den Daumen ihrer rechten Hand an ihre Nasenspitze und spreizt die andern Finger weit aus; zugleich preßt sie die andre Hand auf ihr Herz, das ist das Zeichen des Hohns. Dann bricht sie in ein schrilles Gelächter aus und sieht mich mit unsäglich höhnischen Blicken an.

»›Jetzt funkeln die Sterne, Hadj aus Jemen,‹ sagt sie.

»O welche Schande, welche Schande!

»Lachend geht sie von dannen. Ja, wahrlich, sie ist die echte Tochter ihres Vaters!

»Ja, ja! die Sterne funkeln über mir, ringsum herrscht tiefe Stille, nur hie und da dringt der Schrei einer Hyäne von den Sandhügeln herüber. Eine Fledermaus flattert über meinem Kopf hin und her. Leise hört man die Wellen des Zißflusses plätschern. Meine Kräfte sind erschöpft, ich lasse mich auf den Rücken fallen. Das Spiel des Lebens ist aus. Gute Nacht! – –

»– – Jetzt aber, liebe Freunde, jetzt geschieht etwas höchst Merkwürdiges.

»Ich erwache beim Strahl der aufgehenden Sonne, die mir in die Augen brennt. Plötzlich vernehme ich über mir einen Laut wie von klappernden Störchen und dazu ein Brausen wie von mächtigen Flügelschlägen. Ich richte mich auf meine wunden Kniee auf. – Ein großer, großer Schatten fällt über den Turm. Ich schaue empor. Allah akhbar! Haben Fieber und Hunger mich um den Verstand gebracht? – Ein Riesenvogel senkt sich zu mir herab. Seine Flügel schwirren mit einem merkwürdigen metallisch klingenden Ton. Ich höre das Stampfen und Surren von Rädern. Ein ungeheurer grauweißer arbeitender Fächer wirbelt den Kalkstaub hoch auf und läßt meinen Mantel flattern. Allah akhbar! Allah akhbar! = Gerechter Gott! Das achte Weltwunder hält über mir in der Luft!

»›Zu Hilfe, zu Hilfe!‹ schreie ich in meiner Muttersprache.

»Und aus dem Riesenvogel heraus antwortet eine Stimme: ›Hallo! Franzose?‹

»Ich winke bejahend mit meinem ganzen Oberkörper. Dann nehme ich alle meine Kraft zusammen und rufe dem Vogel zu: ›Jawohl, jawohl!‹

»Eine Art eiserner Kralle fährt zwischen seinen Schwingen heraus. Ich fühle mich ergriffen und in die Höhe gehoben, als wäre ich nur eine Feder. – Ein Schuß fällt. Ich höre den Muezzin unter mir einen Schrei ausstoßen – Hunde heulen – Weiber kreischen ...

»Aber hoch, hoch zum blauen Himmel empor, hoch über die Wüste erhebt sich der Vogel. Ruhig und sicher durchschneiden seine Schwingen die Luft und tragen mich vom Tode hinweg dem Leben entgegen.

»Dann vergeht mir das Bewußtsein.« – –

»Wo seid ihr denn gelandet?« fragte Niam-Niam.

»In Ronda in Spanien.«

»Ich glaube, er lügt,« bemerkt Bobo.

»Aber er lügt gut,« meinte Pokoff entschuldigend.

»Jedenfalls hat er den Ton gut getroffen,« sagte Hugh zustimmend und streckte dem Marquis über dem Tisch seine Hand hin. »Und das ist die Hauptsache.«

Ali-ben-Kaim saß still da und starrte nachdenklich in seinen Krug. Ich muß bemerken, daß er sich zum Biertrinken erst hatte überreden lassen, nachdem er im Koran genau geforscht hatte, ob das Bier erlaubt sei oder nicht. Aber der Koran erwähnt weder Bier noch Branntwein, nur der Genuß von Wein ist verboten. So pichelte Ali-ben-Kaim sein Bier mit gutem Gewissen: er war ein echter und ehrlicher Muselmann vor Allahs Thron. Jetzt richtete er langsam seinen Kopf auf und strich sich über seinen Kinnbart und sah Niam-Niam mißtrauisch an.

»Du, Sahabi, ist es wirklich wahr, daß das Volk der Rumi Rumi = Europäer. in die Luft hinaufsteigen kann?«

»Ja, das ist wirklich wahr.«

»Aber dann müßt ihr ja Engel sein – oder Teufel.«

»Keines von beiden; wir haben nur hier oben etwas drin,« antwortete Niam-Niam, indem er auf seine Stirne deutete.

»Taleb,« sagte Bobo, »erinnerst du dich noch, wie du zum erstenmal eine Lokomotive sahst? Du meintest, der leibhaftige Gottseibeiuns stecke in dem Bauch des Ungeheuers und speie Rauch und Feuer aus einem Zylinderhut heraus. Und doch hat uns die Lokomotive sicher und ruhig von Marseille hierher geführt.«

»O den Zusammenhang mit den eisernen Wagen hab' ich leichter begriffen, denn der hat doch die Erde, auf die er sich stützen kann; aber ein Wagen, der durch die Luft fährt, hat ja gar nichts Festes unter sich. In meiner Heimat würde jedermann ohne Ausnahme so etwas für ein Wunder halten.«

»Aber die Erde hat ja auch keinen Stützpunkt, lieber Taleb?«

»Doch!« Der Marokkaner zuckte nur die Schultern mit einem mitleidigen Blick auf Bobo.

»Wie unwissend bist du, Sahabi! Die Erde ruht auf Pfeilern, und die Pfeiler hinwiederum auf dem riesigen Walfisch, der fest auf dem Grunde des Weltenozeans liegt. Das weißt du nicht einmal? – Doch was ich sagen wollte, wäre es wohl möglich, daß ich einen solchen Luftvogel selbst zu sehen bekäme?«

»Ei freilich!« antwortete Niam-Niam. »Wir haben hier gerade eine Fliegerwoche, und gleich in den nächsten Tagen machen wir uns auf den Weg und besehen uns das Wunder.«

»Du bist außerordentlich gütig, Sahabi. – Und sage mir offen, glaubst du, daß ich mir so ein Wunderwerk kaufen könnte?«

»Das ließe sich schon machen. Aber was wolltest du denn damit anfangen?«

Taleb lächelte schlau in seinen Bart.

»Sahabi,« antwortete er so leise, daß wir ihn kaum verstehen konnten, »wenn ich durch die Luft angefahren käme, würden meine Landsleute im fernen Süden mich für den neuen Mahdi halten und niederfallen und mich anbeten. Ich würde ein ungeheuer mächtiger Mann in meiner Heimat werden.«

»Dann will ich dein Leibarzt sein,« erklärte Pokoff.

»Inschaallah!«

»Und ich dein Großwesir,« sagte Niam-Niam.

»Inschaallah!«

»Und ich dein Oberhofkoch,« meinte Hugh.

»Inschaallah!«

Mit freigebiger Hand streute der Taleb, Ali-ben-Kaim, seine Titel aus. Die einmal entzündete Phantasie des Wüstensohnes überschritt alle Grenzen der Wirklichkeit. Jetzt gab es nichts Unmögliches mehr. Die reichen Oasen, diese Perlen der Wüste, die erzhaltigen Berge und die weiten Steppen des Drããlandes mit ihren unermeßlichen Herden rückten ihm ganz nahe, das alles war nun sein Eigentum. Schon sah er sich an der Spitze von einer Heerschar von Kriegern, die ihm als ihrem Herrn huldigen. Wie eine Lawine wälzt sich der Heereszug nach Norden und setzt ihn auf Moghrebs Thron.

»Jeden Freitag in der dritten Stunde werde ich in die Lüfte steigen und mein Volk segnen,« sagte er mit sprühenden Augen.

Er glaubte, was er sagte. Wir wollen vergessen, daß er nur der Sohn eines armen Ziegenhirten von Tarundant war, und daß er die wenig angesehene Stellung unsres Dolmetschers auf unsrer Reise durch sein Heimatland bekleidet hatte. Jetzt fühlte er sich als der Beherrscher der Gläubigen. Aber wir wollen nicht vergessen, daß sein Geschlecht aus der Wüste, der Heimat der Fata Morgana, stammte.

Hugh wollte eben zu Ehren des neugebackenen Sultans ein Gedicht improvisieren, als sich die Tür öffnete und die Kellnerin eintrat.

Sie ging zu Niam-Niam hin und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»In einem Rollstuhl?« fragte dieser erstaunt.

»Ja, in einem Rollstuhl. Der Herr sieht krank und ermüdet aus.«

Niam-Niam nahm die Visitenkarte aus der Hand der Kellnerin.

»Aber das ist ja unser alter Freund van Hook aus Safi, Kameraden!« rief er und fügte sofort hinzu: »Komm, Bobo!«

Bald darauf saß van Hook in unsrer Mitte – oder besser gesagt, der Schatten von van Hook saß bei uns. Der blühende Holländer, an den wir uns aus unsrer lustigen Zeit im Süden so gut erinnerten, hatte sich völlig verändert. Jetzt war er grau und gebückt. Die früher so lebhaften Augen hatten ihr Feuer verloren, und der abgemagerte, knochige Körper schien allen Saft und alle Kraft eingebüßt zu haben. Wie ein zusammengeschrumpfter Zwerg saß er in seinem Stuhl.

»Es geht rückwärts mit den alten Göttern,« sagte er mit müdem Lächeln. »Das Leben hat mich schwer zerzaust. Das verdammte Land, dem ich erst so zugetan war, hat meine Kräfte gebrochen. Bald wird mein Lebenslicht ausgelöscht sein. Aber so elend ich auch dran bin, so mußte ich doch unsre Verabredung halten und zu euch hierher kommen, denn ihr seid in der schönsten Zeit meines Lebens meine Gefährten gewesen. Wenn ich in allen diesen Jahren immer wieder an euch dachte, dann überkam mich die Erinnerung an die Zeit, wo ich noch ein ganzer Mann war. Und ich bin froh, daß ich euch wiedersehe. Drückt mir vorsichtig die Hand, liebe Kameraden!«

Wie kalt ruhte seine schmale, abgemagerte Hand in der unsern! Ach ja, die Zeit hatte hier gute Arbeit getan! Das sah und fühlte man mit Leichtigkeit.

Dann wurde es stille im Kreise.

Endlich begann Taleb, indem er dem Holländer zärtlich die Wange streichelte. »Sahabi, sieh her, hier sind wir, deine alten Freunde, fasse Mut und tröste dich!«

»Rühr mich nicht an, du verfluchter Sohn eines verfluchten Landes!« schrie der Holländer und stieß des Talebs Hand unsanft weg. »Ich habe genug von dir und deinesgleichen. Tod und Unglück sind in eurem Gefolge. Es war mir eben, als kröche eine Schlange über mein Gesicht hin.«

Doch plötzlich hielt er inne und streckte dem Taleb seine Hand hin.

»Verzeih mir!« sagte er bittend. »Das Unglück hat mich bitter und ungerecht gemacht, ich bin nicht mehr der alte. An all dem Unheil, das mir dort unten widerfahren ist, bin ich zum größten Teil selbst schuld. Ich ernte bloß, was ich gesät habe ...«

»Das ist wahr,« unterbrach ihn Taleb ernst, »durch deinen Unverstand hast du dir deine Qualen selber zugezogen.«

»Weißt du denn – –?«

»Ich weiß alles,« erwiderte der Marokkaner. »Du hast dich mit einem mächtigen Taleb überworfen, Atachar, und seine Rache hat dich getroffen.«

Van Hook wandte sich an uns und sagte: »Ich bin euch noch eine Erklärung schuldig, wie ich dazu gekommen bin, den Frieden hier zu brechen. Es ist keine lustige Geschichte, aber vielleicht kann meine Erzählung euch einmal von Nutzen sein, wenn ihr je wieder in das verfluchte Land zurückkehrt. – Bitte, gib mir ein Glas Wein, Niam-Niam!«

Als er getrunken hatte, berichtete der Holländer folgendes: »Wie ihr wißt, war ich jung verheiratet, als ich mich in dem kleinen Nest an der Westküste Marokkos niederließ. Damals wurde ein mächtiges Geschrei davon gemacht, was für einer glänzenden Zukunft das Land entgegensehe und welche großen Erfolge ein unternehmungslustiger Europäer dort erringen könnte. Viele zogen mit den schönsten Hoffnungen dorthin, wenige sind zufrieden und glücklich zurückgekehrt. In Gemeinschaft mit einem Engländer betrieb ich dort ein Exportgeschäft nach Frankreich und Spanien mit den Produkten des Landes. Und obgleich die Gesellschaft von Banditen, die sich dort ›die Regierung‹ nennt, uns alle möglichen Hindernisse in den Weg legte, ließ sich unser Geschäft gar nicht übel an, so daß wir in dem verfluchten Lande wirklich ganz gut vorwärts kamen, und merkwürdigerweise hatte sich meine Frau am leichtesten dort eingewöhnt. Sie verstand es aber auch wunderbar, es uns in dem ärmlichen kleinen Häuschen, das wir gemietet hatten, behaglich zu machen. Ich muß zugeben, unsre Wohnung war wirklich ein idyllisches Retiro. Sie lag wunderschön mitten in einem alten Orangengarten, in dem das ganze Jahr alle möglichen Blumen dufteten und die Nachtigallen schlugen. Ich entsinne mich, wie ich eines Tages zu meinem hübschen Frauchen sagte: ›Mein Liebling, das ist das Märchen, von dem ich früher geträumt habe.‹

»An einem Markttag fiel mir auf, daß ein Händler sich vergebliche Mühe gab, einen kleinen Teppich loszuschlagen. Niemand wollte ihn haben, weil er geschmacklos und unansehnlich war. Aber ich fand das Muster interessant und kaufte ihn für fünf Metkhal. Doch als ich ihn dann zusammenrollen wollte, berührte jemand meinen Arm. Ich drehte mich um und sah einen mageren, einäugigen Araber in einer durchlöcherten Djillaba und mit einem roten Tuch um den Kopf. Sein dunkelbraunes Gesicht war tief eingefallen und seine Lippen schienen blutleer. Der ganze Mann machte einen widerlichen Eindruck auf mich, und ich stieß ihn deshalb von mir wie einen Pestkranken.

»›Jacidi,‹ Herr. sagte er, indem er seine Hand gegen mich ausstreckte: ›Du mir geben den Teppich.‹

»Ich drehte ihm den Rücken zu und wollte fortgehen; da hakte er sich an meinem Arm fest und fuhr fort: ›Jacidi, du haben bezahlt wenig für den Teppich, morgen geben ich dir das Doppelte für ihn. Ich werde kommen zu dir mit dem Geld.‹

»Doch der sanfte Gentleman, der hier unter euch sitzt, erhob seinen Stock, um den armen Teufel zu schlagen. Der aber entwischte wie ein Aal, und fünf Minuten später hatte ich ihn vergessen.

»Zu Hause ließ ich den Teppich ausklopfen und verehrte ihn dann meiner Gattin, die ihn vor ihr Bett legte.

»Tags darauf meldete mir der Diener, es wolle mich jemand sprechen. Es war der Araber vom vorhergehenden Tag.

»›Jacidi,‹ sagte er schmunzelnd, ›hier ich kommen mit den zehn Metkhal. Das ist ein sehr guter Handel für dich. Allah beschütze dich und lassen dir machen viele solche Geschäfte!‹

»Bei diesen Worten zog er einen schmierigen Lumpen aus seiner Djillaba und zählte daraus eine Menge Kupfermünzen auf den Tisch.

»›Zehn Metkhal, Jacidi. Bitte, zehn Metkhal! Du zählen sie selber nach. Gutes Geld, viel Geld für den kleinen Teppich. Jetzt du geben ihn mir.‹

»Der unverschämte, aufdringliche Hund! Hielt er mich für einen Schacherjuden, den man in Versuchung führt, wenn man ihm einen Geldbeutel vor der Nase klirren läßt?

»›Wenn ich dich hier noch einmal sehe, lasse ich dich zum Haus hinauspeitschen!‹ schrie ich ihn an.

»In seinen Augen schien plötzlich eine Flamme aufzuleuchten, die aber sofort wieder erlosch. Demütig neigte er seinen Kopf und seine bleichen Lippen bebten.

»›Jacidi,‹ sagte er ruhig, ›du sein reich, mächtig und glücklich. Ich sein nur ein armer, hinfälliger Araber. Nicht du tun unrecht an mir. Der kleine Teppich sein mein Eigentum. Ein Dieb hat ihn gestohlen aus meiner Wohnung, während ich war draußen bei der Arbeit. Im Namen des barmherzigen Allah! Ich muß haben ihn wieder zu eigen. Vielleicht du finden zehn Metkhal zu wenig; ich bringen dir in zwei Tagen zwanzig Metkhal.‹

»Darauf knüpfte er seine Münzen wieder in den Lappen, verbarg ihn sorgfältig auf seiner Brust, strich sich mit der Hand über die Stirne und ging schleppenden Schrittes fort.

»Aber beim Kuckuck, warum wollte er sich denn mit aller Gewalt in den Besitz des Teppichs setzen? Sollte der Teppich am Ende einen größeren Wert haben als ich ahnte? Wenn ein armseliger Araber, für den zwanzig Metkhal ein ganzes Vermögen bedeuten, so viel für ihn bieten konnte, mußte irgend etwas dahinter stecken. Leute seines Gelichters werfen ihr Geld nicht unnötig weg. Neugierig wendete und drehte ich den Teppich um und um und untersuchte ihn gründlich. Vielleicht konnte der Teppich mir irgendwie Aufschluß geben. Heimliche Buchstaben oder Zeichen konnten hineingewoben sein, möglicherweise enthielt er wichtige Aufklärungen über ein geheimnisvolles Ereignis oder über vergrabene Schätze. Mir fielen alte Geschichten ein, die von derartigem handelten. Aber trotz eifrigen Suchens machte mich das Muster nicht klüger. In seinen bunten Feldern war kein System, keine Ordnung, ich sah nur eine planlose Anhäufung kleiner Figuren, naiver Nachbildungen von allerhand Blumen, die in ganz unsymmetrische Vierecke eingeschlossen waren: hie und da bemerkte ich einen schrägen Kubus oder ein schiefes Minaret, dann ein paar Zeichnungen, die aussahen, wie zwei ineinander verbissene Skorpione, und endlich die weiße Hand, die auf allen marokkanischen Teppichen wiederkehrt. Das ganze machte den Eindruck einer ungeschickten Anfängerarbeit. Es war ja immerhin möglich, daß das Muster irgendeine Symbolik enthielt – ich aber verstand sie jedenfalls nicht. Ärgerlich legte ich den Teppich wieder an seinen Platz, nahm mir aber fest vor, ihn nicht wegzugeben, selbst wenn der Araber mit seinen zwanzig Metkhal käme.

»Zwei Tage darauf kam der Araber wieder, wie er es vorausgesagt hatte. Er sah ganz elend aus und stützte sich auf einen Stock.

»›Hier sein dein Geld, Jacidi!‹ sagte er.

»Diesmal behandelte ich ihn mit einer gewissen herablassenden Freundlichkeit.

»›Ich will mich überhaupt nicht von dem Teppich trennen, denn ich habe angefangen, Gefallen an ihm zu finden,‹ sagte ich. ›Er ist wirklich ein seltenes, interessantes Stück.‹

»Der Araber seufzte schwer auf, kauerte sich vor mir nieder und starrte mich mit seinem einen Auge eine Weile schweigend an. Er sah aus, als denke er über etwas sehr Wichtiges nach. Endlich sagte er: ›Du sagen, was du nicht meinen. Du quälen nur mich armen Mann. Dieser Teppich haben für dich gar keinen Wert, sondern nur für mich. Sollen ich dir sagen, warum?‹

»Nach einer kurzen Pause fuhr er eindringlich fort: ›Du müssen nämlich wissen, auf dem Teppich haben ich meine Gebete zu Allah schon viele Jahre verrichtet, so haben es auch mein Vater gehalten vor mir, und vor diesem mein Großvater. Dreimal sein gewesen der Teppich in Mekka, der gesegneten Stadt, geduldige Schultern ihn haben getragen durch fremde Lande, durch die Dornen der Steppe, durch den Sand der Wüste dorthin. Auf der heiligen Erde des Propheten haben er gelegen, ausgebreitet, Arabiens Sonne haben ihn beschienen, Arabiens Regen ihn benetzt. Darum sein er heilig, ja heilig für mich. Tausend und abertausend Tränen sein gefallen auf seine Felder, tausend und abertausend Gebete sein von ihm zum Himmelsdom aufgestiegen in bitterer Not und in Trübsal, in Stunden des Schmerzes und der Freude. Darum sein er heilig, heilig für mich, o Jacidi!‹

»Mit ungläubigem Lächeln hörte ich diese schwülstige Rede an, die in gebrochenem Spanisch vorgetragen wurde. Ich war fest überzeugt, daß die Frömmigkeit des Arabers nicht so tief saß und daß seine Verehrung vor dem kleinen Teppich, selbst wenn dieser ein altes Erbstück sein sollte, nur geheuchelt war.

»›Nicht du lächeln über meine Worte,‹ sagte er ernst. ›Ich sprechen die reine Wahrheit. Dieser Teppich und ein Sohn sein mein einziges Eigentum auf der Welt. Sie sein meine Schätze. Und wenn der Todesengel werden rühren an mein Herz, so mein Sohn sollen haben den Teppich, wie ich ihn haben bekommen von meinem Vater, und er sollen bleiben in meinem Geschlecht bis der Same meines Geschlechts werden sein verdorrt. Du nehmen dein Geld, Jacidi, und geben mir, was mein ist.«

»›Ich habe die Absicht, den Teppich übers Meer in meine Heimat zu schicken,‹ erwiderte ich.

»›Nein, nein, Jacidi!‹ Flehend streckte er seine mageren Hände gegen mich aus und flüsterte heiser: ›Nicht in das Land der Ungläubigen, wo kein Moslemine erheben seine Arme zum Himmel! Das wären eine Schmach, eine Todsünde – Jacidi! Jacidi! Was sollen ich antworten meinem Sohn, wenn er sagen: ›Den Teppich unsrer Vorfahren du geben ihn mir, damit ich können halten in Ehren ihn?‹ Was sollen ich antworten meinen Vorfahren am weißen Tag, wenn sie fragen: ›Wie haben du können vergessen den Teppich, der die gesegnete Stadt haben gesehen?‹ Sollen ich antworten, ich haben ihn in ein Land lassen fortführen, wo die Männer nicht beten? Sollen ich müssen zugeben, daß die Füße der Ungläubigen treten auf ihn und ihn besudeln? Das wären eine Schmach für mich, Jacidi, die niemals würde können vergeben werden.‹

»Der Ton seiner Stimme klang so aufrichtig, daß sich in meinem Herzen etwas zu Gunsten seines Vorbringens regte. Aber ich verschloß meine Ohren und mein Herz dagegen. Nachträglich erscheint mir meine Hartherzigkeit unverständlich. Hielt mich der unerbittliche, habsüchtige Handelsgeist oder ein angeborner Hang zur Grausamkeit gefangen? War es vielleicht nur eine Art Neugier, die gespannt war, zu erfahren, wie die Sache sich weiter entwickeln würde? Ich kann es selber nicht sagen.

»›Gaukler!‹ warf ich ihm aufs Geratewohl hin. ›Unter hundert Metkhal erhältst du den Teppich nicht. Das ist mein letztes Wort.‹

»Eigentlich wunderte ich mich über mich selber. Der Ärmste schnellte in die Höhe. Eine tiefe Röte schimmerte durch seine braune Haut. Ich sah eine heftige Antwort auf seinen Lippen schweben, aber er bezwang sich und flüsterte etwas, das, soweit ich es verstehen konnte, so lautete: ›Ich werden versuchen, das Geld zu beschaffen, ich werden es versuchen. Allah helfen mir.‹

»Dann fuhr er sich mit seinem Handrücken über die Augen, zog die Kapuze seines Djillabas über den Kopf und entfernte sich langsam mit gebeugtem Rücken, wie einer, der eine schwere Last zu tragen hat.

»Doch nun trat mein Geschäftsteilhaber, der durch die offene Veranda unser Gespräch gehört hatte, zu mir und sagte: ›Sie gehen zu weit, wenn ich Sie wäre, würde ich den armen Kerl zurückrufen.‹

»Ich lachte spöttisch und erwiderte: ›Meinen Sie, ich lasse mich von einem solchen Filou von Araber übers Ohr hauen? Die ganze maurische Bande hat nur ein Ziel vor sich – uns zu bestehlen und zu betrügen. Ich kenne die Gauner.‹

»›In diesem Fall sind nicht Sie der Betrogene,‹ antwortete er, indem er mich in seiner kühlen englischen Art mißbilligend ansah.

»›Was meinen Sie, was wollen Sie damit sagen?‹

»›Nichts, Sir,‹ sagte er in näselndem Tonfall, zog seine blonden Augenbrauen hoch in die Stirne hinauf, drehte sich auf seinem Absatz um und schlenderte hinaus.«

Doch nun unterbrach Pokoff den Holländer.

»Es wird gut sein, wenn du jetzt aufhörst, lieber Freund,« sagte er mahnend, »das viele Sprechen bekommt dir nicht gut. In meiner Eigenschaft als Arzt verbiete ich es dir jetzt. Und wenn du mir nicht gehorchst, so packe ich dich an Händen und Füßen und trage dich einfach hinaus.«

Van Hook kannte den Russen, er wußte, bei Pokoff galt kein Widerspruch, wenn er als Medizinmann auftrat.

»Du hast recht,« antwortete er daher bescheiden, »ich bin müde und morgen ist auch noch ein Tag. Und heute nacht gedenke ich einen guten Schlaf zu tun, denn es ist so schön, daß ich euch liebe Freunde alle in der Nähe weiß.«

»Wir werden jetzt wohl alle müde sein,« meinte Niam-Niam, und überdies pflegt man hier in Stuttgart mit den Hühnern zu Bett zu gehen. Aber morgen erzählst du uns die Geschichte fertig, van Hook, nicht wahr?«

Bobo und der Marquis knurrten zwar ein wenig und brummten in ihren Bart, die Nachtluft würde dem Holländer vielleicht gut tun. Da ihnen aber niemand zustimmte, fügten sie sich als kluge Männer.

Eine halbe Stunde später waren alle Lichter in der alten Post gelöscht.

*

Nachdem der Posaunenbläser auf dem Stiftskirchenturm früh am nächsten Morgen die süß schlummernden Marokkaner geweckt hatte, zog Niam-Niam mit Taleb ab, um ihn frisch kleiden zu lassen. Das farbenprächtige Gewand des Arabers paßte nicht für die deutsche Stadt; wo immer Taleb sich sehen ließ, entstand ein großer Auflauf.

In dem schlanken, hochgewachsenen Herrn, der aus dem feinsten Herrenkleidergeschäft der Königstraße im eleganten Gehrock, geblümter Seidenweste, hellen Beinkleidern mit einem glänzenden Zylinderhut und mit gelben Stiefeln angetan heraustrat, würde niemand den edlen Ali-ben-Kaim, den Sohn des Ziegenhirten aus Tarundant wiedererkannt haben. Er sah genau aus wie ein frisch gebackener Modeherr, so daß Niam-Niam förmlich stolz darauf war, sich mit ihm auf der Straße zeigen zu können. Mit seinem tiefschwarzen Knebelbart, der braunen Haut, der kühnen Adlernase und den funkelnden Augen hatte unser arabischer Freund, wo er sich zeigte, und ganz besonders bei den Damen, einen Riesenerfolg. Und er war durchaus nicht so dumm, daß er den Eindruck, den er machte, nicht begriffen hätte. Da er aber in seinem Übermut sich die Unart angewöhnte, jedem weiblichen Wesen, mochte es ein gnädiges Fräulein von so und so oder ein einfaches Dienstmädchen sein, Kußhände zuzuwerfen, fühlte Niam-Niam sich bewogen, ihm darüber Vorstellungen zu machen.

»Aber sie gehen ja alle unverschleiert umher und sehen mich an, als kennten sie mich,« wendete Taleb ein, »ja einige von ihnen – und zwar gerade die flottesten – nickten mir sogar zu. Da muß ich doch den Gruß erwidern.«

Bei diesen Worten verbeugte er sich ehrerbietig vor einer Frau mit einem Gemüsekorb am Arm.

»Nimm dich in acht!« warnte ihn Niam-Niam. »Wenn du so fortmachst, wirst du noch am höchsten Galgen Stuttgarts aufgeknüpft.«

»Sind die Leute so streng hier, Sahabi?«

»Wenn du hier jemand grüßen willst, mußt du den Hut abnehmen.«

»Aber ich habe mir doch das Haar auf dem Kopf rasieren lassen, und außerdem werde ich in aller Ewigkeit nie lernen, den Hut so abzunehmen, wie es hier der Brauch ist,« jammerte der verzweifelte Marokkaner.

»So lege nur den Zeigefinger an den Hutrand. Man wird dich dann für ein Mitglied des Vereins gegen das Hutabnehmen halten.«

Aber so lange Ali-ben-Kaim sich im Lande der Rumi aufhielt, war er nicht davon abzubringen, den Damen Kußhände zuzuwerfen, ja manchmal, wenn er gerade besonders aufmerksam sein wollte, legte er nach arabischer Sitte die Hand aufs Herz und sah das betreffende weibliche Wesen verliebt an.

Auf Wunsch des Hornbläsers Niam-Niam, dessen willenlose Sklaven wir waren, sollte das Gabelfrühstück im Jägerhaus auf dem Hasenberg, einer Anhöhe vor der Stadt, eingenommen werden. Er erzählte, daß auf diesem Berg in alten Tagen die ärgsten Raubritter, die es jemals in Deutschland gegeben hatte, ihr Unwesen getrieben hätten. Deshalb war er auf den Gedanken gekommen, es müsse sich höchst stilvoll ausnehmen, wenn wir uns dort oben für eine Weile niederließen. Der einzige, der nicht mitwollte, war Hugh. Er hatte sich vorgenommen, zu Ehren seines Kollegen Schiller in dessen Geburtshaus in Marbach eine Andacht abzuhalten. Wir fanden das recht störend von Hugh – Schiller war ja schon seit vielen Jahren begraben – ließen ihn aber doch ziehen.

Als wir nun in dem ehemaligen Räubernest auf dem Hasenberg, mit der herrlichen Aussicht in das schöne Neckartal, saßen, gab der Holländer den Schluß seiner Erzählung zum besten.

»Kameraden!« begann er. »Während ich jetzt an diesem strahlend schönen Maientag hier oben sitze, muß ich zurückdenken an jene südlichen Gegenden und an ihre überwältigende Schönheit, wenn nach den trüben Tagen der langen Regenzeit die Sonne wieder schien. Könnt ihr euch noch daran erinnern, wenn die Sonne zum erstenmal wieder aufging und wie mit einem Zauberschlag das ganze Erdreich übersät war von Millionen und Abermillionen der herrlichsten bunten Blumen? Um sie her und über ihnen zitterte die lichtdurchflutete Luft und tauchte alles in üppige Farbenpracht. Ach wie schön, wie ergreifend schön sind die Tage des Frühlings dort unten! Ein Leuchten geht aus von allen Felsen, und alle Steine funkeln. Der langsam fallende Wasserspiegel jeder Mulde in der weiten Ebene glänzt dem einsamen Reiter entgegen, wie ein tiefleuchtendes, freudetrunkenes Auge. Jeder saftige Blumenstengel, jede schwankende Narzissenblüte, jeder in die Höhe strebende Schößling, die die Pferdehufe berühren, läßt sich freudig zertreten, und der weiße Jugendsaft rinnt aus den Pflanzenwunden als Opfer für Allah. Wie seltsam wirken die klaren, weißgetünchten Kuppeln, die Allahs merkwürdige Söhne in Treue und Ehrfurcht über verfallene Heiligengräber gewölbt haben! Wie ein schimmerndes, silbernes Ei liegt so ein Grab da in seiner Einsamkeit zwischen den fingerförmig gespreizten Wedeln der Zwergpalmen. – Ja, ja, das Land, dem ich fluche, ist schön um diese Zeit! – Nun, wie weit bin ich gestern gekommen? Ja so, bis zu den hundert Metkhal. Nun habe ich den Faden der Erzählung wieder.

»In jenen Tagen verhielten sich die Stämme, die in der Nähe der Stadt hausten, verhältnismäßig ruhig. Vielleicht hatte der wunderbar schöne Frühling diese erfreuliche Wirkung.

»Wenn meine Frau und ich einen Ritt unternahmen, den Fluß entlang oder auch in die Wälder vor der Stadt, nickten die braunen Männer und Kinder, denen wir begegneten, uns freundlich lächelnd zu und begrüßten uns mit ihrem ›Selam aleikum!‹ Und mein kindliches Frauchen nickte ihnen auch zu und sagte freundlich ihr heimatliches ›Grüß Gott!‹

»Wir wagten uns oft recht weit über die Mauern der Stadt hinaus, bis zum Rande der großen Steppe. Und mein kleiner Liebling sang oder plauderte dabei von allem Möglichen zwischen Himmel und Erde.

»›Ein seltsames Rauschen geht über die Ebene hin,‹ sagte sie. ›Es ist als ob ein Ton von ihr aufstiege. Horch, hörst du nichts?‹

»Wir hielten unsre Pferde an und lauschten. Da hörten wir einen langen Glockenton durch die Luft zittern, und mein Liebling flüsterte mir zu: ›Ist es nicht, als sitze irgendwo ganz dort draußen ein ungeheuer großer alter fremder Vogel inmitten aller Herrlichkeit des Lebens voller Kummer und lasse sein Leid klagend in Tönen ausströmen?‹

»›Ach, das geliebte Weib aus dem Germanenstamm!‹

»Dieser Lenz in seiner Jugendfrische und Schönheit überwältigte uns und machte uns dreist. Kühn überschritten wir die Grenzmarkung und kamen bis in die kleinen Kabylendörfer. Wir stiegen von unsern Pferden, traten gebückt unter das Dach ärmlicher Strohhütten und machten uns mit den Eingeborenen prächtig verständlich durch Zeichen, Gebärden und Naturlaute. Die braunen Halbwilden lachten laut über uns, und ohne Furcht sahen wir ihre ungeheuren Gebisse mit den elfenbeinweißen noch von keinem Arzt behandelten Zähnen. Besonders strichen die Wilden mit ihren Händen über das samtweiche Reitkleid meiner Frau, und die rauhen Männer sahen die Fremde mit Ehrfurcht und Wohlgefallen an. Sie nahm die kleinen, halbnackten Kinder auf den Arm, liebkoste und schaukelte sie, bis sie vor Freude laut jubelten. Ja, das war ein Fest! Einen kleinen Jungen, der gerade anfing zu gehen, liebte sie ganz besonders. Mit einer vielsagenden Gebärde hob sie ihn in die Höhe und blickte mich strahlenden Auges dabei an. Dann beugte sie errötend ihr reizendes Köpfchen zu dem Kleinen nieder und zählte ihm seine Finger vor. Wie fein, wie keusch wußte mein liebes Frauchen zu kokettieren!

»Oft wurde es auf unsern Ausflügen recht spät. Verliebten Menschen vergeht die Zeit nur zu schnell, besonders im Frühling.

»An einem wunderschönen Abend befanden wir uns noch lange nach Sonnenuntergang draußen vor der Stadt. Da begegnete uns eine Karawane, die nach Süden zog. Wir bogen von unserem Pfad ab und warteten bis die schwerbeladenen Dromedare an uns vorbeigeschritten waren. Zuletzt kam ein kleiner Esel mit einem Treiber hinter sich nachgetrottet. ›Jalla, Jalla!‹ rief dieser dem Esel zu und versetzte ihm dabei mit einem spitzen Stock häufig eins auf die Lenden. Dieser Treiber war ein zerlumpter, verkrüppelter Mann, hatte aber eine Satansenergie in seiner Stimme. Gerade vor uns blieb er stehen, um sich seine tönerne Pfeife anzuzünden. Bei dem flackernden Lichtschein des Zündhölzchens erkannte ich ihn wieder: es war der zähe Liebhaber meines Teppichs. Nach den Freuden des Tages vergnügt und mild gestimmt, war ich im Begriff, ihn anzurufen und ihm zu sagen, daß ich ihm seinen Teppich als Geschenk geben wolle. Die Worte lagen mir schon auf der Zunge. Ich hätte noch Zeit genug gehabt, denn er war noch nicht weitergeeilt, sondern stand da, das eine Bein schon zum Fortschreiten angesetzt.

»›Horch, horch!‹ sagte meine Frau halblaut, indem sie ihre Hand auf die meinige legte, ›über uns rauscht es, und um uns herum rührt und bewegt es sich so seltsam.‹

»›Jalla, jalla!‹ schrie der Eseltreiber und trabte weiter.

»Ein tausendstimmiger, eigenartiger, halb knisternd, halb pfeifender Laut ging über uns hin. Im Gras raschelte und wisperte es, wie wenn die Schollen und Steine des Erdbodens lebendig geworden wären. Plötzlich hörten wir einen gellenden Ton wie einen Trompetenstoß hoch oben und dann das Sausen von großen Schwingen, die die Luft durchschneiden. Wie ein Unwetter zog es über uns hin, wie eine gewaltige Sturmwolke, und einen Augenblick wurde es Nacht vor unsern Augen.

»›Die Zugvögel!‹ rief meine Frau. ›Die Zugvögel sind es, die nach Norden ziehen – heim – heim zu den großen stillen Wäldern!‹

»Der Blick der Germanenfrau wurde feucht, und sie winkte der heimwärtsstrebenden Schar ein Lebewohl zu.

»Ich aber hatte einen Glücksfall an mir vorbeigehen lassen. Was der Zufall mir bot, hätte ich nur zu ergreifen brauchen. Ich tat es nicht, denn es ging mir wie den meisten andern Sterblichen, im rechten Augenblick hatte ich nicht begriffen, daß der seltene Vogel des Glückes im Fluge erlegt werden muß.

»›Jalla, jalla!‹«

*

»Ihr wißt, wie heiß der Sommer in Marokko ist. Eines Nachmittags saßen mein Geschäftsteilhaber und ich unter den Fieberbäumen in meinem Garten. Wir hatten kaum Lust, etwas zu reden. Die Hitze und angestrengte Arbeit hatten uns völlig erschöpft. Dies möge für das Folgende etwas zu meiner Entschuldigung dienen.

»Plötzlich knirschte die Gartenpforte in ihren Angeln, und ich hörte Schritte auf dem Kiesweg. Zwei Schatten fielen auf den Rasen vor mir, und als ich mich aus meinem Hindämmern aufraffte, sah ich zwei ärmlich gekleidete Araber vor mir stehen, von denen der eine den andern an der Hand führte.

»›Hier ist er,‹ sagte der Führer.

»›Barakalaufik!‹ erwiderte der andre, seinem Begleiter zunickend. Dann trat er einen Schritt auf mich zu, legte die Hand auf die Brust und sagte: ›Jacidi, nun ich sein blind. Um mich sein alles dunkel. Ein Splitter sein in mein Auge geflogen und haben alles Licht daraus geraubt. Dennoch haben ich dich gefunden, Jacidi, du erkennen mich sicher.‹

»In der Tat, vor mir stand der Teppichmann. Der unausstehliche Kerl! Kommt einfach daher und stört mich in meiner Ruhe. Er und sein Gefährte verpesten in ihrem Schmutz die ganze Umgebung. Wie jemand, der morgens mürrisch und schlaftrunken aufwacht, fahre ich auf, strecke die Hand gegen den Araber und rufe: ›Hinaus!‹

»›Jacidi,‹ sagte der blinde Mann, ›ich haben mich verdingt als Ruderknecht auf den Felucken des Hassani, und mir haben erspart dadurch viel Geld, dann ich haben umgegraben tiefe Acker für die Eingewanderten, und Fußtritte waren mein Lohn. Dann ich bin gezogen zu den seichten Seen auf Aalfang, und ich ersparen mir Geld. Weiter führen Allah mich in die großen Gefängnisse in dem schönen Suira, wo mein Geschäft gewesen sein abhauen den Leuten die Köpfe und für jeden Kopf ersparen ich mir Geld. Dann ich bin gefolgt als Treiber einer Karawane, die südwärts nach Timbuktu zog, um zu holen Gold. Aber als wir kamen an den Rand der Wüste, lassen ich mir geben meinen Lohn und kehren in diese Gegend zurück, um mich nicht zu entfernen zu weit von dir, Jacidi. Das alles sein geschehen des Teppichs wegen, den du haben in deiner Gewalt. Das Glück waren mir günstig, Jacidi. Ich hungerte und dürstete und wurden verhöhnt, aber je schwerer mein Mantel wurde von dem Silber, um so leichter wurde mein Fuß. Und ich sehen schon den Tag heranrücken – Da kommen der Splitter, Jacidi, da kommen der Splitter und es wurde Nacht.‹

»Ich gähnte.

»Der blinde Mann zog vorsichtig einen umfangreichen Lederbeutel aus den Falten seines Mantels hervor und strich mit den Händen darüber hin.

»›Hier sein fünfzig Metkhal, Jacidi,‹ sagte er. ›Alles, was ich haben verdient mit der Sklavenarbeit meiner Hände. Du nehmen sie an als volle Bezahlung und mir geben meinen Teppich. Zu mehr reichen meine Kräfte nicht.‹

»Gott mag wissen, was für ein Teufel in mich hineinfuhr, als ich antwortete: ›Ich lasse mir nicht auf der Nase herumtanzen. Das mit der Blindheit ist ein alter Kniff. Warum verfolgst du mich beständig? Laß mich in Frieden, meine Bedingungen habe ich dir gesagt. Geh!‹

»Da legte sich ein düsterer Schatten auf das Gesicht des Blinden und seine Hand umklammerte seinen Stab fester.

»›Haben du denn gar kein Herz, du weißer Mann?‹ flüsterte er. ›Gönnen du es nicht einmal einem Blinden, in Frieden zu sterben?‹

»Eine große Träne rollte über seine Wange und fiel zu Boden.

»›Ich habe die Komödie jetzt satt,‹ entgegnete ich, ›und ich habe keine Lust, dich länger anzuhören. Geh, hab' ich gesagt!‹

»›Fünfzig Metkhal, Jacidi – fünfzig Metkhal!‹

»Geh!‹

»›Treiben Sie es nicht weiter‹ flüsterte mir mein Geschäftsteilhaber zu, und es kam mir vor, als sehe er mich bei diesen Worten verächtlich an. Das vermehrte nur noch meine Halsstarrigkeit.

»›Geh, geh!‹ wiederholte ich.

»Da richtete sich der Araber plötzlich hoch auf und warf den Kopf zurück. Bei dieser Bewegung leuchtete in seinen erloschenen Augen etwas auf wie ein grauer Schimmer, und ich begriff jetzt, daß er wirklich blind war. Ein gurgelnder Laut drang aus seiner Kehle, Zornesröte bedeckte sein Gesicht, er streckte die rechte Hand gegen mich aus und schrie mit heiserer, zitternder Stimme: ›Verflucht sollst du sein, dein Haus und dein Geschlecht! Verflucht sei dein Atem und das Wort deines Mundes, verflucht dein Gebet und deine Gebeine im Grabe! Verflucht sei deine Seele in alle Ewigkeit! – Verflucht! Verflucht!‹

»Es war ein unheimlicher Anblick. Die langen gelben Nägel kratzten wie die Klauen eines Raubvogels seine Brust blutig, sein Gesicht verzerrte sich, und ein rachegieriges, haßerfülltes Grinsen spielte um seine Mundwinkel, in denen weißer Schaum stand. Niemals werde ich diesen Anblick vergessen.

»›Du drohst mir, du Hund!‹ rief ich und ging mit erhobener Hand auf ihn zu.

»Da wandte sich der Führer dem Ausgang zu, den Blinden mit sich ziehend. Ich sah die krummen Rücken der beiden durch die Gartenpforte verschwinden.

»Noch einmal hatte das Schicksal mir vergebens Gelegenheit gegeben, dem Unheil zu entgehen.«

Van Hook hielt einen Augenblick inne und trank ein Glas Wein. Ali-ben-Kaim sah ihn finster an.

»Töricht, töricht hast du gehandelt, Atachar,« sagte er.

Der Holländer zuckte die Schultern.

»Ja, gewiß, Taleb,« sagte er dann. »Aber Fieber brannte mir im Blut, ich war gereizt, ja verrückt, und wußte nicht mehr, was ich tat. Hätte ich geahnt, was kommen würde, bei Gott, ich hätte anders gehandelt! Aber laßt mich nun meine Leidensgeschichte zu Ende erzählen!

»In meinem trauten Heim wurde einem freudigen Ereignis entgegengesehen; ich ging daher in hoffnungsfroher Spannung umher. Meinem Glück sollte die Krone aufgesetzt werden. Und ich hatte tatsächlich Ursache, mit meinem Dasein zufrieden zu sein. Das Geschäft ging beständig vorwärts, wir waren gesund und frisch und freuten uns über das ungebundene Ansiedlerleben, das wir führten. Und nun war noch ein kleiner Erdenbürger im Anmarsch – natürlich ein prächtiger Sohn! War es zu verwundern, daß ich mich in meinem kleinen Reich wie ein König fühlte?

»An den Gebetsteppich dachte ich überhaupt nicht mehr. Der abgenutzte kleine Lappen lag auch ferner vor dem Bette meiner Frau. Der blinde Araber war verschwunden. Ich konnte nicht gerade sagen, daß sein Fluch mich besonders bedrückt hätte. Mein Geschäftsteilhaber teilte allerdings meine Sorglosigkeit nicht.

»›Nehmen Sie sich in acht!‹ sagte er mit ernster Miene. ›Ich habe das Gesicht des blinden Mannes genau beobachtet und hörte in seiner Stimme einen verdächtigen Unterton. Glauben Sie mir, er führt Böses im Schilde.‹

»›Was könnte der klägliche Kerl mir anhaben?‹ fragte ich spöttisch.

»›Das kann ich unmöglich wissen,‹ entgegnete der Engländer. ›Aber diese Leute wissen viele Wege, ihr Ziel zu erreichen, wenn die Rachgier sie anspornt. Zudem vergessen sie eine erlittene Unbill niemals.‹

»In meiner unerschütterlichen Selbstzufriedenheit hörte ich nicht auf seine vernünftigen Worte, ja, ich war so unbedachtsam, das Wort ›Feigling‹ fallen zu lassen, wodurch ich ihn natürlich vor den Kopf stieß. Von da ab zog er sich nach echt englischer Art von mir zurück, wie eine Auster in ihre undurchdringliche Schale, und sprach kein Wort mehr von dem blinden Mann. – Ach, wäre ich doch seinem wohlmeinenden Rat gefolgt! –

»Eines Nachts entlud sich nach einem sehr heißen Tag ein fürchterliches Unwetter. Noch niemals hatte ich etwas derartiges gesehen oder gehört. Unser kleines Haus zitterte und schwankte in seinen Grundfesten wie bei einem Erdbeben. Der Sturm heulte und brüllte um die Ecken des Hauses und warf einmal übers andre ganze Haufen von Sand und Laub an die geschlossenen Fensterläden. Draußen im Garten krachte es in den Bäumen, ich hörte große Zweige abknicken mit einem Knall wie von einem Pistolenschuß. Aber alle die piepsenden, krachenden, klagenden Laute, die der Wind hervorrief, wurden übertönt von dem hohlen Dröhnen des Ozeans, der weit draußen mächtig stieg und stieg, und dessen Wogen sich am flachen Strand mit einem wahren Schlachtgetöse brachen. Wilder und wilder tobte der Orkan. Da ich doch nicht mehr schlafen konnte, zündete ich ein Licht an und begann zu lesen. Während ich so ruhig dalag, wurde ich auf einen merkwürdig kratzenden Ton aufmerksam. Einmal meinte ich, er komme draußen vom Garten her, dann wieder hörte ich ihn ganz in meiner Nähe. Es klang, wie wenn jemand vorsichtig und gleichmäßig mit einem Meißel an der Mauer arbeitete, oder wie das unermüdliche Nagen einer Ratte. Dazwischen konnte ich vor dem Heulen des Windes und dem Klappern der Läden längere Zeit nichts hören, dann aber vernahm ich den sonderbaren, kratzenden Laut aufs neue – beständig näher und näher heranrückend. Ich war gerade im Begriff, der Ursache des Geräusches nachzuforschen, als es plötzlich aufhörte. Es mußte eine Ratte gewesen sein, oder vielleicht auch ein zudringlicher Zweig, der gegen die Mauer geschlagen und den der Wind nun endlich abgerissen hatte. Noch eine Weile blieb ich ruhig liegen und horchte auf den Sturm, dann löschte ich das Licht und schlief wieder ein. Wie lange ich geschlafen haben mag, weiß ich nicht; aber plötzlich fuhr ich, durch einen schauderhaften Schrei aufgeweckt, in die Höhe, durch einen unbeschreiblichen Schreckensruf, der mir so durch Mark und Bein ging, daß ich einen Augenblick wie gelähmt in meinem Bett saß. Ach, meine Freunde! Noch heute geht mir, wenn meine Gedanken in der Vergangenheit weilen, dieser Schrei wie ein Schwert durch meine Seele!

»Der Schrei war aus dem Zimmer meiner Frau gedrungen! ... Und jetzt gellte noch einmal ein noch lauterer, noch verzweifelterer Schrei durch die Nacht, er klang wie das Geheul aus der Zelle eines Wahnsinnigen, oder wie der in höchster Todesnot ausgestoßene Schrei eines untergehenden Menschen, der das Gebrüll der Wogen übertönt.

»Ich fuhr auf, zündete mit bebender Hand ein Licht an, warf meinen Reitermantel um, riß den Revolver von der Wand und stürzte hinaus. Meine Kniee zitterten und kalter Schweiß trat mir auf die Stirne. Ich verstehe noch heute nicht, wie ich mich so rasch auf dem Gang, der unsre Zimmer verband, zurechtfand, und wie es mir in der Dunkelheit gelang, ohne fehlzugreifen, sofort die Türklinke zu erfassen und die Tür aufzureißen.

»Auf der Schwelle blieb ich stehen.

»Im ersten Augenblick sah ich nichts, als daß meine Frau aufrecht in ihrem Bett saß, die eine Hand auf die Brust gepreßt, aber mit dem Ausdruck eines so furchtbaren Schreckens in ihrem leichenblassen Gesicht, daß ich sie kaum erkannte. In ihren grauenhaft verzerrten Zügen war kein Leben, keine Bewegung: ihr Blick starrte vor sich hin, wie von einer unwiderstehlichen Macht angezogen.

»›Beate!‹ rief ich, rasch auf sie zutretend.

»Aber meine Frau blieb unbeweglich sitzen, ohne nur zu antworten. Ich folgte der Richtung ihres Blickes und sah plötzlich etwas, das mir das Blut in meinen Adern erstarren ließ. Mitten auf dem kleinen Gebetsteppich vor dem Bette meiner Frau lag die gesprenkelte Schlange, die die Eingeborenen ›Garbenbinder‹ oder ›Todesschlange‹ nennen, weil ihr Blick die furchtbare Eigenschaft hat, jeden, den er trifft, willenlos festzubannen, und weil ihr Biß unerbittlich den Tod herbeiführt.

»Langsam, langsam hob die Schlange von den glänzenden Ringen, die ihr Leib bildete, den Kopf in die Höhe, gleich einer jener majestätischen Pflanzenstengel, die die indischen Fakire in wenigen Sekunden aus dem Erdreich hervorwachsen lassen. Mit unsagbarem Grauen sah ich, wie der Kopf meiner Frau widerstandslos den Bewegungen der Schlange folgte, während ihre Pupillen an dem funkelnden Basiliskenblick des Scheusals hingen. Meine Gegenwart machte nicht den geringsten Eindruck auf die Schlange, ein Umstand, der mich doch die Fassung wieder etwas gewinnen ließ und mir die Möglichkeit gab, einzuschreiten. Ich spannte den Hahn meines Revolvers; aber der Kopf der Schlange befand sich jetzt in der gleichen Höhe mit dem Bettrand, und wenn ich von dem Platze aus, wo ich stand, geschossen hätte, so würde die Kugel unfehlbar auch meine Frau durchbohrt haben. In der einen Hand das Licht, in der andern den Revolver, glitt ich daher, so leise ich konnte, einige halbe Schritte seitwärts und nahm den Kopf der Schlange aufs Korn. Aber was war das für ein Zielen, meine Freunde! Was für ein klägliches Subjekt war ich, als es jetzt darauf ankam, zu handeln! Kraftlos schlenkerte meine Hand hin und her, und ich fühlte mein Herz oben in meinem Hals schlagen. In diesem Augenblick drehte die Todesschlange den Kopf. Ihr Hals weitete sich sackartig aus, ihre glänzenden Augen funkelten wie zwei Jetperlen, und ihre gespaltene Zunge züngelte nach mir. Ich sah, wie sie ihre Ringe anspannte und ihren Nacken wie zum Sprung zurückbog; ich hörte ihr verhängnisvolles Rascheln. – – Da schoß ich. Zugleich entfiel das Licht meiner Hand und erlosch auf dem Boden. Im Schein der kleinen Lampe, die auf dem Nachttisch meiner Frau brannte, nahm ich einen Schimmer der Schlange wahr, die gegen mich sprang, ohne mich zu treffen, weil ich instinktmäßig seitwärts ausgewichen war. Halb wahnsinnig vor Angst gab ich wieder Feuer, während ich einen Schritt zurücksprang. Aber jetzt raschelte es wieder gerade vor mir. Nun verlor ich vollends alle Besinnung. Ohne Überlegung, ohne zu zielen, feuerte ich auf gut Glück blindlings Schuß auf Schuß ab. Ich wußte nicht, ob ich traf oder nicht, ja ich sah nicht einmal nach, wurde nur von dem einen Gedanken beherrscht: Schießen, Schießen! Ich raste von einem Ende des Zimmers zum andern, weiß auch noch, daß ich einige Male in die Höhe sprang, halb wahnsinnig vor Angst, ich könnte mit meinem schrecklichen Feinde in Berührung kommen. Überall glaubte ich die Schlange hinter mir her, überall glaubte ich ihr Zischen zu hören. Einmal fühlte ich etwas Feuchtes, Kaltes sich um meinen Knöchel schlingen. Ich schrie auf, sinnlos vor Furcht, und schoß, schoß. Der kleine Raum füllte sich mit Pulverrauch, durch den das Licht der Nachtlampe nur noch wie ein schwacher roter Punkt hindurchschimmerte. Ich stürzte auf den Tisch zu, um auf diesen hinaufzuspringen. Die Todesangst ließ mich jede Überlegung vergessen. Da stieß ich die Lampe um, es wurde stockfinster um mich her. Nun streckte ich die Arme in ihrer ganzen Länge vor mich her und drückte wie rasend auf den Drücker meiner Waffe; sie versagte, der Revolver war leer geschossen. Noch erinnere ich mich, daß ich draußen das Heulen des Sturmes und das Krachen der Bäume hörte, und durch allen diesen Lärm hindurch drang aus der Ferne das dumpfe Dröhnen des Meeres an mein Ohr. Der Ton wuchs und wuchs, bis der dumpfe Baß meine Sinne überwältigte und ich gleichsam in eine unermeßliche, dröhnende Tiefe versank – –

»›Als ich das Bewußtsein wieder erlangte, lag ich in meinem Bett. Durch das offene Fenster drang eine frische Morgenbrise in mein Zimmer, und der blaue Himmel schaute so freundlich herein, als ob ihn niemals Gewitterwolken verdunkelt hätten. An meinem Bett saß der alte jüdische Doktor und behandelte mich aufmerksam, ja ganz ernst und betrübt sah sein Gesicht dabei aus.

»Allmählich erwachte die Erinnerung an das Vorgefallene in meinem Gehirn.

»›Meine Frau?‹ war meine erste Frage. ›Wie geht es meiner Frau?‹

»Der Doktor zögerte mit der Antwort.

»›Sie ist krank, sehr krank,‹ brachte er endlich heraus: aber ich sah ihm an, daß er mir etwas verheimlichte.

»›Sagen Sie mir die Wahrheit!‹ bat ich. ›Ich bin stark genug, auch das Schlimmste zu hören.‹

»Der Doktor blickte mir prüfend in die Augen. Dann antwortete er leise: ›In Ihrem Hause muß sich heute Nacht etwas höchst Sonderbares ereignet haben. Als mich Ihr Diener holte, fand ich Sie in dem Schlafzimmer Ihrer Frau mit einem Revolver in der Hand bewußtlos auf dem Boden liegen. Und sie, sie lag tot in ihrem Bett. Die Wände ringsherum waren voller Kugellöcher. Eines befand sich sogar gerade über dem Kopfende des Bettes Ihrer Frau; aber getroffen war sie nicht.‹

»Jetzt erinnerte ich mich genau an alles, und ein Schauder überlief mich bei dem Gedanken an das schreckliche Erlebnis. Rasch richtete ich mich in meinem Bett auf und packte den Doktor am Arm.

»›Haben Sie keine Wunde oder irgend ein Mal an ihr gefunden – wie von einem Biß?‹

»›Nein, ich habe nichts derartiges entdeckt,‹ versetzte der Doktor erstaunt. ›Aber in meinem ganzen Leben habe ich noch nie ein Totenantlitz gesehen wie das Ihrer Frau. – Was hat es übrigens mit dem Mal, von dem Sie sprechen, auf sich?‹

»Ich berichtete dem Doktor kurz alles, was sich ereignet hatte. Er war tief erschüttert.

»›Jetzt begreife ich, wie es gegangen ist,‹ sagte er, indem er mir teilnehmend die Hand streichelte. Man hat die Schlange durch ein kleines Loch in der Mauer unter dem Fenster ins Zimmer Ihrer Frau hineinkriechen lassen. Ach, welche Teufel sind die Menschen! Es gibt nichts, was furchtbarer auf die Nerven einer Frau wirkt, als der Anblick einer Schlange, und nun gar in dem Zustand, in dem sich Ihre Frau befand! Sie ist vor Schrecken gestorben,‹ sagte er wie zu sich selbst.

»Schluchzend warf ich mich auf mein Kissen zurück. O ich verblendeter Starrkopf! Durch meine unbegreifliche Hartherzigkeit war ich der Mörder meiner Frau geworden, ja zwei Leben hatte ich auf dem Gewissen, außer ihrem auch das, das sie unter ihrem Herzen getragen hatte. Der Fluch des blinden Mannes war nicht vergeblich über mich ausgestoßen worden. Der Araber wußte, wo er mich am tiefsten treffen konnte. Wie teuflisch hatte er seinen Racheplan ausgedacht! Mich selbst ließ er am Leben, er überantwortete mich den Qualen der Reue und Selbstvorwürfe. Sein Gebetsteppich war bezahlt. Jetzt konnte er seinem Sohn erzählen, was er mich gekostet hatte, jetzt konnte er in Frieden sterben und an dem ›weißen Tag‹ ruhig seinen Vorfahren in die Augen sehen.«

Van Hook schwieg.

»Und wo ist die Todesschlange geblieben?« fragte jemand.

»Wahrscheinlich ist sie auf demselben Weg, durch den sie gekommen war – durch das Loch unter dem Fenster – wieder hinausgekrochen. Sie hatte ja ihr Werk vollbracht.«

»Und der blinde Mann?«

»Den habe ich nie wieder gesehen und hatte auch kein Verlangen danach. Ich verkaufte meinen Geschäftsanteil und schüttelte den Staub des verfluchten Landes von meinen Füßen. Aber oft, oft ziehen meine Gedanken hin zu dem kleinen Grabe an der Küste des atlantischen Ozeans.«

»Daß du den blinden Mann nicht mehr gesehen hast, ist begreiflich,« nahm Ali-ben-Kaim das Wort. »Er war kurz nach eurem letzten Zusammentreffen an den schwarzen Blattern gestorben. Sein Begleiter und Gehilfe war es, der das Rachewerk ausgeübt hat. Weißt du, wer der Alte war, Atachar? Es war der große Taleb aus der Zerhunhöhle, dem niemand widerstehen kann. Sein Fluch lastet noch heute auf dir. Sag, hast du seit jener Zeit einen einzigen gesunden Tag gehabt?«

Der Holländer lächelte.

»An der Gicht trägt dein verehrter Bruder in den geheimen Künsten keine Schuld,« entgegnete er; »die habe ich mir auf höchst natürliche Weise an den sumpfigen Gestaden der Salzseen geholt.«

Taleb schüttelte den Kopf.

»Davon verstehst du nichts,« sagte er tiefernst. »Dürfte ich dir sagen, was ich weiß, so würdest du anders darüber denken. Aber so seid ihr alle, ihr Rumi, alle Dinge glaubt ihr selbst am besten zu wissen, vor unsern Erfahrungen habt ihr wenig Achtung. Immerhin habt ihr schon manches von uns gelernt, aber ihr habt noch mehr von uns zu lernen. Die kommenden Zeiten werden euch das zeigen.«

»Weihe uns in die Geheimnisse ein, o weiser Taleb!«

Doch Ali-ben-Kaim würdigte den Holländer keines Blickes, sondern hüllte sich in den Mantel des Schweigens.

*

Weil man in der guten Stadt Stuttgart zu einer Tageszeit zu Mittag ißt, während der man anderswo am Frühstückstisch sitzt – seinen Morgenkaffee trinkt man in dunkler Nachtzeit, ehe der Tag anbricht –, bekamen wir bei unsrer Rückkehr vom Räubernest in unsrer bürgerlichen Stammkneipe nichts zu essen und mußten, um unsern Hunger zu stillen, ein Hotel aufsuchen, das etwas mehr den Anforderungen der Gegenwart entsprach. Wir ließen indes den Bescheid für Hugh zurück, er solle uns um acht Uhr im »Allerheiligsten« erwarten, falls er sich nicht vorgenommen habe, die ganze Nacht in Andacht in Schillers Geburtshaus zu verbringen. Es war nämlich bei unserm Sekretär Niam-Niam ein dicker Brief angekommen, der den Poststempel St. Helena trug und auf dessen Rückseite als Name des Absenders »Bolton« stand. Dieser Bolton aber war auch einer aus unserm Kreis; demnach bestand kein Zweifel darüber, daß der Brief für uns alle bestimmt war, und deshalb sollte er auch nur in Gegenwart aller geöffnet werden. Wir glaubten, Hugh diese Rücksicht schuldig zu sein, obgleich er sie eigentlich nicht verdient hatte; aber wir waren Männer von edler Gesinnung.

Nach dem Mittagessen legten der Marquis und Taleb Zeichen von Unruhe an den Tag. Der Marquis sagte, er erwarte jemand mit dem Zug, und Taleb hatte unglücklicherweise versprochen, den Marquis zu begleiten, um den Gast zu empfangen. Die Lügen standen ihnen zwar deutlich auf dem Gesicht geschrieben, aber wir andern ließen sie in Ruhe und sagten, sie könnten gerne gehen. Pokoff wollte ins Krankenhaus, während van Hook seine Gicht in Niam-Niams Gesellschaft pflegen wollte. Bobo und ich beschlossen auszugehen, um uns die Stadt ein wenig anzusehen. So war unser Kollegium für eine Weile gesprengt; aber vorher hatten wir feierlich gelobt, uns um acht Uhr wieder in der »alten Post« zu versammeln.

Mit der Veröffentlichung der Studien über Stuttgart, die Bobo und ich an diesem Nachmittag machten, will ich warten, bis ich, Inschallaah! dazu komme, sie eingehend zu schildern unter dem Titel: »Die Eindrücke zweier Barbaren von Süddeutschland.« – Es wird ein Buch in Folioformat werden. Den Titel hatte Bobo erfunden. Darum beanspruchte er für sich die Hälfte des Honorars. Für heute will ich mich auf die Mitteilung beschränken, daß wir den Weg zur Marienkirche, die Bobo als guter Katholik zu besuchen nicht unterlassen wollte, verfehlten und dafür in die große Bierhalle von Dinkelacker in derselben Straße gerieten. Wir tranken ein ausgezeichnetes Bier in Gesellschaft zweier fünfjähriger Knaben und einer Gemüsefrau mit einem Säugling auf dem Arm. Die Halle war gepfropft voll. Bei jedem neuen Faß, das zum Anstechen auf den Tisch gerollt wurde, läutete einer mit einer Glocke. Diese Glocke klingelte ununterbrochen.

Von dieser Kirche aus begaben wir uns nach dem Rathaus. Es ist nämlich eine Eigentümlichkeit der süddeutschen Städte, daß jedes ihrer Rathäuser auch einen Ratskeller hat. Bobo war ganz darauf versessen, jetzt einmal einen guten Becher echten Neckarweines zu genießen; er hatte in Erfahrung gebracht, daß für diesen Keller der König selbst den Wein lieferte, und da mußte dieser doch auch echt sein.

Wir ließen uns also einen Schoppen geben und tranken.

»Der Wein ist sauer,« murrte Bobo. Als jedoch sein Blick auf die hübsche Kellnerin fiel, fuhr er fort: »aber das Mädchen ist süß; der König muß ein hervorragender Staatsmann sein. Es lebe der König!«

*

Zur bestimmten Stunde saßen wir alle auf unsern Plätzen in der »alten Post«. Mit Ausnahme von Hugh waren wir alle sehr gut gelaunt. Diesen hatte der Besuch bei seinem Kollegen Schiller stark enttäuscht. Er erklärte, in dem Schillerhaus befände sich nur allerlei alter Plunder von dem berühmten Manne, einige alte Kleider, ein Sofa und Ähnliches. Aus Ehrerbietung für den großen Dichter habe er sich dann daran gemacht, in einen Schreibtisch seinen Namen hineinzuschnitzen, aber da sei ein Herr mit einem so wütenden Gesicht auf ihn zugekommen, wie er noch nie eines gesehen habe. – Nein, an diesem Schillerhaus sei nichts Besonderes. Er hatte ihm deshalb auch den Rücken gekehrt und war gegen Abend höchst enttäuscht wieder nach Stuttgart zurückgekehrt. Überhaupt war ihm an diesem Tage alles, was er unternahm, schiefgegangen. Abends hatte er noch ein sehr peinliches Erlebnis gehabt. Ein feiner Regen hatte eingesetzt, und Hugh dachte, nun würden die Fische im Schloßteich gut anbeißen. Er verfertigte sich aus einem Bindfaden und einer Stecknadel einen Angelhaken mit Schnur. Die Fische benahmen sich ganz nach Wunsch. Auf einmal tauchte aber wieder ein wütender Mann mit einem Stock auf der Bildfläche auf und fing ein großes Gezeter an. Hugh bat den Mann höflich, den ganzen Fang für seine Familie mit nach Hause zu nehmen und die Fische zum Abendessen zu backen. Doch der merkwürdige Mensch ließ sich hierzu nicht bewegen, im Gegenteil, Hugh mußte mit ihm auf eine Kanzlei, die verflucht weit oben in der Stadt lag, und für einige Schriftstücke bezahlen, die, wie unser Freund annahm, einen Erlaubnisschein, im Schloßpark fischen zu dürfen, darstellten.

»Eigentlich war der Preis nicht zu hoch,« schloß Hugh seinen Bericht; »denn in dem Teich gibt es ziemlich viele, prachtvoll fette Karpfen!«

Mit großer Feierlichkeit öffnete Niam-Niam Boltons Brief. Ehe ich indes Niam-Niam den Brief vorlesen lasse, muß ich über unsern Freund, den Metallurgen Francis Bolton, einige Aufklärungen geben.

Schon zu der Zeit, als wir noch zusammenhausten, hatte Bolton begonnen, etwas eigenartig und überspannt zu werden, und schließlich hatte er sich mit Haut und Haar dem Spiritismus verschrieben. Manchmal war sein Benehmen so sonderbar, daß wir, ehrlich gestanden, beinahe Angst bekamen, er könne einmal uns allen das Leben nehmen, nur um Gelegenheit zu bekommen, mit unsern freigewordenen Geistern Experimente anzustellen. In derartigen Sachen war er nämlich völlig vorurteilsfrei. Zum Glück für beide Teile kamen wir noch beizeiten auseinander.

Aber offen und wahrheitsliebend war Bolton und dabei hochgelehrt, ja vielleicht etwas zu gelehrt. So war er ein Sonderling geworden, einer von denen, die ihre eigenen Wege gehen, sich nicht darum kümmern, was die Leute sagen und auch nicht so denken, wie die Leute denken.

Unser letztes Zusammentreffen hatte in den Erzgebirgen einige Meilen nordöstlich von Mogador stattgefunden. Dort hatte er sich in Gesellschaft eines Eremiten, eines außerordentlich heiligen Mannes, namens Hadj-el-Arabi niedergelassen. Sie hausten zusammen in einem alten von der Sonne braun gebrannten zerlumpten Zelt und befanden sich dabei offenbar sehr wohl. Den Tag über waren sie draußen und gruben im Gebirge nach Metallen, und abends saßen sie vor ihrer Zelttür und philosophierten über die Rätsel vom Leben und Sterben. Zwei merkwürdige Vögel aus ganz verschiedenen Himmelsrichtungen hatten sich im Gewühl der Menschheit gefunden, zwei seltsam wissensdurstige Seelen von gleicher Art. Die Eingeborenen in der Gegend jenes Erzgebirges ließen sie in Frieden, ja, sie küßten ihnen noch ehrerbietig den Saum ihrer Mäntel, denn sie glaubten, die beiden seien von Allahs Hand »berührt«, das heißt vollkommen übergeschnappt.

Nach diesen Vorbemerkungen kann ich Niam-Niam Boltons Brief vorlesen lassen:

 

»St. Helena, April 1911.

Meine lieben Freunde!

Ich bin so weit von Europa weg, daß ich nicht zu Eurer Zusammenkunft kommen kann. Damit Ihr jedoch nicht denkt, ich hätte Euch vergessen, schreibe ich Euch diese Zeilen, die hoffentlich in Eure Hände gelangen werden. Im Geiste sehe ich Euch alle über meinen Brief gebeugt sitzen, und über das Meer hinweg werde ich Eure freundlichen Grüße fühlen sowie Eure Nähe empfinden, denn für die Geister gibt es keine Entfernung. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Euch alle vor mir und vernehme den Klang Eurer Stimmen. Ich sehe auch den Ausdruck Eurer Augen und den Strahl aus der Ewigkeit, der darin liegt. Seid mir gegrüßt, teure Freunde!

Ich befinde mich also hier. Ein unbedeutendes, sturmumbraustes Felseneiland mitten im Großen Weltmeer soll für einige Zeit mein Heim sein. Der Ort hat etwas Schicksalgewaltiges, denn einsam, wie ich selbst von jeher im Strom der Menschen umhergetrieben worden bin, liegt diese Insel im unendlichen Ozean, und wie ich jetzt, so brütete hier einst ein gefangener Königsaar über tausend kühnen Gedanken. Gerade wegen ihrer Einsamkeit liebe ich diese Insel. In der Einsamkeit lösen sich die Fesseln der Seele. Sie gibt der Seele Schwingen zum Flug in die Höhe und verleiht ihr Kraft, in das innere Getriebe der Welt hineinzuschauen, das dem Blicke der meisten Sterblichen verschlossen ist. Am frühen Morgen, wenn die Sonne aus dem Meer heraufsteigt, öffnet sich die Seele gleich einer Blume, die demütig die ersten Küsse der strahlenden Himmelskönigin empfängt, und sie vernimmt die Stimme aus dem Reiche der Ewigkeit. Dann ist das Dasein göttlich schön, meine Freunde!

Ihr werdet wohl die Frage aufwerfen, was ich denn eigentlich zu tun habe. Das will ich Euch erzählen, ja mit tiefstem Ernst will ich's erzählen.

Ich hege die Hoffnung, mit dem großen Kaiser in Verbindung zu treten. Wie ich Euch früher schon mitgeteilt habe, halten sich die Geister gerne an Orten auf, wo sie weilten, so lange sie noch in körperlicher Hülle umherwandelten. Deshalb ist es auch höchst wahrscheinlich, daß Napoleon manchmal sein Eiland aufsucht, umso mehr als sein Herz es nie verlassen hat. Als nämlich damals die Ärzte eben damit beschäftigt waren, den Körper des Kaisers zu balsamieren, kam ein Hund herbeigelaufen und schnappte das Herz von dem Tische weg, auf den es von den Ärzten gelegt worden war. In der Not steckte man das Herz einer Ziege in die Brusthöhle des Toten, und mit diesem Ziegenherz wurden dann die sterblichen Überreste des großen Korsen im Invalidendom zu Paris beigesetzt. Vielleicht habt Ihr davon früher noch nichts gehört, der Vorgang ist aber doch historisch.

Ach, wie sehr vermisse ich jetzt meinen alten Freund, Hadj-el-Arabi! Er könnte mir hier von unschätzbarem Nutzen sein, denn seine Sehergabe war über die Maßen stark. Doch er ist tot. In meinen Armen ist er im Lande Moghreb verschieden. Es sind nun erst fünf Jahre her, und ich kann noch nicht darauf hoffen, seine Stimme zu vernehmen. Sein Geist schwebt noch suchend im Weltenall umher. Aber sobald er es vermag, kommt er zu mir. Ja, er kommt sicher.

In Moghreb konnte ich seinerzeit nicht mehr länger bleiben, und ich will Euch erzählen, weshalb nicht.

Wie Ihr wißt, habe ich mein Leben dem Spiritismus geweiht. Nach meiner Überzeugung ist dieser die Quelle, an der sich die fieberkranke, geschwächte Menschheit laben und stärken sollte. Er wird den Kindern des Leids die Hoffnung auf die Ewigkeit und den Glauben an Gottes Liebe zurückgeben. Aber um dem Spiritismus zum Siege zu verhelfen und ihn auf den Thron zu setzen, dazu gehört Geld, viel Geld. Nun, ich selbst habe kein Geld, ich muß es erst gewinnen, und ich werde es gewinnen.

Um Geld zu gewinnen, ließ ich mich seinerzeit im Erzgebirge nieder. Dieses ist reich an Metallen, und ich hoffte, mit Hilfe meiner wissenschaftlichen Kenntnisse den Bergen ihre Schätze zu entreißen. Ich legte meine Hände nicht müßig in den Schoß, sondern arbeitete fleißig Tag um Tag. Den Hadj-el-Arabi unterwies ich in meiner Kunst, und wir arbeiteten gemeinsam in den Bergen mit unsern Hämmern, Meißeln und Bohrern: aber wir fanden nur Eisen und wieder Eisen, und dieses Eisen konnten wir nicht in Geld umsetzen.

Als wir eines Abends vor unserm Zelt saßen, sagte Hadj-el-Arabi: ›Der Geist hat mich berührt!‹

Hadj-el-Arabi saß auf seiner Strohmatte und lehnte sich gegen die Zeltstange. Seine Augen standen weit offen, und über die Pupillen flog es wie Schatten hin. Ich sah, daß seine Stunde nahe war.

›Ich sehe,‹ sagte er stöhnend. ›Ich sehe das Gebirge, ein ganz niedriges Gebirge. Unten zieht sich ein schmaler Pfad hin, und ich wandere durch eine Wildnis von Palmen und Wacholderbüschen. Höher und höher steige ich empor. Die Bäume und Sträucher lasse ich hinter mir zurück, der Weg verliert sich; ich klettere über mächtige Felsblöcke und reiße mir die Hände und Füße blutig. Ein brauner Habicht kreist über mir. Ich schreite in eine Felsenspalte hinein und – sehe die Spuren eines längst vergessenen Pfades; vielleicht sind Hunderte von Jahren vergangen, seit ein Menschenfuß diesen Pfad begangen hat. Über meinem Haupte treten die Felsen ganz nahe zusammen und bilden so einen Höhlengang. Vor mir wird es dunkler und dunkler. Die Wände zu beiden Seiten sind glatt und eben. Menschenhände müssen einstmals hier tätig gewesen sein. Es geht ständig bergab. Die Felsen schließen sich um mich nach allen Seiten zusammen. Ich kann den Himmel über mir nicht mehr sehen, nicht einmal so viel, wie durch ein kleines Fenster hindurchschimmert. – Und doch sehe ich, ja ich sehe ...

Ich bleibe stehen, ich werde von zwei Memzukin aufgehalten.‹

Da Ihr, liebe Freunde, wohl nicht wissen werdet, was Memzukin sind, möge hier zur Erklärung dienen, daß dies in alten Zeiten Menschen waren, die aber Allah ihrer Sünden wegen in Stein verwandelt hatte. Solche steinerne Figuren findet man häufig in den Gebirgspässen von Enderen Drans Enderen Drans = das Atlasgebirge.. – Und nun will ich Hadj-el-Arabi in seinem Bericht fortfahren lassen: ›Ich betrachtete eine Weile die Memzukins. Sie sind viel, viel größer als die Menschen von heute. Ihre Gesichter haben einen furchtbaren Ausdruck, und sie haben ihre Arme über der Brust gekreuzt. Den Weg versperren sie vollständig. Mit meinem Stock versetze ich ihnen einen Schlag, sie geben einen Ton wie von Erz von sich. Ein Echo wie das Seufzen von kranken Menschen dringt an mein Ohr. Noch einmal schlage ich auf die Figuren, diesmal stärker als zuvor. Da klingt es wie ein Todesschrei. Zum drittenmal schlage ich. Die Memzukin schwanken auf ihren Füßen und stürzen um. Ich steige über sie hinüber und wandere weiter hinab, immer abwärts. Nun stehe ich vor einer Reihe Stufen, die in den Felsen hineingehauen sind. Abwärts geht es, tief, tief hinein in das Innere des Berges. Die Luft ist schwer und stickig, und es riecht wie nach uraltem Gerümpel und vermodertem Laub. Hin und wieder raschelt eine Schlange an mir vorüber, eine Unmenge Fledermäuse lösen sich von der Decke und flattern mir um den Kopf. Aber ich fühle keine Angst, denn mein Körper ist unverwundbar. Ganz langsam schreite ich weiter, von Zeit zu Zeit bleibe ich stehen und schaue mich um.

Nun sehe ich – ich sehe an den Seiten des schachtartigen Ganges Grabsteine aufgerichtet. Ich wälze einen dieser Steine zur Seite. Hinter ihm finde ich eine Nische, in der ein menschlicher Schädel und einige Knochen liegen. Sie sind von der Zeit stark mitgenommen und müssen sehr alt sein. Neben ihnen finde ich einen Krug, einige Ringe und ein ungeheures Schwert. Die Klinge des Schwertes ist vom Rost zerfressen und ausgezackt wie eine Säge. Ich nehme es in die Hand, es ist sehr schwer. Sein Griff besteht aus Gold.

Weiter wandere ich, und allmählich wird der Schacht geräumiger, er weitet sich aus wie ein Trichter. Überall sehe ich Grabplatten und Nischen, immer größere und tiefere. Einige der Nischen sind offen; die Platten stehen auf kleinen Säulen, die die Gestalt von Trompetenblumen haben. Manchmal sind in den Stein Zeichen und Buchstaben hineingemeißelt, deren Bedeutung ich nicht entziffern kann.

Wie lange ich schon gewandert bin, weiß ich nicht. Aber jetzt sehe ich plötzlich einen großen Saal, dessen Decke auf hohen Pfeilern ruht, auf denen seltsame Bilder ausgehauen sind, Bilder von Männern mit dem Königszeichen auf der Stirn, von Frauen mit hochgewölbter Brust, von Krokodilen, Affen und Tieren, die ich noch nie gesehen habe. Zwischen den Säulen stehen Sarkophage aus einer rötlichen Steinart. Sie ruhen auf Löwenfüßen und sind kunstvoll ausgehauen. Ich bin neugierig und stemme meinen Stock mit aller Kraft unter die Deckenplatte von einem der Sarkophage und erblicke – eine eingeschrumpfte, vertrocknete Leiche, wie man sie im Lande des großen Flusses findet. Sie ist ganz schwarz vor Alter. Amulette und reichlicher Perlenschmuck bedecken ihre Brust, die Finger, die Handgelenke, die Fußgelenke sind mit Ringen geschmückt. Um die Stirne der Mumie ist ein Diadem geschlungen, in dessen Mitte ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln aus Kryolith angebracht ist. Unter der eingetrockneten Haut der Mumie treten die Sehnen und Muskeln als Stränge, Bänder und Knoten deutlich hervor. Alles dieses sehe ich deutlich, denn die Tücher, in die die Leiche gehüllt war, hat die Zeit zerfressen, und sie liegen zu Staub zerfallen zu beiden Seiten des Toten.

Jetzt erblicke ich zu Füßen des Sarkophages eine große Urne aus Alabaster an der Wand. Sie ist offen, und ich sehe hinein. Sie scheint mit Asche angefüllt zu sein. Ich stochere mit meinem Stock in der Asche herum und stoße auf etwas Hartes. Was ist es? Es gibt einen Hellen Ton von sich. Ich greife mit der Hand in die Asche hinein, erfasse etwas Festes und hole es hervor. Ah – es ist Gold, Gold! Die ganze Urne ist mit Gold angefüllt, mit Münzen aus uralter Zeit.

Ich fühle mich müde, todmüde; aber ich muß noch mehr sehen. Ich gehe von einem Sarkophag zum andern. Ach, wie erschöpft ich bin! Ich sehe das gleiche, immer wieder das gleiche. Um die Leichen kümmere ich mich nicht mehr – denn meine Zeit ist knapp bemessen – wohl aber um die Urnen. Eine Unmenge ist da, alle voll mit Gold und Asche. Ich stürze eine von den Urnen um; ein goldener Strom rinnt daraus hervor, daß es nur so glitzert und klirrt ... Nun will ich etwas ausruhen. Mein Herz schlägt langsam, ich kann die Augen fast nicht mehr offen halten. Es wird mir schwindelig zu Mute – es wird Nacht um mich – der Sturm heult – ich höre Stimmen – mein Blut wird kalt – es erstarrt – zu Eis – – –.‹

In diesem Augenblick glitt Hadj-el-Arabi aus seiner sitzenden Stellung zu Boden und blieb regungslos auf der Erde liegen. Ich richtete seinen Kopf auf und legte ihn in meinen Schoß. Aus seinem Gesicht war alle Farbe verschwunden, auf seiner Stirne lag kalter Schweiß, seine Augen starrten mich mit leerem, gebrochenem Blick an. Er war tot.

Ich drückte meinem Freund die Augen zu, zog ihm das Leichenhemd an und stellte brennende Lichter an sein Kopfende und zu seinen Füßen. Vierundzwanzig Stunden später begrub ich ihn mit Hilfe von zwei Mauren unter einem Arganbaum am Ufer des M'Ramars. Und ich ließ über seinem Grab einen kleinen Marabut errichten. Denn er war ein heiliger Mann Gottes, ja wahrlich, das war er gewesen.

*

Aid-el-Kebir Aid-el-Kebir = Großes Fest, das Hauptfest der Mohammedaner, wobei Schafe als Opfer geschlachtet werden zum Andenken des von Abraham zum Opfer dargebrachten Sohnes. Abraham als Vater Ismaels, den die Mohammedaner für ihren Stammvater halten, genießt im Koran ganz besonderes Ansehen.
Anm. d. Übers.
, das Fest des Opferlammes näherte sich. Ich hatte beschlossen, dieses Fest abzuwarten, ehe ich mich daran machte, die alten Königsgräber, die Hadj-el-Arabi in seinem verzückten Zustand gesehen hatte, zu untersuchen. Am Bairamfest strömt nämlich der größte Teil der Mauren, die in der Gegend des Erzgebirges wohnen, nach Mogador, um mit möglichst großem Pomp das Andenken an Abrahams Opfer zu feiern, und mir lag sehr viel daran, daß mir niemand in die Karten blickte. In der Zwischenzeit nähte ich mir Säcke aus Tierhäuten, um in diesen das Gold fortzuschaffen. Ach, war das eine vergnügliche Arbeit, meine Freunde!

Der große Tag kam heran.

Mit einem eisernen Spaten, einem Revolver, einer Blendlaterne und einem Sack ausgerüstet, machte ich mich auf den Weg. Ich fand den schmalen Pfad, der sich an dem Fuß des niedrigsten Berges hinzog und durch Palmen und Wacholderbüsche in die Höhe führte, bis er sich verlor und ich nur noch von ödem Felsgestein umgeben war. Es kam mir vor, als leite mich eine fremde, starke Hand. Ich kletterte über mächtige Felsen, es war eine höchst beschwerliche Wanderung. Dann gelangte ich an die abwärts führende Felsenspalte, die mir als Zeichen diente, daß hier einst ein Pfad gewesen war, und ich fand auch die zwei Memzukin, die mich am weiteren Vordringen verhindern zu wollen schienen. Vor diese setzte ich mich einige Zeit zum Ausruhen nieder. In meiner Seele herrschte keinerlei Erstaunen. Von dem Augenblick an, wo ich meine Wanderung begann, wußte ich genau, daß ich alles so finden würde, wie Hadj-el-Arabi es geschildert hatte.

Dann hob ich meinen eisernen Spaten und schlug mit aller Kraft auf die Memzukin los. Bei dem dritten Schlag stürzten sie um, und der Weg zum Königsaal lag frei vor mir. Ich zündete meine Blendlaterne an und befestigte sie vorne an der Brust, um die Hände frei zu haben. Während ich hinabstieg, wurden durch den Lichtschein allerhand Tiere aus der Dunkelheit aufgescheucht: ich sah Schlangen, die eiligst dahinglitten, Fledermäuse, die umherschwirrten, und Eidechsen, die davonhuschten; aber ich ließ mich dadurch nicht aufhalten, obgleich mir sonst beim Anblick einer Schlange ein kalter Schauer über den Rücken läuft. Es war, als ob Hadj-el-Arabis Geist in mir lebte und mir Kraft verlieh.

Immer weiter schritt ich die ausgehauenen Treppenstufen hinunter und an den Nischen in den Wänden vorbei, um die ich mich nicht kümmerte, da ich ja wußte, was sie enthielten. Endlich stand ich im Königsaal.

Ganz ruhig setzte ich mich auf einen Steinblock und schaute mich um. Alles war genau so, wie der Seher es geschildert hatte; die Sarkophage, die Bilder auf den Säulen, die Urnen an den Wänden. Ich blieb lange sitzen, aß sogar einen Zwieback und trank einen Schluck Wein dazu. Hier war also meine Schatzkammer. Das allmächtige Gold lag in Haufen vor mir. Es sollte dazu dienen, die Tore des Vorurteils aufzusprengen und die Schranken des Zweifels niederzureißen, und mir selbst gab es Aussicht auf ein Leben voller hoher Erkenntnis und erhabenen Glückes.

Ich fiel auf meine Kniee und dankte dem großen Geist, der mich zu seinem Diener auserwählt hatte.

Als ich mich wieder auf meinen Platz gesetzt hatte, überlegte ich, auf welche Weise ich meinen Reichtum am besten nutzbar machen könnte. In London sollte eine Hauptstation errichtet werden, wo alle mediumistisch Veranlagten freien Aufenthalt und Anleitung für ihre Studien auf allen Gebieten des Okkultismus bekommen sollten. In abgelegenen Ländern sollten Filialen errichtet werden, an die man gelehrte Männer ohne Ansehen ihrer Religion und Nationalität berufen würde. Diese Männer sollten den indischen Fakiren und den arabischen Derwischen ihre Geheimnisse, die der Wissenschaft heute noch ein Rätsel sind, entreißen, und die Priester des Dalai Lama sollen ihnen ihre heiligen Bücher öffnen müssen. Über den ganzen Erdkreis hin sollten unsre Schriften verbreitet werden, gleich wie ein Sämann seinen Samen ausstreut. Alle Charlatane und alle diejenigen, die die Achtung vor den spiritistischen Erscheinungen zu selbstsüchtigen Zwecken mißbrauchen, sollten verfolgt werden. Auf Märkten und öffentlichen Plätzen sollten Vorträge gehalten werden, und vor allem sollte man auf die Jugend Einfluß zu gewinnen versuchen. In Krankenhäusern und Kasernen sollten unsre Abgesandten unser Evangelium verkünden – unermüdlich, unerschrocken, bis das Licht unsrer Lehre über die ganze Erde hinleuchten würde.

So träumte ich im Saale der Könige.

Dann trat ich zur nächsten Urne und stürzte sie um. Das Gold strömte über den Steinboden, allerlei Münzen von unbekannter Prägung, viereckige und runde, durchlöcherte und ganze, von der Größe eines amerikanischen Dollars, nur viel, viel schwerer.

Ja, es war ein unerschöpflicher Reichtum, meine Freunde!

Ich füllte so viel Gold in meinen Sack, als ich tragen konnte, und machte mich auf den Rückweg. Alle die Treppenstufen hinaufzusteigen, war eine anstrengende Arbeit; aber niemals habe ich mit größerem Vergnügen einen Weg zurückgelegt als diesen.

Um meinen Schatz in Sicherheit zu bringen und um jeden Verdacht betreffs der Lage des Königsaals abzulenken, hatte ich mir vorgenommen, meinen Weg durch einen öden Gebirgspaß, der zum Nachbarberg führte, zu nehmen und dort eine Niederlage meiner Schätze anzulegen. Doch kaum war ich einige Meter an den Memzukin vorbeigekommen, als ich einen Mann auf mich zukommen sah. Ich kannte ihn. Es war Abderrahman, der Töpfer, ein geriebener Bursche, den ich von jeher nicht leiden konnte. Er war an Gestalt ein Riese und meist durch unsinnigen Genuß von Haschisch berauscht. In der Hand hielt er eine Flinte.

›Ich bummele umher und sehe, ob ich nicht etwas vor den Lauf meiner Büchse bekomme,‹ sagte er.

›Warum nimmst du nicht an dem Aid-el-Kebirfest teil?‹ fragte ich, ohne meinen Ärger ganz unterdrücken zu können.

›Mein Festkleid ist mir verbrannt,‹ antwortete er.

›Ich muß weiter,‹ sagte ich.

›Du trägst eine schwere Last, wie ich sehe,‹ bemerkte er mit einem Blick auf meinen Sack. ›Was ist da drin?‹

›Steine.‹

Der Töpfer stieß mit seinem Büchsenlauf gegen den Sack; dieser gab einen klirrenden Laut von sich.

›Oho!‹ sagte er. ›Steine?‹

›Geh mit Gott!‹ versetzte ich. ›Ich muß weiter.‹

›Ich werde dich begleiten,‹ sagte er; ›für mich ist es einerlei, welchen Weg ich nehme, und es geht sich angenehmer in Gesellschaft.‹

Ich teilte seine Ansicht ganz und gar nicht, wagte aber nicht, eine Einwendung zu machen. Nachträglich ist es mir unbegreiflich, warum ich ihn nicht einfach umgebracht habe. Was hätte das Leben eines elenden Mauren bedeutet gegen das Glück von Millionen Menschen, das mein Schatz hätte schaffen können?

Den Plan, durch den Gebirgspaß zu gehen, gab ich auf und schlug den Weg ein, auf dem ich gekommen war. Ich mußte nun eben das Gold in mein Zelt bringen, wo es vorläufig bleiben konnte. Der Maure folgte mir dicht auf den Fersen.

›Diese Steine sind offenbar sehr schwer,‹ sagte er. ›Du kannst ja den kleinen Sack kaum schleppen.‹

›Sie sind eisenhaltig.‹

›Soll ich dir beim Tragen helfen?‹

›Nein.‹

›Sei so freundlich und gib mir einen von den Steinen.‹

›Allah wird ihn dir geben.‹

›Du bist geizig, Atachar, geizig mit einem Stein. Ich gebe dir später zwei Hähne dafür.‹

Da ich nicht imstande war, den Sack weiter zu schleppen, warf ich ihn auf den Boden und setzte mich. Abderrahman setzte sich auch, und wie zufällig richtete er seinen Flintenlauf auf meine Brust.

›So, so, du schleppst dich mit Eisen ab?‹ sagte er mit höhnischem Grinsen. ›Ha, ha, Eisen! Du mußt in der letzten Zeit recht arm geworden sein.‹

Der Zorn übermannte mich. Ich zog einen Revolver aus meinem Gürtel; aber schnell wie der Blitz schlug ihn mir der Töpfer aus der Hand.

›Geh doch nicht so unvorsichtig mit der Waffe um!‹ ermahnte er mich in väterlichem Ton. ›Bedenke, wenn du dich verletzt hättest.‹

Mit diesen Worten ließ er den Revolver in seinem Mantel verschwinden und gab sich dem Vergnügen hin, mich anzustarren.

›Und du bist ein heiliger Mann,‹ sagte er mit weinerlicher Stimme. ›Ja einer von denen, die den Geistern angenehm sind. Darum bitte ich dich innig, frage doch die Geister, was sie von denen sagen, die stehlen und fremdes Gut forttragen.‹

›Geh heim und drehe deine Töpferscheibe, Abderrhaman!‹ antwortete ich. ›Ich habe deine Gesellschaft nicht gesucht.‹

Er lächelte nachsichtig.

›Hier bin ich in meinem eigenen Lande,‹ sagte er ruhig, ›und ich kann gehen und kommen, wann ich will und wohin ich will. Aber du, du bist ein Fremdling, der sich zu uns hereingeschlichen hat. Hier hast du nichts zu befehlen. Und,‹ fuhr er mit erhobener Stimme fort, ›was du in unsrer Erde oder unsern Gebirgen findest, gehört uns und nicht dir.‹

Eigentlich hatte er ja recht.

›Und nun will ich diese eisenhaltigen Steine sehen,‹ sagte er befehlend.

Da ich einsah, daß ich keine Hoffnung mehr hatte, mein Geheimnis für mich behalten zu können, öffnete ich den Sack und zog aus ihm eine Handvoll Goldmünzen hervor.

Seine Augen funkelten.

›Ah,‹ sagte er, indem er die Münzen in der Hand wog. ›Mir ahnte so etwas. Nun sind wir schwer reich. Von jetzt ab werde ich keine Töpfe mehr drehen.‹

Dann sah er mich mit einem lauernden Blick von der Seite an und fragte leise: ›Wo ist der Brunnen dieses Reichtums?‹

›Er ist leer,‹ antwortete ich. ›In diesem Sack ist alles, was ich habe.‹

›Du lügst, Atachar, denn du errötest!‹ schrie er.

Ich schlug meine Augen nieder. Die Schlacht war verloren. Es blieb mir nichts übrig, als eine Teilung vorzuschlagen. Hu! wenn ich an den Menschen denke, fluche ich ihm.

In der nächsten Zeit schleppten wir in jeder Nacht goldgefüllte Säcke aus dem Saal des Königs in ein sicheres Versteck in den Bergen. Da lag Gold von ungeheurem Werte, meine Freunde. Hätte ich nur zur rechten Zeit meinen Anteil genommen und mich auf die Strümpfe gemacht! Aber meine Gier war zu groß.

Eines Abends begab es sich, daß mein Genosse sich nicht an unserm gewöhnlichen Treffpunkt einfand. An seiner Stelle waren dort zwei Beamte des Sultans und warteten auf mich.

›Atachar,‹ sagten sie, ›dein Gang ist diesmal vergeblich.‹

Ich war so erschrocken, daß ich kein Wort über die Lippen brachte.

›Atachar,‹ fuhren sie fort, ›du mußt dieses Land verlassen.‹

Ich wollte antworten, doch der eine der Beamten hob gebieterisch die Hand auf.

›Du hast drei Tage Zeit, deine Sachen zu ordnen,‹ sagte er ernst. ›Aber jeder deiner Schritte wird bewacht werden. Arm bist du zu uns gekommen, und arm wirst du wieder von uns fortgehen.‹

›Gebt mir wenigstens eine Erklärung!‹ stammelte ich.

Der Beamte nickte dreimal mit seinem würdigen Haupt.

›Der Töpfer Abderrhaman hat im Rausch euer Geheimnis verraten,‹ sagte er. ›Er prahlte gewaltig und verschwor sich, er werde künftighin nicht mehr Töpfe aus Lehm, sondern aus purem Gold anfertigen. Seine Zuhörer lachten ihn aus und verspotteten ihn. Da griff er protzig in seine Tasche und zog zwei große Münzen hervor.‹

›Mit solchen Dingern könnte ich, wenn ich wollte, hundert Turbane füllen, und dabei würde ich nicht einmal merken, daß ich um einen Metkhal ärmer geworden bin,‹ schrie er.

›Da begriffen die Leute, daß der Töpfer im Ernst also redete. Er wurde auf die Folter gespannt und gestand alles. Dies geschah heute morgen, vor Mittag waren wir über den Saal der Könige und über das Versteck in den Bergen vollständig unterrichtet. Du hast dein Spiel verloren, Atachar, ziehe fort von hier!‹

›Der verfluchte Abderrhaman!‹ schrie ich rasend vor Wut. ›Wo ist er jetzt?‹

Die beiden Männer lächelten seltsam.

›Er ist überhaupt nicht mehr,‹ antworteten sie wie aus einem Munde.

›Ihr habt ihn umgebracht, ihr Bluthunde!‹

›Still, Atachar!‹ sagte der eine. ›Du kennst unsre Gebräuche und Gesetze nicht. Sie sind sehr zu loben. In unserm Land soll kein Gebirge seines Reichtums wegen erschlossen werden.

Die goldenen Adern im Innern der Berge sollen in Ruhe gelassen werden, und wenn doch einmal eine zutage tritt, soll sie verstopft werden, damit sie vergessen wird. Merke wohl auf das, Atachar, was ich dir jetzt sage, und erkenne die Weisheit meiner Worte: wenn der allmächtige Gott, dessen Name gepriesen sei, gewollt hätte, daß das rote Gold, das im Schoß der Erde schläft, ans Licht gebracht werde, so hätte er es nicht so sorgfältig an den unzugänglichsten Stellen verborgen. Nichts erhitzt das Gemüt des Menschen mehr, als das Blinken des Goldes. Es macht sie habsüchtig und rücksichtslos, es hält sie ab vom Wege des Guten. Der Durst und der Hunger nach Gold wird niemals gestillt.‹

Er hielt einen Augenblick inne, wie wenn er sich genau überlegte, was er sagen wollte. Dann fuhr er mit einer Stimme, der man eine grenzenlose Verachtung anhörte, fort: ›Und noch eins, Atachar! Wenn ihr hungrigen Wölfe, ihr verdammte Christenbrut, von dem Schatze, der in Moghrebs Erde ruht, erfahret, werdet ihr über uns herfallen und uns zermalmen. Deshalb schließen wir für immer die Augen eines jeden, der den Schatz in der Tiefe erblickt hat. Du bist heute dem Tod sehr nahe gewesen, Atachar. Nur aus Rücksicht auf dein Land und dein Volk, mit dem wir in Frieden bleiben möchten, schonen wir dein Leben. Und nun komm mit uns! Ehe du nicht an Bord des großen Babur Babur ( vapeur), hier Dampfschiffe. bist, weichen wir nicht von deiner Seite. Kehre niemals wieder zurück in Moghrebs Land.‹

Es war nichts zu machen. Ich folgte gehorsam wie ein Hund den beiden braunen Teufeln.

Drei Tage später fuhr ich von Mogador nach den Kanarischen Inseln. Von dort aus begab ich mich hierher auf die Kaiserinsel. Und hier will ich warten, bis meine Zeit kommt, denn kommen wird sie einmal. Und dann wird sich mit der Erlaubnis des Allerhöchsten der Geist Hadj-el-Arabi mir nähern. Ich habe den Saal der Könige nicht vergessen.«

 

»Er ist schlimmer als je,« sagte Niam-Niam, indem er den Brief zusammenfaltete, »und eigentlich bin ich froh, daß er nicht hierher gekommen ist. Er würde uns mit seinem Blödsinn angesteckt haben. Für Geisterbeschwörer habe ich ohnehin nicht viel übrig. Was war denn dieser Hadj-el-Arabi für ein Idiot?«

Da richtete sich Taleb in seinem Stuhl halb auf und sagte entrüstet: »Solche Worte darfst du nicht sprechen, Atachar. Du wärest nicht würdig gewesen, den Mantelsaum des Mannes zu küssen, von dem du so sprichst. – Er war ein großer Taleb und stammte aus dem Geschlecht der Richter,« fuhr er etwas ruhiger fort. »Ich selbst habe ihn nur einmal gesehen, aber sein Ruf, der in ganz Moghreb verbreitet war, ist mir wohl bekannt. Du glaubst nicht daran. Nun, ich sage dir, er hatte Augen an seinen Fingerspitzen und hörte den Gang der Gedanken. Ah, du hättest ihn nur einmal sehen sollen, Sahabi! Dein Wille und deine Kräfte wären unter seinem Blick zu nichts geworden. Sein Blick war hell wie der Tag, oder dunkel wie die Nacht, hart wie Stahl, oder weich wie Samt. Er las in den Seelen der Menschen wie in einem aufgeschlagenen Buche, und niemand konnte die Geheimnisse seines Herzens vor ihm verbergen. Stark, stark wie ein Mann Gottes war er. Und wie er in den Seelen der Menschen las, so konnte er auch in den Sternen lesen und das Schicksal der Menschen nach diesen bestimmen. Die Zukunft konnte er Voraussagen, wie du die Ereignisse des morgigen Tages, falls dein Leben so lange währt. Du mußt deine Worte in acht nehmen, wenn du von einem Manne sprichst, der tot und im Jenseits ist und dem du niemals an Heiligkeit ähnlich sein wirst. Hadj-el-Arabi wurde in unserm Lande nicht nur von dem gemeinen Volke verehrt, sondern auch von den höchstgestellten Persönlichkeiten. Der alte Sultan lauschte gern seinen Worten, und wäre er dem Rate des Heiligen gefolgt, als er auszog, Ajat Sajman im Fazazgebirge zu züchtigen, würde er vielleicht heute noch zum Heile Moghrebs am Leben sein. Aber er folgte ihm nicht. Bei Kutubia in Marrakesch verabschiedete Hadj-el-Arabi sich vom Sultan mit den Worten: ›Sidna, ich sehe, daß wir nie wieder zusammentreffen werden. Ich sehe eine dunkle Hand über dich ausgebreitet‹. Und als der Sultan wegritt, rief er ihm noch nach: ›Hüte dich vor dem achten Tage im kommenden Monat!‹ An diesem Tag zur elften Stunde verschied Sultan Hassan. Gott sei seiner Seele gnädig!

Aber ein Mensch, der die kommenden Dinge voraussieht, ist kein Narr, Sahabi.«

Taleb hatte sich warm geredet und seine Augen glänzten, als er fortfuhr: »Ja, er war ein weiser Mann, meine Freunde! Durch Handauflegen verscheuchte er Schmerzen, den Schwachen verlieh er neue Kraft durch seinen Blick, und böse Geister konnte er austreiben. Er achtete auf den Gang der Zeit und auf die Zeichen der großen Himmelslichter: die Wahrzeichen der Nacht und die Schreie der Raben wußte er zu deuten, und er wartete auf die günstige Stunde. Er kannte die nächtlichen Feste und die Zauberkünste der Ghulen Ghulen = böse Geister (auch Werwölfe)., er konnte das Räucherpulver mischen, das die bösen Geister vertreibt, von denen die Luft erfüllt ist. Amulette fertigte er an, die gegen den bösen Blick, gegen Schuß- und Stichwunden schützten. Zum Haß oder zur Liebe stachelte er die Menschen an. Er schlug sie mit Blindheit und mit den Plagen aller andern Krankheiten, aber Korn wuchs in seinen Fußspuren und Jasmin entsproß seinem Stabe – fürwahr er war ein Mann ohnegleichen auf der ganzen Welt.«

»Verzeihe mir, ich habe es nicht böse gemeint,« sagte Niam-Niam, indem er dem Marokkaner die Hand reichte. Ich habe alle Achtung vor den Talebs und habe ja auch selbst so manche ihrer Künste gesehen. Vergiß, was ich gesagt habe, mein würdiger Freund. Und du, Hugh, laß den Geist der Poesie über dich kommen und verfasse ein Dankgedicht auf Bolton, weil er sich unser so freundlich erinnert hat.«

In der gleichen Nacht schrieb der Dichter im Stile Schillers drei Dutzend Verse in fünffüßigen Jamben zu Ehren des Geistersehers auf der Insel des großen Korsen.

*

Am nächsten Tage begab sich die ganze Gesellschaft mit Ausnahme van Hooks auf Wunsch Niam-Niams nach Ludwigsburg, der zweiten Residenzstadt Württembergs. Dort sei ein gewaltiges aus sechzehn verschiedenen Gebäuden bestehendes Schloß mit ungeheuren, merkwürdigen Kellern und von prächtigen Anlagen umgeben, in denen viele Statuen stünden. Wir müßten es unbedingt ansehen, meinte Niam-Niam; es wäre geradezu eine Schande für uns, wenn wir alle diese Herrlichkeiten nicht gesehen hätten.

»Ist Wein in den Kellern?« fragte Bobo.

»Nein,« antwortete Niam-Niam kurz.

Bobo machte ein enttäuschtes Gesicht. Einen Keller ohne Wein, das konnte er sich nicht vorstellen, und noch weniger begriff er, was wir dort zu tun haben sollten.

»In der Nähe der Stadt sei eine heilkräftige Quelle,« fuhr Niam-Niam in seinen Erklärungen fort, in der wir den Holländer baden könnten, so daß er wieder ganz gesund würde.« Er sprach von dieser Angelegenheit, als handle es sich darum, einen kleinen Hund zu baden; darum erklärte unser gichtleidender Freund, er habe noch Briefe zu schreiben und wolle deshalb lieber zu Hause bleiben. Niam-Niam fühlte sich durch die Weigerung verletzt und sagte, er tue alles, uns den Aufenthalt so behaglich wie möglich zu machen, aber anstatt uns für seine Bemühungen dankbar zu erweisen, seien wir bockseigensinnig und übellaunisch gegen ihn. Wir sollten nur nicht meinen, daß er zu seinem eigenen Vergnügen mit uns allenthalben herumziehe, er habe diese Sehenswürdigkeiten alle früher schon hundertmal gesehen. Es war ihm offenbar ein Bedürfnis, uns seine Meinung wissen zu lassen, und als er sie gesagt hatte, fühlte er sich sichtlich erleichtert.

Der Hornbläser Niam-Niam ist in dieser Beziehung nicht sehr verständig. Er scheint zu glauben, daß keiner von uns je etwas gesehen hätte, was den Vergleich mit seinen Sehenswürdigkeiten aushalten könnte, und durch den geringsten Widerstand fühlt er sich im Namen seines Landes beleidigt. Bei allen seinen guten Seiten hat er etwas von einem Bärenführer an sich. Der Gute sieht nicht ein, daß wir hierhergekommen sind, um alte Freunde zu treffen und nicht um herumzulaufen, bis uns die Zunge zum Hals heraushängt. Morgen schleppt er uns wahrscheinlich in einige Museen, Waffensammlungen, Gemäldesammlungen, Aquarien- und Wachsfigurenkabinette, oder auf einen Glockenturm, eine Burgruine oder in eine alte Kirche, wo vor vielen hundert Jahren irgend ein außerordentliches historisches Ereignis stattgefunden hat. Ich bin der Meinung, daß alle diese Merkwürdigkeiten überall, wohin man auch auf der weiten Welt kommen mag, so ziemlich die gleichen sind, und wir ebenso glücklich, ob wir sie zu sehen bekommen oder nicht.

Bobo war es, der mir diese Bemerkungen in aller Heimlichkeit zuflüsterte, während wir Arm in Arm im Ludwigsburger Schloßgarten einherschlenderten, und ich konnte nur beistimmen. Wir gaben uns gegenseitig das Versprechen, zu streiken, wenn unser unermüdlicher Führer auch fernerhin gleich unvernünftig sein sollte.

Übrigens hätte er für unsern Ausflug nach Ludwigsburg keinen besseren Tag wählen können. Es war nämlich gerade Jahrmarkt da, und eine Masse Menschen waren zusammengeströmt. Marionettentheater, Schwertschlucker, Wahrsager, ein Zirkus, Menagerieen, Seiltänzer, Kraft- und Schlangenmenschen, zusammengewachsene Drillinge, der dickste und der dünnste Mensch der Welt, kurz alles, was zu einem Jahrmarkt im guten alten Stil gehört, war vertreten. Trommeln wirbelten, Hörner und Klarinetten tuteten, Drehorgeln und mächtige Orchester mit Triangeln und Glockenspielen erfreuten um die Wette das menschliche Ohr, Karusselle drehten sich, himmelhohe Schaukeln knarrten, und durch all das Getöse und den Lärm hindurch drangen die gellenden Stimmen der Marktschreier, wie Notschreie aus der Ferne.

»Wir gehen an diesem Festrummel vorbei,« sagte Niam-Niam, »und begeben uns ins königliche Schloß und nach Monrepos.«

Ich hörte Bobo ein halblautes aber deutliches »O weh!« ausstoßen.

Widerwillig zogen wir uns langsam aus dem Gewimmel. Herrgott nochmal, konnten wir nicht einmal die Erlaubnis bekommen, uns das Volksleben etwas anzusehen! Solch eine absolute Entmündigung hatte doch wirklich keinen Sinn. Plötzlich merkte ich zu meiner größten Freude, daß Ali-ben-Kaim verschwunden war.

»Bobo,« sagte ich, »wir können es unmöglich verantworten, unsern arabischen Freund hier allein zu lassen! Wir müssen ihn suchen. Geht ihr andern nur indessen zum Schloß voraus.«

»Du hast recht,« sagte Bobo.

Niam-Niam sah mich finster an.

»Wie du willst,« bemerkte er kalt. »Wo wollen wir uns nachher treffen?«

»Im Ratskeller,« erklärte Bobo bestimmt. Er stand da mit dem Führer durch Ludwigsburg in der Hand. »Also Ratskeller! Hier in diesem Buche steht geschrieben, daß im Ratskeller echte, gut abgelagerte Weine ausgeschenkt werden.«

Niam-Niam drehte uns den Rücken zu; ich sah ihm von hinten an, daß er wütend über uns war. Der Marquis, Hugh und Pokoff zogen im Kielwasser langsam hinter ihm drein. In dem Augenblick, als sie an der nächsten Straßenecke abbogen, wandten sie sich um und sahen uns betrübt an. Sie machten den Eindruck von drei folgsamen Hunden.«

*

O du weiser Taleb, du Dorforakel, du Tröster bei langen Tagesmärschen, du ungekürter Sultan Moghrebs. Du indichgekehrter feierlicher Muselmann von ernstem Aussehen und würdigem Wesen! Du blendender Straßengigerl, du Herzensbrecher par excellence! Und du Kind – du großes Kind!

Da fuhr er an uns vorbei, hoch zu Roß auf dem Karussell, den Zylinderhut schief auf dem Kopf, und mit lustig im Winde flatterndem hochrotem Schlips! Sein ganzes Gesicht strahlte vor heller Freude, und seine Augen funkelten lustig in die Welt hinein. Den einen Arm stemmt er fest in die Hüfte, wie es sich für einen Krieger geziemt, mit dem andern drückte er ein junges Mädchen, das einen gewaltig großen Hut mit wallender Feder auf hatte, ebenso fest an sich. Das Blut des Wüstenräubers wallte in ihm auf. Er war auf dem Kriegszug und raubte ein schönes Weib aus einem fremden Lager. Siegestrunken und triumphierend jagte er durch die Wüste dahin, die Verfolger dicht auf seinen Fersen. Durch all das Getöse hindurch vernahmen wir seine Stimme. »Jalla! Jalla!« schrie er. »Komm heran, komm heran, du Sohn eines Hundes! Komm heran!« Seine weißen Zähne schimmerten zwischen den weitgeöffneten roten Lippen hervor, seine bronzefarbige Haut leuchtete, die Adern auf seiner Stirn waren dick aufgelaufen, und sein Blick war geradeaus gerichtet wie auf ein bestimmtes Ziel. Wieder und wieder sauste er an uns vorbei.

»Taleb!« rief ich ihm zu.

Doch ganz dem Rausch des Augenblicks hingegeben, hörte und sah er nichts.

Endlich hielt das Karussell an. Der Marokkaner streifte die Wüstenbraut wie einen Handschuh von sich ab und sprang herunter. Er fiel uns sozusagen gerade in die Arme.

»Du bist uns verloren gegangen,« sagte ich. »Wir haben uns schon um dich geängstigt. Aber man muß es dir lassen, du unterhältst dich ausgezeichnet.«

»Sahabi,« erwiderte er, »seit zwanzig Tagen hab ich auf keinem Pferderücken mehr gesessen. Ein unwiderstehlicher Drang kam über mich. Diese Dreherei ist ungeheuer lustig. Die Rumi sind wirklich sehr erfinderisch. Wollen wir nicht alle drei zusammen eine solche Fahrt machen?«

– – – Und siehe da, jeder von uns kletterte flink auf ein Roß und machten den Ritt mit. Dann gingen wir durch den ganzen Jahrmarkt von Bude zu Bude, von Gaukler zu Gaukler. Wir kauften uns Kuchen und Leckereien, wurden photographiert und ließen uns wahrsagen, und alles war eitel Herrlichkeit und Freude. Endlich zog Bobo seine Uhr heraus.

»Nach dem Ratskeller!« sagte er.

*

Ob das gute Nachtessen daran schuld war, oder das Gedicht, das Hugh während des Ausflugs nach dem Schlosse zu Ehren des Königreichs Württemberg verfaßt hatte, das kann ich nicht sagen, aber soviel ist sicher, daß Niam-Niam den ganzen Abend fröhlich wie eine Lerche war und daß heller Sonnenschein über der ganzen Gesellschaft strahlte. Ludwigsburg war die prächtigste Stadt der Welt, und wir beschlossen, dort über Nacht zu bleiben. Hugh trällerte ein Lied, der Marquis trug Gedichte vor, Niam-Niam erzählte alte Sagen aus Schwabens Gauen; schließlich kam das Gespräch auch auf Pferde.

»Du,« sagte Niam-Niam während der Unterhaltung zu mir, »wie ist denn die Sache mit Charleys alter Mähre eigentlich abgelaufen? Ich weiß, ihr hattet viel Verdruß mit ihr; ich sehe dich noch, wie du die Mähre auf der Playa in Tanger auf und ab führtest. Das Tier machte einen kläglichen Eindruck. Wenn ich mich recht erinnere, gab es später noch ziemliche Scherereien zwischen Charley und mehreren Arabern.«

»Ganz richtig,« entgegnete ich: »es war eine sehr ärgerliche Geschichte.«

»Ja, es schwebt mir noch so etwas vor,« sagte Niam-Niam nachdenklich; »nur an die Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern.«

So blieb mir denn nichts andres übrig, als die Geschichte von meinem Freund, dem Gentleman Charley und dem armen Jim zu erzählen.

»Wie gesagt, Charley war ein Gentleman, und da es sich für einen Gentleman nicht ziemt, auf einem Esel zu reiten, kaufte mein Freund sich ein kleines graues Pony für zwanzig Duro von Ben-Abdallah und stellte es in eine Ruah, die einem Juden gehörte. Charley erwies mir die Ehre, mich dorthin mitzunehmen, um mir seinen Kauf zu zeigen. Wir tasteten mit unsern Händen den ganzen Körper des Ponys ab, drückten und kniffen es, sahen ihm ins Maul und schauten dabei so tiefsinnig drein, wie wenn wir etwas von Pferden verstünden. Das Pony schaute auch recht tiefsinnig drein, ließ den Kopf hängen, betrachtete uns still von Kopf bis zu Fuß mit seinen glänzenden schwermütigen Augen, wie wenn es darüber nachdächte, was für Teufel das wohl seien, in deren Klauen es jetzt geraten war. Im übrigen sah das Tier fromm und gesetzt aus und machte nicht den Eindruck, wie wenn es auf der Stelle mit irgend jemand einen Wettlauf eingehen wollte. Es war sehr mager, zottig und ungepflegt und sah überdies aus, als sei es früher als Lasttier benützt worden. Auf seinem einen Oberschenkel hatte es ein Brandmal – einen Ring mit einigen wunderlichen Zeichen.

»›Du mußt nämlich wissen, es hat früher dem Sultan gehört,‹ sagte Charley mit einem gewissen Stolz.

»›Es ist furchtbar mager,‹ bemerkte ich, während ich die Knochen seines Rückgrats zählte.

»›Man hat ihm einfach nicht genug zu fressen gegeben,‹ versetzte Charley ganz logisch. ›Aber verlaß dich drauf, ich werde schon ordentlich Fleisch an ihn hinbringen.‹

»Wir machten das Tier los und befahlen ihm, ein wenig vor uns auf und ab zu gehen. Es machte genau zehn Schritte, dann wollte es nicht mehr weiter.

»›Hallo, alter Bursche!‹ rief Charley aufmunternd. ›Geh nun weiter!‹

»Das Tier sah den Gentleman nur traurig an und rührte sich nicht vom Fleck.

»›Du, ich fürchte, der Araber hat dich mit dem Pferd hereingelegt, Charley,‹ sagte ich.

»›Mich und hereinlegen!‹ Ein überlegenes Lächeln spielte um Charleys Mund. ›Hallo, alter Bursche! Geh' nun wieder ein bißchen weiter, Liebling!‹

»Weit gefehlt. Das Pony machte trotzdem keinen Schritt mehr.

»›Es ist müde,‹ sagte Charley ergeben, und damit zog er es an dem Halfter wieder in den Stall hinein. Dann nahm er einen Wassereimer und goß ihn über das Pferd aus.

»›Du sollst ›Jim‹ heißen nach meinem Großvater,‹ sagte er feierlich.

*

»Dann mußte ein Sattel beschafft werden. Charley suchte die Läden der Christen und Juden ab, fragte in den Reitställen nach, fand aber alles, was ihm angeboten wurde, zu teuer. Charley war nämlich nicht reich. Er mußte sich mit einer bescheidenen Wohnung in einem elenden Haus begnügen und konnte sich kein luxuriöses Leben erlauben. Aber dennoch war er ein Gentleman und mußte sein eigenes Pferd sowie Sattel und Zaumzeug haben, und wenn er selber deshalb Hunger gelitten hätte; so sind die richtigen Gentlemen. Ich habe einen gekannt, der zwei Monate lang jeden Sonnabend Geld von mir entlehnte, nur um seinen aristokratischen Freunden gegenüber als Gentleman auftreten zu können. Von dem Geld habe ich nie wieder etwas zu sehen bekommen, aber Gentlemen haben häufig ein schlechtes Gedächtnis, und dafür können sie wahrscheinlich nichts.

»Eines Nachmittags trat Charley mit betrübter Miene bei mir ein.

»›Wir müssen uns gleich zusammen auf den Weg machen,‹ sagte er, ›denn ich habe, während ich auf den Handel auszog, die ganze Zeit das Gefühl gehabt, daß die Schwefelbande gar nicht verstand, was ich sagte.‹

»So zogen wir denn zusammen auf den Markt, fanden aber nirgends einen Sattel. Dann verloren wir uns in einem Wirrwarr von kleinen engen Gassen und traten schließlich in den Laden Meister Ephraims, jenes Trödlers, den du, Niam-Niam, seinerzeit mit deinem Messinghorn so angedonnert hast. Ephraim verbeugte sich untertänigst vor uns und sprach den Wunsch aus, daß der Gott seiner Väter mit uns und unsern Familien sein möge.

»›Dieser Gentleman wünscht einen Sattel,‹ sagte ich, indem ich mich auf einen Schiebkarren setzte, während Charley auf einer umgestülpten Kasserolle Platz nahm.

»Der Jude schleppte etwas herbei, das aussah, wie wenn es möglicherweise vor hundert Jahren auf einem Pferderücken gelegen hätte.

»›Ein Sattel erster Klasse, fast noch neu,‹ sagte er.

»›Wenn ich ein Kind hätte, dürfte es nicht in dieser Wiege liegen,‹ bemerkte Charley.

»Der Jude schleppte einen andern Gegenstand herbei, der einem Nachtstuhl glich.

»›Prima Ware, muß nur etwas in der Form verbessert werden,‹ sagte er.

»›Nein,‹ sagte Charley.

»Hierauf wurde uns ein riesengroßer Eselsattel mit einer zerlumpten schmutzigroten Schabracke vorgelegt; aber da geriet Charley in eine gereizte Stimmung und bemerkte, er sei nicht wegen eines Esels hergekommen. Schließlich erklärte er sich aber doch großmütig zum Ankauf des Sattels bereit unter der Bedingung, daß er ihn Meister Ephraim auf den Rücken schnallen und auf ihm zum Kirchhof hinaus reiten dürfe.

»Nun kam ein Ding mit verrosteten Steigbügeln und einem großen Wulst am Sattelknopf zum Vorschein.

»›Mexikanische Arbeit,‹ sagte Charley, ›den nehme ich.‹

»Meister Ephraim kratzte sich hinter dem Ohr und schlug einen Preis von fünfzehn Duro vor. Er sei gerade in Geldverlegenheit und wolle den Sattel deshalb billig hergeben.

»Charley steckte seine Pfeife in die Tasche und fragte, ob Meister Ephraim eine Tracht Prügel für einen besonderen Spaß halte.

»›Dann zehn,‹ wimmerte Meister Ephraim.

»›Einen,‹ sagte Charley und klimperte mit dem Geld in der Tasche.

»Der Jude drehte sich wie ein Kreisel zweimal um sich selbst und murmelte einige hebräische Worte. Wir glaubten beide, der Schlag würde ihn treffen, und Charley fragte ihn, ob er ihm Wasser holen sollte, worauf der Jude als einzige Antwort die Augen gräßlich verdrehte.

»Biete ihm zwei Duro, Charley,' sagte ich.

»›Zwei Duro!‹ bot Charley.

»Meister Ephraim fuhr sich mit beiden Händen an den Kopf und sah aus, als sei er am Rande der Verzweiflung.

»›Spotten Sie nicht, meine Herren!‹ rief er. ›Halten Sie einen armen Mann nicht für Narren!‹

»Wir standen auf, um zu gehen. Als wir an der Ladentüre angekommen waren, hustete der arme Mann und sagte, die Sache eile doch wohl nicht so sehr, und gerade in diesem Augenblick falle ihm ein, daß er beim Kauf des Sattels besonderes Glück gehabt habe und, weil wir es seien, wolle er ihn uns zum Preis von acht Duro lassen.

»›Drei Duro!‹ sagte Charley.

»Meister Ephraim riß sein schwarzes Käppchen vom Kopf und warf es wie rasend auf den Boden. Dann setzte er es ruhig wieder auf.

»Wieder schicken wir uns an, den Laden zu verlassen.

»›Nehmt ihn für vier, und ihr habt mich an den Bettelstab gebracht! Großer Gott, wie soll ich mich nach einem solchen Handel noch vor meiner Frau und meinen Kindern sehen lassen!‹ schrie der arme Mann, indem er zugleich den Sattel mit einem Fußtritt Charley zuschleuderte.

»Dieser zählte in aller Gemütsruhe dreieinhalb Duro auf den Tisch und erklärte, mehr Geld habe er nicht. Der Jude knüpfte das Geld in sein Taschentuch ein, und wir schieden versöhnt und als gute Freunde voneinander.

»Dann erhandelte sich Charley von einem Burschen auf der Straße ein uraltes arabisches Zaumzeug und ein Paar schwere spanische Sporen, worauf er gleich in eine Herberge trat, wo er sich die Sporen anschnallte. Mit diesem Schmuck an den Fersen ging er dann zweimal im Zimmer hin und her, um zu erfahren, ob die anwesenden Herren sich über ihn unterhielten. Das taten diese auch; aber Charley behauptete später, es sei nicht wahr. Nicht einer von den Zierbengeln hätte ihm ansehen können, daß er nicht den gleichen flotten Anstrich hatte, wie die erfahrenen unvergleichlichen marokkanischen › roughriders‹.

»Daraufhin setzte Charley sich an die Tür und schlug sich mit der Reitpeitsche auf die Waden, daß die Sporen klirrten. Er machte allmählich den Eindruck, als sei er noch von einem langen Ritt müde und abgespannt, ein wenig müde, ein wenig erschöpft, ein wenig zerstreut, während ein starres, hartes, halb mitleidiges, halb verächtliches Lächeln, das dem europäischen Einwanderer eigen ist, um seinen Mund spielte. Und dieses Lächeln galt den buntfarbigen Trachten der vorübergehenden arabischen Gelehrten, den Sonnenstrahlen, die im Rinnstein funkelten, und den kleinen schwarzen Schuhputzern, die auf dem äußersten Rand des Bürgersteigs saßen und ihn verwundert anglotzten.

»›Caballero,‹ sagten sie und nickten ihm vertraulich zu, während sie sich dazwischen gegenseitig angrinsten und arabisch miteinander sprachen. Charley hatte wohl eine Ahnung davon, daß sie sich über ihn lustig machten; aber die Teufelsbrut konnte von ihm denken, was sie wollte, über so was war er weit erhaben, Gott sei Dank!

»Dann wandten sich seine Gedanken Jim zu. Er stellte unwillkürlich Vergleiche an zwischen ihm und jedem Pferd, das vorbeikam. Alle musterte er mit dem prüfenden Blick, der ihm eigen war, jenem äußerst kritischen, unergründlichen Blick, durch den sich der Pferdekenner von gewöhnlichen Sterblichen unterscheidet. – O Jim war noch lange nicht der schlechteste seines Geschlechts! Wenn Charley das Bild seines Pferdes vor seinem inneren Auge auftauchen ließ, so mußte er sich sagen, daß das Tier eigentlich etwas Nobles, etwas Distinguiertes an sich hatte, etwas das auf edles Blut schließen ließ. Ah, die Leute sollten noch von ihm reden! ›Nur noch kurze Zeit, bis Jim etwas Fleisch angesetzt hatte, dann wird man sehen, daß das Tier den Teufel im Leib hat. Es war ein Mißverständnis gewesen, als wir das Tier draußen im Ruah hatten laufen lassen wollen. Da war es gerade nicht gut aufgelegt gewesen. – Unsinn! Hunger hatte es. Ja, die Welt soll sehen, was ein Engländer aus einem Pferd machen kann!‹

»Charleys Kopf sank tiefer und tiefer auf seine Brust, während er angestrengt nachdachte. – Hm! Vielleicht könnte er sich mit Jim nach Gibraltar übersetzen lassen und dort an einem Ponywettrennen mit ihm teilnehmen. Das Tier mußte nur jeden Tag ein wenig trainiert werden. O er werde schon Geld mit ihm verdienen da drüben in Gibraltar! Die Felsenbanditen da drüben waren riesig auf Ponys aus. – Ho, ho, Burschen! Charley fing an zu überlegen, ob es nicht äußerst schlau wäre, wenn er sich auf die Pferdezucht würfe. Er brauchte Geld. Jim sollte der Brunnen werden, aus dem er schöpfte. Wenn das Pony erst etwas Fleisch angesetzt hatte, könnte er es ja auch für einige Tage ausleihen, dann brachte es ihm ein – laß sehen – ja, richtig, innerhalb dreier Tage verdiente er die ganze Kaufsumme. Das war eine glänzende Spekulation. Ja, ja, man muß die Gelegenheit nur beim Schopf fassen! Vielleicht wäre es am besten, wenn er für Jim alsbald eine kleine Stute kaufte. Das weibliche Element würde vielleicht einen günstigen Einfluß auf das Pony ausüben und es lebhafter machen. ›Sie‹ würde wohl nicht mehr als zehn Duros kosten, da ein Hengst nur zwanzig wert war. Wenn die beiden dann ein Fohlen bekamen, würde er ihnen eine Ruah bauen und dann die Zucht im großen betreiben. Die Ruah wollte er droben in Suani auf Vater Tyvehundres Weide bauen und sich selbst wollte er Vater Tyvehundres idyllisch gelegene kleine Villa mit dem großen Garten kaufen, in dem Feigen, Mandeln und Trauben in Hülle und Fülle wuchsen. Dort wohnte er dann unter den mächtigen Eukalyptusbäumen, deren Duft so gesund ist. Und auf sein Recht als Fremder pochend, würde er sich dann Diener anschaffen, die ihm mit Haut und Haar zu eigen gehörten. Sie müßten ihm die Hand küssen und ihn ›Jacidi‹ nennen, und sie sollten ihm mit gerührter Untertanentreue nachschauen, wenn er sich morgens in den mexikanischen Sattel schwang und auf Jim davonritt. Ja, er würde einer von Tangers Matadoren werden, einer von denen, die bei Maclaud und seinesgleichen Schulden machen können, ohne daß man in Jahr und Tag ans Bezahlen gemahnt wird. Mit Gesandten und Grafen, ja mit Herzogen und Prinzen kann er dann auf die Sauhatz reiten, zu ihren Soireen und Bällen würde er als ein Gleichgestellter, als Mann von Rang eingeladen werden. Undeutliche Umrisse von Frauen mit rabenschwarzen Haaren und mandelförmigen dunkeln Augen stiegen vor seinem inneren Blick auf, von Frauen mit steinreichen Eltern, die in prachtvollen Villen da oben in ›el Monte' wohnten. Alles dieses würde Jim ihm einbringen, wenn er nur erst ein wenig Fleisch angesetzt hatte. – Jim lahm? – Ach was, dummes Geschwätz! Jim stammte aus dem Stall des Sultans selbst. Und Ben Abdallah, das ›Sohn des Dieners Gottes‹ bedeutet, hatte ihm bei den Gebeinen seines Urgroßvaters geschworen, daß noch niemals ein besserer ›Kedar‹ in ›Dukala‹ Hafer gefressen habe – und daß ihn nur die Not gezwungen habe, das stolze Tier zu verkaufen! Ja, Ben Abdallah hatte sich genau der gleichen Worte bedient, wie der Jude, bei dem Charley den mexikanischen Sattel gekauft hatte – Ho, ho, Burschen! Charley ist ein Mordskerl, Charley ist nicht von gestern, Charley kennt das Land – ja das tut er! Er war ja nun schon zwei ganze Monate im Lande!

»Darnach stand Charley halb verschlafen auf und trat an den Ladentisch, wo Papa Roß über unbezahlten Rechnungen schwitzte. Er stellte seinen rechten Ellbogen auf das Kontobuch, schlug seine Haken klirrend zusammen, und befahl mit seiner unvergleichlichen Aussprache, die nur Hughs Landsleuten zur Verfügung steht: › Una copita de Ginebra!‹, indem er zugleich Papa Roß einen Stoß vor den Magen versetzte. Darauf trank er sein Glas mit Würde aus, bearbeitete einen Tisch mit der Reitpeitsche und verließ sporenklirrend die Herberge.

»Am Nachmittag kam er zu mir und bat mich, ihn nach der Ruah zu begleiten, um nach Jim zu sehen. Jetzt hatte sich Charley Stiefel aus brandrotem Maroquinleder angeschafft und trug auch einen breiten blauen Gürtel um den Leib. Er sah ebenso unternehmungslustig wie kühn aus. Mit aufwärts gedrehtem Schnurrbart wanderte er in langen abgemessenen Schritten an meiner Seite zur Ruah, wo Jim stand und seinen Kopf über einen Strohbund hängen ließ.

»Charley strich dem Pferd über den Rücken und sagte: ›Er macht sich, was übrigens auch kein Wunder ist, denn er frißt wie ein Vollbluthengst. Die ganze Kiste dort ist mit Hafer angefüllt, und er bekommt alle ander Stunde seine gut zugemessene Ration. In ganz Tanger gibt es kein Pferd, das es besser hat. Ich will ihm jetzt den Sattel auflegen und mit ihm ausreiten.‹

»Als Jim dies hörte, sah er seinen Herrn ernst an und gähnte.

»›Hör, Charley,‹ sagte ich, ›würde es sich nicht vielleicht empfehlen, damit noch etwas zu warten. Er ist doch wohl noch etwas schwach.‹

»Doch Charley legte Jim den mexikanischen Sattel auf, was ein äußerst erheiternder Anblick für mich war, denn er legte ihn gerade verkehrt herum.

»Ich setzte mich auf eine Kiste und sah, mit welcher Sorgfalt mein englischer Freund die Bauchgurten zuschnallte. Jim wand und wehrte sich; aber Charley war sehr stark.

»›Ich denke, ich reite das erste Mal mit der Trense,‹ sagte er, während er sich daran machte, dem Pferd den Zaum anzulegen; und da ich, wie ihr wißt, sehr nachgiebiger Natur bin, erklärte ich, daß dies meiner Ansicht nach sicher das beste sei.

»Nach einiger Zeit kam Jim zu der Erkenntnis, daß die Situation äußerst peinlich sei, und als Charley ihm mit der Stange ins Auge fuhr, schlug er nach ihm aus.

»›Verdammter Zaum!‹ schimpfte Charley; er arbeitete, daß ihm der Schweiß nur so herunterlief.

»›Ich glaube, wir lassen Jim bis morgen in Ruhe,‹ schlug ich vor, denn der Sitz auf der Kiste wurde mir allmählich unbequem.

»›Ja, das wird wohl das beste sein,‹ erwiderte Charley und schnallte Sattel und Zaum wieder los. ›Gute Nacht, Jim, alter Kerl!‹

»Dann begaben wir uns nach der wunderschönen Playa, wo die schönsten Frauen der Welt ihre weißen Glieder in den grünleuchtenden Strandwogen baden.

»Am nächsten Morgen saß Charley an meinem Bett und las mir ein Kapitel aus seiner Taschenbibel vor. Als er fertig war, wachte ich auf und bat ihn, nach meiner Schokolade in die Hände zu klatschen, was er auch sofort tat. Als ich mich angezogen hatte, gingen wir natürlich zur Ruah. Jim hatte sich in seinem Stand niedergelegt. Er war nicht geneigt, sich zu erheben, weil sein Herr ihn zu besuchen kam. Auch sah er noch tiefsinniger drein als am Tag vorher, zwar nicht gerade traurig, aber auch durchaus nicht vergnügt; soviel war gewiß, in Gedanken beschäftigte er sich mit Problemen, die weit über das Triviale, Alltägliche hinausgingen. Zudem war er nicht ganz gesund. Er litt an einem verdorbenen Magen, das ging deutlich aus seiner Umgebung hervor. Wir fragten den Araber, der für ihn sorgte, was er von Jims Allgemeinbefinden halte. Dieser Herr, der in seinem ganzen Leben noch niemals einen leichteren Dienst gehabt hatte, erklärte nachdrücklich, das Tier brauche nur Ruhe, dann würde es sich bald erholen und ein nützliches Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft werden.

»Nachdem er diese Ansicht ausgesprochen hatte, legte er sich wieder nieder und versank in einen schlafähnlichen Zustand.

»›Das ist ein guter Kerl, er hat Jim lieb,‹ sagte Charley. ›Und daß Jim Ruhe braucht, ist sehr richtig. Ich werde ihn noch nicht reiten.‹

»Wir wünschten also Jim eine gute Besserung und verließen ihn, um in die Kirche zu gehen und dort nach den Damen zu sehen. »

*

Darauf kam eine Zeit, die Charley droben in ›el Monte‹ verbrachte, um zu malen. Wie ihr wißt, hielt er sich für einen Maler – und dadurch entging ich der Notwendigkeit, Jim zu jeder Stunde des Tages besuchen zu müssen; aber zweimal am Tage, morgens und abends, schleppte mich Charley doch hinaus. Eine größere Veränderung war noch nicht mit Jim vorgegangen. Er war immer das gleiche, nachdenkliche Geschöpf, und in seinem Blick glaubten wir eine grenzenlose Verachtung der Welt und all ihres Tands lesen zu können. Charley behauptete sogar, Jim zucke mit den Schultern. Der Araber beteuerte immer wieder, er pfropfe das Pferd mit Hafer förmlich voll, obgleich wir es noch nie hatten fressen sehen. Später, als ich in die marokkanischen ›Tricks‹ besser eingeweiht war, wurde mir klar, daß sich der ehrliche Knecht mit dem Futter des armen Jim einen kleinen Nebenverdienst verschafft hatte.

»Als ich an einem schönen Vormittag in der Herberge Babel saß und Papa Roß ein bißchen aufzog, gab es plötzlich einen Auflauf auf der Straße draußen. Man schrie, johlte und lachte, während in den meisten lebenden Sprachen allerlei Witze lustig durcheinanderschwirrten. Die Ursache dieser allgemeinen Heiterkeit war ein junger Mann zu Pferd. Der junge Mann schlug schäumend vor Wut wie wild um sich und bearbeitete zugleich ununterbrochen sein Streitroß mit seinen gespornten Fersen. Besagtes Roß bewegte sich trotzdem beständig rückwärts, bis es schließlich an der Ladentür des Goldschmieds Sidi Cohen nicht mehr weiter konnte. Hier blieb es stehen und sah sich um, wie jemand, der nicht recht weiß, was er tun soll. Auf der Stelle erkannte ich diesen beschaulichen Blick. Es war Jims Blick. Jim war Stoiker und kümmerte sich keinen Deut um Lärm und Geschrei. Jim wollte nur seinen Willen durchsetzen. Er wollte nicht vorwärts gehen, er wollte rückwärts bis zur Ladentür des Goldschmieds Sidi Cohen. Bis zu dieser war er nun gekommen und hatte damit das Ziel seiner Sehnsucht erreicht. Jetzt stand er unbeweglich da und sah mit verächtlichem Lächeln auf den heulenden Haufen, ohne auch nur die Ohren zu bewegen ...«

Hier unterbrach mich Niam-Niam mit der Behauptung, daß Pferde nicht lächeln könnten. Natürlich hatte er hierin, wie in so vielem anderen auch, unrecht. Tiere können sowohl lachen als weinen, und wenn besagter Niam-Niam ein Mann von Einsicht gewesen wäre, würde er sicher schon oft die Wahrnehmung gemacht haben, daß sie alle Abstufungen zwischen Freude und Kummer ausdrücken können.

»Der Reiter, der auf Jim saß, war natürlich Charley, der junge Künstler Charley der sich auf seinem ersten Versuchsritt befand. Er war in voller Ausrüstung. Die Jockeimütze, der Gürtel, die roten Stiefel und die schweren spanischen Sporen, nichts fehlte, außer der Ruhe und dem Gleichmut, die sonst für den Engländer so bezeichnend sind.

»Von der vergnügten Menge weitergeschoben, kam er mit Jim schließlich vor Babels Eingang, wo Papa Roß und ich ihn höchst freundlich mit der Bemerkung empfingen, es sei heute ein ungewöhnlich schöner Tag. Diese unsere Freundlichkeit nahm er eben noch ruhig hin, als ihn aber zwei kleine Araber fragten, ob sie Jim für ihn halten sollten, wurde er ganz rasend. Erst als sich sein Zorn gelegt hatte, stieg er ab und setzte sich.

»›Er ist noch nicht ordentlich herausgefüttert,‹ sagte er, indem er sich den Schweiß von der Stirne trocknete.

»Das war Charleys erster Ritt auf seinem Renner. Später hatte er es nicht gern, wenn die Sprache auf diesen Ritt kam.

*

»Mittlerweile wurde Jim ›herausgefüttert‹. Kein Säugling in Tanger wurde genauer untersucht als er; trotzdem verblieb er gleich mager und halsstarrig. Nicht als ob er ein Durchgänger gewesen wäre oder versucht hätte, seinen Reiter aus dem Sattel zu werfen, o nein, er war einfach nicht vorwärts zu bringen, weiter war nichts an ihm auszusetzen. Charley bediente sich der zärtlichsten Ausdrücke und der größten Schimpfworte; es war alles vergebens.

»So vergingen einige Wochen. Aber eines Tages, als ich eben auf der Playa vor der Taverne des dicken Antonius saß, wurde mir ein unglaublicher Anblick zu teil: Charley kam in vollem Galopp auf Jim dahergesprengt, nahm die Richtung auf die Taverne zu, sprang flott aus dem Sattel und setzte sich neben mich.

»›Nun geht er!‹ flüsterte er mir zu, während er etwas in sein Taschentuch wickelte und dieses in seiner Brusttasche verschwinden ließ. Und nach einer Weile vertraute er mir folgendes an: ›Ich bin mit dem Schlangenbändiger Ham zusammengetroffen, und er hat mir Jims Geheimnis geoffenbart, denn Jim hat ein Geheimnis. Er geht nicht, ohne daß man ihm mit einem Kaktusdorn unter den Schweif sticht. Dies hab ich getan, und da lief er; nun gilt es nur noch, etwas Fleisch an ihn hinzubringen.‹

»Aber Jim setzte kein Fleisch an. Wir hätten glauben können, es sei ein schlechter Scherz von ihm, zu fressen und zu fressen und doch alle seine Rippen durch die Haut durchschimmern zu lassen. Jim war kein Spaßvogel: er war durchaus wahrhaftig. Es war ihm unmöglich, fetter zu werden, obwohl wir ihn mit Zucker und Mohrrüben fütterten, und der Araber ihm ja Hafer in Menge zum Fressen gab. Wenn wir kamen, ließ er immer den Kopf hängen und sah aus, als sei er mißhandelt worden. Wenn wir wieder gingen, drehten wir uns an der Pforte der Ruah stets noch einmal um und nickten ihm zu. Dann machte er immer den Eindruck, als möchte er irgend etwas sagen, fände aber den Mut nicht dazu. Jim blieb uns ein Rätsel. Wir fingen beide an, nachts von ihm zu träumen.

»›Ich will den Doktor kommen lassen,‹ sagte Charley eines Tages.

»Darauf begab er sich zu dem alten General, der den Ruf hatte, einen außerordentlich guten Pferdeverstand zu besitzen.

»Der beliebte General sah sich Jim an und strich sich seinen weißen Bart. Er wurde immer nachdenklicher, blinzelte mit den Augen und kratzte sich an seiner Stumpfnase. Dann seufzte er fünfmal tief auf.

»›Er hat Würmer,‹ sagte er; ›er muß zwei Tage hungern, danach werde ich mit der Medizin kommen.‹

»Natürlich hatte er Würmer! Das war das ganze Geheimnis! Ah, der brave General! Wie vertrauenerweckend und sicher hatte er ausgesehen, als er vor Jim stand. Was für ein Mordskerl, was für ein Talent! Charley trank auf sein Wohl einige Whisky, die ich bezahlte, und dann erhielten wir die Wurmarznei.

»Wir gossen fünf große Flaschen davon in Jim hinein und sahen ihn dabei aufmunternd an.

»›Es wird schon wirken, alter Freund!‹

»Jim seufzte und schien nicht sehr zuversichtlich zu sein.

»›Du hast ihm hoffentlich nichts zu fressen gegeben?‹ fragte Charley den Araber.

»›Nein, gewiß nicht,‹ beteuerte dieser.

»Aber von Jim gingen keine Würmer ab, und unser Vertrauen zu dem General hielt nicht länger stand.

»Zwischen den Läden der Araber auf dem großen Soco Soco = Marktplatz. wohnte ein spanischer Hufschmied, der für einen unglaublich guten Roßarzt galt. Er konnte die Anerkennungsschreiben von drei Ministern vorweisen. Diesen ließ Charley kommen. Als der Arzt zur Ruah kam, warf er mit einer raschen Bewegung seine Mütze weg und machte sich daran, Jim ganz genau zu untersuchen. Er legte seinen Kopf an die Brust des Pferdes, beklopfte sie, befühlte den Bauch, den Hals, die Schenkel, die Kniekehlen, hob ihm den Schwanz in die Höhe und beschnupperte ihn, kurz, er tat wirklich alles, was man mit Fug und Recht von einem Mann in seiner Stellung verlangen kann. Jim schlug nach ihm aus.

»›Kolik!‹ erklärte der Hufschmied. ›Warme Umschläge – Frottieren – fürs erste wenig Futter – lauwarmes Wasser zum Saufen – Arznei – fünf Pesetas – danke!‹

»Jim sah uns trostlos an.

»Acht Tage lang ging von meiner Person ein so starker Pferdeduft aus, daß ich mich in guter Gesellschaft nicht mehr sehen lassen konnte. Mein Bett, meine Taschentücher, mein Tabaksbeutel, meine Haushälterin, meine zwei spanischen Dienstmädchen, alles und alle rochen nach Pferden. Als Charleys Freund mußte ich ihm helfen, Jims Leib zu massieren. Es wäre unkameradschaftlich von mir gewesen, wenn ich es nicht getan hätte.

Aber Jim ging es schlechter und schlechter, obgleich wir ihn bearbeiteten, als wenn er unser Bruder gewesen wäre. Gott kann unser Zeuge sein, daß wir alle Vorschriften, die der spanische Doktor uns gegeben hatte, treu befolgten – und daß ich die Rechnungen bezahlt habe.

»Eines Morgens, als wir eben wieder bei Jim waren, tauchte in der Ferne ein Araber auf; er kam näher und näher herbei und kauerte sich schließlich zwischen uns nieder. Dabei suchte er in seinem Beutel etwas Tabak zusammen, rollte eine Zigarette, schneuzte sich mit den Fingern, bat um Feuer und rauchte dann eine Weile schweigend.

»Endlich entspann sich eine Unterhaltung.

»›Guten Tag,‹ sagte er.

»›Guten Tag,‹ sagten wir.

»›Dieser Kedar,‹ sagte er.

»›Jawohl – krank,‹ sagten wir.

»›Ah so – krank,‹ sagte er.

»Dann saßen wir da und starrten uns gegenseitig lange an.

»›Dieser Kedar ist sehr krank,‹ sagte er.

»›O ja,‹ erwiderte Charley. ›Würmer, Kolik –, sehr krank.‹

»Nachdem unser brauner Freund sechs Zigaretten in Asche verwandelt hatte, sagte er, Jim sei an der einen Hüfte krank, und er müsse mit einem glühenden Eisen gebrannt werden. Das würde die Krankheit aus ihm herausziehen.

»Nun ist es wohl möglich, daß Jim auch eine kranke Hüfte hatte, denn er hatte angefangen zu lahmen. Vielleicht sollten wir mit dem Eisen einen Versuch machen. Diese Araber kannten oft Hausmittel, die besser waren, als alle Arzneien der Europäer. Charley sah seinen teuern Jim im Geiste schon lustige Krummsprünge auf der Playa machen, und in seinem Herzen keimte sogar die Hoffnung auf, der Araber werde das Pferd vielleicht kaufen. Doch dieser betrachtete Jim mit einem Gesichtsausdruck, der deutlich bewies, daß er etwas ganz anderes dachte.

»›Dieser Kedar! Kedar = Wallach. sagte er.

»›Ja, dieser Kedar,‹ wiederholten wir.

»›Dieser Kedar, Kedar, Kedar,‹ sagte er mit Nachdruck.

»›Ja zum Teufel, ja dieser Kedar!‹ versetzte Charley ärgerlich. Er glaubte, der Mann, der so ruhig dasaß mache sich über uns lustig.

»Da blitzte in den Augen des Arabers etwas wie ein Lächeln auf. Er zog ein Taschenmesser aus dem Busen und machte mit diesem in der Luft eine Bewegung, wie wenn er etwas wegschnitte. Darauf machte er ein höchst betrübtes Gesicht, das das Ergebnis der vorgenommenen Operation bezeichnen sollte, dann wiederholte er, diesmal ganz sicher, daß wir ihn verstanden hatten.

»›Dieser Kedar!‹

»Da ging mir ein Licht auf.

»›Du, Charley‹, sagte ich, ›ich habe so eine Ahnung, als ob Kedar Wallach bedeute.‹

»›Na – na –‹ fiel es tonlos von den Lippen des jungen Pferdekenners, ›das wäre doch zum Kuckuck!‹

»Das Gestüt, Vater Tyvehundres Villa, alle tänzelnden Kinder des guten Jim flogen mit dem kleinen lustigen Windhauch, der in diesem Augenblick durch die Ruah strich, hinaus und weit über alle Meere.

»›Was heißt denn eigentlich Hengst?‹ fragte Charley mürrisch.

»Da stand der Araber auf, wieherte lustig, führte auf der Stelle einen kleinen Galopp vor und sah äußerst vergnügt aus.

»›Das ist »Aud«‹, erklärte er. ›Das ist »Aud«‹.

»Nach diesem Unterricht im Arabischen ging er fort, um seine Instrumente zu holen.

»Der arme Jim wurde mit glühenden Eisen gebrannt und lahmte nach wie vor, ja vielleicht jetzt nur noch etwas mehr.

»Dann behauptete jemand, Jim müsse jeden Morgen ein Seebad nehmen. Der brave Knecht zog ihn nun jeden Morgen an den Strand hinunter. Es war ein höchst jämmerlicher Aufzug, das könnt ihr glauben; alle Leute, die ihm begegneten, blieben stehen und machten ihre Bemerkungen über ihn. Der Araber erzählte jedem, der es hören wollte, Jims Geschichte von Anfang bis zu Ende und dichtete jedesmal noch etwas Neues dazu, so daß Jim in unsrer kleinen Stadt allmählich eine Berühmtheit wurde. Von weither kamen die Leute, um Jim zu sehen und seine Krankheiten zu bewundern.

»Charley spielte sich auf den erfahrenen Mann aus. Er hatte so viel Ratschläge und Diagnosen gehört, daß er sich als Pferdedoktor hätte niederlassen können.

»›Gentlemen,‹ sagte er häufig zu seinen Besuchern, ›ich glaube trotz allem, daß ich noch Nachkommen von Jim bekommen werde. Man darf nur die Geduld nicht verlieren.‹ Und wenn der ›brave Knecht‹ das abgezehrte, lahme, die Ohren hängen lassende Tier zum Seebad hinabzog, rief ihm Charley, wenn er eine Strecke des Weges zurückgelegt hatte, nach: ›Hallo, Muhammed! Gib wohl acht, daß er kein Seewasser zu schlucken bekommt!‹

*

»Jim sah jetzt nur noch wie ein Schatten aus. Wenn man ein Licht in seinem Leib angebracht hätte, so hätte er gut als Laterne dienen können. Seine Augen standen wie Glaskugeln auf Stielen aus seinem Kopf heraus, und wenn er in einiger Entfernung einem entgegengeschwankt kam, sah er genau wie ein wandelnder Packsattel aus. Sein Körper war nun auch an verschiedenen Stellen räudig geworden. Nur noch einen um den andern Tag nahm er ein Seebad, denn öfter konnte er die hundert Schritt zum Strand wirklich nicht machen. Manchmal ging Charley selbst hinter ihm drein und half durch Nachschieben. Das war immer ein recht erheiternder Anblick. Auch ich sollte helfen schieben, aber ich weigerte mich entschieden dagegen. Es genügte vollständig, daß er selbst sich lächerlich machte. Wo immer Charley sich sehen ließ, wurde von ihm und seinem Pferd geredet, und ich wußte wohl, wenn es auf den Pfarrer regnet, tröpfelt es auf den Küster. Aber ich legte durchaus keinen Wert mehr darauf, mit Jim in Verbindung gebracht zu werden. Abgesehen von allem andern, lief ich auch noch Gefahr, die Räude und Läuse von ihm zu bekommen, und ich hatte schon mehr als einmal bemerkt, daß die Leute, wenn ich in eine Stube trat, Räucherpapier herbeiholten. So zum Beispiel in Babel! Wenn ich mich dort für eine Weile niedergelassen hatte, stand man auf und ging mit anzüglichen Gebärden seiner Wege. Selbst der gute Papa Roß, der nie jemanden ein unfreundliches Wort gab, fragte mich eines Tages, ob ich es nicht vorzöge, mir draußen servieren zu lassen, weil es dort viel frischer sei. – Ah, ich durchschaute den Kniff.

»Allmählich wurde ich der Bekanntschaft mit Charley und seinem Pferd ernstlich überdrüssig. Oft ertappte ich mich dabei, wie ich zu mir selber sagte, Jim sei eine verdammte, räudige Schindmähre, womit ich durchaus nicht sagen wollte, daß ich ihn haßte. – Der Ärmste! Ich bemitleidete ihn ja von ganzem Herzen, ja in gewisser Beziehung hatte ich ihn sogar recht lieb, denn man gewinnt die lieb, denen es schlecht geht und die ihren Mitmenschen zum Gespött dienen, die Gebrechlichen und die Häßlichen, kurz alle Stiefkinder des Glücks auf Erden. Ich wäre hart und lieblos gewesen, wenn ich Jim nicht lieb gehabt hätte. Aber trotz alledem – etwas Rücksicht mußte ich auch auf mich selber nehmen. Ich konnte mich unmöglich ganz für Jim aufopfern. Jeden Tag war ich droben in der Ruah, betrachtete ihn und klopfte ihn auf die Stellen seines Körpers, die nicht räudig waren, auch redete ich freundlich und verständig mit ihm, wie man mit einem alten Kameraden, dem man wohl will, redet. Bei solchen Anlässen zitterte Jim wohl vor Gemütsbewegung und lehnte sich gegen die Wand. Ja gewiß hatte ich ein Herz für ihn. Wenn ich ihn mit Zuckerstücken oder Mohrrüben fütterte, fühlte ich mehrmals eine kleine Träne auf meine Hand fallen. Häufig sah ich auch Tränen in seinen Augen, klare, reine Tropfen aus dem Leidensbecher. – Lieber Jim!

*

»Eines Tages suchten Charley und ich den Apotheker Nicola auf und fragten ihn, was er für den Fall ›Jim‹ empfehlen würde.

»›Englisches Feuer!‹ meinte Nicola.

»Ich kaufte eine große Flasche ›Englisches Feuer‹, und wir doktorten wieder an Jim herum. Zufällig spritzte ein Tropfen der neuen Arznei in mein eines Auge. Acht Tage lang sah ich auf diesem Auge nichts mehr.

»Eines Morgens, als Jim gerade ins Bad sollte, kam der Baron von den sieben Mondkratern in die Ruah hereingetrippelt und meinte, ihm scheine es gar nicht so schwer, das Pferd wieder zu Kräften zu bringen. Charley drückte ihm gerührt die Hand und strahlte vor Dankbarkeit.

»›Ja,‹ sagte der Baron von den sieben Mondkratern, ›es gibt ein ganz einfaches Mittel, das die Araber oft anwenden. Sie brauchen nichts weiter zu tun, als ihm den Schwanz zu rasieren.‹

»›Das wäre allerdings höchst einfach,‹ sagte Charley.

»›Hübscher wird er dadurch ja eigentlich nicht,‹ fuhr der Baron fort; ›aber auf Schönheit werden Sie in diesem Fall auch wohl keinen besonderen Wert legen, Herr Charley.‹

»›Ach nein, jetzt nicht mehr. Wenn Jim auf dieses Mittel hin nur Fleisch ansetzen würde.‹

»Der Baron sah sehr gelehrt drein und fuhr dann fort: ›Ich muß Ihnen nämlich sagen, wenn der Schwanz erst von allen seinen Haaren befreit ist, dann wird dem Körper alle die Kraft zugeführt, die diese Haare sonst für ihr Wachstum brauchen. Saft und Kraft braucht das Tier, das ist klar, und der Schwanz wächst auch bald wieder nach.‹

»›Das ist ganz natürlich,‹ bemerkte Charley.

»Ich betrachtete Jims Schwanz. Der entzog dem Körper sicher nicht viel Saft und Kraft.

»Am nächsten Tag trat Jim frisch rasiert auf.

»Es übersteigt meine Kraft, euch eine Beschreibung von Jims Aussehen zu geben. Ihr müßt dazu eure eigene Phantasie zu Hilfe nehmen. Stellt euch einen gefrorenen Kohlstrunk vor, der in das Ende eines hölzernen Pferdes gesteckt ist.

»›Nun fließt die Kraft in seinen Körper hinein, das erscheint mir ganz logisch,‹ sagte Charley. ›Komm, wir gehen hinunter nach Babel und laden den Baron zu einem Whisky ein.‹

*

»In den folgenden Tagen glaubten wir eine gewisse Besserung in Jims Befinden zu bemerken. Seine Augen blickten nicht mehr so traurig drein, und ›der brave Knecht‹ behauptete, er habe ihn dreimal wiehern hören. Das waren erfreuliche Zeichen.

»›Der ›Schwanzsaft‹ fängt an, Jim zu durchströmen,‹ sagte Charley. Dann setzte er sich auf einen Eimer und sah tiefsinnig drein. Ich wagte ihn nicht zu stören.

»›Ich will noch einen Schritt weiter gehen,‹ bemerkte er endlich, ›und die Theorie des Barons von der neuen Kraftzufuhr weiter ausbauen; kurz ich will‹ – bei diesen Worten schlug er auf seine Stiefelschäfte, daß die Sporen klirrten – ›ich will ihn ratzekahl scheren.‹

»Am Tag darauf war Jim kahlgeschoren, so kahl, wie es schlechterdings nur möglich war. Der Hufschmied Antonio war mit seiner Schere dagewesen und hatte ihn von den kümmerlichen Haaren, die er noch gehabt hatte, vollends befreit. Doch die letzte Prozedur war für Jim nicht von günstigen Folgen. Jetzt war er nicht mehr dazu zu bewegen, ins Bad zu gehen. Er fühlte sich zu matt und erschöpft. Wir meinten, es wäre vielleicht am besten, wenn man versuchte, ihm doch etwas mehr Nahrung beizubringen. Aber darauf erklärte der Araber, das Schlimmste was wir tun könnten, wäre Jim zu mästen. Wenn wir das tun wollten, müßten wir uns nach einem andern Pferdeknecht umsehen. Da wir aber Jim sich nicht selbst überlassen konnten, behielt der ›getreue Knecht‹ seinen Willen.

»An diesem Abend lud ich Charley zum Nachtessen ein. Donna Elvira hatte ihr bestes Gericht gekocht, und ich holte für Charley, der die spanischen Weine nicht mochte, eine Flasche vom feinsten Sauterne. Als wir nach dem Essen behaglich unsere Zigarre zum Kaffee rauchten, fragte Charley mich, ob ich Jim nicht kaufen wolle. Für fünfundzwanzig Duro könnte ich ihn haben, dann verdiene er selbst nur fünf, und aus soviel meine er doch Anspruch zu haben für alle die Schererei, die er mit dem Zureiten und so weiter gehabt habe. Die Auslagen für die Ärzte und die Arzneien wolle er nicht mitrechnen. Die ganze Kurpfuscherei wolle er auf seine Kappe nehmen. Doch bedingte er sich noch aus, gelegentlich einen Reitausflug mit Jim machen zu dürfen.

»Ich blieb ruhig sitzen und zog nachdenklich an meiner Zigarre.

»›Gut‹, sagte Charley, ›du hast acht Tage Bedenkzeit.‹

*

»Als wir am nächsten Morgen Jim freundlichst baten, aufzustehen, wollte er nicht. Darauf nahm Charley aufs Geratewohl eine der vielen Arzneiflaschen und goß ihm den Inhalt ein. Jim schluckte ergeben die Arznei. Es war die Wurmmedizin.

»›Charley‹, sagte ich, ›jetzt geben wir ihm etwas zu fressen.‹

»›Das wäre das Schlimmste was wir tun könnten,‹ entgegnete er. ›Wir haben doch nun die Ansichten von vielen erfahrenen Leuten gehört, und alle sind sich darin einig, daß er Ruhe haben muß und nicht zu viel fressen soll. So viel solltest du inzwischen gelernt haben; hungern soll er nicht, das weißt du wohl, und er hat auch keine Not bei uns gelitten. Noch vor ganz kurzem ist er ja geradezu gemästet worden, er kann also wohl eine Weile aus dem Leib zehren.‹ Charley war fast wütend.

»Doch diesmal gab ich nicht nach.

»›Jetzt soll er etwas zu fressen haben‹ sagte ich ernst. ›Die Arzneien helfen ihm keinen Deut.‹

»Damit ging ich hin und weckte den Araber aus seinem Murmeltierschlaf.

»›Hör einmal, edler Hadj,‹ sagte ich zu ihm, ›habe die Güte und öffne die Haferkiste. Wir wollen Jim etwas zu fressen geben.‹

»Der Araber suchte widerwillig nach dem Schlüssel. Er suchte überall, nur nicht da, wo er war. Wie ein schweres dickes Tier watete er im Stroh herum und sank schließlich mit einem ergebenen Lächeln auf eine Matte.

»›Irgend jemand muß mir den Schlüssel im Schlaf genommen haben,‹ brachte er schließlich hervor.

»Ein unheimlicher Verdacht stieg in Charley und mir zu gleicher Zeit auf. Hatten wir es hier vielleicht mit einem Halunken zu tun?

»›Sofort heraus mit dem Schlüssel!‹ donnerte Charley, ›oder ich schlage dir alle Knochen in deinem sündigen Leib entzwei!‹ – Und Charley war der Mann seine Drohung auszuführen.

»Ich sah, wie der Araber unter seiner braunen Haut erblaßte, während er in einem unverschämten Ton erwiderte, was nicht zu finden sei, könne er auch nicht herbeizaubern.

»Doch nun geriet Charley in eine grenzenlose Wut. Mit eiserner Faust packte er den Araber im Nacken, hob ihn in die Höhe und schüttelte ihn, wie wenn es ein Flederwisch wäre.

»›Ich werde die Faulheit aus deinem dreckigen, trichinendurchseuchten Kadaver heraustreiben!‹ brüllte er. ›Her mit dem Schlüssel, aber etwas plötzlich!‹

»Jetzt kam auf einmal Leben in den ›treuen Knecht‹. Er schrie, während er sich unter Charleys Griff wie ein Wurm krümmte, aus Leibeskräften um Hilfe. Allmählich stellten sich auch Zuschauer ein, die sich setzten, um dem Geschäft zuzusehen, das ihnen höchst interessant zu sein schien. Zum Glück waren es in der Hauptsache Juden und Spanier, für die es nichts Ergötzlicheres auf der Welt gab, als zu sehen, wie ein Araber Prügel bekommt.

»›Bravo Ingles!‹ riefen sie. ›Nur immer drauf!‹

»Als sich schließlich auch der Eigentümer der Ruah, ein hochgewachsener alter Jude einfand, machte Charley Miene, die Abstrafung einstweilen zu unterbrechen. Aber der Eigentümer der Ruah sagte: ›Muhammed, Euer Diener, hat den Schlüssel. Hier in meiner Ruah gibt es, mit Ausnahme vielleicht von ihm, keinen Dieb.‹

»›Heraus mit dem Schlüssel, du Schweinepelz, du niederträchtiger Feueranbeter!‹ schrie Charley, der die ganze Zeit tat, als seien wir ganz allein, und sich auch nicht hätte stören lassen, wenn die Bischöfe und Richter der ganzen Welt zugegen gewesen wären.

»Da griff Muhammed in seinen Turban und zog den gewünschten Schlüssel hervor. Die Zuschauer ließen ein Triumphgeheul ertönen.

»Wir schlossen die Haferkiste auf – sie war leer.

»Charley wurde blaß vor Zorn. Seine großen Hände ballten sich zu Fäusten, daß die Knochen ganz weiß wurden. Seine Augen wandelten von dem ausgemergelten Jim zur Haferkiste und von der Haferkiste zu dem Araber.

»›Was hast du mit dem Hafer angefangen?‹ fragte er leise.

»›Bei Allah, der Kedar hat allen zum Fressen bekommen,‹ antwortete der elende Kerl und sah Charley dabei frech in die Augen.

»Die Menge brach in ein schallendes Gelächter aus. ›Ha, ha! Der Kedar soll gefressen haben! Der Kedar, der am verhungern ist! – Ha, das ist gut! – Arabischer Gauner! – Erwürget ihn!‹

»Der Haufen nahm eine drohende Haltung an. Die Leute rückten näher heran und bildeten einen Kreis um uns; es war eine Reihe von haßerfüllten, dunkelbraunen Gesichtern mit rachefunkelnden Augen. Enger und enger schloß sich der Ring, wilder und wilder wurden die Gebärden. Die Lynchjustiz brannte lichterloh. Die Hände ballten sich, Steine wurden aufgehoben. Der Richter Lynch war im Begriff, seine Perücke aufzusetzen.

»Der Araber machte kein hochmütiges Gesicht mehr. Sein Mut sank tiefer und tiefer, seine Züge nahmen eine sonderbare graue Färbung an, seine Kniee schlotterten, und seine ängstlichen Augen schweiften hilflos im Kreise umher, wie wenn sie ein Versteck suchten. Als er einsah, daß seine Lage hoffnungslos war, faltete er in tiefer Zerknirschung die Arme über der Brust zusammen.

»›Will man mich denn umbringen?‹ flüsterte er, und dabei kam ein Ton aus seiner Kehle, wie wenn er den Versuch machte, seine ganze Zunge zu verschlucken.

»›Peitsche ihn!‹ rief eine Stimme aus dem Schwarm der Zuschauer.

»Ein Stein flog dem Araber an den Mund und färbte ihn rot, ein zweiter Stein riß ihm den Turban vom Kopf.

»›Wartet ein wenig, ihr Burschen!‹ sagte Charley. ›Ihr braucht mir nicht zu helfen; ich traue mir zu, allein mit ihm fertig zu werden.‹

»›Mein Herr,‹ mischte sich der Eigentümer der Ruah ein, ›ich bitte Sie um eines, zerstören Sie den guten Ruf der Ruah nicht. Ich will einige Soldaten holen, die den Mann zur Kasbah führen können. Dort wird er seine Strafe bekommen.‹

»›Der verdammte Jude, er nimmt Partei für den Dieb!‹ schrie der Haufen. ›Raus mit dem alten Hundsfott, in die Kasbah mit ihm!‹ Eine Apfelsine flog dem Juden an die Nase, worauf er schleunigst die Flucht ergriff. Jetzt schlich sich ein Araberjunge, der mir schon manche Besorgung gemacht hatte, zu mir heran und flüsterte: ›Ich weiß, er hat den Hafer an Mustafa hier in der Ruah verkauft – von dem Hafer, der für den Kedar bestimmt war.‹

»Ich zog den Jungen in den Kreis.

»›Ein neuer Zeuge, Charley! Hier hast du den Beweis in Händen. Hol Mustafa!‹ sagte ich zu dem Jungen. Er eilte davon wie ein Wiesel.

»Aber der Schwarm drängte auf uns ein und schrie: ›Peitsche ihn, Senor!‹ riefen die Leute. ›Peitsche den arabischen Hund!‹

»›Soll geschehen!‹ erwiderte Charley ruhig und machte sich daran, einen Riemen aus dem mexikanischen Sattel loszuschnallen. Er ließ sich behaglich Zeit, legte den Riemen doppelt, ließ ihn probeweise auf den Araber niedersausen und knüpfte Knoten, richtige, solide dicke Knoten hinein.

»›Bravo Ingles!‹ erklang es aus dem Haufen.

»Nun kam der Araberjunge mit Mustafa, dem Wächter der Ruah zurück.

»›Jacidi,‹ sagte dieser, ›ich kann beweisen, daß Muhammed täglich Hafer an die Karawanenführer hier in der Ruah verkauft hat. Ich kann beschwören, daß er den Hafer aus der Kiste des Kedar genommen hat; ich habe meinen Platz am Eingang der Ruah, und meinem Blick kann nichts entgehen, was drinnen vorgeht. Dem Kedar fehlt Futter, nichts als Futter.‹

»Mustafa stand in voller Größe vor seinem Glaubensbruder.

»›Du bist ein Dieb!‹ sagte er.

»Wieder kam ein Stein herangeflogen; er traf Muhammed auf die Wange, der nun rasch schützend seine Hand vors Gesicht hielt.

»In diesem Augenblick vernahmen wir einen merkwürdigen Laut. Zuerst klang er wie die kurzen keuchenden Atemzüge eines Asthmatikers, oder wie ein quietschender Blasebalg, der plötzlich unter uns in Gang gesetzt wurde. Dann ging der Laut in ein Stöhnen und ein qualvolles Schlucksen über. Und ringsumher wurde es plötzlich ganz still. Es war die Stille angesichts des Todes. Wir hörten ein Röcheln, den letzten verzweifelten Notschrei eines mit dem Tode kämpfenden Geschöpfes. Dann noch ein langer, langer Seufzer.

»Jim war gestorben – vor Hunger gestorben, gerade vor unsern Augen.

»Über Charleys Gesicht ging ein eigenes Zucken. Er preßte die Lippen fest zusammen, und über seiner Nase bildeten sich tiefe Falten. Schwer Atem holend beugte er sich über das tote Tier, strich ihm sanft über den Hals und sagte weich und zärtlich: ›Lebwohl, Jim!‹

»Dann richtete er sich plötzlich hoch auf, packte Muhammed im Nacken und drückte dessen Kopf nieder an das Maul des Pferdes.

»›Hundsfott!‹ schrie er wütend. ›Hundsfott, küsse ihn!‹

»Ein Zittern ging durch den Körper des Arabers, während sein Mund langsam, aber mit unerbittlicher Sicherheit auf das Maul des Tieres gepreßt wurde. Ein erstauntes Murmeln durchlief die Reihen der Zuschauer.

»›Er küßt ihn!‹ flüsterten sie. ›Er küßt ihn!‹

»Nun richtete sich der Araber wieder auf. In seinem Gesicht war nichts mehr von Furcht zu lesen. Alles Untertänige, Schuldbewußte war wie weggewischt. Die vorher so demütige, krumme Gestalt schien vor unsern Augen zu wachsen. Ein grausames Lächeln spielte um den Mund des Arabers, ein Lächeln so voll verbissenem Haß und unterdrückter Wut, daß dieser Anblick sogar auf den rohen Haufen, der uns umgab, Eindruck zu machen schien. – Aber Charley ließ sich durch dieses Lächeln nicht rühren. In diesem Augenblick war er jeder Einsicht, jedem Mitleid völlig unzugänglich.

»›Noch einmal, du Hundsfott!‹ schrie er, indem er den Araber aufs neue im Nacken packte, und wieder zwang er dessen Kopf zu dem Maul des toten Tieres nieder.

»Das Gesicht des Arabers war ganz verzerrt vor Wut; Blut und Schaum standen ihm in den Mundwinkeln, und aus seiner Kehle drang ein gurgelnder Laut hervor; mit seinen klauenartig gekrümmten Händen griff er machtlos in die Luft, und ich hörte ihn mit den Zähnen knirschen.

»Charley stand bleich, kaltblütig, unbeweglich hinter ihm.

»›Noch einmal!‹

»Wieder bekam der arme tote Jim einen Kuß, und wieder brüllte die Menge vor Vergnügen laut auf. Die düstere Stimmung war bei ihr schnell verflogen.

»›Lang lebe der Kedar!‹ schrie sie. ›Lang leben el Inglés!‹

»Doch nun schnellte der Araber in die Höhe, stellte sich auf die Zehenspitzen und schäumend vor Wut und Scham spie er Charley mitten ins Gesicht und schrie: ›Hund, Hund, Hund!‹

»Charley machte mit der Faust eine blitzschnelle Bewegung, und der Araber sank mit einem Seufzer zusammen.

»In diesem Augenblick kam der Eigentümer der Ruah mit zwei Soldaten des Paschas herbei. Diese trugen den bewußtlosen Mann fort. Und da jetzt der interessanteste Teil der Vorstellung zu Ende war, verschwanden auch die Zuschauer wie ein Haufen Schakale in ihre Höhle.

»Charley und ich standen wieder allein vor Jim. Der junge Künstler streichelte den Kopf des Pferdes.

»›Ich hätte ihn vielleicht nicht rasieren lassen dürfen,‹ sagte er nachdenklich. Dann wendete er sich an mich und sagte: ›Du, eigentlich kannst du von Glück sagen, daß du ihn nicht gekauft hast.‹

»Drei Tage später folgte ich Charley an Bord seines Schiffes. Als ich ihm die Hand zum Abschied reichte, sagte er: ›Lieber Freund! Ich werde nie mehr in dieses Land kommen. Nun habe ich genug von ihm. Es ist ein rohes, rücksichtsloses, diebisches Land, in dem es sehr wenig Gentlemen gibt. Dieses Land war nichts für Jim und nichts für mich, und ich glaube, es ist auch nichts für dich. Wenn du aber noch einige Zeit hier bleibst, könntest du wohl ab und zu nach Jim draußen sehen. Er liegt unter einem Sandhügel bei dem ersten Meilenstein auf dem Wege nach Tetuan. Der arme Kerl! Er war ein Stiefkind hier auf unsrer Erde. – Ja, ja,‹ fügte er mit einem bekümmerten Blick auf den gelben Strand hinzu – ›ja, nun hat er Würmer‹.

»Schon ließ der Dampfer das Wasser am Heck aufwallen; ich saß in meinem kleinen Boot und ließ mein Taschentuch flattern.

»Da klang eine Stimme über das Wasser zu mir herüber, und ich verstand die Worte: ›Du, noch eins, ich habe vergessen, die Ruah zu bezahlen.‹

»Aber scheltet nicht, meine Freunde. Wenn auch Charley dies und noch einiges andre zu bezahlen vergessen hatte, so war Charley doch ein Gentleman. Niemand von Euch hat ein Recht, daran zu zweifeln.« – –

Ali-ben-Kaim hatte mit zunehmendem Mißfallen meine Erzählung von Charley mit angehört. Als ich fertig war, ergriff er das Wort: »Ihr führt so oft das Wort ›Gentlemen‹ in euerm Mund, ihr Europäer, aber ich bin völlig im Dunkeln darüber, was es eigentlich bedeutet. Ganz besonders jetzt nach der Geschichte von deinem Freund und seinem Gaul. Zuerst meinte ich, dieses Wort umfasse alles, was edel und ehrenhaft ist, aber da muß ich mich in einem groben Irrtum befunden haben. Denn das kann doch unmöglich auf diesen Charley passen. Ein guter und edler Mensch behandelt keinen Menschen in so schamloser Weise, auch wenn dieser in einer braunen Haut steckt, und auch nicht, wenn er gestohlen hat, ein guter Mensch verletzt einen solchen Menschen nicht so tief bis ins innerste Herz hinein, daß er ihn in Gegenwart anderer und mit voller Überlegung auf die gleiche Stufe mit einem Tier stellt. Es wäre besser gewesen, dein Freund hätte meinem Landsmann die Hand abgehauen, Sahabi. Ja, ich habe schon früher über die wahre Bedeutung dieses Wortes nachgedacht. Besonders einmal, als drei betrunkene Europäer den Krüppel Achmed in Flurs Kneipe mit Öl übergossen und dann anzündeten. Diese Herren titulierten sich gegenseitig ›Gentlemen‹, so oft sie nur den Mund aufmachten, und als ihre Sache vor Gericht kam, gab ihnen der Richter auch diesen Beinamen. Nach diesen Erfahrungen bin ich geneigt, den Ausdruck für ein Schimpfwort zu halten. Daher wundere ich mich auch, daß ich das Wort niemals auf uns Araber habe anwenden hören.«

Nun nahm ich das Wort und sagte: »Nicht weil der Araber Charley bestohlen hatte, strafte dieser ihn so streng, sondern wegen seiner Herzlosigkeit gegenüber dem Tier. Du mußt wissen, eine der ersten Pflichten eines Gentleman ist, den Schwächeren gegen den Stärkeren in Schutz zu nehmen. Und das hatte Charley getan.«

Doch Taleb zuckte die Schultern und sagte: »Niemand darf unüberlegt der Stimme seines Herzens folgen; es ist die Pflicht jedes Menschen, zu überlegen, ehe er handelt, und ganz besonders ist es die Pflicht dessen, der sich zum Richter über andre aufwirft. Ein solcher Mann muß seine Blicke nach allen Seiten richten, Sahabi. Er darf nicht andre nach sich selber beurteilen und nicht an ein Wiesel den Maßstab eines Löwen ansetzen, und er darf den Grobschmied nicht tadeln, weil er mit zarten Schmucksachen, die nur für den Goldschmied bestimmt sind, nicht zart genug umgeht, er darf auch dem Seiler keine Vorwürfe machen, wenn er sich nicht auf das Gewebe des Seidenspinnens versteht. Sahabi, gib der Gerechtigkeit die Ehre, falls du es kannst, wenn es sich um einen Muselmann handelt! Ich frage dich: kannte dein Freund, jener Gentleman, alle Umstände so genau, um zu wissen, wie weit er seinem unwissenden Diener vertrauen durfte?«

Taleb führte die Sache seines Landsmannes mit einer Überlegenheit und einer vornehmen Ruhe, die bei uns helle Bewunderung erregte. Hätte er nicht seine europäische Tracht angehabt, so wäre er als der echte Typus eines Kadi im alten Stil vor uns gestanden. Das war der gleiche Mann, der noch kurz vorher auf dem Karussell gefahren war und sich dabei wie ein Kind gefreut hatte!

Ali-ben-Kaim fuhr fort: »Aber so ist es von jeher gewesen, und so wird es immer bleiben, niemals werdet ihr uns verstehen lernen: unsre Art zu denken, unsre Begriffe von Gut und Böse, unsre Dichtung und Musik, unsre Staatskunst und unser Glaube von den ewigen Dingen, alles, alles wird euch ewig fremd bleiben. Nein, bis zu dem innersten Kern unsres Wesens könnt ihr – für wie scharfsinnig ihr euch auch haltet – niemals durchdringen.«

Ich wollte ihm ins Wort fallen, doch der Hornbläser Niam-Niam hob seine Arme empor wie ein Hohepriester und begann: »Meine Freunde! Der Taleb Ali-ben-Kaim hat recht. Er kann diese Dinge besser beurteilen als wir. Die Völkerschaften des Orients und ihr Wesen werden uns immer rätselhaft bleiben, selbst wenn wir unter den Palmen wohnen und den Koran als Kopfkissen benützten.«

»Und Gott sei Dank, daß es so ist!« rief Hugh. »Gott sei Dank, daß wir nicht alle Dinge erkennen! Das ist eine Lebensbedingung für uns Poeten. Je ferner der Himmel uns erscheint, um so größer ist der Raum, in dem wir unsre Schwingen zum Fluge regen können. Wir trachten nach dem Unbekannten, dem Geheimnisvollen, und gerade das verleiht unsern Dichterworten ihre Farbe. Wenn es einmal nichts Rätselhaftes mehr gibt, kommen wir alle ins Armenhaus. Gut ist es darum, daß auch die Sterne des Orients uns ewig unerforschlich bleiben werden.« – –

*

Am nächsten Vormittag hielt Niam-Niam einen Vortrag über Schwabens alte Geschichte, während der Holländer, der Marquis, Hugh und ich L'hombre spielten und Bobo an seine Familie schrieb. Pokoff und Ali-ben-Kaim waren im Dampfbad. Im weiteren Verlauf des Tages führte uns unser Mentor in ein sehr interessantes Museum und darnach in »das alte Schloß«, um – wie er sagte – seinen Vortrag über die schwäbischen Altertümer durch den Augenschein besser zu beleuchten. Es war ein schöner Zug von Niam-Niam, daß er sich in dieser Weise für uns aufopferte. Wäre er nicht gewesen, so hätten wir ins Grab steigen können, ohne die kämpfenden Hirsche in Cannstatt gesehen zu haben oder den Schloßgardisten in hochroter, betreßter Livree mit einem Gegenstand in der Hand, der einem Kommandostab glich. Ali-ben-Kaim hielt diesen Mann für den König und würde ihm die Hände geküßt haben, wenn ich ihn nicht noch rechtzeitig daran verhindert hätte. Übrigens waren wir alle von dem »alten Schloß« begeistert, besonders Taleb, der lebhaft bedauerte, es nicht in sein Reich mitnehmen zu können, um dort darin zu wohnen, denn solches Baumaterial ist dort drunten nicht zu bekommen. Schließlich sah er aber doch ein, daß die Kosten des Niederreißens und Wiederaufbauens seine Kräfte doch wohl übersteigen würden. Niam-Niam erklärte diese Vermutung auch für durchaus berechtigt, denn, sagte er, einer der Könige des Landes habe sich selbst einmal mit dem Gedanken getragen, das Schloß niederzureißen und die Steine zu einem andern Bau zu verwenden; doch das Schloß selbst habe glücklicherweise durch seine massiven Steinblöcke und seine ganze solide Bauart einen derartigen Verstoß gegen jegliches Pietätsgefühl einfach unmöglich gemacht. Ferner erinnerte sich Niam-Niam noch an etwas. Er hatte in seinem Vortrag am Morgen ausdrücklich erwähnt, daß der gleiche König eine uralte Schloßruine – ich glaube, es war die sagenumwobene Burg der Hohenstaufen – zerstört und fortgeschafft habe, um ein modernes Mausoleum aus ihren Steinen zu errichten.

Einige von uns sahen auf die Seite, als Niam-Niam mit dieser Geschichte kam. Er hatte sie natürlich gerade bei einem Solo mit dem Marquis erzählt.

Nachdem wir unsre Seelen durch ein ausgiebiges Studium des alten Schlosses erquickt hatten, schlenderten wir vor dem Schloß unter den prächtigen blühenden Kastanienbäumen auf und ab und hörten der Regimentsmusik zu: wohlweislich aber hatten wir es so eingerichtet, daß niemand auf den Gedanken kommen konnte, Ali-ben-Kaim gehöre zu uns. Er war nämlich an diesem Tag völlig unmöglich, wenn ihm zufällig ein weibliches Wesen in den Weg kam. Und doch meinte es der Ärmste so gut; aber es geht nun einmal nicht an, nach rechts und links in zärtlicher Weise Kußhände zu werfen, wie er es tat. Zum Beispiel Kindermädchen gegenüber, die ihre Kleinen im Wagen auf und ab fuhren. Dann ging er hin und teilte Blumen aus, die er von einem herrlichen Rosenbäumchen, das dem Staat gehörte, gepflückt hatte, oder er wusch sich angesichts aller Spaziergänger gar in einem der Springbrunnen, kurz er benahm sich akkurat, als ob er sich in einem freien Lande befände. Wir fühlten uns alle außerordentlich erleichtert, als wir ihn glücklich wieder in der »alten Post« unter Dach hatten, wo wir ihn mit einer mächtigen Schüssel Pflaumensuppe, die er in unglaublich kurzer Zeit austrank, entschädigten. Denn Pflaumensuppe war nach seiner Meinung die beste Speise im Lande der Ungläubigen.

Am Nachmittag wartete seiner indes noch eine größere Überraschung. Wir fuhren nämlich alle im Auto zum Flugplatz und wohnten den Übungen der Flieger bei. Als sich die erste Maschine in Bewegung setzte und im Fluge hob, wurde Ali-ben-Kaim vor Erregung ganz blaß, und bei jedem Flieger, der so elegant und sicher in die Höhe stieg, wie wenn er im Aeroplan auf die Welt gekommen wäre, nahm seine Bewunderung zu.

»Allah kerim, Allah kerim!« Allah kerim! = Barmherziger Gott! murmelte er einmal übers andere, während er mit dem Feldstecher den zierlichen Flug der Luftfahrer in der Höhe verfolgte.

»Sahabi!« flüsterte er dem Marquis zu. »Als du dein Abenteuer in Kfur Abuam erzähltest, glaubte ich, Gott verzeihe es mir, du tischtest uns eine Lüge auf. So oft ihr behauptet, die Kinder der Rumi könnten in der Luft fahren, dachte ich, entweder sei die Luft in eurem Lande von andrer Art als in dem unsrigen, oder ihr treibet Spaß mit mir. Vergib mir meinen Unglauben! Jetzt sehe ich mit eigenen Augen, was ich niemals für möglich gehalten hätte. Früher hielt ich den kleinen buckligen Uhrmacher in Tarundant für den größten Weisen auf dieser Erde, aber bei Allah, diese Kunststücke kann er nicht nachmachen, und wenn er noch einmal so alt würde!«

»Aber du kannst sie lernen,« sagte der Marquis.

»Sahabi!« versetzte Ali-ben-Kaim, »das war nur ein Gedanke, den der Wind mir einst in goldener Stunde zutrieb. Jetzt denke ich nicht mehr wie damals. Hier ist Zauberei mit im Spiel, und Allahs Hand ist nicht dabei beteiligt. Ich habe Angst davor. Es ist für mich zu mächtig.«

Der Taleb ließ den Kopf hängen und sah sehr unglücklich aus.

»Nein, es ist keine Zauberei mit im Spiel, mein Lieber,« tröstete ihn der Marquis.

Doch Ali-ben-Kaim winkte ihm ab.

»Nenne es, wie du willst,« sagte er ernst. »So wie ich es sehe, ist es Zauberei, jetzt sehe ich auch ein, daß ihr uns auf allen Gebieten überlegen seid, und daß wir im Vergleich zu euch nur Kinder sind. Ihr macht euch Kräfte untertan, von denen wir kaum in unsern Märchen träumen. Allah kerim! Wie erfinderisch seid ihr doch, und wie nützet ihr alle Stunden des Tages und der Nacht aus! Und doch, wie unglücklich seid ihr trotzdem in all eurer Macht, wie unglücklich!«

»Was willst du damit sagen, Taleb?«

»Hast du, der du in der Welt so weit herumgekommen bist und so viel gelehrte Schriften gelesen hast, niemals von der alten Sage gehört, die man sich in unserm Lande erzählt? Die Sage von dem mächtigen Geschlecht der Riesen, das einstmals in längst entschwundenen Zeiten gelebt hat? Siehst du, alles Land und alle Meere hatte Allah ihnen untertan gemacht, aber sie waren damit nicht zufrieden, sondern wollten in ihrem Übermut auch den Himmel stürmen. Da schlug Allah sie mit seinem Zorn, und nun stehen sie als bis zu den Wolken aufragende Gebirge da und tragen das blaue Himmelsgewölbe. Atachar, auch ihr wollt den Himmel stürmen, doch der ist die Wohnung Allahs und der Geister, und ihr werdet seine Pforte nie erreichen. Sein Blitz wird die Vermessenen zerschmettern und sie zu Asche verbrennen.«

Er blieb eine Weile schweigend stehen und beobachtete die Aeroplane, die über ihm in der Luft kreisten. Ein halb bewunderndes, halb mitleidiges Lächeln kräuselte seine Lippen.

»Ja fliegt, fliegt, ihr Rumi!« sagte er leise. »Flieget in euer eigenes Verderben!«

Dann wandte er sich an Niam-Niam.

»Führe mich jetzt fort von hier, Atachar!« bat er ihn. »Ich habe genug gesehen. Mein Gehirn kann fast nicht noch mehr fassen, und dieser ungewohnte Lärm in der Luft macht mir Angst. Ich sehne mich nach meinem Heimatland im Süden, nach den freien, weiten Steppen, den einsamen Bergen, den lieblichen Wassern der Oasen. Führe mich fort, Atachar, in meinem Kopf summt es wie in einem Wespennest!«

»So willst du zurück zu Krieg, Verheerung, Elend?«

Er nickte und sagte ruhig: »Diese Dinge schrecken mich nicht, denn sie sind allgemein menschlich; sie sind natürlich und uns vom Schicksal auferlegt; aber was ich hier sehe, ist wider die Natur und meinem Geist fremd. Das wirst du doch einsehen. – Führe mich fort, Atachar! Aber führe mich fort in einem Wagen mit Pferden, mit Pferden von Fleisch und Blut. Ich möchte nicht wieder in so einem klappernden Kasten mit den stinkenden Teufeln im Bauch sitzen.«

»Ach du lieber Gott!« rief Pokoff mit einem tiefen Seufzer, »da fliegt meine Praxis als fürstlicher Leibarzt davon.«

»Und mein Großvezieramt!« stimmte ihm Niam-Niam bei.

»Und meine Gesänge werden niemals auf goldenen Tafeln eingegraben werden!« klagte Hugh. »Unbekannt werde ich in mein Grab sinken.«

Eine Viertelstunde später fuhren wir unsern marokkanischen Freund in die Stadt zurück in einem Wagen mit richtigen Pferden davor.

*

Die Stimmung im Allerheiligsten war an diesem Abend etwas gedrückt. Vielleicht waren wir enttäuscht, daß unsre Aussichten für die Zukunft nicht mehr so glänzend waren, nachdem Ali-ben-Kaim seinem Thron entsagt hatte, vielleicht waren wir auch nur von dem Genuß so vieler Sehenswürdigkeiten erschöpft. Den Holländer plagte die Gicht und den Taleb das Heimweh, dabei regnete es draußen in Strömen.

Als dann Niam-Niam, der Hornbläser, beim vierten Krug Bier angelangt war, begann er: »Sage mir, Pokoff, warum hast du eigentlich deine Praxis dort unten aufgegeben? Du warst doch seinerzeit gut angekommen, dabei hast du das wunderhübsche kleine Haus droben in Suani gehabt! Ich begreife nicht, wie du es übers Herz bringen konntest, es zu verlassen.«

»Ich habe es auch nicht freiwillig getan,« antwortete der Russe. »Der verdammte Neger war schuld daran.«

»Welcher Neger?«

»M' ksuga.«

»Pokoff hat das Wort!« erklärte Niam-Niam.

»Ach, das ist eine traurige, höchst ärgerliche Geschichte,« sagte Pokoff, nachdem er sich seinen Krug hatte frisch füllen lassen. »Wie der Hornbläser richtig bemerkte, war ich dort unten mit meiner Praxis gut in Schuß gekommen, da erschien dieser Neger auf der Bildfläche und warf alles über den Haufen. Hätte ihn doch der Teufel geholt!

– Nun also, eines Morgens trat dieser Neger in mein Sprechzimmer. Er mochte ungefähr seine vier Ellen hoch sein, dabei war er wohlproportioniert, es war ein wahres Vergnügen, ihn anzusehen. Sein tiefschwarzes, glänzendes Gesicht mit seinem wohlwollenden gutmütigen Ausdruck hatte etwas so außerordentlich Biederes an sich, daß er mir sofort Vertrauen einflößte. Seine Augen strahlten mir freundlich und treuherzig entgegen, und das Lächeln, das um seinen kindlichen Mund spielte, verlieh meinem Sprechzimmer etwas Sonniges. Bei mir selber taxierte ich ihn gleich folgendermaßen: Schwarzes, gutmütiges Riesenkind aus den Vereinigten Staaten.

»Er war überaus gut angezogen, trug helle, elegante Sommerkleider und gelbe, spitze Schuhe, an seinen Fingern glitzerten einige schöne Brillantringe, und auf seinem Magen baumelte eine großmächtige goldene Uhrkette. Mein Besuch war der Typus des wohlhabenden selfmade Niggers aus guter Familie.

»›Guten Tag, Doktor.‹ sagte er.

»›Guten Tag,‹ erwiderte ich und reichte ihm die Hand.

»Als er diese ergriff, fiel mir auf, wie wenig Kraft diese Riesenfaust zu haben schien, es war nur, als werde meine Hand von einem weichen Handschuh berührt. Ich wies auf einen Stuhl und bat ihn, es sich bequem zu machen. Er nickte verbindlich und sah sich ein wenig verlegen im Zimmer um, wie wenn er nicht ganz sicher wäre, ob ich auch wirklich meine, was ich gesagt hatte. Endlich blieb sein Blick am Kamin haften, und dann ließ er sich behutsam auf dessen Steinfliesen nieder.

»›Womit kann ich Ihnen dienen?‹ fragte ich. ›Sind Sie krank?‹

»›Ja,‹ antwortete er, ›ja, das bin ich. Wenn Sie mir helfen können, werde ich Ihnen ewig dankbar sein, und ich werde mich auch mit dem Honorar nicht lumpen lassen.‹

»Bei diesen Worten schlug er triumphierend auf seine Hosentasche, und ich muß sagen, es klirrte in ihr äußerst verlockend.

»›Ja, ja – daran soll es sicher nicht fehlen,‹ fuhr er fort. ›Wenn ich nur erst wieder gesund wäre! Nun kutschiere ich schon seit drei Jahren in der Welt umher und habe die tüchtigsten Ärzte, die es gibt, zu Rate gezogen, und doch bin ich noch ebenso schlimm daran. Wie oft habe ich nicht schon aus diesem oder jenem Land mit dem Schnellzug davonfahren müssen, weil ich offenbar die Luft nicht vertragen konnte. Ich verstand nur zu gut, daß die Leute mich nicht leiden konnten und mich abschoben wie einen Pestkranken. Sie können sich nicht vorstellen, wie peinlich auf mich all der Hohn wirkte, den man in der Welt der weißen Menschen ›Reserve‹ nennt. Gewiß, man war höflich gegen mich, aber man erwies mir eine Art von Höflichkeit, die einen freien Mann aus der Gesellschaft ausschließt und schließlich umbringt. Wenn ich auch ein Schwarzer bin, so bin ich doch gebildet und habe viel gelesen – das hören Sie wohl sofort an meiner Sprache –, und da habe ich auch gelesen, wie es den Parias und Aussätzigen geht, daß denen, wohin sie auch kommen, die Häuser verschlossen werden. Nun, ich bin ein solcher Paria, ich Ärmster. Ja, Herr Doktor, ich bin krank, todkrank, und wenn Sie mir wirklich helfen können, so – – –‹ hierbei klirrte es wieder lieblich in seiner Tasche.

»Ich schlug geschäftsmäßig mein Buch auf und tauchte die Feder in die Tinte.

»›Name?‹

»›Herr Gideon M' ksuga.‹

»Ich lehnte mich in meinen Stuhl zurück, setzte die allergelehrteste Miene auf, die mir zu Gebote stand, und sagte mit einem festen, durchdringenden Blick auf ihn: ›Erzählen Sie mir Ihre Krankheitsgeschichte klar und ausführlich. Berichten Sie vertrauensvoll alles, was Sie auf dem Herzen haben, bis auf die unbedeutendsten Einzelheiten. Und dann vor allem – keine Ziererei!‹

»›Ziererei ... Ziererei, sagten Sie?‹ unterbrach er mich, während ein breites, erstauntes Lächeln über sein Gesicht zog.

»›Ja, ganz richtig, mein lieber Herr. Sie müssen doch wohl wissen, daß durch Ziererei schon viel Unglück in die Welt gekommen ist. Mancher geniert sich, sich ganz zu zeigen, wie er ist, und alle seine Schwachheiten aufzudecken; aber bei Leuten von meinem Beruf hat das keinen Sinn ... Also kurz und gut, sprechen Sie frisch von der Leber weg, ohne etwas zu verheimlichen.‹

»Seine Augen blitzten auf, und er wurde auf seinem Platz vor dem Kamin unruhig.

»›Nichts verheimlichen, sagen Sie? Machen Sie mich nicht wütend!‹ schrie er und fuhr sich mit den Händen über seine Kniee.

»Ich sah den zusammengekauerten Koloß neugierig an und entgegnete sanft: ›Wütend? Aber weit gefehlt, ich will Sie gewiß nicht erzürnen; ich möchte nur eine Unterhaltung über Ihre Krankheit anknüpfen, das werden Sie doch verstehen; das ist nämlich unbedingt notwendig. Fällt mir nicht ein, Sie in Wut versetzen zu wollen.‹

»Ein behagliches Lächeln glitt über seine Züge.

»›Entschuldigen Sie mich, lieber Herr Doktor, ich bin manchmal etwas jähzornig. Sie hatten durchaus nicht die Absicht, grob zu werden. – Jawohl, ich verstehe Sie gut, Sie wollten mich examinieren. Ich kenne die Sache und habe eine lange Erfahrung darin. Nun also, ganz ungeschminkt und ohne Umschweife sollen Sie meine Krankheitsgeschichte hören.‹

»›Das wird sehr angebracht sein, Herr Congo,‹ sagte ich.

»›Herr M' ksuga,‹ verbesserte er mich ernst.

»›Also Sie dürfen nicht zornig werden, wenn ich Ihnen auch noch so intime Fragen vorlege,‹ ermahnte ich ihn. ›Wenn ich Sie dann ausgefragt und von Ihnen Ihr Leiden erfahren habe, werde ich Sie gründlich untersuchen.‹

»›Mich untersuchen!‹ schrie er mit einer Stentorstimme und richtete sich plötzlich zu seiner ganzen Größe auf. ›Mich untersuchen! Sind Sie verrückt? Glauben Sie, verteufelter Aaskäfer, vielleicht, ich sei hierhergekommen, um mich untersuchen und nudeln zu lassen wie ein Säugling? In meinem ganzen Leben ist mir so etwas noch nie vorgekommen. – Mich untersuchen, sagten Sie, Sie verdammter Pflasterschmierer! Ich habe in den sechsundzwanzig Jahren, die ich jetzt alt bin, nun schon fünfundzwanzig Personen das Leben genommen, da soll es mir bei Gelegenheit auf einen mehr auch nicht ankommen.‹

»Der Riese machte einen Schritt auf mich zu. Der gutmütige Ausdruck in seinem Gesicht war völlig verschwunden. Sollte ich mich doch in seinem Charakter getäuscht haben? Ich schob meinen Stuhl etwas zurück und benutzte diese Bewegung, um mich zu vergewissern, daß mein Revolver auf seinem Platz lag.

»Vier Ellen hoch stand er vor mir mit rollenden Augen und geballten Fäusten.

»›Mich untersuchen, sagten Sie?‹

»›Wenn Sie mich als Arzt aufsuchen, so muß ich das allerdings,‹ antwortete ich so ruhig wie möglich. ›Es ist meine Pflicht, Herr Chimbo – – –‹

»›Herr M' ksuga,‹ sagte er.

»Allmählich schob ich mich in meinem Stuhl weiter und weiter zurück, um für alle Fälle Platz zum Zielen zu haben. Darüber war ich mir jetzt ganz klar, daß ich es mit einem völlig verrückten Menschen zu tun hatte. Und mit was für einem Menschen! Gott behüte mich! Ein Riese von einem Neger, der mich im Handumdrehen zu Brei zerquetschen konnte – ein vor Wut schäumender Orangutang. Wenn ich ihm so eine kleine Erbse aus meinem Revolver, oder sagen wir – alle fünf hintereinander in den Leib jagte, so wäre die Wirkung auf ihn wahrscheinlich nicht stärker, als die einiger milder Abführpillen. Eins war mir vollständig klar: ich war machtlos in den Händen des Giganten, der brutalen Gewalt preisgegeben, und fing im stillen allmählich an, Gott meine Seele zu empfehlen.

»Doch wie mit einem Zauberschlag schlug die Stimmung des Negers um. Seine Züge nahmen wieder den sanften, gutmütigen Ausdruck an, und ein kindliches Lächeln leuchtete aus seinen Augen. Fromm faltete er seine Hände und legte sein martialisches Wesen ab.

»›Ich bin nur ein wenig jähzornig,‹ sagte er; ›aber daran dürfen Sie sich nicht stoßen. Sie müssen nicht vergessen, daß ich krank bin.‹

»Ja, krank war er, das ging aus allem deutlich hervor. Krank im Oberstübchen war er. – Wenn er nur schon glücklich wieder draußen wäre! Doch jetzt handelte es sich darum, ihm sanft zuzureden. Wenn ich jetzt nur keine verkehrten Worte gebrauchte, die ihn dermaßen reizten, daß er mich an den Beinen packte und meinen Kopf an eine Mauer klatschen ließ, wie man es mit jungen Hunden macht, die man los sein will. – Vielleicht würde es sich empfehlen, ihm etwas anzubieten.

»›Ist Ihnen ein Glas Wein gefällig?‹

»›Nein, danke, Herr Doktor; das bekommt mir nicht, es erhitzt mich zu sehr.‹

»›Vielleicht eine Zigarre?‹

»›Ich rauche allerdings gern: aber Sie müssen mir erlauben, Ihnen eine meiner Havannas anzubieten: – so eine bekommen Sie hierzulande nicht,‹ sagte er vergnügt und zog sofort ein hübsches Zigarrenetui aus seiner Tasche.

»Er hatte recht, es war eine ausgezeichnete Zigarre. Woher er nur stammte? Soviel war sicher, ein hergelaufener Lazzaroni war mein neuer Patient nicht.

»›Ich habe eine Plantage auf Cuba,‹ sagte er, ›und von dort stammt auch diese Zigarre. Wenn Sie mich wieder gesund machen, werde ich Sie für den Rest Ihres Lebens mit Tabak versorgen.‹

»Ich nickte verbindlich und gelobte mir, ihn wieder gesund zu machen.

»›Jetzt haben Sie, bitte, die Liebenswürdigkeit, mir zu sagen, was Ihnen fehlt.‹

»›Sofort, sofort,‹ sagte er, indem er zwei dicke parallele Rauchsäulen aus der Nase blies, ›ich werde gleich beginnen. Doch, ehrlich gestanden, wundere ich mich ein wenig darüber, daß Sie mir nicht ansehen, was mir fehlt. Ich sollte meinen, das müsse einem förmlich in die Augen springen.‹

»Nun mußte ich auf der Hut sein und meine Worte mit Verstand abwägen. Er konnte sonst wieder jähzornig werden.

»Ich betrachtete also nachdenklich meine Zigarre und begann dann: ›Ja, sehen Sie, das ist nicht so leicht, da ich Sie ja nicht – (untersuchen kann, wäre ich fast herausgeplatzt) – länger als seit fünf Minuten gesehen habe. Aber vielleicht hätten Sie die Güte, hier einigemal in meinem Zimmer auf und ab zu gehen.‹

»›Mit Vergnügen,‹ entgegnete er und fing gleich an, mit elastischen Schritten vor meinen Augen hin und her zu wandern.

»Wie ich so dasaß und ihn anschaute, sagte ich mir, daß ich noch niemals einen so starken, wohlgewachsenen Körper gesehen hatte. Er strotzte förmlich vor Kraft und Gesundheit und schlug mit Glanz alle Marsmodelle der Welt. Nur waren bei ihm, wie bei allen Negern, die Arme zu lang. Seine Fingerspitzen berührten die Kniekehlen. Und dieser Kerl wollte mit aller Gewalt krank sein! Himmel, was sollte ich nur vorbringen?

»›Hm!‹ sagte ich schließlich bedächtig. ›Sie werden wohl manchmal von Blutandrang gegen den Kopf geplagt, von leichtem Schwindel – – hie und da ein wenig – –‹

»›Gewiß, Doktor,‹ sagte er leise, während sich ein glückliches, fröhliches Lächeln über sein Gesicht ausbreitete und die weißen Zähne zwischen den dicken Lippen, deren hochrote Farbe sich stark von dem tiefschwarzen Rahmen abhob, glänzten. – – ›Genau so, Doktor! Ich bin sicher, daß Sie auf dem richtigen Weg sind.‹

»› – – Ein wenig Nasenbluten,‹ fuhr ich fort. ›Ohrensausen in Verbindung mit Tönen wie Glockengeläute – –‹

»›Ausgezeichnet, ausgezeichnet, Doktor!‹ rief er. ›Sie sind ein Tausendsassa. – – Weiter, weiter!‹

»›Wenn Sie sich aus einer gebückten Stellung schnell aufrichten, tanzen schwarze Punkte vor Ihren Augen, ein Gefühl wie bei der Seekrankheit überkommt Sie – ein Anfall, der übrigens rasch wieder zu vergehen pflegt –, Sie hören deutlich den Puls in Ihrem Schädel klopfen, sind zum Aufbrausen geneigt, und manchmal fühlen Sie einen unerklärlichen Drang, schwere Lasten zu heben – –‹

»› Santa Maria!‹ schrie er und machte einen Sprung, daß meine Instrumente im Schrank klirrten. ›Sie haben es bis auf den letzten Punkt getroffen. Tod und Teufel, ist es nicht genau, als ob ich Ihnen alles haarklein erzählt hätte? Ha, ha, nun sind wir obenauf, Gideon und ich! Gestatten Sie, daß ich Sie umarme, Doktor, Sie sind mein bester Freund.‹

»Mit weit ausgestreckten Armen stürmte er auf mich los. Schon sah ich mich in die Höhe gehoben, hoch zum Himmel hinauf wie ein kleiner Engel. Aber plötzlich hielt er an, trat einen Schritt zurück und steckte die Hände in die Hosentaschen.

»›Nein, ich glaube, das hat keinen Zweck.‹

»In diesem Augenblick sah ich mit den schönsten Havannazigarren gefüllte Kisten sich in meinem Hause anhäufen. Große, dicke, runde Ballen des feinsten Tabaks rollten durch alle Türen herein. Es war doch nicht so übel, einen Nabob in ärztlicher Behandlung zu haben.

»›Weiter, weiter!‹ drängte der Riese. ›Mehr von meiner Krankheit, Doktor.‹

»Ich fuhr in der gleichen Tonart fort: ›Sie fühlen einen Drang in sich, diese großen Lasten zu packen und weit fortzuschleudern – und dann, dann – – –‹

»› – – – Und dann, dann,‹ flüsterte er mich anstarrend.

»›Dann merken Sie plötzlich, daß Sie dazu nicht imstande sind. Ihre Ohnmacht wird Ihnen klar, und während Sie sich Ihres Schwächezustandes bewußt werden, übermannt Sie der Zorn.‹

»Aber das hätte ich nicht sagen sollen. Auf einmal ging mit meinem merkwürdigen Patienten eine fürchterliche Veränderung vor. Er rückte einen Schritt zurück, sein ganzer Körper zitterte vor Erregung, und während sich sein breiter Mund zu einem einzigen großen Grinsen verzerrte, zischte er zwischen seinen Raubtierzähnen hervor: ›Schwächezustand hast du gesagt? Du vermaledeiter, bebrillter Giftmischer, du weiße Käsemilbe! Schwächezustand hast du gesagt?‹

»Ich hatte offenbar etwas furchtbar Verkehrtes gesagt. Er war in eine solche Wut geraten, daß ich jeden Augenblick darauf gefaßt war, er werde platzen. – Hätte er es nur getan! Mit tiefem Schmerz sah ich alle meine Zigarrenkisten zu einem Nichts zusammenschrumpfen und die schönen Tabaksballen wieder aus meinem Speicher hinausrollen. – Aber ums Himmels willen, wodurch hatte ich nur seinen Zorn so erregt? Anfangs war er doch von meinen Darlegungen ganz begeistert gewesen, erst als ich mit dem Schwächezustand daherkam, war der Teufel los. Aber irgend etwas mußte ich doch sagen, denn der Mensch wollte ja mit aller Gewalt krank sein.

»Dabei lief der verrückte Kerl in heller Raserei im Zimmer umher. Es sah aus, als wolle er mir beim Umzug behilflich sein. Zuerst hob er den schweren Experimentierstuhl mit seiner rechten Hand in die Höhe und schleuderte ihn, als wäre er ein Federball, quer durchs Zimmer. Meine armen Stühle zerbrach er, wie wenn sie aus Zündhölzern gemacht wären. Einen schweren eichenen Tisch mitsamt den Büchern darauf hob er über seinen Kopf empor und schmiß ihn in die Ecke zu dem andern Gerümpel. Dann stürzte er wieder zum Kamin hin, packte den Feuerhaken, kam auf mich los und wirbelte mir mit der Waffe wie wahnsinnig vor der Nase herum. – Nun war ich ganz überzeugt, daß ich der sechsundzwanzigste sein würde.

»Er bog den Feuerhaken, als wäre er nur aus Zinn, wie ein Schnappmesser zusammen und zog ihn dann wieder gerade.

»›Schwächezustand hast du gesagt? – Ja, merkst du denn nicht, daß ich zu stark bin?‹ brüllte er. ›Merkst du denn nicht, daß das meine Krankheit ist?‹

»Dann schmiß er den Feuerhaken an den Kamin, daß Funken aus den Steinen flogen.

»›Nehmen Sie das Kleinod da weg,‹ sagte er etwas ruhiger, als er die Revolvermündung, die auf ihn gerichtet war, erblickte. ›Es soll Ihnen nichts geschehen. – Ich gerate nur leicht ein wenig in Hitze.‹

»›Setzen Sie sich, bitte, auf die Kaminfliesen, wenn Sie so freundlich sein wollen, Herr Wamb...‹

»›Herr M' ksuga, bitte. Sie haben ein verdammt schlechtes Gedächtnis für Namen, Herr Doktor, und der meinige kommt mir doch so einfach vor. Ich möchte fast darauf schwören, daß Sie sich ein wenig gefürchtet haben. Aber ich bin nur so energisch aufgetreten, um Ihnen begreiflich zu machen, daß Ihre Bemerkung über den Schwächezustand etwas voreilig war. – Und dabei haben Sie anfangs Ihre Sache so ausgezeichnet gemacht.‹

»›Sie ließen mir ja nicht Zeit, meinen Satz zu vollenden,‹ erwiderte ich, nachdem ich mich von meinem Schrecken etwas erholt hatte. ›Ich wollte durchaus nicht behaupten, daß Sie an einer körperlichen Schwäche litten; – ich sprach von einer geistigen, von einer Schwäche, die Sie leicht wütend werden läßt; ich wollte davon sprechen, daß Sie in Ihrem aufgeregten Zustand sich leicht – sagen wir, wenig gewählter Ausdrücke bedienen.‹

»›Ah so,‹ brummelte er, ›so meinten Sie es? Aber dann haben Sie ja ganz recht, Doktor.‹

»›Natürlich habe ich recht.‹

»Undeutliche Umrisse von Zigarrenkisten tauchten wieder an meinem Horizont auf.

»›Ich bin eigentlich ein ungeheures Rindvieh,‹ sagte er mit strahlendem Gesicht.

»Darin stimmte ich vollständig mit ihm überein, aber ich sprach es nicht aus.

»›Ach ja, ach ja, Doktor!‹ jammerte er. ›Diese verdammte Stärke ist der Kummer meines Lebens. Sie können sich keinen Begriff davon machen, welche Qual das für mich ist. Von meiner Kindheit an ist dies mein Kreuz gewesen. Damals hoffte ich noch, es würde sich mit der Zeit verwachsen, aber – Gott bessere es – es wurde nur immer schlimmer. Ach Gott, ach Gott, lieber Doktor! Im Alter von zehn Jahren drehte ich meinem einzigen Bruder das Genick ab, und als mein teurer Vater herbeieilte, um mich abzustrafen, wollte es das Unglück, daß ich ihn auf der Stelle totschlug. Er war nämlich schon etwas kränklich gewesen. Bald darauf kam die Reihe an meine geliebte Mutter, weil sie mir meines Vaters und Bruders wegen Vorwürfe machte – die Ärmste hielt ja so wenig aus –, und so stand ich eltern- und geschwisterlos da in dieser gottlosen Welt. Sie können sich meinen Schmerz vorstellen, Doktor. – Dann warf ich mich auf harte Arbeit in den Tabakplantagen; ich arbeitete für zehn, plagte und schindete mich, hauste auf meine Gesundheit und meine Kräfte hinein; aber es wurde nur schlimmer und schlimmer. Meine Muskeln hatten das Aussehen von Feldsteinen, die Haut an meinen Händen war wie Leder. Mit sechzehn Jahren konnte ich einen Ochsen mit einem Faustschlag töten, mit siebzehn riß ich einen Panther mit den bloßen Händen in Stücke, und zwar so leicht, wie wenn er nur eine Katze gewesen wäre. Während dieser Jugendjahre brachte ich drei gute Kameraden sowie vier Portugiesen und einen Mulatten, der mir einen Nasenstüber gegeben hatte, um. Später heiratete ich die Tochter eines Plantagenbesitzers, und als ihr Vater auf einem Jagdausflug, den wir zusammen machten, ums Leben kam, wurde ich Eigentümer der ganzen Plantage. Man sollte meinen, ich wäre nun der glücklichste Mensch unter der Sonne gewesen. Jawohl, aber dem war nicht so. Ach nein, lieber Doktor, dem war nicht so. Es ging abwärts mit mir, immer abwärts. Schließlich war ich ganz verzweifelt, weil alles, was ich anfaßte, in Stücke ging. Ich mußte mein eigenes Tischgeschirr haben und meine eigenen Stühle, schwere, unförmliche Dinger, die am Fußboden festgeschraubt wurden, damit ich sie nicht jemand an den Kopf warf. Jemand die Hand zu drücken, war ausgeschlossen für mich – die Hand wäre zu Brei zermalmt worden. Niemals vergesse ich, wie es ging, als mein Vetter, ein äußerst tüchtiger Mann, zu mir auf Besuch kam. Ich freute mich so über seinen Besuch, daß ich ihm zwei Finger abbrach und ihm die Schulter ausrenkte. Kann so etwas einen Zweck haben? Nie durfte ich an irgend einem Spiel, wie Fußball oder ähnlichem, teilnehmen, denn – nun ja, Sie verstehen mich schon. Ach, ach! – Und dabei hatte ich nie die Absicht, jemanden ein Leid anzutun, das dürfen Sie mir glauben. Nur aus Versehen habe ich so viele Leute ums Leben gebracht, das ist gewißlich wahr. – Darf ich Ihnen noch eine Zigarre anbieten, Doktor? Es ist besser, wenn Sie sie nur halb rauchen – sie ist ein wenig stark.‹

»Während dieses Gesprächs hatte mein Patient drei Zigarren nacheinander geraucht. Er dampfte wie eine Lokomotive. Ich war mit seiner ersten noch nicht halb fertig, fühlte aber schon, daß ich totenblaß wurde und mir der kalte Angstschweiß aus die Stirne trat. Alles war stark, was mit diesem Menschen in Zusammenhang stand.

»›Das ist eine sehr interessante Krankheitsgeschichte, Herr Kaengu...‹

»›Herr M'ksuga. – Also, wie ich Ihnen sagte, nahm mein Leiden mit jedem Tag zu. Ich will Ihnen ein Beispiel erzählen, welche heillose Wirkung diese Krankheit damals ausüben konnte. Eines Abends rettete ich einen Franzosen im Hafen von Havanna vom Ertrinken. Der Bedauernswerte fiel von einem Schiff über Bord und schrie Zetermordio um Hilfe. Ich habe von jeher ein warmes Herz für meine Mitmenschen gehabt – ja Doktor, das habe ich mein ganzes Leben lang bewiesen –, und das zeigte sich auch bei dieser Gelegenheit. Ich sprang ihm sofort nach, kriegte ihn am Nacken zu fassen und schwamm mit ihm an Land. Alle Zuschauer schrieen bravo, und ich selber war ordentlich stolz auf mich. Aber als wir uns den armen Kerl näher ansahen, war er – Gott steh mir bei! – mausetot, nicht, weil er zu viel Wasser geschluckt hätte, ach nein, Sie wissen wohl, was ich meine! Ich hatte ihn, während ich mit ihm an Land schwamm, erstickt. Ich gab es auch gleich selbst zu. ›Gentlemens,‹ sagte ich, ›ich habe ihn leider wohl ein wenig zu fest gehalten, ja leider.‹ Und alle Leute bemitleideten mich. – Es war ein netter Mann in seinen besten Jahren, und trotz aller angestellten Versuche konnte er nicht mehr ins Leben zurückgerufen werden. Ist das nicht ein überaus trauriger Fall, Doktor?‹

»›Jawohl, ich bin ganz Ihrer Ansicht, Herr Gideon,‹ erwiderte ich.

»›Ich heiße Herr Gideon M'ksuga, Herr Doktor,‹ sagte er scharf.

»›Aber dann wäre es ja besser gewesen, Sie hätten den Mann ertrinken lassen,‹ wagte ich zu bemerken.

»›Natürlich wäre das besser gewesen. Ich begreife wirklich nicht, wie ich dazu kam; wenn bei mir aber die Nächstenliebe mit im Spiel ist, wissen Sie, dann – – –‹

»Ich gab zu, daß er in einer schlimmen Lage sei.

»›Ach Doktor – Sie können es sich gar nicht vorstellen, mit jeder Stunde wurde es schlimmer mit mir. War es nicht gerade, als wichen die Leute mir aus! Ich wurde stärker und stärker. Eines Tages begegnete mir ein armer Tropf von einem Bettler. In Gottes Namen bat er mich inständig um ein paar Groschen; ich drückte ihm einen Duro in die Hand und brach ihm dabei zwei Finger ab, und zwar gerade die beiden längsten. Ich begreife gar nicht, wie er das zustande gebracht hat.

›Viele Ärzte habe ich darüber aufgesucht, die nach allen Regeln der Kunst an mir herumdoktorten. Literweise haben sie mir Blut abgezapft. Sie gaben mir Mixturen und Pillen zu schlucken, daß mein Magen der reinste Kräutersack wurde. Ich unternahm die anstrengendsten Ritte, ja manchmal ritt ich mehrere Tage ununterbrochen hintereinander, erreichte aber nichts weiter damit, als daß ich meine armen Pferde zuschanden ritt. Nacht um Nacht hielt ich mich wach, machte meilenweite Dauerläufe, kurz, ich ermüdete und kasteite mich aus jede erdenkliche Weise.

»›Aber ich wurde nur unglücklicher und unglücklicher, lieber Doktor.

Eines Abends jedoch trat ein Ereignis ein, durch das mir klar wurde, daß ich jetzt andre Saiten aufziehen mußte. Meine Frau setzte mir nämlich zum Nachtessen ein Hühnchencurry vor, das geradezu königlich schmeckte. Sie war eine ganz ausgezeichnete Hausfrau. In meiner Freude tätschelte und liebkoste ich sie ein wenig, wissen Sie, wie man das so bei seiner Frau tut, wenn man gut aufgelegt ist – ha – ha – da, pfui über all das Unglück! drückte ich ihr fünf Rippen ein. Sie starb daran, die Ärmste! Die Rippen hatten ihr die Lunge durchbohrt. Sie können sich nicht vorstellen, wie unglücklich ich war. Aber dann streckte ich die Waffen. Gleich nach der Beerdigung begab ich mich in die Vereinigten Staaten, und seitdem bin ich unausgesetzt auf Reisen. Ich eile von Doktor zu Doktor – bin aber gerade so weit wie vorher. So bin ich auch hierher gekommen und befinde mich jetzt bei Ihnen. Wenn Sie mir helfen können, lieber Doktor, so erweisen Sie einem unglücklichen, verzweifelten Manne einen Dienst, den er Ihnen niemals vergessen wird.‹

»Bei diesen Worten sah mich mein Patient mit großen Augen flehentlich an und brach zugleich mein stählernes Lineal entzwei.

»Ich wußte nicht recht, was ich tun sollte. Noch niemals war mir ein solcher Patient vorgekommen. Dabei war er lebensgefährlich. Hunderte von erschöpften Individuen hatte ich schon behandelt, alle hatten mich angefleht, ihnen ihre Kräfte wiederzugeben. Hier aber stand einer, der von seiner Stärke befreit sein wollte. Ich muß sagen, wir leben in einer wunderlichen Welt!

»›Nun, Doktor,‹ sagte der ungeduldige Mensch, ›was ist da zu machen?‹

»›Hm!‹ meinte ich mit nachdenklicher Miene. ›Das ist ein äußerst trauriger Fall.‹

»›Ja leider,‹ sagte er, indem er sich eine neue Zigarre anzündete.

»›Immerhin kann ich Ihnen ein ganz ausgezeichnetes Mittel empfehlen, wie Sie am besten Ihre überschüssige Kraft zur Anwendung bringen können. Stellen Sie sich in England als Boxer auf. Dort kann man Leute wie Sie gebrauchen.‹

»›Pah!‹ klang es aus einer gewaltigen Rauchwolke heraus. ›Glauben Sie denn, ich hätte das noch nicht versucht? Es wurde aber dadurch nur noch schlimmer mit mir. Acht Gegner habe ich beim Boxen totgeschlagen und vier lebenslänglich zu Krüppeln gemacht. Viele hundert Pfund habe ich damit verdient, und jetzt bin ich Weltmeister auf diesem Gebiet. Niemand wagt es mehr, sich mit mir zu schlagen, auch wenn ich noch so glimpflich mit ihm umzugehen versuche.‹

»›Dann kämpfen Sie mit spanischen Stieren,‹ schlug ich vor.

»›Das ist allerdings ein verflucht radikales Mittel. Potztausend, Sie sind kühn, Doktor! Nein, zur Ader lassen kann ich mir auf andre Weise. – Machen Sie mir einen vernünftigen Vorschlag.‹

»›Haben Sie es schon mit einer tüchtigen Hungerkur versucht?‹

»›Gott behüte Sie, das haben mir die andern alle auch vorgeschlagen! Ich habe es auch ehrlich versucht und mich auf Diät gesetzt, wie der fachmännische Ausdruck lautet; aber ich muß Ihnen sagen, ich werde durch diese Kur so furchtbar wütend, ja geradezu hundsgemein wütend, daß ich meinen Nebenmenschen zur Last falle, wenn ich nur zwölf Stunden faste. Nein, Futter muß ich haben, viel Futter. Wenn ich viel und gut gegessen habe, dann werde ich sanft und träge. Einmal fing man eine Essigkur mit mir an und schüttete mir überdies eine ganze Menge widerlichsten Zeugs in den Magen, damit ich ›von Kräften‹ käme. Als diese Kur glücklich überstanden war, hatte ich um zwanzig Kilo zugenommen und raste herum wie ein angestochenes Wildschwein. Nein, mit diesen gewöhnlichen Kuren ist es nichts.‹

»›Gestatten Sie mir die Frage: wie halten Sie es mit Ihren Mahlzeiten?‹

»›Das kann ich Ihnen genau sagen. Ich speise jeden Tag in drei verschiedenen Gasthäusern – bekomme auch im allgemeinen ein recht gutes Essen, nur eben allzu kleine Portionen. Deshalb pflege ich von einem Hotel zum andern zu gehen, und diese Methode hat sich sehr bewährt. Sonst würde ich ja überhaupt nicht satt, und daneben habe ich den Vorteil der größeren Abwechslung. Und ich muß, wie ich Ihnen schon gesagt habe, satt werden; wenn ich nicht satt bin, werde ich wütend. Von der Hungerkur halte ich also nichts. Sie müssen schon etwas andres herausfinden.‹

»Während dieser Unterhaltung hörte ich, daß meine andern Patienten draußen im Wartezimmer allmählich ungeduldig wurden. Ich mußte mich also auf irgend etwas besinnen, das meinen merkwürdigen Patienten zufriedenstellen konnte.

»›Mir scheint, nebenan hustet und lärmt man,‹ sagte er, ›vielleicht sind es Gläubiger oder sonst unerwünschte Gäste. Soll ich Sie von ihnen befreien?‹ Bei diesen Worten machte er einen Schritt auf die Tür zu.

»›Nein, um Gottes willen!‹ rief ich. ›Es sind ja meine Kranken; übrigens gehen die sicher gleich von selber.‹

»›Nun, das ist ja ganz gut,‹ knurrte der Niese, ›aber Sie würden wohl am besten jetzt gleich mit den Leuten reden, denn der Lärm fällt mir auf die Nerven und – ich neige etwas zum Jähzorn.‹

»Ich sah nach meinen Patienten und log ihnen vor, ich sei gerade mit einer gefährlichen Operation beschäftigt und sie müßten deshalb stille sein. Darauf gingen sie mit ärgerlichem Brummen.

»In meinem Sprechzimmer konnte man vor lauter Rauch die Hand nicht mehr vor den Augen sehen.

»›Geniert es Sie nicht, wenn ich einige Fenster öffne?‹ fragte ich den Neger. ›Sie haben doch wohl keine Angst, sich zu erkälten!‹

»›Nein, ganz und gar nicht. Ich habe mir sogar schon alle Mühe gegeben, mir eine Erkältung zu holen, aber es ist mir niemals geglückt. In eiskalten Nächten habe ich auf der bloßen Erde gelegen, mitten im Winter bin ich durch Flüsse hindurchgewatet und habe nachher völlig durchnäßt geschlafen. Aber es half alles nichts. Die Krankheit hat sich zu fest bei mir eingewurzelt, lieber Doktor. Ach, ich bitte Sie flehentlich, tun Sie für mich, was in Ihren Kräften steht!‹

»›Das Mittel, an das ich denke, ist sehr gefährlich und gewagt,‹ sagte ich ernst. ›Ehe ich es benutze, muß ich von Ihnen eine formelle Erklärung haben, daß ich es nur mit Ihrer ausdrücklichen Zustimmung bei Ihnen anwende. Ich habe nämlich daran gedacht, Ihnen etwas Schwindsucht an den Hals zu jagen.‹

»›Schwindsucht? – Ausgezeichnet!‹ rief er so laut, daß mir fast das Trommelfell platzte. ›Schwindsucht – auf diesen Einfall ist bisher noch niemand gekommen. Ja, ja, ich wußte doch gleich, daß ich bei Ihnen endlich an den richtigen Mann gekommen bin.‹

»›Ich werde Ihnen Schwindsuchtsbraten, Schwindsuchtssuppe, Schwindsuchtsbier, kurz Schwindsuchtsstoff in allen möglichen Formen eingeben,‹ sagte ich. ›Ich werde Ihnen die Schwindsucht in die Nase, die Augen, die Lungen und den Magen hineinpflanzen, ja ich werde Sie völlig mit Schwindsucht durchsetzen. Ihr Körper soll ein Sanatorium für Tuberkelbazillen werden, ein Arsenal, ein Asyl für diese Mikroben, die die bösen Menschen sonst so schonungslos verjagen und verfolgen. Wenn Sie morgen wiederkommen, kann die Kur beginnen.‹

»›Das ist großartig!‹ schrie der Neger mit glänzenden Augen. ›Sie geben mir die Hoffnung zurück, lieber Doktor. – Aber – –‹ setzte er, ernst werdend, hinzu, ›sind Sie auch ganz sicher, daß die Biester bei mir anbeißen?‹

»›Doch, davon bin ich felsenfest überzeugt.‹

»Muß ich dabei nicht irgend eine Diät einhalten?'

»›Durchaus nicht!‹

»›Und es tut auch nicht weh?‹

»›Nein, nicht weher als kleine Flohstiche.‹

»›Pah, wenn es weiter nichts ist! Ich habe schon genug Flöhe gehabt. Wissen Sie was, Doktor? Ich freue mich ordentlich darauf. Mir ist zu Mute, als ob die Sonne des Glücks vor meinen Augen aufginge. Ach, wie herrlich, wenn ich als ein ganz neuer Mensch wieder nach Kuba zurückkehren könnte! Diese Freude tut mir bis ins Knochenmark hinein wohl.‹

»Während der Neger seiner Begeisterung freien Lauf ließ, saß ich mit gefalteten Händen da und drehte meine Daumen umeinander.

»›Das mit der Schwindsucht ist eine Spezialität von mir, Herr ... Zum Kuckuck, jetzt habe ich Ihren Namen wieder vergessen! – Doch bis jetzt habe ich meine Experimente nur an Kaninchen gemacht, da sich die Leute im allgemeinen dem Gedanken, als Versuchsobjekte zu dienen, ablehnend gegenüberstellen. Doch nun habe ich ja Sie. Das ist ein Glück für die Wissenschaft. Darf ich Ihnen dankbar die Hand dafür drücken?‹

»›Ich glaube, das lassen wir lieber,‹ versetzte er; ›ich bin jetzt zu freudig erregt.‹

»›Ei der Tausend, ich hatte das vergessen. Aber nun hören Sie, Sie haben auch alle Ursache, froh zu sein, denn Ihr Name wird in der ganzen Welt berühmt werden.‹

»Er öffnete seinen Riesenmund und brach in ein homerisches Gelächter aus.

»›Doktor!‹ rief er. ›Ich lade Sie heute zum Essen ein im Bristol, Universal und France ... Sie dürfen es mir nicht abschlagen. Ich versichere Ihnen, ich werde für Sie eine solche Reklame machen, daß Sie zur Ausübung Ihrer Praxis wenigstens zwanzig Assistenten brauchen. Ja, ich werde Ihren Namen unter den Leuten bekannt machen. An den Straßenecken will ich mich aufstellen und der Menge zurufen, daß Sie der einzige richtige Doktor auf der Welt, ja daß Sie der größte Wohltäter der Menschheit sind. Und in den Zeitungen werde ich Ihre neue Heilmethode mit Schwindsuchtsbraten und Schwindsuchtssuppe anpreisen.‹

»›Nein, mein Bester!‹ rief ich erschrocken, ›das dürfen Sie durchaus nicht tun! Es gibt gar so viele unverständige Leute auf der Welt, und diese könnten die ganze Geschichte zu meinem Schaden ausnutzen. Lassen Sie die Sache einstweilen ein Geheimnis zwischen uns beiden bleiben.‹

»›Ich weiß nicht, ob ich an mich halten kann,‹ entgegnete er. ›Das ganze ist ja geradezu überwältigend für mich. Aber ich bitte Sie, lieber Doktor, Sie werden doch nicht glauben, daß ich Ihnen irgendwie schaden wollte?‹

»Ich warf einen wehmütigen Blick auf meine mißhandelte Zimmereinrichtung.

»›Nein, natürlich nicht,‹ sagte ich leise.

»Er folgte der Richtung meines Blickes.

»›Pah, das Gerümpel da!‹ sagte er. ›Hier sind zwanzig Pfund, um all das wieder in stand zu setzen. Und hier sind noch fünf für diesen Besuch.‹

»Damit griff er in seine Tasche und streckte mir fünf hübsche Banknoten hin.

»›Das ist zu viel,‹ sagte ich mit abwehrender Gebärde.

»›Widersprechen Sie mir nicht, ich bin ja so riesig froh,‹ sagte er bittend.

»Da steckte ich denn die Scheine in meine Tasche; ich wagte es nicht, mich zu widersetzen.

»›Und nun, lieber Doktor, erwarte ich Sie zum Essen. Wir beginnen im Bristol. Dort pflege ich immer den Grund zu legen. Präzis halb acht Uhr läutet es zum Essen. Leben Sie wohl so lange und noch einmal vielen Dank! Ach, ach, ich bin überglücklich!‹

»Nach diesen Worten nahm er seinen Hut, nickte mir freundlich zu und verschwand.«

*

Pokoff machte eine Pause und tat einige tiefe Züge aus seiner Pfeife.

»Ja, meine Lieben,« fuhr er dann fort, »jetzt ist eigentlich nicht viel zu berichten übrig, jedenfalls ist es für mich nicht gerade ein Vergnügen, die Erinnerungen an jene Verdrießlichkeiten, die ich in den darauffolgenden Tagen durchkosten mußte, wieder aufzufrischen. Der große Esel konnte natürlich nicht reinen Mund halten, und schon nach kurzer Zeit wußte die ganze Stadt von meiner neuen Kurmethode. Man mied mich wie die Pest. In den Hotels bekam ich nichts mehr zu essen, weil man fürchtete, ich werde alles mit Mikroben infizieren. Meine Diener verließen mich Hals über Kopf, und meine Freunde zogen sich kühl von mir zurück. Zwei junge Damen, mit denen ich schon so halb und halb verlobt war, schnitten mich auf der Straße. Der Postmeister, der sonst immer äußerst zuvorkommend gegen mich war, hielt sich das Taschentuch vor den Mund, wenn er mir einen Brief durch den Schalter herausreichte, und was das Schlimmste von allem war, mein Sprechzimmer stand vom Morgen bis Abend leer. Niemand wollte mehr etwas mit mir zu tun haben. Mir war sozusagen der Stuhl vor die Türe gesetzt worden. Die Sache ließ sich nicht mehr ins Blei bringen. Vierzehn Tage später sagte ich meinem lieben Häuschen und dem Garten, in dem die Hyazinthen in Reih und Glied standen und sich vor mir verneigten, ein letztes trauriges Lebewohl. Ich werde Haus und Garten nie wiedersehen. Dann richtete ich meinen Kurs nach Europa, nach – – –«

Noch während Pokoff sprach, entspann sich nebenan in der Schenkstube ein lauter Wortwechsel. Um was es sich eigentlich handelte, konnte ich nicht feststellen, aber so viel war klar, daß man sich nicht gegenseitiger besonderer Hochachtung versicherte. Ich hörte, wie der Wirt zu vermitteln suchte, aber aus dem Lebtag, der diesem Vermittlungsversuch folgte, begriff ich, daß das Einschreiten des Wirtes erfolglos geblieben war. Ein Stuhl wurde mit Gewalt umgeschmissen, mehrere Gläser zerbrachen klirrend. Dann näherten sich rasche energische Schritte unsrem Allerheiligsten und die Tür wurde mit einem kräftigen Ruck aufgerissen.

Auf der Schwelle stand eine Dame in Reisekleidern. In der Hand hielt sie einen mit Blumen bestickten Reisesack, wie ihn die Bauernburschen tragen, wenn sie einen kurzen Ausflug in die Stadt machen. Die Dame war sehr groß und kräftig, aber nicht eigentlich das, was man elegant nennt. Man hätte sie leicht für eine verkleidete Mannsperson halten können, wenn nicht unter dem breitrandigen grauen Filzhut das prächtige Haar in üppiger Fülle hervorgequollen wäre. Ihr Gesicht war dunkelrot vor Erregung.

»Feodora!« rief Pokoff, der bleich wie ein Gespenst geworden war.

»Fe–o–dora!« wiederholte er.

Was in den nächsten Augenblicken gesprochen wurde, kann ich nicht sagen, weil die Unterhaltung in einer mir unverständlichen Sprache geführt wurde; aber daß über unsern alten Freund ein ordentliches Donnerwetter losbrach, glaube ich mit Bestimmtheit versichern zu können. Soweit verstehe ich mich auf die Frauen, daß ich weiß, sie sehen etwas anders aus, wenn sie sich besonders anerkennend ausdrücken wollen. Dann pflegen ihre Blicke zärtlicher, ihr Ausdruck milder, ihre Bewegungen weniger heftig zu sein. Möglicherweise war die Dame einstmals ein Engel gewesen, aber so, wie sie sich jetzt gebärdete, war sie es jedenfalls nicht. Das Ätherische war verschwunden. Vielleicht war sie einst eine lilienschlanke Maid gewesen – ich weiß es nicht.

Wir waren alle aufgestanden.

»Das – das – das ist meine Frau,« stellte Pokoff die Dame vor; und dann tauschte er seinen Platz mit dem Marquis, der am weitesten von der Tür entfernt gesessen hatte.

»Verehrte gnädige Frau,« sagte Niam-Niam mit einer höflichen Verbeugung, »es gereicht mir zu großer Freude, Sie hier in unserm Freundeskreise willkommen zu heißen.«

Wir verbeugten uns alle wie Niam-Niam. Nur Ali-ben-Kaim grüßte auf seine eigene Art. – Doch Frau Pokoff würdigte uns keines Blickes und tat, als sähe sie den Stuhl nicht, den Niam-Niam ihr höflich anbot.

»Ivan Ivanowitsch, du bist ein gemeiner Kerl,« sagte sie in nicht ganz fehlerlosem Deutsch. »Du feiger Tropf meintest wohl, du könntest dich geschwind dünne machen. Die Gelegenheit war allerdings günstig. Jawohl, du wolltest dir meinen Zustand zu nutze machen. Deine angetraute Gattin, die zu lieben und zu achten und der bis zum Tode treu zu sein du vor Gottes Angesicht geschworen hast, sie, die sich für dich abgerackert und geschunden und die dir deine Kinder mit Schmerzen geboren hat, sie war dir nicht mehr gut genug, nein! Die koketten Frauenzimmer hier unten gefallen dir bester. O ich durchschaue dich.«

»Feodora!«

»Ja gewiß, ich bin Feodora. Ich stehe hier vor dir, ich, dein armes, betrogenes, hintergangenes eheliches Weib, das du dem Hohn und Spott, dem Geklatsch und der Schande preisgegeben hast, auf das jedes Kind in unsrer Stadt mit Fingern deuten wird. Ich, ja ich bin deine Gattin, die du schmählich verlassen hast, dieser – dieser – Mollusken wegen.«

»Gnädige Frau!« begann Niam-Niam bescheiden.

»Mit Ihnen spreche ich nicht!« schrie die Dame mit einem funkelnden Blick auf ihn. »Ich spreche mit dem Tropf da.« Dann wendete sie sich wieder an Pokoff.

»Aber du hast die Rechnung ohne den Wirt gemacht, Ivan Ivanowitsch, du Schafskopf! Du hattest vergessen, daß es in Rußland eine Polizei gibt, du hattest vergessen, wer ich bin. Ich lasse mich nicht an der Nase herumführen. Du hattest vergessen, daß ich die Kraft habe, das durchzuführen, was ich mir einmal in den Kopf gesetzt habe. Ich bin deiner Spur gefolgt und bin dir von Land zu Land, von Stadt zu Stadt nachgereist. Und nun bin ich hier. Begreifst du jetzt, was für ein Dummkopf du gewesen bist, Ivan Ivanowitsch?«

Ali-ben-Kaim starrte Pokoffs Gemahlin mit unverhohlener Bewunderung an.

Pokoff erinnerte an einen Viehbauern in einem Wachsfigurenkabinett. Wir andern guckten uns verlegen an. Die Lage war entschieden peinlich.

Pokoffs Gemahlin wechselte ihre Stellung.

»Und dann hattest du noch etwas vergessen, Ivan Ivanowitsch,« fügte sie hinzu. »Du hattest vergessen, daß ich ein liebendes Weib bin.«

Diese Wendung kam etwas unerwartet. Pokoff hob versuchsweise den Kopf. Dann bemerkte er – allerdings noch sehr schüchtern: »Aber ich habe dir doch geschrieben, liebe Feodora, ich habe dir doch offen und ehrlich dargelegt, warum ich mir diese kleine Ferienzeit nehmen mußte.«

»Du hast geschrieben? Ich habe keinen Brief bekommen. Lügst du auch nicht?«

Der Ton war schon etwas milder.

»Es ist wahr, gnädige Frau,« erlaubte ich mir bescheiden zu bemerken, »mein lieber Freund hat einen langen Brief mit einem Beruhigungspulver an Sie geschrieben.«

Sie sah etwas mißtrauisch von einem zum andern; aber wir hatten doch alle den Eindruck, daß das Unwetter im Verziehen sei. Niam-Niam beeilte sich, den günstigen Augenblick zu benutzen.

»Gnädige Frau, Sie müssen müde und hungrig sein,« sagte er mit dem gewinnendsten Lächeln, das ihm zu Gebote stand, während er ihr gewandt den Reisesack abnahm und sie auf mystische Weise auf einen Stuhl praktizierte. »Würde Ihnen nicht vielleicht eine Tasse Tee gut tun?«

»Mit Kognak!« antwortete sie resolut.

»Selbstverständlich mit Kognak. Tee ohne Kognak ist undenkbar, und vielleicht auch Biskuits?«

»Kuchen mit Schlagsahne!« erklärte Pokoffs angenehme Gattin.

Unterdessen war Pokoff schrittweise nähergerückt, und nun trennte ihn nur noch der Rollstuhl des Holländers von seiner Frau.

»Und wie geht es den lieben Kleinen?« fragte er zärtlich, indem er die Hände vorsichtig auf den Tisch legte.

»Die armen, elternlosen Würmer, meinst du?« entgegnete Frau Pokoff mit einem eigenen Funkeln in den Augen. »O ja, für die habe ich vor meiner Abreise gut gesorgt. Ich habe meine Pflichten nicht vergessen.«

»Und das jüngste Kindlein?«

»Wiegt zwanzig Pfund. Es ist das reinste Bärenjunge,« sagte sie mit einem glückstrahlenden Lächeln.

Nun ereignete sich etwas Unvorhergesehenes. Vor meinen Augen sah es aus, als verschwinde der Kopf der Dame plötzlich zwischen zwei Fladenbroten. Bei längerer Überlegung kam ich indes zu der Erkenntnis, daß es Pokoffs gewaltige Hände waren, mit denen Pokoff eingegriffen hatte, weil er den Zeitpunkt für günstig fand, mit einer Liebkosung dem ehelichen Zwist für diesmal ein Ende zu machen.

»Meine geliebte Feodora!« rief er freudestrahlend, während er ihren Kopf mit seinen Pratzen wie in einem Schraubstock festhielt und sie einmal übers andre mitten auf den Mund küßte, »meine einzig geliebte Feodora!«

»Amen!« sagte Bobo feierlich.

Dann kam die Kellnerin mit dem Tee.

*

Hier will ich den Bericht über den großen Kongreß meiner Marokkaner schließen. Am folgenden Tag nahmen wir herzlich Abschied voneinander. Es gab dabei keine Szenen, und es wurden keine unnötigen Worte gewechselt. Nur Hugh war gerührt und murmelte etwas von Scheiden und Meiden, von der ewigen Saga des Lebens und dem Umhergeworfenwerden der kleinen Menschen als Spielball auf den stürmischen Wogen des Schicksals. Da wir uns indes inzwischen etwas an seinen Stil gewöhnt hatten, waren wir über seine Äußerungen nicht weiter überrascht. – Dann zogen wir unsre Wege, jeder in seine Stadt.

 

Ende

 


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