Rudolf Lindau
Schweigen
Rudolf Lindau

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Am anderen Morgen traf Richards Brief ein: ein umfangreiches Schriftstück. – Richard erzählte darin mit vielen genauen Einzelheiten, Roquefeuille habe ihn im Klub, wo beide am folgenden Tage, nachdem sie O. verlassen hatten, zusammengetroffen waren, absichtlich so gereizt, daß er ihm schließlich beleidigenden Bescheid gegeben habe. – Darauf habe Roquefeuille ihn fordern lassen. – Die Verhandlungen der Zeugen hatten jedoch zu keinem Ergebnis geführt, weil Roquefeuille auf so scharfe Bedingungen bestanden, daß dessen eigener Sekundant verweigert hätte, sie zu vertreten; doch war er bereit gewesen, sie Richards Sekundanten »zur Unterrichtung« mitzuteilen. Auch dieser hätte erklärt, daß Roquefeuilles Bedingungen in keinem zu rechtfertigenden Verhältnis zur Veranlassung des Duells ständen, und daß er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könnte, darauf einzugehen. – Roquefeuilles weitere Bemühungen, einen seinen Wünschen gefügigen Zeugen zu finden, waren vergeblich gewesen. Alle, an die er sich gewandt hatte, waren der Ansicht gewesen, der Vorfall im Klub würde am besten durch gegenseitige Erklärungen der beiden Beteiligten auszugleichen sein, im äußersten Falle könnten sie nur über einen Zweikampf unter den gewöhnlichen leichten Bedingungen verhandeln. – Darauf war Roquefeuille auf seinen ersten Freund zurückgekommen und hatte durch diesen anfragen lassen, ob Richard seine Zustimmung dazu geben wollte, daß der Ehrenhandel auf belgischem Boden ausgefochten werde. Dort habe Roquefeuille einen nahen Verwandten in der Armee, der ihm sicherlich zur Seite stehen und wohl auch in der Lage sein würde, einen seiner Kameraden zu veranlassen, Richard zu sekundieren.

»Mein Zeuge«, fuhr Richard in seinem Briefe wörtlich fort, »sagte mir, ›ich teile Ihnen dies nur zur Kenntnisnahme mit und füge hinzu, daß Sie durchaus nicht verpflichtet sind, dem eigentümlichen Ansinnen Ihres Gegners zu willfahren. Sie stehen vollständig gerechtfertigt da, nachdem Sie sich bereit erklärt haben, Herrn von Roquefeuille jede vernünftige Genugtuung zu geben. Der Umstand, daß er hier für seine Forderung nirgends Unterstützung gefunden hat, zeigt zur Genüge, daß sie in sachverständigen Kreisen allgemein für unvernünftig betrachtet wird. Eine solche dürfen Sie ignorieren.‹ Ich war aber nicht geneigt, dies zu tun. ›Graf Roquefeuille muß am besten wissen, was zur Wiederherstellung seiner verletzten Ehre nötig ist‹, sagte ich. ›Lassen Sie ihn also wissen, ich wäre mit seinen Vorschlagen einverstanden.‹

Mein Freund entfernte sich, um meinen Auftrag auszuführen. Sechsunddreißig Stunden später erhielt ich ein mir allein verständliches Telegramm, durch das ein Rittmeister von N. mir Rendezvous auf einem kleinen belgischen Bahnhofe in der Nähe der Grenze gab. – Ich reiste unverzüglich dahin ab und traf am bestimmten Orte mit Herrn von N. zusammen, in dem ich einen sachverständigen, ernsten Mann kennen lernte. Er war von allem, was er zu wissen für nötig hielt, unterrichtet. Unter welchen Umständen Roquefeuille und ich in Streit geraten waren, schien ihn wenig zu kümmern, er rechnete einfach mit der Tatsache, daß Roquefeuille sich durch mich schwer beleidigt fühlte, und daß ich bereit war, ihm dafür die verlangte Genugtuung zu geben. – Darauf ging er über alle Formalitäten schnell hinweg und erhielt meine Zustimmung zu den vom Zeugen meines Gegners mitgeteilten Bedingungen, unter denen der Zweikampf vor sich gehen sollte. –

Er fand am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, in einem kleinen Gehölz, in Gegenwart der beiden Zeugen, eines Unparteiischen und zweier Militärärzte statt. – Alle Vorbereitungen gingen schnell und ordnungsmäßig vor sich. – Im letzten Augenblick machte der Unparteiische noch einmal den vorgeschriebenen Versöhnungsversuch, und nachdem dieser abgelehnt war, wurden Roquefeuille und ich einander gegenübergestellt, des Kommandos gewärtig. – Es ertönte nach wenigen Sekunden. – Wir feuerten gleichzeitig. Ich hörte Roquefeuilles Kugel an meinem Ohre vorbeipfeifen, und in demselben Augenblicke sah ich ihn zusammenbrechen.

Ich blieb auf meinem Platze stehen. Ich hatte keine Veranlassung, Teilnahme an dem Schicksale eines Mannes zu zeigen, der noch vor einer halben Minute die Absicht gehabt, mich zu töten, wennschon ich ihm nie etwas Böses zugefügt hatte. Die anderen Anwesenden liefen auf den Gefallenen zu und umringten ihn. Eine Minute etwa war alles still. Dann wandte sich der Unparteiische zu mir und winkte mir. Ich hatte nur zehn Schritte zu machen und stand vor dem Sterbenden. Meine Kugel hatte ihn ins Herz getroffen. Sein Auge war gebrochen, und nach einer weiteren Minute war er tot.

Der Unparteiische sagte: ›Ich stelle fest, daß alle Regeln des Duells auf das strengste beobachtet worden sind.‹ – ›Alle Regeln sind auf das strengste beobachtet worden,‹ wiederholten die beiden Zeugen. – Dann zog mich der Rittmeister von N. beiseite. ›Die Herren werden nach allem sehen, was geschehen muß‹ sagte er. ›Es ist besser, daß Sie sich entfernen.‹ – Darauf verabschiedete ich mich von den zurückbleibenden vier Herren und begab mich, von N. begleitet, zur Bahn. – Ein Lokalzug, der bald darauf ankam, brachte mich in einer halben Stunde über die Grenze.

Am nächstfolgenden Morgen, das heißt gestern, war ich wieder in meiner Wohnung, wo ich nun die Folgen des Vorfalles in Belgien abwarten will. Ich bin nicht Jurist genug, um zu wissen, was mir bevorsteht, ob ich für den Ausgang eines Duells, das auf fremdem Boden stattgefunden hat, vor den hiesigen Gerichten verantwortlich gemacht werden kann. – Das werde ich nun alles bald erfahren. Meine sofortige Verhaftung ist kaum zu befürchten, da ausgeschlossen ist, daß ich versuchen werde, mich den Folgen meiner Tat durch die Flucht zu entziehen. Ich werde vorläufig hier bleiben, um abzuwarten, was mit mir geschehen wird, namentlich aber auch, um etwaigem unverdienten Tadel über meine Haltung in der Sache entgegentreten zu können. Dies ist auch der Grund, weshalb ich Dich gebeten habe und wiederholt dringend bitte, in O. zu bleiben. Du kannst mir hier gar nichts nützen, und ich möchte vermeiden, daß Dein Name in irgendwelchen Zusammenhange mit dem Duell gebracht werde. Sobald es ruhig geworden ist, suche ich Dich auf oder bitte Dich, hierher zu kommen.«

Nicht ein Wort des Bedauerns über den Tod des armen Günther, nicht ein Wort der Entschuldigung der blutigen Tat! Ein trockener Bericht, wie ihn ein Polizeibeamter abgefaßt haben würde. – Ich war entrüstet, aber ich fügte mich Richards Wunsche, vorläufig in O. zu bleiben, und zwar um so bereitwilliger, als es mir sehr schwer geworden sein würde, die leidende Susanne zu verlassen.

Mit der Genesung der Kranken ging es langsam vorwärts. erst nach vier Tagen durfte ich ihr Zimmer wieder betreten. Ich war erschrocken über die Veränderung, die in der kurzen Zeit mit ihr vorgegangen war. Sie empfing mich mit einem unendlich traurigen, müden Lächeln und sagte: »Wie schwach du mich finden mußt! Sei nicht böse mit mir!«

Ich war tief gerührt, und sie las dies wohl in meinen Augen. Sie sagte leise weinend: »Du bist gut! Ich werde dir bis zum Tode dankbar dafür sein.«

Am folgenden Tage schrieb ich einen kurzen Brief an Richard. Es war der erste unfreundliche Brief, den er in seinem Leben von mir erhalten hatte. – Er ließ ihn unbeantwortet. – Darauf war ich vorbereitet gewesen, aber es vergrößerte meine Erbitterung gegen ihn. – Ich wollte es nicht als Entschuldigung für ihn gelten lassen, daß Roquefeuille ihn zuerst gereizt und später gefordert und ihm im Zweikampf nach dem Leben getrachtet hatte. Richard war zehn Jahre älter als Günther und überhaupt ein besonnener, kalter Mann. Es wäre seine Pflicht gewesen, wie es sein Recht war, die unvernünftige Forderung seines Gegners überhaupt nicht anzunehmen; aber er hatte mit unerklärtem Eifer den Vorwand, der ihm geboten wurde, benutzt, um sich Roquefeuille gegenüberzustellen – er hatte ihn töten wollen, und er hatte ihn getötet. Daß dies ein Unglücksfall gewesen, war ausgeschlossen, denn Richard war ein Pistolenschütze ersten Ranges. – Was er getan hatte, erschien mir grausam und ungerecht. Ich verlangte nicht mehr danach ihn zu sehen. In Trauer um meinen unglücklichen Freund, den ich gleich einem Sohne geliebt hatte, sagte ich mir, ich wollte meinen Bruder nie wieder sehen.

Die Mehrzahl meiner Bekannten war um diese Zeit – im Hochsommer – von der Hauptstadt abwesend. Aber einer von ihnen war noch dort, Herr von L., und der war gerade die geeignete Persönlichkeit, mir zu sagen, was ich wissen wollte: nämlich, wie man sich in unseren Kreisen über die Haltung meines Bruders äußerte.

Zu meinem Erstaunen faßte sich der im allgemeinen sehr redselige L. in seiner Antwort ganz kurz: er habe nur wenig von dem Fall sprechen hören – die Stadt sei ja leer – aber meinen Bruder könne unmöglich ein Tadel treffen, und er habe ihn auch nirgends tadeln hören, denn es sei klar und allgemein bekannt, Graf Roquefeuille habe den Streit mutwillig heraufbeschworen und unbeugsam auf den scharfen Bedingungen bestanden, unter denen das Duell ausgefochten worden sei.

Mit meiner Mutter stand ich stets, so oft wir nicht an demselben Orte weilten, in regelmäßigem Briefverkehr. Ich erinnere mich aber nicht, je einen langen Brief von ihr erhalten zu haben. Gewöhnlich sagte sie auf einer kleinen Seite alles, was sie zu sagen hatte. – Und sie verlangte auch nicht mehr von mir. Sie wollte nur erfahren, wie ich mich befände. – Sie hatte die Stadt wenige Tage nach mir verlassen, war später noch einmal auf kurze Zeit dorthin zurückgekehrt und befand sich augenblicklich an der See. Von dort empfing ich, vier Tage nachdem Günther gefallen war, einen Brief von ihr, der aber nur die Nachricht enthielt, sie betrachte ihre Kur am Meere als beendet und werde in wenigen Tagen nach ihrem Gute M. abreisen. Ich sollte ihr vorläufig nicht schreiben, da sie mir keine sichere Adresse geben könne: sie wisse noch nicht, ob und wo sie sich unterwegs aufhalten werde; ich würde aber sogleich nach ihrer Ankunft in M. von ihr hören.

Der Brief enthielt kein Wort über das Duell. Ich konnte mir dies nur damit erklären, daß sie an dem Tage, an dem sie ihn geschrieben, noch nichts davon gehört hatte. Und ich wartete ungeduldig auf ein Lebenszeichen von ihr. – Ich mußte mich lange gedulden. Erst nach zehn Tagen trafen Nachrichten von ihr ein: sie sei etwas ermüdet von der Reise in M. eingetroffen, aber sie glaube, das werde bald vorübergehen. Mir ginge es hoffentlich gut. Sie würde sich freuen, dies von mir bestätigt zu hören.

Ich wußte nicht, was ich zu dem Brief sagen sollte. Hatte meine Mutter keine Kenntnis von dem furchtbaren Ereignis, das sie doch so nahe berührte, – oder wollte sie nichts davon wissen? – Nach langem Sinnen schrieb ich ihr nicht viel länger, als sie mir geschrieben hatte, sie scheine noch nichts von dem Duell, in dem Günther gefallen sei, gehört zu haben; ich wünschte mit ihr darüber zu sprechen – ob ihr Gesundheitszustand eine derartige Unterredung gestattete? – In dem Falle würde ich sie aufsuchen, sobald ich mich vom Krankenlager meiner Frau entfernen könnte.

Darauf erwartete ich nun mit Sicherheit einen langen Brief. – Aber ich hatte mich geirrt. – Die Antwort traf mit umgehender Post ein und hatte folgende Fassung: »Mein geliebter Sohn! Für Dich bin ich stets zu sprechen. Komm, wann Du willst! Ich befinde mich bereits wieder wohl genug, um aufstehen zu können, und die peinliche Unterredung, die Du mit mir zu haben wünschst, ist kein Grund für mich, Dich nicht zu empfangen.

Deine Mutter.«

Ich verheimlichte Susanne diesen eisigen Brief. Er würde ihr warmes Herz tief verletzt haben. Ich sagte ihr nur, meine Mutter befinde sich seit einigen Tagen in M., sie sei nicht ganz wohl, und ich beabsichtige, sie aufzusuchen, sobald ich mich in O. entbehrlich fühlte.

»Meinetwegen darfst du keinen Tag länger hierbleiben«, sagte Susanne. »Deine Pflege ist mir die liebste, aber ich könnte mich ihrer nicht freuen, wenn ich mir sagen müßte, daß deine Mutter sich dadurch vielleicht vernachlässigt fühlte. Besuche sie sogleich – ich bitte dich darum – und bleibe, solange du es für nötig hältst! – Sehr lange wird es hoffentlich nicht sein.«

Darauf reiste ich am nächsten Tage ab, nachdem ich von Susannen zärtlich Abschied genommen und sie der Sorge des Arztes empfohlen hatte, der während meiner Abwesenheit in O. bleiben sollte. – »Sie können ruhig reisen«, sagte dieser. »Ihrer Frau Gemahlin geht es heute schon erheblich besser, und ich möchte beinah dafür bürgen, daß Sie sie in vier bis fünf Tagen geheilt wiederfinden werden.«

 

Zwischen meiner Mutter und mir kam es zu einem Auftritt, den ich bei der unbegrenzten Verehrung für sie, in der ich erzogen und alt geworden war, nicht für möglich gehalten hätte: ich wurde heftig, und bittere Worte gegen sie kamen über meine Lippen.

Ich hatte ihr meine Ankunft vorher angezeigt, und sie erwartete mich auf ihrem Zimmer, als ich in M. eintraf.

Sie saß an einem offenen Fenster, aber sie hatte, trotz der drückenden Hitze, einen leichten Schal über ihre Füße gebreitet. Ich schritt schnell auf sie zu und küßte ihr ehrerbietig die Hand, während sie, als ich mich dazu niederbeugte, meine Stirn mit ihren Lippen berührte. Es war dies der Gruß, an den ich seit meiner frühesten Kindheit gewöhnt war. – Ehe ich mich niedersetzte, bat sie mich, das Fenster zu schließen.

Meine Mutter ist eine würdevolle Frau, deren Äußeres schon Achtung gebietet. Sie ist in ihrer Jugend sehr schön gewesen, und die Jahre haben zwar ihre Schönheit ganz verändert, aber kaum vermindert. Mit ihrem schneeweißen Haar, ihrer feinen, von tausend Fältchen durchzogenen Haut, ihren ernsten, großen Augen und den scharf gezeichneten, edlen Zügen ihres Antlitzes, erinnert sie an die Bilder alter großer Damen des sechzehnten Jahrhunderts. – Gerechtigkeit, Willenskraft, Strenge sind auf ihrem Gesichte geschrieben. Sie ist Richard und mir stets eine sorgende, treue, nie eine zärtliche Mutter gewesen, und da wir unseren Vater bald nach der Geburt meines jüngeren Bruders verloren haben, als ich kaum acht Jahre alt war, so kann ich nicht sagen, daß meine Kindheit unter der ausschließlichen Leitung meiner strengen, schweigsamen Mutter eine glückliche gewesen sei.

Ich war mit vierundzwanzig Jahren in den Besitz meines großen väterlichen Vermögens gelangt, und meine Mutter hatte niemals versucht, die Unabhängigkeit, die ich dadurch erlangte, anzutasten. Ich hatte mich darauf, im Laufe der Zeit, in Gesellschaft lebenslustiger, reicher Altersgenossen, nach außen hin wohl verändert, doch war der Grundzug meines Charakters der ernste, nachdenkliche geblieben, den meine Mutter in das empfängliche Herz des Kindes tief eingezeichnet hatte. – Bei Richard hatte unsere erste Erziehung noch tiefere Spuren hinterlassen. Er war ein stilles Kind gewesen, und mit den Jahren ein Mann von fast finsterem Ernst geworden. Er haßte die Lüge. Er war streng, gerecht, doch war er nicht hartherzig. Wo er einen Hilfsbedürftigen fand, den er der Unterstützung für würdig hielt, da ruhte er nicht, bis er ihm geholfen hatte. Aber es wurde ihm schwer, einen Fehler, ja eine Schwäche zu verzeihen. – Und er war leicht erzürnt. – Er beschäftigte sich mit wissenschaftlichen Studien, die sein Leben auszufüllen schienen. Sein gesellschaftlicher Verkehr beschränkte sich fast ausschließlich auf den Umgang mit Professoren der Hochschule, und diese, seine gelehrten Kollegen, sprachen mit Achtung von seinem Fleiß und Scharfblick. – Er war von allen, die ihn kannten, geachtet, von vielen gefürchtet, er hatte keine Freunde. – Die einzigen Wesen, die seinem Herzen nahestanden, waren seine Mutter und sein Bruder. Er hatte mir nicht abgeraten, mich zu verheiraten. Er hatte dazu geschwiegen. – Schweigen war seine und meiner Mutter starke Seite. Auch ich hatte gelernt, Schweigen als die stärkste Waffe gegen Ungerechtigkeit und Unbill zu betrachten und als etwas Großes, Mächtiges zu verehren – »Schweigen ist für Unglück gut«, war ein Wort meiner Mutter. – Eines der ersten Gedichte, die meinem Gedächtnis eingeprägt wurden, war »La mort du Loup.«:

A voir ce que l'on fait sur terre et ce qu'on laisse,
Seul le silence est grand; tout le reste est faiblesse.«

Seit meiner Verheiratung sah ich weniger von Richard als früher; aber ich hatte die Sicherheit, daß er mein treuester Freund geblieben war und selbst die Erbitterung gegen ihn, die der Tod Günthers bei mir erzeugt, hatte daran nichts geändert.

Nachdem ich das Fenster geschlossen und mich, einem Wink meiner Mutter gehorchend, ihr gegenüber niedergelassen hatte, blieben wir eine Weile, die mir lang erschien, still: denn mein Herz war voll zum Überfließen. Ich wußte, daß meine Mutter das Schweigen nicht unterbrechen würde, und deshalb begann ich zu sprechen.

»Ich finde, du siehst angegriffen aus. – Bist du leidend?«

»Ich kann seit einiger Zeit nicht schlafen. Ich hoffe, das wird vorübergehen.«

»Ist Richard hier?«

»Richard ist noch in der Stadt. Ich erwarte ihn in einigen Tagen.«

Wieder eine längere Pause. Es kochte in mir. Ich war nun ganz sicher, daß meine Mutter von dem Duell, von der traurigen Rolle, die Richard dabei übernommen hatte, nicht sprechen wollte. Sie sollte davon sprechen. Deswegen gerade hatte ich die kranke Susanne verlassen und war nach M. gereist. –

Aber wie ich noch nach dem Eingang zu dem Gespräch suchte, das ich mit ihr haben wollte, unterbrach sie das Schweigen.

Sie hatte mich, das fühlte ich, obgleich ich die Augen gesenkt hielt, aufmerksam beobachtet. Jetzt sagte sie ruhig:

»Auch du siehst leidend aus. – Was fehlt dir?«

Da brach mein Zorn hervor; aber ich sprach mit gedämpfter Stimme, ehrerbietig im Tone, wie vierzigjährige Gewohnheit es mir zur zweiten Natur gemacht hatte.

Ja, ich hatte während der vergangenen Wochen viel gelitten: der Tod Günthers hatte mich auf das tiefste bekümmert, und daß er von der Hand meines Bruders gefallen war, meinen Schmerz um den Verlust, den ich erlitten hatte, verzehnfacht. – Susanne, das Liebste, das ich auf der Welt hatte, lag krank darnieder. Ich hatte für ihr Leben gefürchtet. Und in meinem Schmerz, in meiner Unruhe hatten mich Mutter und Bruder allein gelassen, als wäre ich ihnen ein Fremder. Nicht ein Wort der Aufklärung hatte ich von Richard erhalten können. Nach der in der Familie beliebten Art hatte er geschwiegen. – »Aber mit Schweigen antwortet man viel«, sagte ich ingrimmig. »Mit Schweigen verjagt man den Freund. Mir, dem Bruder gegenüber war es Richards Pflicht zu sprechen, ist Schweigen eine Beleidigung, die ich empfinde und ihm nie verzeihen werde.«

»Glaubst du, es wäre besser gewesen, er hätte gesprochen?«

Es war etwas Eigentümliches, Beängstigendes in dem Tone, in dem diese Worte gesprochen wurden. Es war, als sagten sie: »Hüte dich, ihn zum Reden zu zwingen!« – Aber das mußte ich nun. Ich wollte das Schlimmste hören, wenn es Schlimmes zu sagen gab. – Richard sollte mir antworten: es war seine Pflicht, es zu tun, mein Recht, es zu verlangen.

»Alles wäre besser gewesen als sein Schweigen,« sagte ich, »denn durch sein Schweigen habe ich ihn und hat er einen Bruder verloren.«

Ein langgezogenes, schmerzliches »Oh . . .« kam über die Lippen meiner Mutter. Sie beugte sich zurück und schloß eine Sekunde die Augen. – Aber in mir kochte es. Das Schweigen meiner Mutter nahm mir fast die Besinnung.

»Auch du schweigst«, fuhr ich leise, bitter fort. »Auch du ziehst es vor, mir nicht ein Wort zur Entschuldigung Richards zu sagen. Du hast nicht einmal ein Wort gefunden, um deiner Teilnahme an meinem Kummer über Susannens Krankheit Ausdruck zu geben. Und doch mußt du wissen, daß dieser Kummer mir das Herz zerfrißt. – Kannst du kalt an dem Schmerz deines Sohnes vorübergehen – o Mutter – was bist du mir dann? Verbirgst du mir aber dein Mitleid, so daß ich es nicht zu erkennen vermag – welchen Trost, welche Linderung meines Schmerzes gewährt es mir? – Ich bin dir stets ein ehrerbietiger, liebender Sohn, Richard ein treuer Bruder gewesen – und ich möchte es bleiben. Aber eure grausame Kälte stößt mich zurück, und ich würde mich zu unerträglicher Einsamkeit verdammt sehen, bliebe mir nicht in der Liebe Susannens ein Asyl, in das ich mich flüchten werde, wenn ihr mich verurteilen wollt, einsam zu leiden und zu leben.«

Meine Mutter erhob sich und stand kerzengerade vor mir, das stolze Haupt zurückgeworfen. – »Mein Mitleid war größer, als du glaubst. Ich hoffte, dir den furchtbarsten Schmerz ersparen zu können. Ich sehe – es kann nicht sein. Richard hatte recht, als er mir sagte, du müßtest die ganze Wahrheit erfahren und sollte sie dich vernichten.«

Ich war aufgesprungen. Mir ahnte Schreckliches. »Sprich, Mutter,« sagte ich, »sprich!«

»Du bist auf das abscheulichste betrogen worden . . . von deiner Frau und von deinem Freunde . . . Richard hat dich gerächt!«

Ich sank auf den Stuhl zurück. Ich konnte zunächst keinen Gedanken fassen: ich starrte betäubt vor mich hin. Endlich kam ich wieder zu mir: »Betrogen von Susanne und Günther?« sagte ich leise, fragend. »Oh, Mutter, quäle mich nicht so grausam! Sage mir die Wahrheit!«

»Kann ich lügen? . . . Du weißt die Wahrheit.«

Ich klammerte mich an das Unwahrscheinliche. »Vielleicht irrst du dich? Vielleicht hat man dich getäuscht?«

»Ich bin nicht leichtfertig, wenn es sich um dein Glück handelt. Ich habe Beweise ihrer Schuld.«

»Beweise ihrer Schuld?«

»Ja, Beweise!«

Sie schritt, einem Automaten gleich, so eckig und gleichmäßig waren ihre Bewegungen, ihrem Schreibtische zu, öffnete eine verschlossene Schublade und entnahm derselben eine unscheinbare Kassette aus dünnem Eisenblech, die sie mir ohne ein Wort übergab.

Das Kästchen war offen. Als ich den Deckel gehoben hatte, sah ich es mit Briefen gefüllt: Briefen meiner Frau an Günther von Roquefeuille. – Ich durchflog einige davon. Ich konnte keinen Zweifel mehr hegen: ich war das vertrauensselige Opfer schwarzen Verrats gewesen.

Während ich brütend dasaß, hörte ich meine Mutter sprechen, länger, als sie je mit mir gesprochen hatte. Ich vernahm, was sie sagte, wie in einem bösen Traum. Doch ergriff ich klar den Sinn ihrer Rede: Meine Mutter und Richard hatten Susannen von Anfang an mißtrauisch beobachtet. – Ihr Argwohn war schließlich auf die Beziehungen zwischen meiner Frau und Roquefeuille gelenkt worden. Nach einiger Zeit hatten sie die Überzeugung gewonnen, daß die beiden mich täuschten. Aber sie hatten vollständige Gewißheit haben wollen und, da es sich um die Ehre der Familie handelte, vor keinem Mittel zurückgeschreckt, um sich diese zu verschaffen. Ein Geheimpolizist, der den Kammerdiener Roquefeuilles bestochen, hatte sie ihnen geliefert. – Am Abend des Tages, an dem Roquefeuille nach O. abgereist war, hatte Richard die Kassette ausgeliefert bekommen, die hundert unwiderlegliche Beweise von Susannens Schuld enthielt. – Darauf war Richard nach O. abgereist, hatte dort in der Nacht eine Zusammenkunft mit Roquefeuille gehabt und mit ihm den Zweikampf verabredet, in dem Roquefeuille gefallen war. Dieser war ohne Widerrede auf alle Bedingungen eingegangen, die Richard gestellt hatte, der es übernahm, seinen Gegner durch ein unverfängliches Telegramm aus O. abzurufen. – Roquefeuille sollte meinen Bruder reizen, ihn fordern, auf die schärfsten Bedingungen bestehen, um jeden Verdacht, als ob Richard das Duell gewollt habe, von diesem abzulenken.

Nach dem Tode Roquefeuilles hatten meine Mutter und mein Bruder zunächst gehofft, der wahre Grund der Sache könne vor mir verborgen gehalten werden; als Richard aber erkannt hatte, daß trotz aller von ihm gebrauchten Vorsicht die wirkliche Veranlassung des Zweikampfes hier und da geahnt wurde, da hatte er darauf gedrungen, daß mir die Wahrheit nicht ferner vorenthalten werde. Nur auf Bitten meiner Mutter war ich bisher noch im Dunkel gelassen worden. Doch war auch sie fest entschlossen gewesen, eine Trennung zwischen Susanne und mir herbeizuführen. Meine Frau sollte veranlaßt werden, mich zu verlassen. Es würde mich tief kränken, doch weniger, als wenn ich erführe, daß sie und mein Freund mich betrogen hatten. – »Diesen Vorschlag, den mir meine Liebe für dich eingab, hast du vereitelt. Ich will es nicht beklagen. Ich habe die Wahrheit gesagt. Das kann nicht schlecht sein, auch wenn es Unglück anrichtet.«

Meine Mutter schwieg. –

Die Dämmerung war eingebrochen. Ich erhob mich schwerfällig.

»Ich will jetzt gehen«, sagte ich.

»Wohin?«

»Nach Hause . . . Zu meiner Frau!«

Es mußte wohl etwas Schreckliches in meiner Stimme sein, denn meine Mutter sagte ängstlich: »Eine Sünde kann nicht durch ein Verbrechen gesühnt werden. – Was willst du tun?«

Ich blieb ihr die Antwort einige Minuten lang schuldig. – Sie sah, daß ich nachdachte, und unterbrach mich nicht. Dann sagte ich: – »Schweigen.«

 

»Seul le silence est grand; tout le reste est faiblesse.« Immer und immer wiederholte ich die Worte während der Rückfahrt nach O., und der Entschluß, den ich gefaßt hatte, stand unwiderruflich fest.

Als ich in O. angelangt war, beschied ich zunächst den Doktor zu mir. Er kam mir mit einem zufriedenen Lächeln entgegen.

»Ich kann Ihnen gute Nachrichten bringen«, sagte er. »Der Zustand Ihrer Frau Gemahlin hat sich während der letzten achtundvierzig Stunden wesentlich gebessert und ist jetzt unbedenklich. Sie befindet sich noch immer in einem Zustand großer Niedergeschlagenheit, und ihre stark erschütterten Nerven bedürfen noch sorgfältiger Pflege – aber die wird nicht fehlen, und ihre gesunde junge Konstitution wird das übrige tun. Ich verordne augenblicklich nichts für sie als Ruhe. Vorläufig möchte ich sie noch in O. behalten; in vierzehn Tagen aber – so denke ich mir – können wir sie an die See führen.«

Ich dankte dem Doktor. – Seine Vorschriften, sagte ich, sollten gewissenhaft befolgt werden. Dann bat ich ihn, eine gute Krankenwärterin kommen zu lassen, mit der zusammen ich die Pflege meiner Frau übernehmen wolle. – Das Kammermädchen, das möglicherweise eine Vertraute war, sollte nicht in ihrer Nähe bleiben. Dem Doktor erklärte ich aber nur, die Jungfer verstehe nichts weiter, als ihre Herrin anzukleiden und zu frisieren; als Krankenwärterin flößte sie mir kein Vertrauen ein. Der Arzt war ganz einverstanden mit mir, daß sich eine zuverlässige Krankenwärterin augenblicklich im Dienste Susannens weit nützlicher machen könnte als ein gewandtes Kammermädchen. – Schließlich ersuchte ich den Doktor, sich bis auf weiteres täglich im Laufe des Vormittags einfinden zu wollen, um alles, was er zur Pflege der Kranken für nötig erachte, persönlich überwachen zu können.

Nachdem der Arzt gegangen war, begab ich mich auf Susannens Zimmer. Sie winkte mir vom Bett aus freundlich zu, als sie mich in der Tür erblickte, und sagte im Tone liebevollen Vorwurfes.

»Hast du so wenig Eile, mich zu sehen? Ich hörte den Wagen schon vor einer Viertelstunde ankommen und wollte dir danken, deinen Aufenthalt in M. abgekürzt zu haben.«

Ich trat an das Bett und ließ mich auf einen Stuhl nieder, der an der Seite desselben für den Arzt aufgestellt war. –

Mein Gesicht sollte nichts von dem verraten, was in meinem Innern vorging, und ich glaube, es gelang mir, es vollständig undurchsichtig zu machen. Ich blickte nicht finster, geschweige denn aufgeregt, zornig: kalter, teilnahmsloser tiefer Ernst allein war in meinen Augen und den starren Gesichtszügen zu lesen. Mein Blick war fest auf Susanne gerichtet und wandte sich nicht wieder von ihr ab.

Sie beobachtete mich, eine Minute etwa, ohne sprechen zu können. Erstaunen – Beunruhigung – Angst – Entsetzen malten sich in schneller Reihenfolge unverkennbar auf ihrem Antlitz. – Sie richtete sich mit einer heftigen Bewegung halb in die Höhe und starrte mich an. Ihr Atem flog, der Angstschweiß trat ihr auf die Stirn.

»Was ist vorgefallen? Sprich! – Um Gottes willen: sprich!«

Und als ich unbeweglich, stumm, die Augen ohne Klage, ohne Vorwurf ruhig auf sie gerichtet, sitzen blieb, da sprang sie plötzlich mit einem unterdrückten Aufschrei aus dem Bett und stand geisterbleich, die Augen in wahnsinnigem Entsetzen aufgerissen, vor mir.

»Was ist vorgefallen? Ich beschwöre dich, sage mir, was ist vorgefallen? . . . Bist du krank? . . . Zürnst du mir? . . . . O sprich, sprich! . . . Was ist vorgefallen?«

Sie wich, ohne die Augen von mir abzuwenden, gebannt wie der Vogel durch die Schlange, langsam, scheu, lautlos zurück. Ich glaubte, sie wolle versuchen, sich ungehindert der Tür zu nähern, zu entfliehen. – Ich ließ es geschehen. Ich wandte nur den Kopf und verfolgte, ihr in die Augen blickend, ihre Bewegungen. – In der Mitte des Zimmers blieb sie stehen. Zum erstenmal, seitdem ich an das Bett getreten war, senkten sich ihre Lider, und es schien mir, als dächte sie nach. – Dann ohne mich anzusehen, schlich sie nach dem Bette zurück und legte sich wieder nieder. – Einen kurzen Augenblick streifte mich ihr unsteter Blick, dann legte sie die Hände vor das Gesicht und wimmerte leise, flehend, zum Erbarmen:

»Ich bitte dich, so sehr ich kann, sei nicht so unbarmherzig, so grausam, sage nur ein Wort, nur ein einziges Wort. – Ein Wort . . . ein Wort . . . Und, oh! sieh mich nicht so an, nimm deinen Blick von mir!«

Ich schwieg. – Sie brach in ein leises, kindliches Wimmern aus, zog das Bettuch über ihr Gesicht und blieb eine Weile unbeweglich liegen. Dann vorsichtig, leise, als könne sie meine Wachsamkeit täuschen, befreite sie den oberen Teil ihres Kopfes von dem Laken und spähte nach mir herüber; aber als ihre Augen meinen Blick wiedergefunden hatten, zog sie den Kopf schnell zurück und verhüllte ihr Antlitz von neuem.

Ich blieb unbeweglich.

Drei Stunden schlichen dahin. – Ich hörte von der Schloßkapelle die siebente Stunde schlagen. – Ich erhob mich und zog die Klingel, die neben dem Kopfkissen angebracht war. Als Susanne bemerkte, daß ich mich dabei über sie beugte, warf sie die Decke, die sie über ihr Haupt gezogen hatte, schnell zurück. Der Ausdruck ihres Gesichtes zeugte von furchtbarster Todesangst. – Ein kurzer Aufschrei! – In demselben Augenblick ertönte die Klingel. Es schien sie zu beruhigen. – Ihre Lippen bewegten sich, aber es drang kein Laut darüber.

Ich trat an die Tür, und als ich den eilenden Schritt des Dieners vernahm, öffnete ich und befahl im Flüstertone, das Essen für die Kranke heraufzubringen; ich würde nebenan, in meinem Zimmer, speisen. – Dann setzte ich mich wieder an das Bett. – Als das Kammermädchen, mit einem kleinen, für die Kranke gedeckten Tisch hereintrat, begab ich mich auf mein Zimmer, lehnte, ohne sie zu schließen, die Tür an, die von dort nach dem Schlafgemach meiner Frau führte, und nahm etwas Nahrung zu mir. Denn ich durfte nicht schwach werden.

Ich vernahm das Kommen und Gehen des Kammermädchens im Nebenzimmer. Ich hörte, wie sie nach einer Weile leise sagte: »Wollen die gnädige Frau denn gar nichts genießen?« ohne daß ihr eine Antwort wurde. Bald darauf wurde das Essen abgetragen, und das Kammermädchen verließ das Zimmer. Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, trat ich wieder an das Bett meiner Frau und nahm meinen Platz an demselben ein. – Und dort verharrte ich, mit den kurzen Unterbrechungen, die ich dem Kammermädchen gewährte, um das Krankenlager für die Nacht zurecht zu machen, bis zum Morgen.

Während der unendlich langen Nacht lag Susanne verhüllten Hauptes vor mir. In langen Zwischenräumen zog sie die Decke zurück und versuchte bei dem Halbdunkel, das im Zimmer herrschte, zu erkennen, ob ich schliefe. Wenn sie meine starr auf sie gerichteten Augen sah, schrak sie zusammen und verbarg sich wieder.

Als ich an einigen Bewegungen auf Flur und Treppe bemerkt hatte, daß die Dienerschaft aufgestanden sei, klingelte ich wieder, entfernte mich geräuschlos und ließ das Kammermädchen mehrere Stunden lang allein mit ihrer Herrin.

Ich versuchte während der Zeit zu schlafen; aber ich konnte keine Ruhe finden.

Gegen zehn Uhr morgens ließ sich der Doktor bei mir melden.

Ich empfing ihn, nachdem ich die Tür, die nach Susannens Zimmer führte, geschlossen hatte. – Der Doktor war in Gesellschaft einer noch jungen Frau in grauem Gewande, von gefälligem Äußeren, stillem, gleichzeitig bescheidenem und entschlossenem Auftreten, die er mir als »Schwester Luise« vorstellte. – Ich sagte dem Doktor, er möchte sich sogleich von dem Zustand meiner Frau überzeugen, mir käme er nicht unbedenklich vor. Ich hätte mich so ruhig wie möglich in ihrer Gegenwart verhalten, aber sie erscheine mir trotzdem sehr aufgeregt. – Dann verständigte ich mich mit Schwester Luise, wie wir uns in den Dienst bei der Kranken teilen wollten. Sie sollte des Morgens und des Abends von fünf bis elf Uhr bei ihr sein; während der anderen zwölf Stunden wollte ich wachen.

»Aber Sie werden sich krank machen, wenn Sie jede Nacht am Krankenbett zubringen wollen«, sagte der Arzt. »Das darf ich nicht gestatten.«

»Das müssen Sie mir schon erlauben, Herr Doktor«, antwortete ich; »denn es ist auch das Beste für mich. Ich würde in meinem Bett doch keine Ruhe finden, wenn ich dächte, daß meine Frau nebenan leidend darniederliegt. – Am Tage, wenn das Nachtwachen mich müde gemacht hat, darf ich dagegen hoffen, einige Stunden schlafen zu können.«

»Nun,« meinte der Doktor, »hoffentlich wird sich der Zustand Ihrer Frau Gemahlin bald soweit gebessert haben, daß Sie selbst vorschlagen werden, Ihre Nachtruhe nehmen zu dürfen. – Ich will jetzt die Kranke besuchen und ihr Schwester Luise vorstellen.«

Die beiden verließen mich. Während sie über den Flur in das Krankenzimmer traten, öffnete ich vorsichtig, doch laut genug, um es meiner Frau vernehmbar zu machen, die Verbindungstür zwischen ihrem und meinem Gemach. – Aber ich ließ die Tür angelehnt.

Gleich darauf hörte ich den Doktor meine Frau begrüßen und ihr Schwester Luise vorstellen. Dann kamen die üblichen Fragen: »Wie befinden Sie sich – wie haben Sie geschlafen – wie ist der Appetit – der Puls?« und so weiter.

Die Antworten meiner Frau wurden mit so leiser Stimme abgegeben, daß es mir unmöglich war, auch nur ein Wort davon zu verstehen.

Ich hörte den Doktor »Hm, Hm!« machen, Schwester Luise beiseite nehmen und mit ihr sprechen. Dann wurde es einige Minuten still, bis ich den Doktor wieder vernahm: »Sie müssen ruhen, gnädige Frau. Ich werde Ihnen etwas verschreiben, wonach Sie schlafen werden. – Sie befanden sich gestern besser als heute. – Hat Sie etwas aufgeregt?«

Einige unverständliche Worte meiner Frau – sodann der Doktor wieder:

»Nichts? Gar nichts? Das verstehe ich nicht. – Sie haben wieder etwas Fieber; aber Schwester Luise wird gut acht geben. Fügen Sie sich nur vertrauensvoll all ihren Weisungen. – Ich werde heute abend wieder vorkommen, um zu sehen, wie die Arznei gewirkt hat.«

Gleich darauf hörte ich ihn das Zimmer verlassen, und eine halbe Minute später klopfte er wieder bei mir an. Ich hatte inzwischen die Durchgangstür leise geschlossen.

Der Doktor trat mir mit sorgenvoller Miene entgegen.

»Ich begreife den Zustand Ihrer Frau Gemahlin nicht«, sagte er. »Gestern war sie ganz entschieden auf dem Wege schneller Besserung, heute ist sie schwächer und unruhiger, als ich sie je zuvor gesehen habe. – Sie kann oder sie will mir keine Auskunft geben. – Auf meine Frage, ob etwas vorgefallen wäre, was sie aufgeregt hätte, gibt sie mir verneinenden Bescheid. – Doch behaupte ich, daß ihr etwas Peinliches zugestoßen sein muß. Jede andere Erklärung für ihren augenblicklichen Zustand fehlt mir. – Können Sie mir Aufklärung geben?«

Ich zuckte die Achseln und blickte finster und nachdenklich vor mich hin. – Ich war finster und nachdenklich. Dem Doktor gegenüber konnte ich die Maske kalter Gleichgültigkeit ablegen, die ich in Susannens Gegenwart trug.

»Besinnen Sie sich«, fuhr der Doktor fort. »Haben Sie irgend etwas gesagt, was die Kranke aufregen konnte?«

Darauf antwortete ich mit Bestimmtheit, ich wäre sicher, auch nicht ein Wort gesagt zu haben, was meine Frau peinlich berührt haben könnte.

Der Arzt bemerkte zögernd und verlegen, es wäre möglich, daß meine Gegenwart die Kranke beunruhige. Er möchte empfehlen zu versuchen, ob sich ihr Zustand nicht bessern werde, wenn man sie ausschließlich in den Händen der Schwester Luise ließe, die eine ganz zuverlässige und sehr gute, ehrenwerte Person sei.

Da mußte ich vorbeugen. – Ich erklärte dem Arzte mit einer Festigkeit, die ihm einen Widerspruch unmöglich machte, wenn er nicht darauf verzichten wollte, Susannen ferner zu behandeln, ich würde mich auf ein derartiges Experiment nicht einlassen, ich betrachtete es als eine persönliche Beleidigung, wenn er annehmen wollte, daß ich meiner Frau gewissermaßen Widerwillen einflöße. Ich hätte sie seit unserer Verheiratung auf Händen getragen und wäre noch bei meinem gestrigen Eintritt in ihr Zimmer liebevoll von ihr begrüßt worden, ja sie hätte sich darüber beklagt, daß ich nicht unmittelbar nach meiner Ankunft zu ihr gekommen wäre. – »Niemand«, so schloß ich meine Worte, »kann an dem Befinden meiner Frau größeren Anteil nehmen als ich selbst. Ich schulde ihr meine Gesellschaft, und es ist mir ein Bedürfnis, sie zu sehen. Ich bin bereit, mich Ihren ärztlichen Anordnungen zu unterwerfen, meiner Frau kein Wort zu sagen, das sie aufregen, geschweige denn verletzen könnte; – aber ich weiche nicht von der Stelle, die mir mein Recht und meine Pflicht anweisen. Nähme ich eine andere Haltung an, so könnte dies eine Entfremdung zwischen meiner Frau und mir herbeiführen. Daran mag ich nicht denken. Ich wünsche, daß wir uns stets ganz verstehen, und dazu müssen wir uns unter allen Umständen nahe bleiben.«

Ich hatte mit einer Leidenschaftlichkeit gesprochen, die der Doktor, der mich seit langen Jahren kannte, nie zuvor an mir bemerkt hatte, und die einen tiefen Eindruck auf ihn zu machen schien. Auch war ja das, was ich sagte, richtig und berechtigt. Er bedauerte augenscheinlich, mich gekränkt zu haben, und war nun bemüht, dies wieder gut zu machen, indem er sagte, sein Vorschlag habe nur auf einen Versuch hingewiesen, dem er keine besondere Bedeutung beimesse: er füge sich bereitwillig meinen Wünschen.

Ich atmete auf. – Nun hatte ich gewonnene Sache. – Der Doktor, dessen war ich gewiß, würde nicht wagen, noch einmal zu versuchen, mich aus dem Krankenzimmer zu verbannen.

Von nun an begann ein furchtbarer stiller Kampf zwischen Susannen und mir, in dem ich des Sieges von Anfang an sicher war, und dessen tödliche Einförmigkeit nicht wieder unterbrochen wurde. – Ich hatte mich mit Schwester Luise ohne Schwierigkeit vollständig verständigt. Es war mir leicht gewesen festzustellen, daß Susanne nicht versucht hatte, sie zu ihrer Vertrauten zu machen. Übrigens würde sie bei dem frommen, reinen Mädchen wohl auch wenig Verständnis für eine Erzählung ihrer Schicksale gefunden haben. – In mir erblickte Schwester Luise nur einen sorgenvollen, aufmerksamen, stillen, unermüdlichen Krankenwärter, den sie wegen dieser Eigenschaften schätzte; ich erkannte in ihr eines jener auserwählten Wesen, die, inmitten der sündigen Menschheit, unbekannt, rastlos, anspruchslos das Gute um des Guten willen tun, und die nicht anders handeln könnten, als sie handeln, weil sie von reinem Gemüt, milde und gut sind.

Schwester Luise und ich lösten einander mit nie fehlender Pünktlichkeit am Bette der Kranken ab. Ich hatte mit ihr verabredet, daß wir die Leidende nicht durch Gespräch in ihrer Gegenwart stören wollten. Was ich ihr zu sagen hatte oder von ihr hören wollte, das teilten wir uns in meinem Zimmer gelegentlich mit, wenn Schwester Luise meine in leichten Schlummer versunkene Frau unbedenklich allein lassen konnte. – Ganz regelmäßig verließ ich das Krankenzimmer in dem Augenblick, wo Schwester Luise eintrat, und sie ließ mich allein, sobald ich mich auf dem Stuhle neben dem Bette niedergelassen hatte.

Dort saß ich wochenlang, täglich zwölf Stunden, von elf bis fünf Uhr nachmittags und zu denselben Stunden der Nacht, in starrer Ruhe, die Hände ineinandergelegt, die Augen auf Susannen geheftet, niemals die Lippen öffnend, niemals durch ein Zucken des Gesichtes, durch einen Blick der Augen offenbarend, was in mir vorging, wie Gram und Schmerz an meinem Herzen fraßen. – Und mein Gram war das einzige, was mir wohltat, was meinen Mut und meine Kräfte aufrecht erhielt, damit ich ausharren könnte bis zum Ende.

Jedesmal, wenn ich eintrat, warf Susanne einen langen, flehenden, fragenden, ängstlichen Blick auf mich – und wenn sie erkannte, daß meine Augen und mein Mund stumm blieben, dann entrang sich ihrer Brust ein leises, unbeschreiblich schmerzliches Stöhnen – sie verhüllte ihr Haupt und blieb wie eine mit dem Leilach bedeckte Tote stundenlang unbeweglich liegen.

Es wurde Herbst. – Susanne war zum Skelett geworden, und an mir nagten ihre und meine Leiden. Mein Haar war ergraut, meine Haltung gebeugt, das Gesicht, das mir im Spiegel aus weitgeöffneten, ausdruckslosen Augen entgegenstarrte, war mir fremd, ungeheuer. –

Der Doktor wollte mich in ärztliche Behandlung nehmen. Ich wies ihn kalt zurück.

Der Winter war gekommen. Gespenstisch weiß, öde, tot umgab die Landschaft das unheimliche Schloß.

Da, eines Nachts bemerkte ich eine Bewegung unter dem Laken, mit dem Susanne sich verhüllt hatte, und langsam wurde ihr Antlitz sichtbar: klein, totenbleich, die dunkel gewordenen, übernatürlich großen Augen im Fieberglanz leuchtend. – Sie richtete sich mühsam in die Höhe und stieg schwerfällig aus dem Bett und stand vor mir im langen weißen Nachtgewand, über das sich ihr Haar wie ein Mantel aus lichtem, feinem Seidengewebe breitete. –

Der Ausdruck ihres Gesichtes hatte sich verändert: nicht mehr Angst und Schrecken, nur Leid und Jammer standen darauf geschrieben. Sie stützte sich auf die Lehne meines Sessels und sank zitternd auf die Knie. Dann streckte sie mir die weißen, schwachen Arme entgegen, und wie überirdisches Flüstern, grauenhaft, in Mark und Bein dringend, kam es über ihre Lippen:

»Der Allbarmherzige wird mir im Himmel gnädig sein, denn ich habe auf Erden Unsägliches gelitten. Nun werde ich endlich sterben. – Ich fürchte nichts mehr auf Erden. – Nicht für mich – oh, glaube es mir! – deines Friedens wegen flehe ich dich an: sei barmherzig, verzeihe mir! Scheide nicht in Unfrieden von mir, damit auch du nach meinem Tode Ruhe finden mögest!«

Sie umfaßte meine Knie und beugte das Haupt, und ein schwaches, unverständliches Murmeln ging über ihre Lippen.

Da kam es wie eine Offenbarung über mich, daß das Maß der Sühne voll sei, daß ich der Reuigen ihre Schuld vergeben müsse. – Der eisige Schmerz schmolz in meiner Brust und erfüllte mein ganzes Sein mit verzehrendem Mitleid, mit der Liebe, die nicht das Ihre sucht, die alles verzeiht. Ich legte meine Hand auf ihr Haupt und sagte sanft:

»Stehe auf, Susanne, ich habe dir verziehen.«

Sie hob das arme, gequälte, von Schmerz verklärte Antlitz und beugte es weit zurück, so daß ihre aufgelösten Haare den Boden zu meinen Füßen bedeckten, und blickte mich an: lange, dankbar, und ach, so traurig! – Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ein zitterndes, schwaches Klagen drang aus ihrer Brust. – Und auch mein Schmerz löste sich in Tränen. Als sie das sah, schlang sie ihre Arme um meinen Nacken und versuchte, sich daran emporzuziehen. Aber die Kräfte versagten ihr. Ich umfaßte sie und trug die leichte Gestalt auf das Bett, wo ich sie sanft niederlegte.

»Laß mich noch einmal hören, daß du mir verziehen hast,« flüsterte sie.

»Ich habe dir verziehen, von ganzem Herzen verziehen«, brachte ich hervor.

Da hob sie noch einmal die Arme und zog mich mit ihren letzten kleinen Kräften zu sich, und ihre erkaltenden Lippen berührten mich in feierlichem Abschiedskuß.

In dem Augenblick wurde die Tür kaum hörbar geöffnet, und Schwester Luise trat herein. Als sie mich über die Sterbende gebeugt erblickte, näherte sie sich schnell dem Bette. Sie warf nur einen Blick auf Susannen und entfernte sich dann wieder, und gleich darauf vernahm ich ihren eilenden Schritt auf der Treppe.

Nach einiger Zeit kam sie zurück, vom Pfarrer im Meßgewand begleitet. – Ich sank am Fuße des Bettes neben Schwester Luise auf die Knie, während der Priester seines heiligen Amtes waltete.

». . . . Pax tecum!«

Der Geistliche war gegangen. Es war wieder still im Sterbezimmer geworden; aber nicht von der furchtbaren Stille, die mich so lange dort umweht hatte –: von friedlicher, erhebender, versöhnter Stille. – Susannens Hand suchte die meine und ruhte bald darin. – Der Tod siegte schnell über seine schwache Beute. – Der müde Blick erlosch, die Atemzüge wurden kürzer, schneller, leiser . . . Ich hörte sie nicht mehr . . . Sie hatten aufgehört.

 

Schweigen – Stille – Friedhofsruhe: rings um mich her und in meinem Herzen. – Ich bin müde . . . todmüde, und möchte nun ruhen – neben Susannen.


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