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Die Liebe zum Natürlichen

Der Mensch kann alles erfinden, nur nicht die Kunst glücklich zu sein.

Napoleon Bonaparte

 

Bei einem seiner Morgenspaziergänge im Walde von Fontainebleau, die Herr C... (das aktuelle Oberhaupt des Staates), schon bei Sonnenaufgang zu machen pflegte, verirrte er sich in eine Art von Tal, das in der Richtung nach Apremont zu gelegen war.

Wie immer zwar einfach, aber mit ausgesuchter Eleganz gekleidet, in rundem Hut, zugeknöpftem Rock, war sein Auftreten ein so bescheidenes, daß keiner in ihm den Präsidenten der Republik vermutet haben würde. Er machte vielmehr den Eindruck eines Touristen, der sich ganz dem Reize der Natur hingibt.

Während er so in Gedanken verloren, und ohne des Weges zu achten, dahinschritt, bemerkte er plötzlich, daß er sich vor einem ziemlich geräumigen Bretterhäuschen befand, das ganz freundlich aussah und zwei Fenster mit grünen Läden hatte. Näher kommend, erkannte Herr C..., daß die einzelnen Planken dieser seltsamen Wohnung mit fortlaufenden Nummern bezeichnet waren, und daß er sich vor einer Art von Kirmesbude befand, wie fahrend? Leute sie aufzuschlagen pflegen. Über der Türe standen mit großen weißen Buchstaben die Namen:

»Daphnis und Chloe«

Diese Aufschrift überraschte ihn. Sie erregte seine Neugierde, und unwillkürlich lächelnd, ohne im mindesten zu beabsichtigen, die Bewohner dieser Eremitage stören zu wollen, klopfte er leise und höflich an die Türe.

»Herein,« riefen gleichzeitig zwei frische jugendliche Stimmen aus dem Innern des Häuschens.

Er drückte die Klinke nieder, die Türe öffnete sich, während ein heller, durch die Bäume gleitender Sonnenstrahl, ihn und das Zimmer der kleinen idyllischen Wohnung freundlich beleuchtete.

Als Herr C... die Schwelle überschritten, sah er sich in Gegenwart eines jungen Mädchens und eines noch ganz jungen Mannes, mit blondem, gelockten Haar, dessen feingeschnittene Züge an eine griechische Medaille erinnerten; in dem Blick seiner hellen Augen lag ein fröhlich spottender Ausdruck, den man bei den Bewohnern der Normandie öfter findet. Das reizend naive Gesicht des jungen Mädchens zeigte ein reines Oval und war von schönen braunen Haarflechten umrahmt. Sie trugen beide Trauerkleider, die von bäuerlichem Stoffe hergestellt und von ziemlich plumper Machart nur durch die Grazie ihrer Person einigermaßen erträglich erschienen. Sie waren beide wirklich reizend, und selbst ihr ein wenig artistisches Aussehen war seltsamerweise nicht unangenehm.

Der Chef des Staates, der eben eine ganze Reihe von Dienstreisen absolviert und dabei nur mit Präfekten, Unterpräfekten und Bürgermeistern verkehrt hatte, fühlte sich, ohne sich dessen bewußt zu sein, sehr angenehm davon berührt, endlich mal so ganz andre Gesichter vor sich zu sehen.

Daphnis stand an einen ländlichen Tisch gelehnt, während die reizende Chloe auf einem eisernen Bettchen neuesten Systems saß, das mit einer Seegrasmatratze, groben, aber weißen Bettüchern und zwei Kopfkissen ausgestattet war. Drei geflochtene Strohstühle, einige Haushaltungsgeräte, Teller und Tassen, Imitationen nach alten Mustern aus Limoges, sowie zwei aus dem Tische stehende, blitzblanke Gedecke von Neusilber, bildeten die ganze Einrichtung dieses Nomadenheims.

»Fremdling,« sagte Daphnis freundlich, »seien Sie willkommen! Sie bringen uns hellen Sonnenschein! Ich hoffe, Sie werden es nicht verschmähen, ohne Umstände das Frühstück mit uns zu teilen? Wir haben Eier, Milch, Käse, sogar Kaffee. Rasch, Chloe, setze noch ein Gedeck auf.«

Die Mächtigen der Erde lieben es bekanntlich von jeher, inkognito unter einfachen Menschen zu wandeln und ergötzen sich an einfachen, unvorhergesehenen Abenteuern und Erlebnissen. Einem so freundlichen Empfange und dieser herzlichen Einladung vermochte Herr C... sich nicht zu verschließen, er konnte gar nicht anders als für dies eine Mal ausnahmsweise die Rigorosität seines Charakters zu verleugnen und ebenfalls liebenswürdig zu sein.

»Wir scheint,« so dachte er, »daß der Zufall mich hier mit zwei jungen exzentrischen Menschen zusammengeführt hat, die froh sind, für eine Weile aus Paris entschlüpft zu sein, und die hier in genialer Weise ihre Ferien zu verleben gedenken. Vielleicht sind sie amüsanter wie meine gewöhnliche Umgebung. Wir wollen sehen.«

»Meine jungen Freunde,« sagte er lächelnd (und mit der gütig herablassenden Miene eines Königs, der bei armen Hirten eingekehrt ist): »Ich liebe das Natürliche – und ich nehme euere Einladung an.«

Man setzte sich um den Tisch, den Chloe so schnell wie möglich gedeckt hatte, und das Mahl begann sofort.

»Ach, das Natürliche,« meinte Daphnis mit einem tiefen Seufzer, »es ist nur deswegen, daß wir hierher gekommen sind, wir suchen es eifrigen Herzens – aber ach! bisher stets vergebens.«

Herr C... sah die jungen Leute ganz erstaunt an. »Wie meint ihr das, meine jungen Freunde? Das Natürliche umgibt euch doch. Ihr seid hier von der Natur mit ihren reinen Freuden und ihren unverfälschten Genüssen umringt. Seht doch nur diese ausgezeichnete Milch ... die frischen Butterbrote!«

»Ach,« sagte Chloe, »das ist wahr, schöner Fremdling, die Milch läßt sich trinken: denn sie ist, wie ich glaube, mit ganz vortrefflichem Hammelgehirn bereitet.«

»Was die Butterbrote betrifft,« murmelte Daphnis, »so wissen Sie selbst, daß man mit dieser neuen Hefe niemals sicher ist ... aber was die Butter angeht, so gebe ich zu, daß ich sie für leidlich gute Margarine halte. Wenn Sie aber Käse vorziehen sollten, so bitte ich Sie, ein Stückchen von diesem hier versuchen zu wollen, man hat mir fest versichert, daß kaum mehr wie ein Drittel Talg und Kreideteile darin enthalten sind. Es ist eine neue Erfindung.«

Bei diesen Worten prüfte Herr C... seine jungen Gastfreunde aufmerksam.

»Und ... ihr ... ihr heißt ... Daphnis und Chloe?«

»O, das find nur unsere Beinamen,« antwortete Daphnis. »Unsere Familien, die früher recht wohlhabend waren, wohnten in Paris in den Champs-Elysees; sie hatten aber das Unglück, ihr Geld zu verlieren, und wurden dadurch gezwungen, ihre Zuflucht zur Arbeit zu nehmen. Ich hatte Jura studiert und hoffte mit der Zeit als Advokat mein Brot zu verdienen. Chloe, die auch Studentin war, und sogar schon das Doktorexamen bestanden hatte, entschloß sich, Hebamme zu werden, als uns ganz unverhofft eine kleine Erbschaft zufiel, die es uns gestattete, uns gleich zu vereinigen, ohne erst auf Kundschaft zu warten. Wir haben uns dann in diesen alten Wald zurückgezogen, um ganz nach unserem Geschmacke zu leben, das heißt, eine einfache, natürliche Lebensweise zu führen, wie der griechische Schriftsteller Longus sie so schön schildert ... Wir finden aber doch, daß das heutzutage sehr schwer ist ... Was, Sie essen schon nicht mehr, lieber Fremdling? Wollen Sie vielleicht zwei Spiegeleier haben? Die sind grade in dieser Zeit sehr beliebt, Sie wissen doch, daß von Amerika aus alle Tage mehr als drei Millionen künstlicher Eier importiert werden? Sie werden in schwefelsaures Wasser getaucht, wodurch die Schale entsteht. Sie sind im Augenblick fertig. Nachher wollen wir Kaffee trinken. Er ist ausgezeichnet ... Er besteht hauptsächlich aus verfälschter Zichorie erster Qualität, wie solche in Paris nach einer offiziellen Schätzung alle Tage für achtzehn Millionen Franken verkauft wird. Weisen Sie ihn nicht zurück. Wir geben ihn gern und ohne Umstände.«

Herr C..., dessen Neugierde erregt war, versuchte in geschickter Weise der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben, um dadurch, ohne unhöflich zu erscheinen, das Anerbieten seiner Gastfreunde unberücksichtigt zu lassen.

»Eine kleine Erbschaft, sagen Sie?« frug er mit dem Ausdruck herzlichster Teilnahme, »wirklich, ich sehe, daß Sie Trauerkleider tragen, meine lieben Kinder.«

»Ja, wir tragen sie in Erinnerung an unsern guten Onkel Polemon,« seufzte Chloe, ein trockenes Tränchen abwischend. »Polemon,« sagte Herr C..., in seinem Gedächtnis suchend, »der Name ist mir doch bekannt? ach ja, hieß nicht zur Zeit der Legenden der tapfere Rotweintrinker, der es mit Silen hätte aufnehmen können, so?«

»Derselbe,« seufzte Daphnis, »er war wirklich ein würdiger Apostel des Bacchus. Er liebte ungefälschten, natürlichen Wein, und da hat er sich ein Fäßchen des berühmten ›Weins der Weinbergsbesitzer‹ kommen lassen und Sie wissen?«

»Ja, schöner Fremdling,« fuhr Chloe mit ihrer musikalisch und etwas dozierend klingenden Stimme fort, »ein Fäßchen von dieser verpantschten, verfälschten Mischung, die so reichlich mit Arsenik durchtränkt ist, daß bereits vier- oder fünfhundert Leute daran zugrunde gegangen sind ... Es ist dieser großartige Wein, den unsre Arbeiter und kleinen Leute in Frankreich trinken, während sie dabei frohen Herzens das berühmte Liedchen singen:

»In Frankreich nur, in England nicht.
Gibt's solchen Labetrank!
Und dafür sag dem Himmel ich
Aufrichtig Lob und Dank.«

»So geschah es,« nahm Daphnis die Rede wieder auf, »daß an demselben Abend, wo er seinen Wein auf Flaschen gezogen und ihm sehr reichlich zugesprochen hatte, der Allerhöchste unsern Onkel Polemon zu sich rief. Der unglückliche Greis hat vorher noch sehr gelitten, da er das Opfer qualvoller Koliken geworden ist... Er hat uns dann etwas Geld hinterlassen.«

»Aber, Verzeihung, Sie rauchen vielleicht, lieber Fremdling? Wollen Sie eine dieser Zigarren versuchen? Sie sind wirklich nicht schlecht und sehen besonders sehr gut aus. Das Deckblatt besteht aus einem Papierstreifen, der in ein Absud von Nikotin getaucht wurde, das man aus den Stummeln bester Havannazigarren bereitet hat... Sie wissen doch, daß in Frankreich jeden Monat zwei bis drei Millionen solcher Zigarren verkauft werden? Diese hier sind prima Qualität.«

Herr C..., der aus diesen letzten Worten einen leichten Spott über die Fortschritte unserer Industrie heraus zu hören glaubte, hielt es an der Zeit, allmählich zu seiner offiziellen Miene zurückzugreifen.

»Danke«, sagte er. »Aber – wenngleich es nicht geleugnet werden kann, daß sich unsre moderne Industrie mit der Fälschung vieler Produkte beschäftigt, so gibt es, wenn man sich danach umsieht, doch eine Menge von Dingen, die man ganz unverfälscht genießen kann. Ganz abgesehen davon, was machen junge Leute in eurem Alter sich aus den Tafelfreuden? Besonders hier in dieser herrlichen Natur, umgeben von diesen schönen, mehr als hundertjährigen Bäumen! Der köstliche Duft des Waldes – –«

»Was meinen Sie, lieber Fremdling,« antwortete Daphnis, große Augen machend. »Was, wissen Sie das wirklich nicht? Aber diese köstlichen Eichen, diese hohen Lärchenbäume, deren Schatten der Liebe von Königen Zuflucht geboten, haben in einer gewissen strengen Frostnacht des letzten Winters fünf oder sechs Grad Kälte mehr bekommen, wie ihre Wurzeln ertragen konnten. (Die Untersuchungen der Forstinspektoren haben dies zur Genüge erwiesen.) Sie sind daher in Wirklichkeit tot! Sehen Sie nur, sie tragen bereits den offiziellen Kerbschnitt, der sie dazu bestimmt, im nächsten Jahre abgehauen zu werden. Sie werden in den Kaminen der Minister ihr Ende finden. Sie haben sich zum letzten Male mit Laub bedeckt: sie sind dem Tode verfallen. Jedem Kenner genügt es, nur einen Blick auf ihre Rinde zu werfen, um zu erkennen, daß der Saft nicht mehr in die Äste steigt ... So daß, während wir uns scheinbar unter Waldesschatten befinden, wir in Wirklichkeit von vegetabilischen Gespenstern, Baumphantomen umgeben sind ... Die alten Bäume sterben ab ... Sie müssen den jungen Platz machen.«

Herrn C...s Stirn verdüsterte sich; durch die hohen Äste der Bäume draußen rieselte ein kalter, kleiner Regenschauer herab.

»Wirklich,« murmelte er, »ich glaube mich daran zu erinnern. Aber übertreiben wir nichts und prüfen wir nicht allzu genau, wenn wir richtig unterscheiden wollen. Euch bleibt diese üppig wuchernde, sommerliche Natur ...«

»Was?« rief Daphnis, »was, lieber Fremdling, finden Sie einen Sommer natürlich, in dem es so kühl ist, daß meine arme Chloe und ich unsere Nachmittage damit verbringen, vor Kälte zu zittern?«

»Es ist wahr, daß wir heuer keinen allzu warmen Sommer haben«, meinte Herr C... »Nun denn, so hebt euere Blicke himmelwärts, euch bleibt der weite, unberührte Himmel.«

»Ein unberührter, reiner Himmel, in dem den ganzen Tag über Schwärme von Luftballons voll aufgeklärter Herren kreuzen? nein, ein solcher Himmel ist nicht mehr natürlich, lieber Fremdling.«

»Aber – des Nachts, beim Schein des Mondes und der Sterne, beim Gesang der Nachtigall könnt ihr vergessen ...«

»Aber,« murmelte Daphnis, »nachts durchschneiden unzählige, vom Schießplatze ausgehende elektrische Strahlen die Luft und beeinträchtigen sowohl den Glanz der Sterne als auch den schönen, über dem Walde ruhenden Mondschein. Die Nacht ... ist nicht mehr natürlich.«

»Was die Nachtigallen betrifft,« seufzte Chloe, »so hat das fortwährende Pfeifen und der Lärm der Züge von Melun sie verscheucht, hier gibt es keine Nachtigallen mehr, lieber Fremdling.«

»O,« rief Herr C... »Seid ihr nicht allzu empfindlich? Wenn ihr das Natürliche so über alles liebt, warum habt ihr euch dann nicht am Ufer des Meeres niedergelassen? Das Geräusch der am Strande zerschellenden Wogen ... die Sturmtage ...« »Das Meer, lieber Fremdling,« sagte Daphnis, »meinen Sie wirklich, wir wüßten es nicht, daß ein unterseeisches Kabel hindurchgelegt ist. Wie Sie wissen, genügt es, ein paar Tonnen Öl hineinzuschütten, um den höchsten Wellengang in beinahe meilenweitem Umkreis zu beruhigen. Was die Blitze seiner Stürme betrifft, so können uns diese nicht mehr imponieren, seit ich weiß, daß man sie in einer Flasche aus einem Papierdrachen herabsenden kann.

Nein, sehen Sie, das Meer erscheint uns heutzutage durchaus nicht mehr ... so natürlich.«

»Auf jeden Fall,« sagte Herr C..., »bleiben uns die Berge, in denen der Sammlung bedürftige Seelen einen stillen friedlichen Aufenthalt ...«

»Die Berge?« antwortete Daphnis. »Welche Berge meinen Sie? Die Alpen zum Beispiel? Den Mont Cenis? Mit seiner Eisenbahn, die wie eine Ratte daran herauf- und herunterläuft und alles mit Lärm und häßlichem Rauch erfüllt, und die hübschesten, früher mit üppigem Grün bedeckten Plateaus verödet. Expreßzüge und Zahnradbahnen, die unausgesetzt die höchsten Berge unsicher machen, rauben ihnen jede Poesie ... Nein, nein, diese Berge sind wirklich nicht mehr ... natürlich.«

Einen Augenblick schwiegen alle.

Dann ergriff Herr C..., der neugierig war, wie weit die Paradoxen dieser beiden schwärmerischen Verehrer der Natur gehen würden, wieder das Wort: »Dann sagen Sie mir doch, junger Mann, was Sie zu tun beabsichtigen?«

»Aber ... natürlich, wir werden darauf verzichten,« rief Daphnis, »wir werden der allgemeinen Bewegung folgen, leben wie die andern. Werden zum Beispiel uns ganz der Politik widmen, das bringt viel ein.«

Bei diesen Worten vermochte Herr C... kaum das Lachen zu unterdrücken, er sah sich die beiden jungen Leutchen an.

»Ach, wirklich,« sagte er. »Und dürfte ich vielleicht ohne unbescheiden zu sein, mir die Frage erlauben, welcher politischen Partei Sie sich anschließen würden, Herr Daphnis?«

»O,« antwortete Chloe statt seiner ruhig und immer in ihrer sanft dozierenden Art sprechend. »Da Daphnis in sich selbst die Partei der ländlichen Unzufriedenen repräsentiert, habe ich ihm geraten, sich auf gut Glück in dem Wahlkreis dieses Landes als Kandidat zu melden, der geistig am beschränktesten ist. Was gehört denn heute dazu, um die Majorität der Wähler für sich zu gewinnen und das Mandat eines Abgeordneten zu erringen? Vor allen Dingen darf man kein gutes Buch geschrieben haben oder vorhaben, eines zu schreiben; dann darf man kein Talent haben, gleichviel zu welcher Kunst; man muß sich den Anschein zu geben wissen, als verachte man überhaupt alle Schöpfungen der Intelligenz, darf nur in protegierendem Tone mit zerstreutem, gleichgültigen Lächeln von solchen Dingen reden; man muß es verstehen, selbst nach jeder Richtung hin den Eindruck einer gesunden Mittelmäßigkeit zu machen; man muß wohlgemut mit den dreihundert Kollegen täglich die Zeit totzuschlagen wissen, sei es, indem man auf Kommando seine Stimme abgibt, sei es, daß einer den andern davon überzeugt, daß man im Grunde eine Gesellschaft von traurigen Schwätzern ist, die mit sehr wenigen Ausnahmen ebenso parteiisch wie bestechlich sind; – abends kaut man dann an seinem Zahnstocher herum, läßt das Auge gleichgültig über die Menge gleiten und murmelt: Bah! Das wird sich alles machen lassen! Alles wird gemacht. Habe ich nicht recht und sind das nicht Eigenschaften, die die Wähler unbedingt von ihrem Abgeordneten erwarten? Ist man aber erst gewählt, dann bekommt man neuntausend Franken Gehalt, ohne all das, was drum und dran hängt, denn die Regierung zahlt nicht nur mit schönen Worten. Man hat Gelegenheit, seiner lieben kleinen Chloe die Erlaubnis zu verschaffen, ein oder zwei Tabakläden zu eröffnen ... Ich finde, daß all das gar nicht so übel ist, außerdem ist es ein leichter Beruf ... Warum solltest du es nicht versuchen, Daphnis?«

»Nun,« meinte Daphnis, »ich sage auch nicht nein. Es gehört zu einer solchen Sache natürlich viel Reklame und andre nicht grade angenehme Schritte, aber wenn es sein müßte, ließe sich der Widerwillen vor solchen Dingen schon überwinden. Wenn es sich übrigens darum handelt, sich zu einer politischen Meinung zu bekennen, lieber Fremdling, so ist die eine so gut wie die andre – werfen wir alle in Ihren runden Hut und ziehen Sie auf das Geratewohl eine für mich heraus ... Sie haben gewiß eine glückliche Hand, ich fühle das, ich wette darauf, daß Sie die beste für mich ziehen würden, diejenige, die, wie man so sagt, der Schlüssel des Spieles ist.

»Außerdem bin ich der Ansicht, daß, wenn mir später eine andere besser gefallen sollte, oder mir vorteilhafter erscheinen sollte, so würde ich mir bei dem geringen Werte, den politische Meinungen haben, gar nichts daraus machen, sie zu wechseln. In unserm Jahrhundert sind Überzeugungen – nicht mehr natürlich.«

Als aufgeklärter und leutseliger Mann ließ Herr C... sich herab, über diese Paradoxen zu lächeln, da er sie mit dem jugendlichen Alter dieser beiden Originale entschuldigte.

»Wirklich Herr Daphnis,« sagte er lächelnd, »Sie könnten die Partei des loyalen Zynismus vertreten und unter solchem Titel viele Stimmen für sich gewinnen.

»Außerdem«, nahm Chloe das Wort, »las ich in dem Zeitungsblatt, in dem heute morgen unser Käse verpackt gewesen ist, daß man in mehreren Wahlkreisen nach einer passenden Persönlichkeit sucht, um das Gleichgewicht gegen den Einfluß eines gewissen Generals herzustellen, für den ein großer Teil des Publikums ja allerdings übertrieben eingenommen ist, der ein Deputierter nach der Mode ist und dessen Politik ...«

»Ein General sagst du, Chloe? ...« unterbrach sie Daphnis erstaunt, »ein General ... der in Politik macht ... und der Deputierter ist ... Das ist doch gewiß kein natürlicher General.«

»Nein,« sagte Herr C..., diesmal in viel ernsterem Tone, »aber kommen wir zum Schlusse, meine jungen Freunde. Eure jugendliche Freimütigkeit ist allerdings etwas bizarr, aber sie ist liebenswürdig, und sie hat mein Herz gewonnen. Ich will mich euch daher zu erkennen geben. Ich bin das aktuelle Oberhaupt des französischen Staates, dessen, vielleicht ein wenig zu spöttische Bürger ihr seid. Also, Herr Daphnis, ich nehme Notiz von Ihrer zukünftigen Kandidatur ...«

Seinen Rock ein wenig öffnend, ließ Herr C... das zwischen der Weste und dem tadellos weißen steifen Hemde befindliche Stück roten Moirébandes sehen, das auf seinen Porträts so gut aussieht und keinen Zweifel an der hohen Stellung seines Trägers zuläßt – dies Stück Band ersetzt die Krone.

»Was? Der König!« riefen gleichzeitig Daphnis und Chloe erstaunt aufspringend und sich dann verneigend.

»Aber, ihr lieben jungen Leute,« sagte jetzt ziemlich kühl Herr C..., »wir haben in Frankreich keinen König mehr, indessen ich habe die Macht eines Königs ... obgleich –« »Ich verstehe,« murmelte Daphnis teilnahmsvoll, »Sie sind ... kein ... natürlicher König.«

»Ich habe aber wenigstens die Ehre, Präsident einer Republik zu sein,« antwortete trocken Herr C..., sich erhebend.

Daphnis hustete bei diesen Worten leicht, wagte jedoch keinen Widerspruch, da ihm plötzlich einfiel, daß er ja noch nicht Deputierter sei.

»Als solcher,« fuhr Herr C... fort, »verleihe ich euch als Dank für eure liebenswürdige Gastfreundschaft ausnahmsweise die Erlaubnis, euch während des Jahres 1888 in diesem an einem der Hauptwälder Frankreichs gelegenen Tale ganz ungestört aufzuhalten, und daß auch während der Truppenübung niemand das Recht haben soll, euch zu stören.

»Vielleicht finde ich zu einer andern Zeit Gelegenheit, euch nützlich sein zu können, ihr lieben, jungen Menschen, die ihr euch zu den legendären veralteten Ansichten einer Zeit bekennt, die der Fortschritt unserer Tage ungültig gemacht hat.«

»Gesegnet sei der Tag,« begann Daphnis –

Mit der Miene des Königs, der die Hirten grüßt, zog Her C... sich zurück, und schritt unter den großen, dem Untergang geweihten Bäumen hin, dem alten Palast zu, während das seltsame junge Paar ziemlich verwirrt über das Abenteuer zurückblieb.

Herr C... begab sich in seine Königliche Wohnung, in der er, wie ich glaube, die Gemächer des heiligen Louis bewohnte. Es sind dies, beiläufig gesagt, die unwohnlichsten Räume des alten Gebäudes, das kaum darauf Anspruch erheben kann, mehr zu sein als ein Jagdschlößchen oder eine pittoreske Villa. Als das aktuelle Oberhaupt des Staates sich im Oratorium des Siegers von Al-Mansourah, von Taillebourg und von Saintes eine wirklich unverfälschte echte Havannazigarre ansteckte, konnte er nicht umhin, sich selbst zu gestehen, daß die Liebe zu den natürlichen Dingen nur noch ein kaum zu verwirklichender Traum sei, – und daß, wenn Daphnis und Chloe heute, wie in den Zeiten der Vergangenheit eine wirklich natürliche ländliche Lebensweise führen wollten, sich nur von unverfälschter Milch und Brot, von reiner Butter, wirklichem Käse, nicht verpantschtem Wein nähren, in wahren Wäldern unter einem wahren Himmel leben wollten, sie zuerst über eine Rente von wenigstens 25 000 Franken hätten verfügen müssen, da es eine der ersten Wohltaten ist, die wir der Wissenschaft verdanken, daß die einfachen, unverfälschten Lebensmittel heute vollständig außerhalb des Bereiches der Armen sind.


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