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Das Tier

»Und es lauschten die Tiere den heiligen Worte.«

Leben des Vaters Seraphimus.

 

Erstes Kapitel

Mein Vater war ein zu jener Zeit sehr bekannter Untersuchungsrichter. Viele Geschäfte von Belang wurden ihm anvertraut, und so kam es, daß er häufig von zu Hause verreisen mußte, und Mutter, mich und die Dienstboten allein zurückließ.

Meine Mutter war damals noch sehr jung, und ich war ein kleiner Junge.

Damals, als das vorfiel, wovon ich jetzt zu erzählen gedenke, war ich im ganzen erst fünf Jahre alt.

Winter war es, und zwar ein sehr harter Winter. Es herrschten solche Fröste, daß nachts die Schafe in ihren Ställen erfroren, und die Krähen und Raben erstarrt auf die steinharte Erde fielen. Mein Vater befand sich um die Zeit aus Dienstgründen in Jelez und konnte nicht einmal zu Weihnachten nach Hause kommen, und darum entschloß sich mein Mütterchen, zu ihm zu fahren, damit er dieses schöne und fröhliche Fest nicht einsam verbringen müßte. Da es so unbarmherzig kalt war, nahm die Mutter mich auf diese lange Reise nicht mit, sondern ließ mich bei ihrer Schwester, meiner Tante, die an einen Gutsbesitzer aus dem Orjolschen verheiratet war, über den nicht gerade heitere Gerüchte kursierten. Reich war er, alt und grausam. Bosheit und Unerbittlichkeit waren seine Hauptcharakterzüge, aber das bekümmerte ihn nicht im geringsten, im Gegenteil, er prahlte sogar mit diesen Eigenschaften, die seiner Meinung nach die Verkörperung männlicher Kraft und unbeugsamer Seelenstärke waren.

Er versuchte auch seinen Kindern, von denen ein Knabe gleichaltrig mit mir war, ständig die Begriffe des Mutes und der Standhaftigkeit einzuprägen.

Alle fürchteten den Onkel, aber noch mehr als alle fürchtete ich ihn, denn auch in mir versuchte er »Mut zu entwickeln«, ja, erstellte mich einmal, als ich erst drei Jahre alt war und sich gerade ein entsetzliches Gewitter, vor dem ich große Angst hatte, über uns entlud, auf den Balkon hinaus und schloß die Türe zu, um mir mit dieser Lehre den Schrecken vor dem Gewitter abzugewöhnen.

Es ist wohl begreiflich, daß ich in seinem Hause nur ungern zu Gast weilte und nur mit sehr großem Zagen, aber ich wiederhole, ich war damals erst fünf Jahre alt und meine Wünsche wurden in Anbetracht der Ereignisse, denen man sich zu fügen hatte, nicht in Rechnung gestellt.

 

Zweites Kapitel

Auf dem Gut meines Onkels gab es ein großes steinernes Gebäude, das fast einem Schloß ähnlich sah. Es war ein anspruchsvolles, aber unschönes und sogar häßliches Gebäude mit zwei Stockwerken, einer runden Kuppel und einem Turm, von dem man allerhand schreckliche Dinge erzählte. Vormals lebte dort der verrücktgewordene Vater des jetzigen Gutsbesitzers, später aber brachte man in jenen Zimmern die Apotheke unter. Doch auch dieser Umstand war irgendwie danach angetan, Grauen zu erregen; am allerfurchtbarsten aber war, daß hoch oben auf dem Turm Saiten in die leere Öffnung eines gewölbten Fensters gespannt waren, das heißt, man hatte dort eine sogenannte »Äolsharfe« errichtet. Und wenn der Wind durch die Saiten dieses eigenwilligen Instrumentes fuhr, dann gaben diese Saiten ebenso unerwartete wie sonderbare Töne von sich, Töne, die von einem leisen tiefen Gemurmel zu unruhigem und unharmonischem Gewimmer übergingen, und häufig nichts anderes, als ein unerträglicher Lärm waren, als glitten von Entsetzen gejagt ganze Scharen besessener Geister dort vorüber. Niemand im Hause liebte diese Harfe und ein jedes im Hause dachte, die Harfe spräche zu dem gestrengen Hausherrn, und er wage es nicht, ihr zu erwidern und würde daher nur noch unbarmherziger, nur noch grausamer … Denn man hatte ganz unzweifelhaft bemerkt, daß, wenn nachts Sturm losbrach und die Harfe so stark tönte, daß ihre Laute über die Leiche und den Park bis hinüber ins Dorf flogen, daß in solchen Nächten der Hausherr keinen Schlaf fand und morgens finster und wild aufstand und sogleich irgendeine seiner grausamen Anordnungen traf, die die Herzen all seiner vielzähligen Sklaven erbeben machten.

Es lag in den Gewohnheiten jenes Hauses, daß keinem jemals die geringste Verfehlung verziehen wurde. Dies war ein Gesetz, das niemals abgeändert wurde, weder für Menschen, noch für Geschöpfe, noch für das winzigste Haustier. Von Barmherzigkeit wollte der Onkel nichts wissen und schätzte sie keineswegs, denn er hielt sie für eine Schwäche. Unabwendliche Strenge stand ihm höher als jede Nachsicht. Und darum auch herrschte sowohl im Hause wie auch in den weitläufigen Dörfern des reichen Gutsbesitzers stets eine freudlose Trübseligkeit, die von Mensch und Tier geteilt wurde.

 

Drittes Kapitel

Der verstorbene Onkel war ein leidenschaftlicher Liebhaber der Treibjagd mit Hunden. Er hielt zu diesem Zweck Windhunde, mit denen er Wölfe, Hasen und Füchse jagte. Aber er hatte auch noch eine besondere Art von Hunden, die sogar Bären angingen. Diese Hunde wurden »Blutegel« genannt. Denn sie verbissen sich dermaßen in das Tier, daß man sie hernach nicht mehr losreißen konnte. Zuweilen geschah es, daß der Bär, an dem der Blutegel mit seinen Zähnen festhing, ihn mit einem Hieb seiner furchtbaren Tatze tötete oder in Stücke zerriß, aber niemals geschah es, daß ein Blutegel lebendig von seinem Gegner ließ.

Heute, da man nur noch Klapperjagden auf Bären betreibt, oder sie bestenfalls mit dem Jagdspieß angeht, scheint diese Gattung der Hunde-Blutegel in Rußland fast ausgestorben zu sein; zu jener Zeit aber, von der ich erzähle, durften sie bei keinem gut zusammengestellten großen Jagdkoppel fehlen. Zudem gab es in unseren Ortschaften Bären mehr als genug, und die Jagd auf sie galt als ein großes Vergnügen.

Wenn es gelang, ein ganzes Bärennest auszuheben, so nahm man meist die jungen Bären aus der Höhle und brachte sie nach Hause. Sie wurden dort in einem geräumigen Steinkeller gehalten, der nur wenige kleine, dicht unter dem Dach liegende Fenster hatte. Zudem waren diese Fenster ohne Glas und mit dicken Eisenstäben vergittert. Es kam nämlich mitunter vor, daß die jungen Bären aufeinander hinaufkrabbelten und sich mit ihren zähen und kralligen Pfoten an die Stäbe hängten. Nur auf diese Weise konnten sie aus ihrem Gefängnis in Gottes freie Welt hinausblicken.

Wenn wir vor dem Mittagessen spazieren geführt wurden, war es immer unser größtes Vergnügen, zu diesem Zwinger zu gehen und die hinter ihrem Gitter hervorlugenden spaßhaften Mäulchen der jungen Bären zu betrachten. Kolberg, der deutsche Erzieher, verstand es nämlich, ihnen die Brotstückchen, die wir zu diesem Zweck uns vom Frühstück absparten, auf dem Ende seines Stockes hinzureichen.

Das Beaufsichtigen und Füttern der Bären war einem jungen Burschen namens Ferapónt anvertraut; da aber dieser Name dem Volksmund nicht geläufig war, so nannte man ihn einfach »Chrapon«, oder noch häufiger »Chraposchka«. Ich kann mich noch gut an ihn erinnern: Chraposchka war ein mittelgroßer, sehr flinker, kräftiger und kühner Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren. Chrapon galt als ein hübscher Kerl, – sein Gesicht war aus Milch und Blut, seine Locken schwarz und schwarz die großen, ein wenig hervorstehenden Augen. Zu alledem war er ungewöhnlich kühn. Er hatte eine Schwester Anna, die so etwas wie eine Unter-Kinderwärterin war, und die uns die unterhaltendsten Dinge von der Kühnheit ihres verwegenen Bruders erzählte, aber auch von seiner ungewöhnlichen Freundschaft mit den Bären, bei denen er Winter und Sommer im Zwinger schlief, wobei sie ihn von allen Seiten zu umringen pflegten und ihre Köpfe auf ihn, wie auf ein Kissen legten.

Gegenüber dem Hause meines Onkels ragte vor dem großen und runden Blumenbeet, das von einem schönbemalten Gitter eingefaßt war, ein breites Tor, und gegenüber diesem Tor wuchs mitten auf einem Rasendamm ein hoher, kerzengerader und glattgeschorener Baum, den man den »Mast« nannte. Den Wipfel dieses Baumes krönte ein kleines Holzgerüst, das von allen »die Laube« genannt wurde.

Aus der Schar der gefangenen Bären wurde immer ein besonders »kluger« ausgewählt, den man seinem Charakter nach für den zuverlässigsten und wohl auch für den verständigsten halten konnte. Dieser wurde von seinen Mitbrüdern ferngehalten und lebte in Freiheit, das heißt, es war ihm gestattet, sich in Park und Hof herumzutreiben, vornehmlich aber war es seine Aufgabe, am Baum vor dem Tore Wache zu halten. Dort verbrachte er die meiste Zeit und lag entweder auf einem Strohlager am Fuß des »Mastes«, oder kletterte nach oben und saß oder schlief in der »Laube«, damit weder die zudringlichen Menschen noch die Hunde ihn necken könnten.

Dieses freie Leben war jedoch beileibe nicht allen Bären gegeben, sondern nur einigen, den besonders klugen und sanften, und auch nicht etwa während Ihrer ganzen Lebzeit, sondern eben nur, solange sie ihre tierischen, im Zusammenleben unbequemen Eigenschaften nicht hervortreten ließen, das heißt, solange sie sich friedlich aufführten und weder Hühner noch Gänse berührten, weder Rinder noch Menschen.

Ein Bär, der die Ruhe der Gutsbewohner beeinträchtigt hatte, wurde unverzüglich zum Tode verurteilt, und da gab es nichts, das dieses Urteil je von ihm hätte abwenden können.

 

Viertes Kapitel

Es war Chrapons Aufgabe, jeweilig den »verständigen Bären« ausfindig zu machen. Da er derjenige war, der am meisten Umgang mit den jungen Bären hatte, und als großer Kenner ihres Wesens galt, so war es selbstverständlich, daß dieses seine Aufgabe war. Chrapon mußte es verantworten, wenn er eine ungeschickte Wahl traf, – doch hatte er schon zu Beginn einen erstaunlich befähigten und klugen Bären für diese Rolle gefunden, der einen ungewöhnlichen Namen erhielt; die Bären heißen in Rußland meistens »Míschka«, dieser aber erhielt den spanischen Namen »Sganarel«. Schon seit fünf Jahren lebte er in voller Freiheit und hatte noch keine einzige »Unart« begangen. Wenn man nämlich vom Bären sagte, er sei »unartig« geworden, so bedeutete es, daß er durch einen Überfall oder etwas Ähnliches seine tierische Natur zum Ausdruck gebracht hatte.

Der »Unartige« wurde dann auf einige Zeit ins »Loch« gesperrt, das man auf einer großen Wiese zwischen dem Getreideboden und dem Walde gegraben hatte, und erst nach einiger Zeit auf die Wiese hinausgelassen (er kletterte an einem Balken hinaus), um dort von den »jungen Blutegeln« gehetzt zu werden (das heißt von den heranwachsenden jungen Bärenhunden). Wenn aber die jungen Hunde ihn nicht zu packen vermochten und die Gefahr bestand, daß das Tier womöglich in den Wald entwischen könnte, dann warfen sich zwei der besten Jäger, die in einem Reserve-Hinterhalt lauerten, mit einer Koppel auserlesener und bereits erfahrener Hunde auf ihn, und damit war die Sache in der Regel zu Ende.

Wenn aber auch diese Hunde sich so ungeschickt stellten, daß das Tier zur »Insel« (das heißt zum Wald) durchzubrechen vermochte, von wo es in die riesigen Brjansker Forste ging, dann gab es noch einen besonderen Schützen mit einem langen und schweren Stutzen von Kuchenreuther, der, das Gewehr auf einer Gabel stützend, dem Bären die tödliche Kugel auf den Pelz zu brennen hatte.

Es war noch nie vorgekommen, daß ein Bär all diesen Gefahren entronnen wäre, denn schon der Gedanke daran, daß das geschehen könnte, war zu schrecklich: alle, die daran schuld gewesen wären, hätte nämlich eine tödliche Bestrafung erwartet.

 

Fünftes Kapitel

Sganarels Solidität und sein Verstand hatten bewirkt, daß die eben geschilderte Vergnügung, oder die Vollstreckung des Todesurteils am Bären schon seit fünf Jahren nicht mehr vorgekommen war. Inzwischen war Sganarel aufgewachsen und ein großer starker Bär von ungewöhnlicher Kraft, Schönheit und Gewandtheit geworden. Seine Schnauze war besonders rund und kurz und er war sehr wohlproportioniert, so daß er eigentlich mehr einem riesigen Pudel als einem Bären ähnlich sah. Sein Hinterteil war mager und von kurzem, ein wenig glänzendem Fell bedeckt, dafür aber waren seine Schultern und die Schulterblätter kräftig entwickelt und von langem und dichtem Pelz bewachsen. Sganarel war auch so klug wie ein Pudel und hatte einige, für ein Tier seiner Art sehr merkwürdige Eigenschaften: er marschierte zum Beispiel ausgezeichnet und mit großer Leichtigkeit auf seinen zwei Hinterbeinen, wobei er sich mit Bauch und Hinterteil vorwärts schob, er schlug die Trommel, er marschierte mit einem Stock, der wie ein Gewehr hergerichtet war, es machte ihm großen Spaß, den Bauern behilflich zu sein, die allerschwersten Säcke zur Mühle zu schleppen, und schließlich hatte er es gar heraus, sich mit einem eigenartigen Schick eine hohe, spitzzulaufende Bauernmütze mit einer Pfauenfeder oder einem Strohbündel, in der Art eines Federbusches garniert, aufs lächerlichste auf den Kopf zu stülpen.

Doch auch für ihn schlug die Schicksalsstunde, – eines Tages nahm auch in Sganarel die tierische Natur Oberhand. Kurz bevor ich ins Haus meines Onkels kam, hatte der ruhige Sganarel einige Dummheiten gemacht, von denen eine schwerer war als die andere.

Die Reihenfolge von Sganarels Verbrechen war die gleiche wie auch bei den Bären zuvor: als erstes riß er einer Gans den Flügel ab; darauf legte er einem Füllen, das der Mutter nachlief, seine Tatze auf den Rücken und zerbrach ihm dabei das Rückgrat; zum Schluß aber kam dies: ein blinder alter Bettler mit seinem Führer, die auf den Gutshof kamen, gefielen ihm nicht und darum machte Sganarel sich daran, sie auf dem Schnee hin und her zu rollen, wobei er ihnen freilich Arme und Beine gehörig quetschte.

Der Blinde und sein Führer wurden ins Krankenhaus gebracht, Chrapon jedoch erhielt den Befehl, Sganarel ins Loch zu stecken, von wo es nur einen Ausweg gab, – den zur Hinrichtung …

Abends, als Anna mich und meinen damals genau so kleinen Vetter auskleidete, erzählte sie uns, daß, als man Sganarel zum Loch gebracht, wo er seine Todesstunde zu erwarten hatte, sehr viel Rührendes geschehen war. Chrapon hatte durch Sganarels Lippen keineswegs den schmerzhaften Ring gezogen und auch sonst keinerlei Gewalt gegen das Tier angewendet, sondern ihm nur gesagt:

»Komm mit mir, Tier.«

Und der Bär stand auf und ging, und was das Lächerlichste dabei war – er nahm auch seinen Hut mit dem Federbusch aus Stroh mit und hielt Chrapon den ganzen Weg bis zum Loch umarmt, so, als wären sie zwei Freunde.

Und in der Tat, sie waren wohl auch Freunde.

 

Sechstes Kapitel

Chrapon tat es um Sganarel sehr leid, aber er konnte ihm in keiner Weise beistehen. Ich erinnere, daß an jenem Orte, an dem dieses vorfiel, niemals jemand auch nur das geringste vergeben worden war, und Sganarel, der sich kompromittiert hatte, mußte nun für seine Triebe mit einem grausamen Tode bezahlen.

Die Hetze auf ihn sollte für die Gäste, die gewöhnlich den Onkel um die Weihnachtszeit besuchen kamen, eine Nachmittagsunterhaltung geben. Der Befehl hierüber erging zur gleichen Zeit, als Chrapon den schuldigen Sganarel abführte, um ihn ins Loch zu stecken.

 

Siebentes Kapitel

Ins Loch gesteckt wurden die Bären auf ziemlich einfache Art. Die Öffnung oder Mündung des Loches wurde mit ein wenig Gestrüpp zugedeckt, das auf einigen dünnen Stangen ruhte, worauf das Ganze mit Schnee zugescharrt wurde. Und zwar wurde das so gemacht, damit der Bär die ihm zugedachte verräterische Falle nicht vorzeitig bemerke. Nun wurde das gehorsame Tier zu dem Platz gebracht und vorwärts getrieben. Es machte einige Schritte und stürzte plötzlich in die tiefe Grube, aus der zu entrinnen unmöglich war. Und hier mußte der Bär so lange bleiben, bis die Zeit, ihn zu Hetzen, herankam. Dann wurde ein sieben Ellen langer Balken ins Loch quer herabgelassen und an diesem Balken kletterte der Bär nach draußen. Und darauf begann die Hetzjagd. Wenn es aber vorkam, daß das gescheite Tier, in Vorahnung der Gefahr, nicht hinaus wollte, so nötigte man es, hinauszukommen, indem man es mit langen Stangen, an deren Enden scharfe eiserne Spitzen waren, kitzelte, oder indem man brennendes Stroh hineinwarf, oder aus Büchsen und Pistolen blinde Schüsse abgab.

Chrapon führte seinen Sganarel ab und setzte ihn eben auf diese Weise in Arrest, er kehrte darauf sehr verstimmt und traurig nach Haus zurück. Und leider erzählte er seiner Schwester, wie »liebevoll« das Tier mit ihm gegangen war und wie es, nachdem es durch das Gestrüpp ins Loch gefallen, sich dort hingekauert hätte und die vorderen Pfoten wie Hände faltend zu stöhnen begonnen hätte, ganz, als weinte es.

Und weiter eröffnete Chrapon seiner Schwester Anna, daß er schleunigst fortgelaufen sei, um nur nicht das klägliche Stöhnen Sganarels zu hören, denn sie quälten ihn, diese Klagelaute, und waren seinem Herzen unerträglich.

»Gott sei Dank,« fügte er hinzu, »daß es nicht meine, sondern anderer Leute Aufgabe ist, auf ihn zu schießen, wenn er ausreißen sollte. Sollte das mir befohlen werden, so würde ich lieber alle Foltern erdulden, als auf ihn einen Schuß abzufeuern.«

 

Achtes Kapitel

Anna erzählte es uns, und wir erzählten es dem Erzieher Kolberg. Kolberg aber teilte es dem Onkel mit, um ihn ein wenig zu zerstreuen. Der hörte ihn an und sagte nur: »Braver Bursche, unser Chraposchka,« und klatschte darauf dreimal in die Hände.

Das bedeutete, daß der Onkel seinen Kammerdiener Ustín Petrowitsch berief, ein altes Männchen aus der Schar der im zwölfer Jahr gefangenen Franzosen.

Ustin Petrowitsch, oder eigentlich Justin, erschien in seinem reinlichen, lilafarbenen Frack mit den silbernen Knöpfen, und Onkel befahl ihm, daß zur morgigen Jagd auf Sganarel Phlegónt als Schütze aus dem Hinterhalt anzutreten hätte, der bekannteste Schütze, der niemals fehlschoß, der zweite Schütze aber wäre Chraposchka. Offenbar beabsichtigte der Onkel, sich an dem schwierigen Kampf der Gefühle in dem armen Burschen zu belustigen. Denn ihm würde es natürlich teuer zu stehen kommen, wenn er nicht auf Sganarel schösse, oder etwa absichtlich fehlschösse, mit dem zweiten Schuß aber würde Phlegont, der noch nie einen Fehlschuß getan hatte, Sganarel töten.

Ustin verbeugte sich und ging; den Befehl weiterzugeben, wir Kinder aber merkten gleich, daß wir etwas Schlimmes angerichtet hatten, und daß in all diesem etwas ungemein Schweres lag und daß nur Gott bekannt war, wie das alles enden würde. Und nun konnten wir weder das schmackhafte Weihnachtsessen, das spät serviert wurde und gleichzeitig Mittag- und Abendessen war, nach Gebühr würdigen, noch die hergereisten Gäste, von denen einige sogar ihre Kinder mitgebracht hatten.

Sganarel tat uns leid und Ferapont tat uns leid, und wir vermochten nicht einmal zu entscheiden, welcher von den beiden uns mehr leid täte.

Ich und mein gleichaltriger Vetter wälzten uns noch lange in unseren Bettchen. Beide schliefen wir spät ein und schrien beide im Schlaf, denn im Traum war uns beiden der Bär erschienen. Als uns aber die Kinderfrau damit beruhigen wollte, daß der Bär nicht mehr zu fürchten sei, denn er säße ja in seiner Grube und wäre überdies morgen tot, bemächtigte sich meiner eine noch größere Unruhe.

Ja, ich fragte sogar die Kinderfrau, ob es mir erlaubt sei, für Sganarel zu beten? Diese Frage war für die religiösen Begriffe der guten Alten zu hoch, denn gähnend und den Mund dabei bekreuzigend, erwiderte sie mir, daß sie hierüber nichts Genaueres wisse, sie hätte hierüber noch niemals den Priester befragt, daß aber immerhin der Bär auch ein Geschöpf Gottes und jedensfalls mit Noah in der Arche geschwommen sei.

Und mir war, daß diese Anspielung auf die Fahrt in der Arche darauf abziele, daß Gottes grenzenlose Gnade sich nicht nur einzig auf Menschen erstrecke, sondern auch auf alle anderen Geschöpfe Gottes, und gläubig, wie nur ein Kind es sein kann, kniete ich auf meinem Bettchen nieder, beugte meinen Kopf auf die Kissen herab und flehte Gottes Allmacht an, meine heiße Bitte nicht übel anzurechnen und Sganarel zu begnadigen.

 

Neuntes Kapitel

Der Weihnachtstag brach an. Wir waren feiertäglich angezogen und erschienen zum Morgentee in Begleitung unserer Erzieher und Bonnen. Im Speisesaal befand sich außer der großen Zahl von Verwandten und Gästen auch noch die Geistlichkeit: der Priester, der Meßner und zwei Meßnerknaben.

Als der Onkel eintrat, sangen sie: »Christ ist geboren«. Darauf gab es Tee und gleich danach ein kleines Frühstück, und um zwei Uhr das frühzeitige Fest-Mittagessen. Denn gleich nach dem Mittagessen sollte man zur Hetze Sganarels aufbrechen. Eine Verzögerung war ausgeschlossen, denn um jene Zeit wird es schon früh dunkel und in der Dunkelheit ist eine Hetze ein Ding der Unmöglichkeit, denn nur zu leicht kann der Bär sich da dem Auge entziehen.

Alles ging, wie es angeordnet war. Gleich nach Tisch wurden wir warm angezogen, um der Hetzjagd auf Sganarel beizuwohnen. Wir wurden in unsere Hasenpelze gesteckt und in die zottigen Stiefel aus Ziegenwolle mit den runden Sohlen, und bald darauf setzte man uns in die Schlitten. Rechts und links vor der Auffahrt hielten schon die vielen, langen und geräumigen Schlitten für Dreigespanne, von bunten Teppichen bedeckt, und dortselbst hielten zwei Stallburschen des Onkels braunes englisches Reitpferd am Zügel, das den Namen »die Modedame« führte.

Der Onkel kam in seinem Fuchspelz heraus, er trug eine spitze Mütze aus dem gleichen Pelz, und kaum hatte er im Sattel, über den ein schwarzes Bärenfell mit vielen Riemen und Riemchen, zudem reich mit Türkisen und »Schlangenköpfen« verziert, gebreitet war, Platz genommen, als sich augenblicks der ganze riesige Zug in Bewegung setzte, und nach zehn oder fünfzehn Minuten waren wir bereits an dem Ort, wo die Hetze vor sich gehen sollte und stellten uns im Halbkreis auf. Die Schlitten hielten im Halbkreis auf einem großen, ebenen und schneebedeckten Felde, das von einer Kette berittener Jäger eingefaßt war und weiterhin an den Wald stieß.

Und dort an der Waldgrenze befanden sich von Büschen verdeckt, die Verstecke, oder vielmehr Hinterhalte, in denen sich Phlegont und Chraposchka aufzuhalten hatten.

Die Hinterhalte waren nicht zu sehen und nur wenige Eingeweihte konnten uns die kaum bemerkbaren Stützen zeigen, die den Schützen zum Zielen dienen sollten, wenn sie auf Sganarel zu schießen hätten.

Auch die Grube, in der der Bär saß, war nicht zu sehen und darum zogen zunächst die prächtigen Berittenen unwillkürlich unsere Augen auf sich, sie waren bunt, aber reich bewaffnet: da gab es schwedische Strabusen, deutsche Morgensterne, englische Mortimers und polnische Colets.

Vor der ganzen Kette hielt der Onkel auf seinem Pferd. Man reichte ihm die Leine, an der zwei zusammengekoppelte »Blutegel«, von den wildesten, zerrten, und breitete ein weißes Tuch auf seinen Sattelknauf.

Die Zahl der jungen Hunde, durch deren Geschicklichkeit der schuldbeladene Sganarel zu sterben hatte, war ungeheuer groß, und ihre Haltung war sehr überheblich, feurige Ungeduld sprach aus ihr und eigentlich zu wenig Dressur. Sie winselten, bellten, sprangen und irrten in ungeordneten Koppeln zwischen den Pferden hin, auf denen Bereiter in Livree saßen und unentwegt mit den Hetzpeitschen knallten, um die jungen, vor Ungeduld aus dem Häuschen geratenen Hunde zum Gehorsam zu bringen. Und all das kochte vor Verlangen, sich auf das Tier zu werfen, dessen Nähe die Hunde mit ihrer angeborenen feinen Witterung natürlich schon längst ahnten.

Es war an der Zeit, Sganarel aus seinem Loch zu lassen und ihn seinem Schicksal zu überlassen!

Der Onkel winkte mit dem auf seinem Sattelknauf liegenden weißen Tuch und sagte: »Los!«

 

Zehntes Kapitel

Aus der Schar der Jäger, die den Stab des Onkels bildeten, entfernten sich einige zehn und schritten quer übers Feld.

Nach etwa zweihundert Schritten blieben sie stehen und schickten sich an, einen langen, wenn auch nicht sehr dicken Balken aus dem Schnee zu graben, den wir bis dahin, der Entfernung halber, noch nicht zu Gesicht bekommen hatten.

Sie vollzogen ihr Werk dicht neben der Grube, in der Sganarel saß, aber da wir so weit entfernt waren, hatten wir auch diese bis jetzt noch nicht wahrgenommen.

Sie hoben das Holz auf und senkten es sogleich mit dem einen Ende in das Loch. Es wurde mit einer solchen Senkung hinabgelassen, daß das Tier ohne Mühe, wie auf einer Leiter daran heraufzuklettern vermochte.

Das andere Ende des Balkens stützte sich auf den Rand der Grube und ragte wohl noch eine Elle darüber empor.

Gespannt verfolgten aller Augen diese vorbereitende Operation, denn nun rückte der allerinteressanteste Augenblick immer näher. Man nahm an, daß Sganarel sogleich draußen erscheinen würde; aber er begriff offenbar, worum es sich handelte, und kam um keinen Preis heraus.

Nun begann man mit Schneestücken nach ihm zu werfen und stach nach ihm mit spitzen Stöcken, ein Gebrüll erschallte, aber das Tier verließ sein Loch nicht. Blinde Schüsse, die in die Grube abgefeuert wurden, knallten, aber wenn auch Sganarels Brüllen immer zorniger wurde, seine Höhle wollte er nach wie vor nicht verlassen.

Da jagte von irgendwo außerhalb der Kette eine von einem einzelnen Pferde gezogene gewöhnliche Mistfuhre heran, auf der ein Haufen trockenen Strohs lag.

Das Pferd war hochbeinig und mager, eines von jenen, die man im allgemeinen nur noch dazu benützt, in der Erntezeit die Nahrungsmittel herbeizuschaffen, und dennoch galoppierte es trotz seines Alters mit fliegendem Schweif und gesträubter Mähne. Aber es war schwer zu entscheiden, ob seine jetzige Rüstigkeit noch ein Rest vormaligen jugendlichen Feuers war, oder ob sie eher nur eine Ausgeburt der Angst und Verzweiflung war, die dem alten Pferde die nahe Anwesenheit des Bären einflößte? Augenscheinlich war das letztere das wahrscheinlichere, denn das Pferd war nicht nur mit einem eisernen Gebiß aufgezäumt, sondern auch noch mit einem scharfen Strick, der seine bereits ins Graue spielenden Lefzen schon ganz blutig gerissen hatte. Das Pferd raste nur so dahin und wollte ausreißen und bäumte sich so entsetzlich, daß der Pferdejunge genug damit zu tun hatte, ihm zu gleicher Zeit den Kopf mit dem Strick in die Höhe zu reißen und es mit der andern Hand unbarmherzig mit der dicken Knute zu bearbeiten.

Doch wie immer dem auch sei, das Stroh wurde in drei Haufen verteilt, angezündet, und brennend zur gleichen Zeit von drei Seiten in die Grube geworfen. Von der Flamme unberührt war einzig der Rand, an den der Balken angelehnt war.

Ein betäubendes und grimmiges Brüllen brach los, obwohl auch etwas wie ein Klagen darin lag, aber … aber der Bär erschien immer noch nicht.

Das Gerücht flog bis zu uns, Sganarel sei ganz versengt worden und hätte sich, die Pfoten fest vor die Augen gedrückt, dicht auf dem Boden in eine Ecke geschmiegt, so daß »man ihn nicht mehr hervorholen könnte«.

Das Pferd mit seinen zerissenen Lippen jagte wieder im Galopp zurück … Alle dachten, es geschehe, um eine neue Ladung Stroh zu holen. Unter den Zuschauern entstand ein unzufriedenes Murmeln: warum hatten die Veranstalter der Jagd nicht vorsorgend daran gedacht, bereits vorher so viel Stroh herbeizuschaffen, daß ein genügender Vorrat zur Hand wäre. Der Onkel ärgerte sich und schrie etwas, das ich vor all dem Lärm, der sich jetzt unter den Leuten erhob, und dem immer stärker schallenden Winseln der Hunde und Knallen der Peitschen nicht vernehmen konnte.

Aber in all dem war doch eine gewisse Stimmung und alles ging auch auf seine Art, denn schon sauste das Pferd von vorhin schnaubend und sich bäumend zur Grube zurück, in der Sganarel lag, nur daß es diesmal kein Stroh mit sich führte: auf dem Schlitten saß diesmal Ferapont.

Der zornige Befehl des Onkels hatte gelautet, Chraposchka solle selber in die Grube steigen, um von dort seinen Freund zur Hetze hinauszuführen …

 

Elftes Kapitel

Und nun war also Ferapont an Ort und Stelle. Er schien sehr aufgeregt zu sein, aber er handelte fest und entschlossen. Ohne sich auch nur im geringsten dem Befehl des Herrn zu widersetzen, nahm er den Strick vom Schlitten, mit dem das vor wenigen Minuten herbeigebrachte Stroh umwickelt gewesen war, und band das eine Ende des Strickes an das obere Ende des Balkens. Den anderen Teil des Strickes nahm Ferapont in die Hand und hielt sich daran fest, als er, die Füße voran, sich jetzt am Balken in die Grube hinunterließ …

Sganarels furchtbares Brüllen verstummte und wurde zu einem dumpfen Knurren.

Es war ganz so, als beklagte sich das Tier bei seinem Freunde darüber, wie grausam die Menschen mit ihm umgegangen; und dann hörte auch das Knurren auf und es entstand eine völlige Stille.

»Er umarmt Chraposchka und schleckt ihn ab!« rief plötzlich einer der Leute, die vor der Grube standen.

Von den Menschen, die ringsum auf den Schlitten saßen, seufzten einige und einige runzelten die Stirn.

Vielen tat der Bär bereits leid und es war augenscheinlich, daß diesen die Hetze wenig Vergnügen versprach. Doch bald schon wurden diese vorübergehenden Empfindungen von einem Ereignis unterbrochen, das noch viel unerwarteter war, und das durchaus den Keim zu neuer Rührung in sich trug.

Aus der Mündung der Grube kam langsam wie aus einer Unterwelt Chraposchkas Lockenkopf mit der runden Jägermütze hervor. Er kletterte genau so nach oben, wie er sich hinabbegeben, das heißt, Ferapont setzte Fuß vor Fuß auf das Brett und zog sich dabei an dem fest angebundenen Strick nach oben. Aber Ferapont kam nicht allein heraus: neben ihm schritt in enger Umarmung mit ihm, die zottige Pratze auf seiner Schulter, Sganarel nach draußen … Der Bär war schlecht gelaunt und gar nicht in verwegener Stimmung. Abgehärmt und entkräftet, und zwar augenscheinlich weniger durch körperliche Leiden, als durch die schwere moralische Erschütterung, erinnerte er sehr an König Lear. Seine blutunterlaufenen zornigen und unwilligen Augen funkelten unter den dichten Brauen. Und genau so, wie bei jenem König Lear, war sein Haar zerzaust und stellenweise versengt und hie und da klebten Strohbüschel darin. Und zu allem Überfluß hatte Sganarel durch einen erstaunlichen Zufall ebenfalls etwas in der Art einer Krone, wie jener unglückselige Gekrönte. Er trug vielleicht aus Liebe zu Ferapont, vielleicht aber auch nur zufällig jene Mütze unter dem Arm, die Ferapont ihm gegeben und mit der er Sganarel damals gezwungenermaßen in das Loch stoßen mußte. Der Bär hatte diese Gabe des Freundes aufbewahrt … und da jetzt sein Herz in der Umarmung des Freundes eine kurze Ruhe fand, zog er sie, kaum daß er wieder auf der Erde stand, sogleich unter dem Arm hervor und setzte die schrecklich verdrückte Mütze sich auf den Scheitel …

Viele lachten über diesen Vorfall, vielen aber war es qualvoll, das mitanzusehen. Und manche beeilten sich, sich abzuwenden, um das Tier, das gleich ein böses Ende nehmen mußte, nicht mehr zu sehen.

 

Zwölftes Kapitel

Während dies vorfiel, heulten die Hunde noch lauter und gebärdeten sich noch toller als zuvor, so daß bereits jede Spur von Unterwürfigkeit verschwunden schien. Sogar die schwere Peitsche hatte ihre nachdrückliche Überredungskraft verloren. Als die Blutegel und die jungen Hunde Sganarel erblickten, richteten sie sich mit heiserem Gebell und Geknurr auf den Hinterbeinen auf und erstickten fast in ihren ledernen Halsbändern; Chraposchka jedoch galoppierte währenddessen bereits wieder auf seinem Schlitten dem Walde zu, wo sein Hinterhalt lag. Sganarel war wiederum allein und zerrte ungeduldig mit der Pfote, um die sich zufällig der von Chraposchka fortgeworfene Strick, der an dem Balken befestigt war, geschlungen hatte. Das Tier wollte ihn schneller entwirren oder abreißen, um dem Freunde nachzueilen, aber die Geschicklichkeit des Bären war trotz seiner Klugheit doch eben nur die eines Bären und so bekam denn Sganarel die Schlinge um seine Tatze nicht auf, sondern zog sie nur immer fester zu.

Als Sganarel sah, daß die Sache nicht so ging, wie er wollte, begann er heftig am Strick zu reißen, um ihn zu zerreißen, aber der Strick war fest und zerriß nicht, und nur der Balken bewegte sich und richtete sich in der Grube auf. Er sah sich um, im gleichen Augenblick aber waren auch schon die ersten Blutegel über ihm und einer von ihnen verbiß sich mit der ganzen Wucht des ersten Anpralls in sein Schulterblatt.

Der Strick hatte Sganarel so völlig in Anspruch genommen, daß er nichts Derartiges erwartet hatte, und darum geriet er zunächst nicht einmal in Wut, sondern schien mehr über die Dreistigkeit in Erstaunen zu geraten; als jedoch nach einer Sekunde der Blutegel losließ, um sich noch tiefer zu verbeißen, holte er gewaltig mit seiner mächtigen Pfote aus und schleuderte ihn mit zerfetztem Bauch weit von sich. Der Schnee wurde von den Eingeweiden, die herausquollen, blutig, den anderen Hund aber zerdrückte im gleichen Moment die Hinterpfote des Bären … Noch unerwarteter jedoch und noch viel schreckhafter war, was inzwischen mit dem Balken geschah. Als Sganarel jene heftige Bewegung mit der Pfote machte, um den Blutegel, der sich in ihn verbissen hatte, loszuwerden, riß er mit der gleichen Bewegung den fest an den Strick gebundenen Balken aus dem Loch, und dieser schwang nun durch die Luft. Der Strick war fest angezogen und der Balken fuhr um Sganarel wie um eine Achse und zeichnete mit seinem einen Ende einen Kreis in den Schnee, doch hatte er schon während seines ersten Umschwunges nicht etwa zwei oder drei, sondern ein ganzes Koppel herbeistürzender Hunde zerschmettert und erlegt. Einige von ihnen winselten und versuchten, sich aus dem Schnee zu graben, die anderen aber lagen nach ihrem Purzelbaum sehr still auf dem Boden.

 

Dreizehntes Kapitel

Entweder war das Tier von so schneller Auffassungsgabe, daß es sogleich begriff, welch eine vortreffliche Waffe ihm hier zur Verfügung stand, oder aber tat ihm der Strick, der seine Pfote umwunden hatte, zu weh, kurz, es heulte dumpf auf, packte den Strick mit der Tatze und ließ den Balken so kreisen, daß er sich in der gleichen Höhe mit der Pfote in horizontaler Richtung ausstreckte und ein Tönen von sich gab, wie nur ein stark wirbelnder, riesenhafter Kreisel zu tönen vermag. Alles, was in sein Bereich geriet, mußte unfehlbar in kleine Trümmer zerschmettert werden. Wenn aber der Strick an irgendeinem Punkt schadhaft war und etwa riß, so mußte der losgerissene, in zentrifugaler Richtung schwingende Balken sicherlich sehr weit, und Gott weiß wohin, fliegen, und auf diesem Fluge ohne Zweifel alles Lebende, das sich ihm in den Weg stellte, vernichten.

Alle Menschen, aber auch die Pferde und die Hunde auf der ganzen Linie und in der Ausdehnung der Kette waren in furchtbarer Gefahr, und natürlich wünschte, der Sicherheit seines Lebens halber, ein jeder von uns, daß der Strick, vermittels dessen Sganarel seine riesenhafte Schleuder kreisen ließ, sich als fest erweisen möchte. Aber welch ein Ende konnte dies alles nehmen? Niemand außer wenigen Jägern und den zwei Schützen, die am Wald in ihren Hinterhalten saßen, verspürte die geringste Lust, darauf zu warten. Das gesamte Publikum, das heißt, alle Gäste sowohl, wie auch die Hausgenossen des Onkels, die in ihrer Eigenschaft als Zuschauer zu dem Vergnügen geladen waren, fand in dem, was hier vorfiel, nicht das kleinste Vergnügen mehr. In panischem Schrecken befahl man den Kutschern so schnell als möglich den gefahrvollen Ort zu verlassen, und gleich darauf fegte, einander überholend und stoßend, alles in entsetzlicher Unordnung zum Hause zurück.

Während dieser übereilten und regellosen Flucht gab es mehrere Zusammenstöße, Schlitten wurden umgeworfen, Gelächter schallte und alle waren mehr oder weniger erschreckt. Denen, die aus den Schlitten gefallen waren, kam es vor, als hätte der Balken sich schon losgerissen und pfeife nun über ihren Köpfen dahin, andere wieder dachten, das wildgewordene Tier jage ihnen nach.

Als die Gäste endlich das Haus erreicht hatten, konnten sie sich wieder beruhigen und von ihrer Angst erholen, die wenigen aber, die an Ort und Stelle der Hetzjagd zurückgeblieben waren, sahen noch etwas anderes und zwar etwas noch weit Schrecklicheres.

 

Vierzehntes Kapitel

Die Hunde noch fernerhin auf Sganarel zu hetzen war ausgeschlossen. Es war offenbar, daß er, bewaffnet mit seinem furchtbaren Balken, der ganzen großen Überzahl der Hunde leicht Herr werden konnte, ohne sich auch nur sehr anzustrengen. Der Bär schritt nämlich, seinen Balken schwingend und selber mit ihm schwingend, gerade auf den Wald los, in welchem der Tod im Hinterhalt auf ihn lauerte, denn hier saßen ja Ferapont und Phlegont, der niemals vorbei schoß.

Eine gutgezielte Kugel konnte alles schnell und sicher erledigen.

Jedoch das Schicksal begünstigte Sganarel in erstaunlichem Maße und wollte, da es sich schon in die Angelegenheiten des Tieres hereingemischt hatte, es scheinbar retten, koste es, was es wolle.

Im gleichen Augenblick nämlich, als Sganarel die Büsche erreicht hatte, hinter denen auf ihren Stützen ruhend, die Mündungen der Kuchenreutherschen Stutzen Chraposchkas und Phlegonts auf ihn gerichtet waren, riß plötzlich der Strick, an dem der Balken immer noch im Kreise schwang … und wie ein Pfeil sich vom Bogen trennt, so flog das Holz in der einen Richtung, der Bär aber, der das Gleichgewicht verloren, stürzte hin und purzelte, sich überschlagend, nach der anderen Seite.

Vor denen, die auf dem Felde zurückgeblieben, stand plötzlich ein neues und sehr lebendiges Bild: das Holz hatte die Gewehrstützen fortgehauen und ebenso die ganze Verkleidung des Verstecks, hinter dem Phlegont saß, war über diesen hinübergesprungen und hatte sich mit dem einen Ende in einer fernen Schneewehe festgebohrt; Sganarel aber war inzwischen nicht müßig gewesen. Nach drei oder vier Purzelbäumen war er ausgerechnet hinter den Schneewall geraten, hinter dem Chraposchka saß …

Sganarel erkannte ihn sofort, blies ihn aus seinem heißen Rachen an und schleckte ihn mit seiner Zunge ab, doch da krachte auch bereits von der anderen Seite, wo Phlegont saß, ein Schuß … und der Bär floh in den Wald, Chraposchka aber … fiel bewußtlos nieder.

Man hob ihn auf und untersuchte ihn: eine Kugel war durch seinen Arm gedrungen, aber man fand in der Wunde auch einige Bärenhaare.

Phlegonts Ruf, der beste Schütze zu sein, war nicht verloren, denn der Schuß aus dem schweren Stutzen war übereilt und ohne Gewehrstütze abgegeben worden, konnte also nicht gezielt werden, wie es sich gehört hätte. Außerdem war es mittlerweile bereits dämmrig geworden und endlich waren der Bär und Chraposchka zu dicht beieinander gewesen …

Unter diesen Umständen konnte man sogar den Fehlschuß als ein sehr bemerkenswertes Ereignis ansehen.

Doch wie dem immer auch sei – Sganarel war fort. Ihm noch am gleichen Abend im dunklen Wald nachzusetzen war ausgeschlossen; bis zum nächsten Morgen aber kam über den Geist jenes, dessen Wille hier für jeden von uns Gesetz war, strahlend eine völlig andere Stimmung.

 

Fünfzehntes Kapitel

Nachdem die unglückselige Jagd, wie geschildert, zu Ende war, kehrte der Onkel nach Hause zurück. Er war zornig und noch barscher als sonst. Und noch bevor er an der Freitreppe vom Pferde stieg, erteilte er schon den Befehl, morgen mit Tagesanbruch die Spur des Tieres aufzusuchen und es einzukreisen, damit es unter keinen Umständen entwischen könnte.

Wäre die Jagd ordnungsgemäß verlaufen, so hätte sie natürlich andere Resultate ergeben müssen.

Man erwartete ferner seine Befehle, was mit dem verwundeten Chraposchka geschehen solle. Alle waren der gleichen Ansicht, daß sich etwas Schreckliches über ihm entladen würde. Denn zum mindesten bestand seine Schuld darin, daß er Sganarel nicht sein Jägermesser in die Brust gejagt hatte, als dieser bei ihm war, und daß er ihn völlig unbeschädigt aus seiner Umarmung ließ. Außerdem bestand ein starker, und wie es scheint, auch begründeter Verdacht, daß Chraposchka mit Absicht so gehandelt hatte, und in der entscheidenden Minute, völlig bewußt, nichts gegen seinen zottigen Freund unternehmen wollte und ihm dadurch zur Freiheit verhalf.

Die jedermann bekannte Freundschaft zwischen Chraposchka und Sganarel lieh diesen Vermutungen eine große Wahrscheinlichkeit.

Und dies war nicht etwa nur die Ansicht all derer, die der Jagd beigewohnt hatten, auch die Gäste waren dieser Meinung.

Wir hörten den Gesprächen der Erwachsenen zu, die sich, als es Abend wurde, im großen Saal versammelt hatten, wo für uns um die Zeit ein reich geschmückter Tannenbaum angezündet wurde, und wir teilten die allgemeinen Ansichten und die allgemeinen Befürchtungen über das Los, das unseren Ferapont erwartete.

Zunächst jedoch flog aus dem Vorzimmer, durch welches der Onkel sich in »seine Hälfte« begeben hatte, das Gerücht zu uns, daß noch keine Anordnungen in bezug auf Chraposchka getroffen worden wären.

»Ob das wohl ein gutes Zeichen ist, oder nicht?« flüsterte jemand, und in der allgemeinen schweren Verstimmung drang dieses Flüstern mächtig in jedes Herz.

Auch der gute Pater Alexéj, ein alter Dorfpriester mit dem Bronzekreuz aus dem Jahre Zwölf, hörte es. Er seufzte nur und entgegnete im gleichen Flüstertone:

»Betet zu Christus, dem Geborenen.«

Bei diesen Worten bekreuzigte er sich, und alle, die im Saale waren, Erwachsene und Kinder, Herren und Diener, alle folgten seinem Beispiel. Es war an der Zeit. Denn kaum waren unsere Hände gesunken, da öffneten sich breit die Flügeltüren und herein trat der Onkel, ein Stöckchen in der Hand. Seine zwei Lieblingswindhunde waren mit ihm und der Kammerdiener Justin. Der letztere trug auf einem silbernen Teller das weiße Taschentuch und die runde Tabatiere mit dem Porträt Pauls des Ersten.

 

Sechzehntes Kapitel

Für den Onkel wurde vor dem Weihnachtsbaum ein Voltairelehnstuhl mitten im Zimmer auf einem kleinen Perserteppich hingestellt. Schweigend nahm er im Lehnstuhl Platz und schweigend nahm er Justin das Taschentuch und die Tabatiere ab. Und sogleich legten sich auch die beiden Hunde zu seinen Füßen nieder und streckten ihre Schnauzen auf den Teppich.

Der Onkel trug einen warmen blauen Seidenrock mit draufgenähten Litzen und reichen weißen Filigranspangen, die zudem mit großen Türkisen besetzt waren. In seiner Hand hielt er einen dünnen aber kräftigen Stock aus natürlichem kaukasischen Vogelkirschholz.

Das Stöckchen erwies ihm jetzt gute Dienste, denn während der aufgeregten Minuten der allgemeinen Flucht hatte auch die glänzend zugerittene »Modedame« nicht ganz ihre Haltung bewahren können – sie war ausgebrochen und hatte das Bein ihres Reiters schmerzhaft an einen Baum gequetscht.

Dem Onkel tat das Bein sehr weh und er hinkte sogar ein wenig.

Dieser Umstand war natürlich nicht danach angetan, gute Gefühle in seinem erbitterten und zornigen Herzen zu erwecken. Und auch das war schlecht, daß wir alle beim Erscheinen des Onkels plötzlich verstummt waren. Wie es meistens bei mißtrauischen Menschen ist, konnte er sowas nicht ausstehen, und darum beeilte sich Pater Alexej, der ihn ausgezeichnet kannte, die Lage, so gut es eben ging, zu verbessern, um nur die drückende Stille zu unterbrechen.

Da wir Kinder ihn gerade in heller Schar umgaben, richtete der Priester die Frage an uns: ob wir wohl den Sinn des Liedes »Christ ist geboren« ganz verstünden? Und da stellte sich heraus, daß nicht nur wir, nein, auch die älteren nicht viel davon wußten. Der Priester begann uns die Worte »lobpreiset«, »rühmet« und »erhebet euch« zu erläutern, und als er zur Bedeutung des letzteren Wortes gekommen war, kam auch über seinen Geist und sein Herz sanft »die Erhebung«. Und er sprach vom heiligen Geschenk, das auch heute wie in »jener Zeit« selbst der Ärmste zur Wiege des »geborenen Kindes« tragen könnte, und zwar noch kühner und würdiger tragen dürfte, als jene Weisen des Altertums ihm ihr Gold, ihr Myrrhen und ihren Weihrauch darbrachten. Unser Geschenk ist unser Herz, geläutert nach seinem Gebot. Der alte Priester sprach von der Liebe, von der Verzeihung und von der Pflicht, Freund und Feind »im Namen Christi« Gutes zu tun … Und mir will scheinen, daß in jener Stunde seine Worte die Kraft der Überzeugung hatten … Wir alle verstanden wohl, worum es ging, und wir lauschten ihm mit einem eigenen Gefühle, als beteten wir, daß seine Worte ihr Ziel erreichen mögen, und vielen von uns waren die Wimpern von guten Tränen naß …

Plötzlich hörten wir etwas fallen … Es war der Stock des Onkels … Man hob ihn auf, aber er rührte ihn nicht an: er saß still und ein wenig auf die Seite geneigt, seine Hand hing über die Lehne des Sessels herab, und er drehte in ihr, wie geistesabwesend, einen großen Türkis von einer Schnalle seines Rocks … Und auch diesen ließ er fallen … diesmal aber … beeilte sich niemand mehr, diesen aufzuheben.

Denn aller Augen hingen an seinem Antlitz. Es geschah etwas Erstaunliches: er weinte!

Still schob der Priester die Kinder von sich und trat zum Onkel und segnete ihn schweigend mit der Hand.

Und er blickte auf und ergriff die Hand des Alten und küßte sie plötzlich vor uns allen und sprach sehr leise:

»Danke.«

Und blickte dann Justin an und hieß ihn, Ferapont rufen.

Der war sehr blaß und trug um den Arm einen Verband.

»Komm her!« befahl ihm der Onkel und wies mit der Hand auf den Teppich.

Chraposchka trat näher und fiel auf die Knie.

»Steh auf … erheb dich!« sagte der Onkel: »Ich verzeihe dir.«

Und wieder warf Chraposchka sich vor ihm auf die Knie. Der Onkel sprach mit nervöser und erregter Stimme weiter:

»Du liebtest das Tier so, wie nicht jeder die Menschen zu lieben versteht. Du hast mich dadurch gerührt und mich an Großmut übertroffen. Ich will dir eine Gnade erweisen: ich schenke dir die Freiheit und hundert Rubel auf den Weg. Du magst gehen, wohin du willst.«

»Ich danke, und ich will nirgendwohin gehen,« rief Chraposchka.

»Was?«

»Nirgendwohin will ich gehen,« wiederholte Ferapont.

»Was willst du denn?«

»Für Ihre Gnade will ich Ihnen aus freien Stücken noch ehrlicher dienen, als aus erzwungener Furcht.«

Die Augen des Onkels begannen zu zwinkern, mit der einen Hand drückte er sein weißes Taschentuch darauf, mit der anderen aber umarmte er, indem er sich vorbeugte, Ferapont … und da wußten wir alle, daß wir aufzustehen hätten, und wir verhüllten unsre Augen … Es war so schön, zu fühlen, daß hier etwas zum Ruhme des höchsten Gotts geschehen war und daß an Stelle der finsteren Furcht nun der Frieden im Namen Christi seinen Wohlgeruch durch den Raum strömen ließ.

Auch im Dorf, wohin die Kessel mit dem Dünnbier gebracht worden waren, spürte man bald eine Wirkung. Lustig flackernde Freudenfeuer wurden angezündet, Heiterkeit herrschte auf allen Gesichtern und scherzend sprach eines zum andern:

»Bei uns ist das neuerdings so, daß auch das Tier sich aufgemacht hat, Christus in der Stille zu preisen.«


Sganarel wurde nicht wieder aufgefunden. Ferapont, der jetzt, wie der Onkel es angeordnet hatte, frei geworden war, trat bald an die Stelle Justins und war dem Onkel nicht nur ein treuer Diener, sondern auch ein treuer Freund bis an sein Lebensende. Mit seinen Händen drückte er dem Onkel die Augen zu und beerdigte ihn in Moskau auf dem Waganjkowskijschen Friedhof, wo auch noch heute sein Denkmal immer noch zu sehen ist. Und dortselbst, zu seinen Füßen, hat Ferapont seinen Ruheplatz gefunden.

Blumen bringt ihnen freilich jetzt keiner mehr, aber in den Schlupfwinkeln und Vorstadtlöchern von Moskau gibt es auch noch heute Leute, die sich gut an den langen alten Herrn mit dem weißen Kopf erinnern, der stets wie durch ein Wunder in Erfahrung zu bringen wußte, wo wirkliches Leid umging, und sich immer zur rechten Zeit einzustellen pflegte, oder zum mindesten seinen wackern Diener mit den etwas hervorstehenden Augen hinschickte und zwar niemals mit leeren Händen.

Diese zwei guten Menschen, von denen man viel erzählen könnte, waren mein Onkel und sein Ferapont, dem der Onkel zum Scherz folgenden Spitznamen gegeben hatte: »Der Bändiger des Tieres«.


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