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Neuntes Kapitel

10. Juli.

Judit und ich verbrachten den festgesetzten Tag miteinander auf dem Lande. Wir kannten eine Haltestelle an einer gewissen Eisenbahnlinie, etwa anderthalb Stunden von der Stadt entfernt. Dort steigt man aus, bestellt sich im Dorfwirtshaus Schinken und Eier und begibt sich hierauf auf eine einsame Wiese mit großen einladenden Heuhaufen und hat dann Gelegenheit, auf waldigen Weiden alle diese Vergnügungen mit dem Rindvieh wiederzukäuen. Judit hat eine wahre Leidenschaft für Schinken, Eier und Heuhaufen. Mein eigenes Entzücken über alle diese Herrlichkeiten wird durch meine philosophische Gemütsruhe etwas gemildert.

Judit trug ein vergißmeinnichtblaues Waschkleid, das ihr zu ihrem blassen Teint gut stand und sah ganz hübsch aus. Als ich ihr das sagte, errötete sie wie ein junges Mädchen, und ich war froh, sie wieder bei guter Laune zu sehen. In den letzten Monaten war ihre Stimmung oft recht wechselnd gewesen, und das hatte die ruhige Oberfläche unsres Zusammenseins des öfteren getrübt. Aber heute zeigte sich auch nicht die Spur von »Temperament«. Sie war ganz die alte liebenswürdige, witzige Judit, wie ich sie von jeher am liebsten hatte, mit einem auf ihre eigene Rechnung hinzugefügten Anflug von Koketterie. Sogar von Carlotta sprach sie in freundlichem Ton. Schon lange habe ich keinen so genußreichen Tag mehr mit Judit verlebt.

Ich glaube nicht, daß sie mir mit Überlegung zu gefallen suchte, was ich ihr auch übelnehmen würde. Es gibt allerdings Frauen, die, nur um einem nichtsahnenden Manne zu gefallen, mit Blasen an den Füßen und einem engelhaften Lächeln auf dem Antlitz stundenlang neben ihm hergehen würden. Aber für so etwas ist Judit viel zu verständig.

Besonders angenehm war mir an diesem unserm Ausflug, daß Judit alle sentimentalen Anspielungen, zu denen sie in letzter Zeit und seit ihrer Rückkehr von Paris in verstärktem Maß geneigt war, vollständig unterließ. Dieser eitle Zeitvertreib, denn das ist es in der Tat, ist durch geistige Interessen verdrängt worden. Einer ihrer besten Freunde ist der Statistiker für Nationalökonomie, Willoughby, der, wenn er guter Laune ist, statistische Aufsätze mit bildlichen Darstellungen für bekannte Zeitschriften schreibt. So hat er zum Beispiel eine Reihe Männer gezeichnet, die die verschiedenen Nationen der Erde vorstellen sollen, Männer, deren Größe und Breite im Verhältnis zur Einwohnerzahl des jeweiligen Landes steht; darüber aber zeichnete Willoughby eine Reihe Schweine, deren Größe dann der Menge Schweinefleisches entspricht, die pro Kopf von den verschiedenen Völkern verzehrt wird. Für die merkwürdig beschaffenen Gemüter, die von Tatsachen leben (ich zum Beispiel könnte mich ebensogut von Eierschalen nähren), ist eine solche Art bildlicher Belehrung ganz besonders anziehend. Judit, die wie die meisten Frauen sowohl körperlich als geistig eine launenhafte Verdauung hat, machte es einen Riesenspaß, als sie erfuhr, wie viele Schweine ein Minister während seines Lebens verzehrt, und ein wie großer Teil der Erdoberfläche mit den in einem Jahr auf den Markt gebrachten Bürsten gescheuert werden könnte. Ich tadle sie darum ebensowenig wie um ihrer Vorliebe für Rettiche willen (die mir unausstehlich ist), und es ist damit durchaus nicht gesagt, daß sie keinen guten Geschmack habe. Im Gegenteil lobe ich sie dafür. Nun ist bei den Leuten, wie es scheint, der Appetit nach diesen gedankensparenden Weisheitspillen – schlecht schmeckende Arznei in Gelatinekapseln, könnte man sie heißen – gegenwärtig so groß, daß Willoughby sich nach einer Hilfskraft umsehen muß. Er hat Judit gebeten, seine Hilfsarbeiterin zu werden, und ich habe ihr heute zugeredet, das Anerbieten anzunehmen. Diese Arbeit ist für die gute Judit wie geschaffen; sie wird ihre Zeit vollauf in Anspruch nehmen und ihre Gedanken von der mir verhaßten Sentimentalität ablenken, und Judit selbst wird dadurch, vorausgesetzt, daß sie mir bei den Mahlzeiten nicht gar zu hartgesottene Tatsachen vorsetzt, zu einer um so angenehmeren Gefährtin.

Nur als ich sie beim Abschied küßte, hatte sie eine kleine sentimentale Anwandlung.

»Das ist der erste, Markus, in zwölf Stunden der erste,« sagte sie, allerdings sehr freundlich, aber doch vorwurfsvoll.

Aber ums Himmels willen, warum sollen sich denn zwei vernünftige Wesen beiderlei Geschlechts, die einen Vergnügungsausflug miteinander machen, immerfort küssen? Wenn doch nur der Apostel Paulus an jener berühmten Stelle, wo er sagt, daß jedes Ding seine Zeit habe, auch das Küssen erwähnt hätte, dann hätte er für alle Zeiten wirklich etwas praktisch Gutes bewirkt.

 

13. Juli.

Seit ich in den Besitz der Familiengüter (was nicht allzu viel heißen will) gekommen bin, habe ich heute nacht zum allerersten Male die durch Armut herbeigeführte Lähmung eines höheren Strebens gefühlt. Wenn ich reich wäre, würde ich die beiden nächsten Häuser kaufen, sie niederreißen und einen vierzig Fuß hohen Turm an deren Stelle bauen lassen. Ganz oben müßte ein durch einen Aufzug erreichbares behagliches Zimmer sein; in dieses Zimmer könnte ich mich dann zurückziehen, so oft es mich gelüstete, und ich wäre da vor allen Überfällen und Unterbrechungen, welcher Art sie auch sein möchten, vollständig sicher. Antoinettes einäugige Katze könnte nicht an der Tür kratzen, Antoinette selbst nicht unter dem Vorwand hauswirtschaftlicher Besprechungen hereinkommen und mich zu einem unnützen Schwatz verlocken, und ich selbst könnte Carlotta Trotz bieten, die nach und nach so zudringlich wird, wie der ganz eigentümliche Geruch der Konservenfabrik von Crosse & Blackwell. Ohne anzuklopfen, tritt Carlotta bei mir ein, betrachtet die Bilder in meinen illustrierten Werken, schlendert im Zimmer umher, raucht meine besten Zigaretten, trällert bald die eine, bald die andre Melodie, die sie von Drehorgeln aufgeschnappt hat, beugt sich über mich, um zu sehen, was ich schreibe, kaut ihre ewigen Bonbons dicht an meinen Ohren und lacht mich aus, wenn ich ihr bedeute, daß sie den Faden meiner Gedanken vollständig abgerissen habe. Natürlich stünde es bei mir, sie hart anzulassen und sie hinauszuwerfen. Aber das vergesse ich meistens, bis ich – leider zu spät – bemerke, welchen Wirrwarr sie in meiner Arbeit angerichtet hat.

Bis jetzt hatte ich freilich gedacht, wenn Fräulein Griggs Carlotta unter ihrer Aufsicht habe und Antoinette mitsamt ihrer Katze durch die Frühstückskartoffeln und -pflaumen in Anspruch genommen sei, dann sei meine Einsamkeit ungefährdet. Aber jetzt sehe ich wohl ein, es gibt keinen andern Ausweg, als den eben genannten Turm. Aber diesen Turm kann ich eben beim besten Willen nicht bauen. So bin ich also von jetzt an der Gnade und Ungnade von allem Katzenartigen und allem Weiblichen, das mit Schwanz oder Rock in meinem Wohnzimmer herumfegen will, rettungslos verfallen.

Ich war mit dem Ordnen meiner Notizen beschäftigt, da kam mir ein glänzender Gedanke über das Leben von François Villon und über den zeitgenössischen Hof von Cosimo de' Medici. Schon war ich im Begriff, diesen Gedanken niederzuschreiben, als Stenson die Tür öffnete und meldete: Mrs. Ordeyne und Miß Ordeyne.

Meine Tante Jessica und Dora traten herein, meine Inspiration aber ging hinaus. Zurückgekommen ist sie seither noch nicht. Die Entschuldigungen meiner Tante und Doras Gewänder füllten das Zimmer. Ich solle den Überfall verzeihen; sie seien sich zwar wohl bewußt, daß sie mich in meiner Arbeit störten, hofften aber, es mache mir nichts aus.

»Ich wollte, Mama solle schreiben, aber sie wollte lieber selbst kommen,« sagte Dora mit ihrer lauten Stimme. Ich murmelte höfliche Gesellschaftslügen und lud die Damen zum Sitzen ein. Dora zog indes vor, stehen zu bleiben und sich mit weiblicher Neugier umzuschauen. Jedes weibliche Wesen scheint in einer Junggesellenwohnung stets den Blaubart zu wittern.

»Nein, was für schöne Zimmer du hast! Und wie viele Bücher! Man sieht ja gar nichts mehr von der Wand!«

Mit diesen Worten trat meine Cousine an die Bücherständer heran, wohl um Entdeckungen zu machen, während meine Tante den Grund ihres Besuchs erklärte. Irgend jemand, ich habe vergessen, wer, hatte ihr seine Jacht angeboten. Nun wollte sie eine Gesellschaft einladen und im Sommer eine Reise nach den norwegischen Fjorden machen. Die Dingsda, die Soundso, Lord Dieser und Fräulein Jene hatten versprochen, mitzugehen, aber sie braucht durchaus noch jemand, der den Hausherrn spielen könnte – ich solle mir nur vorstellen: drei alleinstehende Damen in der Gewalt eines Schiffsführers. Ich stellte mir die Sache vor und beneidete den Schiffsführer nicht. »Ist es da nicht ganz natürlich,« flötete meine Tante, »daß ich mich in meiner Not an dich, das Familienoberhaupt, wende?«

»Ich fürchte nur, liebe Tante, daß meine Bekanntschaft mit Hausherren, die einen Schiffsführer im Zaum halten können, gleich Null ist. Ich weiß dir auch nicht einen einzigen vorzuschlagen.«

»Aber wer hat dich denn gebeten, einen vorzuschlagen?« entgegnete meine Tante lachend. »Du selbst sollst Mitleid mit uns haben.«

»Ich habe – das größte Mitleid,« erwiderte ich, »denn bei stürmischer See werdet ihr alle schrecklich seekrank werden.«

In diesem Augenblick verließ Dora den Bücherständer, den sie eben untersucht hatte, und trat rasch näher.

»Ich möchte ihn schütteln!« rief sie. »Er tut nur so, als ob er dich nicht begriffe. Ich weiß wirklich nicht, was wir machen sollen, wenn er nicht mitgeht.«

»Du kannst es uns nicht abschlagen, Markus. Es wird eine ideale Fahrt werden – die Jacht ist prächtig eingerichtet – und die tiefblauen Fjorde – und wir haben einen französischen Küchenchef. Du würdest uns wirklich einen großen Gefallen tun.«

»Komm, sage ja!« bat Dora.

Wenn das Mädchen doch keine so stürmische Juno wäre. Mit großen, handfesten Damen, die überdies eine laute Stimme haben, ist nicht leicht fertig zu werden. Meiner Tante dagegen, die ich mit Worten aus dem Konzept bringe, kann ich die Stange halten. Aber Dora versteht meine Satire nicht. Sie sagt mit lautem, kräftigem Lachen: »Ach Quatsch!« und damit zerschmettert sie mir die geistige Rüstung.

»Es ist außerordentlich freundlich von euch, an mich zu denken,« sagte ich zu meiner Tante. »Auch ist der Vorschlag sehr verlockend – die Aussicht höchst anziehend – aber –«

»Aber was?«

»Ich habe so viele Verpflichtungen,« antwortete ich zaghaft.

Da stand meine Tante Jessica auf, lächelte mich nachsichtig an, wie wenn ich ein verwöhnter kleiner Junge wäre, und führte mich auf den Balkon, während sich Dora sittsam zu den Bücherständern im nächsten Zimmer zurückzog.

»Kannst du diese Verpflichtungen nicht rückgängig machen? Die arme Dora wäre untröstlich.«

Einen Augenblick starrte ich meine Tante und dann Doras breiten Rücken und ihre derben Hüften an. Untröstlich? Ich begreife nicht, wohin die gute Frau zielte. Wenn sie eine ordinäre Person wäre, die sich in die Gesellschaft eindrängen wollte, und dazu die Baronswürde in der Familie nötig hätte, könnte ich ihren Eifer, mich als ihren Adlatus vorzustellen, begreifen. Aber in ihrem Salon sind Leute mit Titel und Würden so gewöhnlich wie Teetassen. Und Doras Untröstlichkeit –

»Wenn ich dabei wäre, würde ich sie zu Tod langweilen,« sagte ich endlich.

»Sie ist bereit, es daraufhin zu wagen.«

»Aber warum sollte sie ein Martyrium auf sich nehmen wollen?«

»Es ist noch ein andrer Grund da,« sagte meine Tante, die meine treffende Bemerkung nicht beachtete, sondern mir im Gegenteil einen ermunternden Blick zuwarf. »Ja, es ist noch ein andrer Grund vorhanden, der es wünschenswert für dich macht, daß du an dieser Seereise teilnimmst.« Und leise fuhr sie fort: »Vorige Woche bist du im Park mit Fräulein Gascoigne zusammengetroffen.«

»Eine sehr liebenswürdige und nette junge Dame,« warf ich ein.

»Ich fürchte, du bist ein bißchen taktlos gewesen. Die Leute tuscheln über dich.«

»Dann sind die Leute taktlos, nicht ich.«

»Aber mein lieber Markus, wenn du ein hübsches junges Mädchen als dein muhammedanisches Mündel vorstellst, es in die Londoner Gesellschaft einführst, und dieses Mädchen dann eine öffentliche Szene macht – nun – von was sonst sollten denn die Leute reden?«

»Sie könnten sich über die Prädestinationslehre oder über die Preise des Fischmarkts unterhalten,« warf ich höflich ein.

»Aber ich versichere dir, Markus, man spielte sogar auf einen Skandal an. Es wurde tatsächlich behauptet, das Mädchen wohne hier bei dir.«

»Ach, was wird nicht alles behauptet, Wahres und Falsches!«

Darin stimmte mir meine Tante mit einem Seufzer bei, und eine Zeitlang unterhielten wir uns über die Schlechtigkeit der menschlichen Natur. Aber dann sagte sie: »Ich dachte, wenn du dein Mündel zu uns brächtest und sie uns nach Norwegen begleitete, wäre dem Skandal die Spitze abgebrochen.«

Sie sah mich bei diesen Worten scharf an, und trotz ihres freundlichen Lächelns erkannte ich die Härte des alten Haudegens. Die Falle, in die sie mich locken wollte, war wirklich klug gestellt.

Ich ergriff ihre Hand, und mit vollendet vornehmer Haltung – gerade wie der verbannte Vicomte im Liebhabertheater – beugte ich mich vor und küßte ihr die Fingerspitzen.

»Teuerste Tante, ich danke dir von ganzem Herzen für deinen hochherzigen Glauben an meine Rechtschaffenheit und versichere dir, daß dein Vertrauen wohl begründet ist!«

Ein lautes, lustiges Lachen aus dem andern Zimmer unterbrach mich.

»Ihr beide haltet dort wohl eine Probe für eine Liebhaberaufführung!« rief Dora. Da ich eine uralte Studentenjoppe und gelbe maurische, vor Jahren in Tanger gekaufte Pantoffeln anhatte, und da mein Haar, dank meiner Gewohnheit, während der Arbeit mit den Fingern hindurchzufahren, kerzengerade in die Höhe stand, mag meine Erscheinung einem Zuschauer vielleicht nicht ganz so vornehm erschienen sein, wie ich mir eingebildet hatte. Doras Worte gaben mir übrigens Gelegenheit, meine Tante vom Balkon ins Zimmer hineinzukomplimentieren, wo Dora sich zu uns gesellte.

»Nun, hat Mutter gewonnen?«

»Liebe Dora,« sagte ich höflich, »wie kannst du nur denken, daß es sich hier um eine Überredung handeln könnte?«

»Das kann auf zweierlei Art aufgefaßt werden!« rief Dora. »Gerade wie Palmerstons: ›Lieber Herr, ich werde keine Zeit verlieren, Ihr Buch zu lesen‹.«

Dora ist ein Affe.

»Verzeih, daß mich mein pedantisches historisches Gewissen zwingt, dich zu berichtigen: Es war nämlich Lord Beaconsfield.«

»Nun, dann hatte er es von Palmerston,« beharrte Dora.

»Kinder, zankt euch nicht,« mischte sich meine Tante ein in jenem zärtlichen mütterlichen Ton, der mir so besonders zuwider ist. »Markus wird sich überlegen, wie er sich mit seinen Verpflichtungen abfinden kann, und uns seinen Entschluß in ein paar Tagen kundtun.«

»Wann wollt ihr denn abreisen?« fragte ich.

»Sehr bald. Schon am zwanzigsten.«

»Ich werde euch meinen Entschluß rechtzeitig mitteilen.«

Als ich meine Besuche die Treppe hinuntergeleitete, hörte ich, daß am Ende des Ganges eine Tür geöffnet wurde. Mich umwendend sah ich Carlottas hübschen Kopf mit fest auf die Fremden gerichtetem Blick über dem Geländer auftauchen. Mit einer strengen Gebärde wies ich Carlotta zurück, und die beiden Damen verließen ahnungslos das Haus. Das Rollen ihres davonfahrenden Wagens klang mir wie Musik in den Ohren.

In demselben Augenblick stürzte Carlotta, Miß Griggs mit abwehrend erhobenen Händen hinter sich, aus ihrem Zimmer heraus.

»Wer diese eleganten Damen?« rief sie, mir eifrig die Hand auf den Arm legend.

»Wer sind diese eleganten Damen,« verbesserte ich sie.

»Wer sind diese eleganten Damen?« wiederholte Carlotta wie ein folgsamer Papagei.

»Freundinnen von mir.«

Dann kam die ewige Frage: »Ist sie verheiratet, die junge?«

»Fräulein Griggs,« sagte ich, »wollen Sie so gut sein und Carlotta klarmachen, daß eine junge englische Dame überhaupt nicht ans Heiraten denkt, bis sie richtig verlobt ist, und dann gehen ihre Gedanken nie weiter als bis zur Hochzeit.«

»Aber ist sie?« beharrte Carlotta.

»Wollte Gott, sie wäre es!« entfuhr es mir unvorsichtigerweise mit einem kurzen Auflachen. »Denn dann käme sie nicht am hellen Vormittag und hielte mich von der Arbeit ab.«

»O, sie will dich heiraten?« forschte Carlotta.

»Fräulein Griggs,« sagte ich, »Carlotta soll jetzt wieder an ihre Studien gehen.«

Damit ging ich die Treppe hinauf und seufzte nach dem schönen Turm mit dem Aufzug außen dran.

 

14. Juli.

Gegen neun Uhr kam Pasquale, als Carlotta und ich eben ein Kartenspiel machten.

Pasquale ist ein Zugvogel ohne festen Wohnsitz. Vor einigen Wochen gab er seine Zimmer in St. James auf und zog zu einem seiner Freunde, einem Schauspieler und Strohwitwer, der hier in der Nähe in St. John's Wood-Road ein Haus hat. Warum Pasquale, der sich am liebsten im Strudel des Lebens herumtreibt, in diesem halb ländlichen Bezirk verbauern will, ist mir unverständlich. Er behauptet, er könne in St. John's Wood besser denken! Ebensogut könnte ein Salm erklären, er könne in einem Teich besser singen! Die erste Folge unsrer Nachbarschaft ist übrigens die gewesen, daß er in letzter Zeit auf dem Heimweg öfters bei uns einkehrte und überdies meistens noch später als heute.

»O bitte, bleiben Sie ruhig sitzen und zerstören Sie das Bild nicht!« rief er. »Welch ein idyllisches Paar! Und was spielen Sie? Cribbage! Wenn ich hätte erraten sollen, welches Spiel Sie zur Unterhaltung nach dem Essen gewählt haben, so hätte ich auf Cribbage geschworen.«

»Es ist ein sehr hübsches Spiel,« sagte ich »und Cribbage ist überdies das einzige Spiel, das ich kann.« Karten sind mir nämlich zum Sterben langweilig. Das Schachspiel ebenso. Die Leute nennen ein solches Spiel einen geistigen Zeitvertreib, aber ich meine, wenn jemand Geistesgymnastik treiben möchte, dann gäbe es genug Probleme in dieser komplizierten Welt, mit deren Lösung er sich den Kopf zerbrechen könnte, und sicher mit mehr Nutzen für sich selber und für die Welt. Und was den Zeitvertreib anbelangt – da behaupte ich, wenn sich zwei oder auch mehr gescheite Leute hinsetzen und Karten spielen, so ist das eine Beleidigung für ihre Unterhaltungsgabe. Doch diese Bemerkungen stehen in keinem Zusammenhang mit unserm Spiel, denn Carlotta ist ein Kind und braucht Unterhaltung. Cribbage hat sie mit erstaunlicher Schnelligkeit gelernt, und obgleich wir heute erst zum dritten Male spielten, als Pasquale kam, war sie auf dem Punkt, es mir zuvorzutun.

Ich wiederholte meine Bemerkung, Cribbage sei wirklich ein vorzügliches Spiel.

»Freilich, freilich!« rief Pasquale lachend. »Sogar ein altehrwürdiger Zeitvertreib. Philemon und Baucis haben es die letzten tausend Jahren tagtäglich gespielt. Spielen Sie nur weiter.«

Aber Carlotta warf ihre Karten auf den Tisch, setzte sich aufs Sofa und sagte, sie wolle lieber Pasquale zuhören. »Er sagt so komische Sachen!« rief sie.

Dann sprang sie vom Sofa auf und reichte ihm die Schachtel Schokolade, die stets in ihrer Nähe ist. Wie geschmeidig doch ihre Bewegungen sind!

»Pasquale sagt, du seiest sein Schulmeister gewesen und habest ihn manchmal mit einem dicken Stock geschlagen,« begann sie, sich mir zuwendend, während Pasquale sich einen Schokoladebonbon aussuchte.

Er war bei seiner Wahl täppisch, so daß die Schachtel Carlotta aus der Hand glitt, und der Inhalt auf dem Boden umherrollte. Auf Händen und Knieen lasen die beiden, unter viel Lachen und Flüstern, die Bonbons wieder auf.

Sonderbar, ich kann mich gar nicht erinnern, daß Pasquale je in Carlottas Gegenwart unsre gemeinsame Vergangenheit erwähnt hätte. Es lag mir auf der Zunge, zu fragen, wann er eigentlich diese Lügen erzählt habe – denn in jener Schule hatten die Hilfslehrer gar nicht das Recht, den Stock zu gebrauchen, und als ich mein Amt dort antrat, war Pasquale schon in den oberen Klassen und dadurch keiner körperlichen Züchtigung mehr unterworfen. Aber als beide, von dem Umherkriechen unter dem Tisch erhitzt, aufstanden und Pasquale eine lustige Bemerkung machte, kam mir die Frage wieder aus dem Sinn.

Dies alles ist freilich nicht von Belang. Das Hauptereignis des heutigen mit Pasquale verbrachten Abends ist eine Entdeckung.

Ist es auch wirklich eine Entdeckung? Oder ist es nicht vielmehr das Werk des kalten Verstandes, der nach stichhaltigen Beweggründen sucht?

»Ein Wickelkind hätte das durchschaut,« sagte Pasquale. »Weiß Gott, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, ginge ich mit auf die Jacht! Ich würde jedem weiblichen Wesen unverschämt den Hof machen, wie jener Herr in dem Lustspiel von Wicherly; ich würde mir ein Album anlegen für die mir geschenkten Haarlocken und würde alle die Damen hintereinander hetzen, bis sie sich wie Gift haßten, und am Schluß der Reise würde ich meine Verlobung mit Carlotta verkünden. Wenn dann alle zur Hochzeit kämen, würde ich das Album mit den Haarlocken als Hochzeitsgeschenk ›vom Bräutigam an die Braut‹ auf den am meisten in die Augen fallenden Platz im Zimmer legen. Zum Kuckuck, ich wollte der ganzen Bande ihre Lust für die Männerjagd schon vertreiben!«

Wenn ich nur wüßte, warum ich Pasquale etwas von der beabsichtigten Seereise gesagt habe! Wir saßen am offenen Fenster, lange nachdem Carlotta zu Bett geschickt worden war, und sahen den Vollmond über die Baumwipfel im Park hingleiten; jene auf die Sinne wirkende Luft einer warmen Sommernacht, die Geist und Körper in eine weiche, matte Stimmung versetzt, umgab uns. In einer solchen Nacht macht ein junger Lorenzo, wenn er zufällig seine Jessica neben sich hat, sich selbst zum Narren und verpfuscht sich dadurch sein ganzes Leben; und in einer solchen Nacht begeht ein zurückhaltender, verschlossener Philosoph die Torheit, seine Privatangelegenheiten mit einem Sebastian Pasquale zu besprechen.

Aber wenn er mit seinen Vermutungen recht hat, bin ich den erschlaffenden Einflüssen der Nacht sehr zu Dank verpflichtet. Ich bin vor den Gefahren, die mich umgeben, gewarnt worden, Gefahren, die meinen so klug ausgedachten, unbesteigbaren Turm dort in der Ecke des Regent's-Parks in seinen Grundfesten erschüttern und ihn zugänglich machen würden. Eine Frau mit Heiratsabsichten wäre imstande, sich den Zutritt zu meinem Turmfenster per Luftballon zu erzwingen. Hat nicht meine Tante Jessica die Absicht, mich in theatralischer Weise auf einer Jacht zu entführen?

»Ist er erst auf dem Seeräuberboot, dann ist er der unsre!« ruft sie.

Aber der Mann geht nicht auf das Seeräuberboot. Er bleibt auf dem Land – so weit vom Ufer entfernt als nur möglich. Auch läßt er sich nicht dazu verlocken, zum Beweis seines wahren Glaubens und seiner unbefleckten Sitten sein reizendes muhammedanisches Mündel mitzubringen. Meine lieben Verwandten mögen Carlotta für ein muhammedanisches Mündel, eine Huri oder eine babylonische Prinzessin halten, ganz wie sie wollen!

Pasquale wird wohl recht haben. Hunderterlei Kleinigkeiten, an die ich mich jetzt erinnere, beweisen es. Es fällt mir ein, daß auch Judit mich schon wegen meines schlechten Merks verspottet hat. Der einzige Zweck aller der Manöver meiner Tante Jessica ist, mich mit Dora zu verkuppeln! Und Dora? Ja ja: »Barkis ist willig«! Ich, Dora heiraten! Wenn ich nur daran denke, bricht mir der kalte Schweiß aus, als hätte ich ein Fiebermittel eingenommen! Sie würde den ganzen Tag lang auf meinen angegriffenen Nervensträngen spielen, und überdies falsch! In einem Monat wäre ich ein kompletter Narr. Da würde ich noch viel lieber Carlotta heiraten. Denn Carlotta ist wenigstens Natur – Dora dagegen nicht einmal Kunst. Aber, bei allen Heiligen, warum sollte ich Dora heiraten? Und warum – ausgenommen um Lady Ordeyne zu heißen – sollte sie mich heiraten wollen? Ich habe nicht mit ihren jungfräulichen Gefühlen gespielt, und daß sie eine plötzlich aufgeschossene romantische Leidenschaft für mich hegen sollte, kann ich einfach nicht glauben. Meinetwegen mag sie so untröstlich sein wie Kalypso. Das wird ihr gut tun. Sie könnte ja eine kleine Novelle darüber in »die Sirene« schreiben.

Ich bin empört! Trotz ihres lauten Wesens, trotz ihrer strotzenden Gesundheit und trotz ihrer oberflächlichen Kenntnisse habe ich Dora bis jetzt für ein gutes Mädchen gehalten.

Aber gehen gute Mädchen auf die Männerjagd?

Gott erbarme sich! Darüber könnte man in der sauren Gurkenzeit einen Artikel in den »Daily Telegraph« schreiben!


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