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Außerhalb des Dorfes nach der Heide zu liegt an dem Moorbache ein Eichenhain. Ein halbes Hundert grauer Bauwerke erhebt sich dort, halb versteckt von dem breiten Astwerk der alten Eichen. Es sind die Schafställe und Scheunen der Bauern, kunstlose, strohgedeckte Fachwerkbauten, deren Wände graues Flechtenwerk und gelber Lehmbewurf bildet und deren Grundbalken auf dicken Findlingsblöcken liegen.
Dort wohnt auch der Schäfer. Eine mächtige Mauer aus Ortsteinblöcken, von Moos übersponnen und von Engelsüß und Glockenblumen und Efeu überwuchert, hinter der sich ein gewaltiger, von Wacholder, Holunder, Stechpalmen und Schlehen bewachsener Hagen erhebt, grenzt das Wohnwesen gegen die Stallungen ab. Allerlei Getier haust hier; in den Strohdächern brüten Rotschwanz und Ackermännchen, auch ein paar Schleiereulen und ein paar Käuzchen hausen dort, unter den Scheunen haben es Spitzmaus und Waldmaus gut, Kröte und Ringelnatter und nicht minder Wiesel und Iltis. Auch Igel sind hier immer anzutreffen.
Der Schäfer läßt sie gewähren. Sie mögen ihm wohl ab und zu ein Ei oder ein Küken fortnehmen, dafür halten sie aber auch die Mäuse kurz. So treiben sie denn ungescheut schon am späten Nachmittage im Garten oder auf dem Hofe oder unter den Eichen ihr Wesen, und Wasser und Lord, die beiden alten Hunde des Schafmeisters, kümmern sich nicht mehr um sie; nur Widu, der junge Hund, ist noch etwas albern und quält sich dann und wann ein Viertelstündchen mit einem Igel ab, um schließlich mit zerstochener Nase das Spiel aufzugeben. Auch heute hat er das so getrieben und hat sich endlich ärgerlich und müde vor den Herd gelegt, wo er schläft und im Traume das Stacheltier weiter verbellt.
Der Igel hat noch eine volle Viertelstunde zusammengekugelt dagelegen, dann hat er sich aufgerollt und ist in das Gestrüpp des Hagens gekrochen. Er hatte vor, im Garten Schnecken zu suchen, aber der dumme Hund brachte ihn davon ab. Und nun krabbelt er in dem alten Laube herum, scharrt in dem Mulm und verzehrt laut schmatzend bald einen Regenwurm, bald eine Schnecke, dann eine Assel und nun eine dicke Spinne. Und jetzt geht es wie ein Ruck durch ihn; er hat junge Mäuse pfeifen gehört. Ein Weilchen noch verharrt er in seiner aufmerksamen Haltung, dann schleicht er vorwärts, macht einen kleinen Satz und stößt seine Nase in einen Knäuel fahlen Grases, der zwischen den Ortssteinen der Hofmauer steckt. Sechsmal stößt er zu, und jedesmal erklingt ein dünner, schriller Todesschrei. Dann langt er sich die jungen Mäuschen heraus und schmatzt sie hastig auf.
Ein Weilchen schnüffelt er noch an dem Mauseneste herum, dann trippelt er weiter, ab und zu fauchend oder stehenbleibend und sich mit Krallen oder Zähnen heftig da juckend, wo die Flöhe und Holzböcke ihn am meisten zwicken. Bald langsam, bald eilig begibt er sich nach dem Eichenhain. Dort gibt es immer allerlei im Grase, ein Taufröschchen oder eine fette Raupe, ein Mäuschen oder auch einmal einen jungen Vogel, der aus dem Neste fiel. Brrr, macht es laut, und ein dickes, braunes Ding stößt mit hartem Anprall an die blutende Eiche. Es ist ein Hirschkäfer. Er hat gefunden, was er suchte. Gierig steckt er die goldgelbe Pinselzunge in den gärenden Saft. Da raschelt es hinter ihm. Wütend dreht er sich um und spreizt die scharfbewehrten Zangen. Aber schon hat der Igel ihn gefaßt, ihm den Leib abgerissen, und während der Kopf des Käfers im Grase liegt und er mechanisch die Zangen öffnet und schließt, knabbert der Igel den dicken Hinterleib vollends auf. Dann jagt er unter den Schafställen weiter und sucht einen nach dem andern ab.
Viel ist heute da nicht zu finden. Einige Spinnen, etliche Käfer, auch ein gutgenährten Regenwurm, das ist alles. Es ist zu trocken gewesen den Tag über, die Junisonne hat es reichlich gut gemeint, und der Wind ging scharf; das gibt schlechte Jagd. So schiebt denn der Stachelrock nach dem Bache zu; vielleicht, daß sich dort die Jagd besser lohnt. Unterwegs dreht er jedes Blatt um und scharrt jeden Grasbusch auseinander, immer prüfend und schnaufend und seine Nase in das Moos und in die Blätter bohrend und ab und zu sitzenbleibend, um irgendein kleines Tier zu verzehren. Einmal bleibt er lange sitzen; er hat eine alte Maus pfeifen gehört, und vorsichtig pirscht er sich näher. Jetzt hört er sie dicht bei sich vorüberhuschen. Gleich wird sie wieder zurückkommen, und dann hat er sie. Aber gerade wie er zufahren will, löst sich ein grauer Schatten von der Wagenleiter, die Maus quiekt auf, und das Käuzchen streicht, sie in den dolchbewehrten Fängen haltend, auf die hölzernen Pferdeköpfe des Stalles, und der Igel hat das Nachsehen.
Mürrisch begibt er sich weiter. Ein Kiefernschwärmer, der am Nachmittage die Puppe verlassen hatte und sich, nachdem er seine Schwingen fertig gereckt hat, nun zum ersten Fluge rüstet, verschwindet unter den spitzen Zähnen. Ihm folgt eine Ackerschnecke; von der dicken schwarzen Schnecke, auf die der Igel stößt, wendet er sich aber mit Ekel ab. Sie riecht abscheulich und schmeckt scheußlich. Aber das laute, rollende Flöten da in dem anmoorigen Sande am Bachufer, das lockt ihn. Ein schnelles Getrippel, ein fester Stoß, und schon ist die Maulwurfsgrille erledigt. Weiter geht es am Bachufer entlang. Halt, hier hebt sich die Erde. Etwa ein Maulwurf? Das wäre kein schlechter Fang. Oder gar eine Wühlmaus? Das wäre noch besser. Ganz vorsichtig schiebt er sich voran. Lange muß er lauern, ehe die Erde sich wieder rührt, aber schließlich kann er zufahren. Er stieß zu kurz. Mit jähem Ruck wirft sich die schwarze Erdwühlerin in den Bach, daß es plumpst, und nach einer langen Besinnungspause wendet sich der Igel wieder den Eichen zu.
Hier ein Mistkäfer, da eine Raupe, dort ein Brachkäfer und daneben ein Regenwurm, das wird so nebenbei alles mitgenommen. Aber was ist das da, was sich da im Grase fortschiebt? Der Igel sträubt die Kopfstacheln, steckt die Nase vor, rollt sich halb auf und trippelt so auf die Beute los. Jetzt ist er bei ihr. Zß, geht es, und einmal, zweimal, dreimal fährt die halbwüchsige Kreuzotter gegen seinen Stachelpanzer. Ein viertes Mal noch, dann aber nicht mehr. Er hat sie überrannt, hat sie mit den Kopfstacheln an den Boden gequetscht, hat mit den Zähnen ihren Hinterkopf gefaßt, und während sich ihr Leib in wilden Kreisen dreht, zerkaut er erst den Kopf und schmatzt ihn hinunter und läßt den Leib hinterdrein wandern. Nach einem Viertelstündchen verschwindet auch die äußerste Schwanzspitze, die sich immer noch windet, in seinem Rachen.
Vorläufig ist er nun satt. Spaßeshalber faßt er noch einen großen Taufrosch, der ihm dicht vor die Nase hüpft, an das Hinterbein, aber gerade als der arme Frosch seinen schrillen Todesschrei hören läßt, gibt ihn sein Bezwinger frei, und der Frosch springt in gewaltigen, ungeschickten Sätzen ab. Ganz furchtbar eilig trippelt der Igel nach dem Weißdornbusch hin, der sich neben einem der Schafställe spreizt. Der leise Luftzug weht ihm von da eine Kunde zu, die ihn ungestüm vorwärts treibt. Ohne eine Pause zu machen, trippelt er in schnurgerader Richtung weiter, und gerade als die Dorfuhr ausholt, um die zehnte Stunde zu verkünden, gerade als des Nachtwächters Horn hohl an zu heulen fängt, langt der Igel vor dem Busche an.
Da ist noch ein Igel, ein dicker, großer Igel, der eben einen langen dicken Tauwurm hübsch langsam aus seiner Erdröhre herauszieht. Wie besessen stürzt der erste Igel auf ihn zu. Blitzschnell wendet der andere sich um und beißt nach ihm. Verdutzt bleibt der erste sitzen, dann nähert er sich wieder dem anderen. Wieder setzt es einen Hieb, wieder gibt es eine Verlegenheitspause, und so zehnmal und noch zehnmal. Und dann schlägt der erste Igel eine neue Taktik ein. Schnaufend und fauchend trippelt er um den anderen und versucht, sich ihm von hinten zu nähern, dieser aber dreht sich schnaufend und fauchend fortwährend im Kreise herum und wehrt jeden Annäherungsversuch mit einem blitzschnellen Bisse ab. Schließlich sitzen sie sich beide gegenüber, daß ihre Schnauzen sich fast berühren, und verschnaufen, der Igel überlegend, wie er sich wohl beliebt machen könne, die Igelin immer zur Abwehr bereit.
Bisher war der Igel immer von rechts nach links um seine Auserkorene herumgetrippelt; jetzt versuchte er es in der umgekehrten Richtung. So muß auch die Igelin von links nach rechts sich im Kreise drehen. Wenn er sie zehn- oder zwölfmal umkreist hat, wird er plump vertraulich. Dann setzt es von ihr aus einen Schmiß. Verdutzt bleibt er dann sitzen und überlegt den Fall, und sie bleibt auch sitzen. Sie sehen sich mit ihren kleinen schwarzen Augen an, Nase an Nase, bis er wieder Mut bekommt und von neuem um sie herumtrippelt, jetzt von links nach rechts, nach dem nächsten Hiebe von rechts nach links, dann wieder umgekehrt und so weiter.
Elf Uhr schlägt die Turmuhr; elfmal heult des Wächters Horn. Immer noch murksen und fauchen die beiden stachligen Liebesleute umeinander herum. Es wird Mitternacht; das sonderbare Karussell ist noch immer im Gange. Es schlägt ein Uhr; er ist noch immer nicht müde, sie zu umwerben, und ihre Sprödigkeit hält immer noch an. Es schlägt zwei Uhr; noch immer trippelt er fauchend und pustend um sie herum, bald von rechts, bald von links, und nach jedem Hiebe, den sie ihm versetzt, hält er inne und überlegt, ob es nicht besser sei, ihr von der anderen Seite zu nahen. Eine halbe Stunde bleibt der Jagdaufseher bei dem Paare stehen und lacht und schüttelt den Kopf, bis die Helligkeit im Osten ihm sagt, daß es Zeit für ihn werde, nach dem Moore zu gehen. Schon singt der Rotschwanz von dem Dachfirst, die Schleiereule sucht ihr Loch am Giebel, der Igel und die Igelin tanzen immer noch ihren sonderbaren Reigen; erst als die Amsel zeternd zur Regenwurmsuche ausfliegt, verschwindet sie unter dem Stalle, und er folgt ihr nach. Als der Schäfer die Schafe ausläßt, hört er unter dem Estrich das Gefauche und Geschnaube und ruft dem jungen Hunde zu: »Widu, bring sie zur Ruhe!« Aber Widu mag nicht; er hat von gestern genug.
Der Juni geht hin und der Juli auch. Als die Frau des Schäfers den Komposthaufen auseinanderstößt, findet sie in einem Haufen welken Grases fünf kleine, rosige, weißstachelige Dingerchen neben der alten Igelin liegen. Nachmittags will sie sie ihrem Manne zeigen, aber sie sind nicht mehr zu finden. Die Igelin hat ihre Jungen verschleppt. Unter dem alten Schlehbusche hat sie ihnen ein neues Nest gekratzt und sie warm zugedeckt. Da säugt sie sie tagsüber, aber nachts treibt sie sich im Garten umher und frißt sich an Schnecken und Würmern dick, scharrt Mäusenester aus und fängt junge Frösche, schont auch die junge Brut der Rotkehlchen, trotz des Gezeters der Alten, nicht und nimmt auch die junge Amsel mit, die ihr in den Weg tolpatscht, wie sie denn auch mit den nackten Wieselchen, die sie aufstöbert, nicht viel Federlesens macht. Sogar die große Wanderratte, die sich in dem Schlageisen gefangen hatte, muß daran glauben; trotz ihres Strampelns und Quietschens wird sie totgebissen und bis auf Kopf, Fell und Schwanz aufgefressen.
Nach vier Wochen führt die Igelin ihre fünf Kleinen aus. Eines Abends, als der Schäfer vor der Türe sitzt und seine Pfeife raucht, raschelt es hinter dem Brennholze, und da kommt erst schnaubend und prustend die Igelin angetrippelt, und hinter ihr wackeln die fünf Kleinen. Der Schäfer ist ein ernster Mann und lacht selten; heute aber muß er doch lachen, denn es sieht zu putzig aus, wie die kleinen Dinger hinter der Alten herbummeln, überall kratzen und scharren und ihre Nasen in alle Löcher am Boden stecken oder hastig hinrennen, wenn die Mutter einen tüchtigen Wurm bloßgescharrt hat und ihn sich von den Kleinen fortnehmen läßt. Seit der Zeit ist es für den Schäfer und seine Frau ein Hauptvergnügen, den Igeln zuzusehen; und damit sie nicht gestört werden, wird Widu jeden Abend angelegt. Auch allerlei Eßbares legt der Mann den Igeln hin; Butterbrot verschmähten sie, aber frisches Fleisch nahmen sie gern und auch kleine Fische, die der Schäfer für die Hechtangeln gefangen hatte. Als der Schäfer sah, daß die Igelin sich immer so viel kratzte, fing er sie, und als er fand, daß sie voll Ungeziefer saß, salbte er sie mit der Schmiere, mit der er seinen Schafen das Ungeziefer vertrieb. Seitdem gab sie das Kratzen auf.
Mittlerweile wurden die kleinen Igel immer größer, hielten auch nicht mehr zu der Alten, sondern gingen ihre eigenen Wege, und wenn sie der Alten begegneten, wurden sie von ihr weggebissen. So wanderten sie denn aus; der eine in die Heidberge, der andere in die Eichen, der dritte in den Wiesenbusch, noch einer in das Dorf und der letzte nach dem Immenzaun; und wenn der Schäfer einen von ihnen antraf, denn er kannte sie sogleich wieder, weil er ihnen allen, dem einen am Kopfe, dem andern hier oder da am Rücken, ein Büschelchen Stacheln abgeschoren hatte, dann zeigte er sie den Leuten und sagte: »Das ist einer von meinem Hofe.« Bis in den Herbst hinein sah er bald hier, bald da einen von seinen Igeln, und sogar im Februar, als nach einem leichten Schnee die Sonne schön warm schien, traf er die alte Igelin am hellen Nachmittage vor der großen Hecke am Immenzaun und nahm sie mit und setzte sie in den Schafstall, und als im März die Sonne die Oberhand bekam, traf er fast jeden Abend einen Igel an im Garten, auf dem Hofe oder unter den Eichen und hatte sein Vergnügen an ihnen.
Eines Tages aber kam eine Zigeunerbande zugewandert, und der Vorsteher wies ihnen die Heide bei den Eichen als Lagerstätte an. Während die Männer sich überall herumtrieben und die Weibsleute wahrsagen gingen, zogen die Jungens auf die Igeljagd. Sie hatten Stöcke, an denen oben ein langer, dicker, spitzgefeilter Draht befestigt war, und damit stachen sie in alle Laubhaufen, Hecken und unter die Schafställe. Ab und zu quietschte es, und einer von den Bengeln zog einen aufgespießten Igel aus seinem Verstecke, den er dann totschlug.
Abend für Abend saß der Schäfer auf der Bank vor der Tür und wartete auf seine Igel. Er sah sie nie wieder.