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Das vorliegende Werk ist eine neue Bearbeitung des 1897 in Italien unter dem Titel » Genio e Degenerazione« erschienenen Buches. Es ist nicht die einzige der bisher auch in deutscher Sprache herausgegebenen erschöpfenden Darstellungen des Autors über den Gegenstand außer dem in der Universal-Bibliothek herausgekommenen älteren Hauptwerke »Genie und Irrsinn«, dessen Entstehungsgeschichte der Verfasser im Vorworte zur ersten Auflage unseres Buches kurz angedeutet hat. 1890 wurde das Werk »Der geniale Mensch« in einer Übersetzung von K. Fränkel veröffentlicht (Hamburg, Richter), ein Buch, welches in Italien bisher sechsmal aufgelegt worden ist, und weiterhin erschien 1894 eine Reihe Journalartikel und Nachträge zu dieser Ausgabe des » Uomo di Genio«, in deutscher Übersetzung zusammengestellt unter Mitwirkung des Verfassers von H. Kurella (»Entartung und Genie«, Leipzig, Wigand). Auch später hat Lombroso noch rührig an diesem Lieblingsthema seines gewaltigen Arbeitsgebietes weitergeschaffen (» Nuovi Studii sul Genio,« 1902), doch ist die Durchsicht der nachfolgenden Arbeit erst im Laufe des Jahres 1907 erfolgt und so ist auch diese gewissermaßen ein neues Buch.
Am 19. Oktober des vorigen Jahres ist nun Cesare Lombroso, der vielbefehdete und vielfach mißverstandene, heimgegangen. Mit ihm ist einer der umfassendsten und durchdringendsten Geister der Epoche von uns geschieden, der in seinem langen und glücklichen Leben die Mitwelt mit einer Fülle von bedeutungsvollen Problemen beinahe überschüttet hat. Seine wissenschaftsgeschichtliche Stellung zu würdigen, ist nicht leicht. Als Mensch war er eine edle, gütige, feste Natur. Unerschöpflich war seine Begeisterung und sein Fleiß, unbezweifelt die Tiefe seiner Überzeugung, die Lauterkeit seines Wandels, nie getrübt sein Glaube an die Menschheit. Seine schlichte äußere Erscheinung verriet nur auf Momente den Flug seines Gedankens, der unablässig und rastlos alles Faßbare zu umspinnen und zu umspannen strebte. –
Wie bei manchen anderen Forschungen Lombrosos ist die Originalität seiner Behauptungen hinsichtlich des Ursprunges der Genialität nicht ganz so groß, wie gewöhnlich angenommen wird. Schon der auf Aristoteles zurückgeführte Spruch » nullum magnum ingenium nisi insania quadam mixtum« deutet darauf, daß die wichtigsten Beobachtungen zur Sache jedenfalls nicht neu sind. Lombroso selbst hat mit Nachdruck wiederholt darauf hingewiesen, daß er mancherlei Vorgänger bezüglich seiner Ansichten über die Frage gehabt habe, namentlich auch im Altertum. Sein eigenes unstreitig außerordentliches Verdienst ist es aber, als erster eine eingehende systematische Darlegung des Problems versucht zu haben.
Von großer Bedeutung ist, daß er mit seiner Anschauungsweise über den Ursprung und das Wesen des Genies nicht allein geblieben ist. Nicht alle diejenigen, die sich nach ihm mit Studien über die Eigenart der außergewöhnlichen Begabung beschäftigten oder uns Lebensbilder hervorragender Menschen in einer der seinigen verwandten, anthropologisch-ärztlich-psychologischen Art zu sehen, gegeben haben, sind von ihm stärker beeinflußt oder herangebildet worden (von deutschen Autoren, die unabhängig oder selbständig einen ähnlichen Weg für die Betrachtungsweise der Dinge beschritten haben, sei an dieser Stelle nur P. J. Möbius genannt), aber in der im wesentlichen durch ihn selbst geschaffenen neuen Domäne der Wissenschaft ist Lombroso wohl bis zuletzt der eifrigste und fruchtbarste Arbeiter gewesen, wie er lange Zeit der einzige war.
Die von Lombroso neu angebahnte Darstellungsweise der genialen Naturen ist besonders auch dadurch ausgezeichnet, daß fast überall versucht wird, das geniale Werk aus der Persönlichkeit und den Lebensumständen des Urhebers zu erklären. Dieser Aufgabe unterzog sich die bisher ausschließlich herrschende schöngeistig-literarische Biographie nur teilweise und die Lösung der Frage von dieser Seite aus mußte auch öfter ziemlich unvollkommen ausfallen. Häufig vermied der Biograph sogar, sich über einen solchen Zusammenhang zu äußern oder er erklärte sich ausdrücklich hierzu inkompetent oder stellte das geniale Produkt schlechtweg als unbegreiflich hin. Das hatte den Nachteil, leicht eine schrankenlose Überschätzung mancher hervorragender Geister, eine summarische, oft recht unkritische Bewunderung ihrer oft kulturell sehr verschiedenartig zu wertenden Leistungen zu begünstigen. Man warf aus diesem Grunde auch zunächst den Anthropologen vor, sie zerstörten den Zauber des Wunderbaren und beeinträchtigten den Nimbus des großen Mannes. Hierauf ist erstens zu erwidern, daß die bisher fast ausschließlich übliche Art der Betrachtung durch die andere Methode in ihrer Existenzberechtigung durchaus nicht angegriffen oder gemißbilligt wird, und daß es niemand in den Sinn kommen wird, zu verhindern, daß andere in Bewunderung genießen, so viel und in welcher Weise sie immer wollen; auf der anderen Seite eröffnet die neue Betrachtungsweise sogar eine Aussicht, von der aus eben das Gefühl der Bewunderung in noch höherem Maße erneut erregt wird, nämlich sobald man ins Auge faßt, unter welchen körperlichen und seelischen Leiden und Gebrechen oft Großes geleistet worden ist, wie der Schöpfer des wunderbaren Werkes nicht nur die Schwierigkeiten seiner Aufgabe und die Hindernisse, die sich ihm von fremder Seite entgegenstellten, zu bewältigen imstande war, sondern wie er dabei oft noch gegen eine Reihe ungewöhnlicher, mächtiger innerer Widerstände zu kämpfen hatte, die die Umwelt nicht sehen konnte und für die sie meist auch keinerlei Verständnis hätte haben können, wenn sie davon Kunde besessen hätte. So haben denn hervorragende Geister oft genug versichert oder deutlich zu erkennen gegeben, daß ihr Schmerz beständig größer gewesen sei als alle die Genugtuung, die ihnen durch die Anerkennung der Welt vielleicht zuteil geworden war, und auch das Bewußtsein war dunkler oder deutlicher bei manchen vorhanden, daß es sich hier um eine Art Ausgleich für die merkwürdige, außergewöhnliche Gabe gehandelt habe, die ihnen verliehen war.
So vertiefen denn die pathographischen Lebensgeschichten Lombrosos die Auffassung der Beziehungen und des inneren Zusammenhanges von Urheber und Werk, sie lassen das Große und Edle beim Genie oft deutlicher hervorspringen, insofern sie zeigen, daß der Sieg häufig noch mit weit größeren Opfern erkämpft werden mußte, als es den Anschein hat, und sie bringen uns den Genialen schließlich auch in vielem menschlich näher, indem sie an den physischen und psychischen Schwächen, denen er in so viel höherem Maße unterworfen sein kann als der Normale, nicht achtlos vorübergehen.
Obernigk, Frühjahr 1910.
Dr. Ernst Jentsch.
Ist eine Theorie dann gesund und lebensfähig zu nennen, wenn sie allmählich langsam fortschreitend sichtlich mehr und mehr festen Boden gewinnt, so kann ich dies wohl von der Lehre annehmen, die ich über das Wesen des Genies aufgestellt habe.
Nachdem ich einige Grundgedanken hierzu zuerst 1863 als Thema für meine Antrittsvorlesung über Psychiatrie an der Universität Pavia nach einigen Tagen angestrengter Arbeit niedergelegt hatte, habe ich dieselben kurz darauf noch einmal in einem hundert Seiten starken Bändchen weiter ausgeführt. Diese Schrift wurde schnell vergessen. Erst in den letzten zwanzig Jahren fing die Lehre an tiefere Wurzeln zu schlagen, als ich das Buch »Genie und Irrsinn« und weiter mein Werk über den »Genialen Menschen« verfaßt hatte.
Ebenso ungünstig wie die Grundidee des Ganzen wurden auch diese Weiterführungen meiner Theorie aufgenommen und dem Laien wurden sie ein Gegenstand des Hohns. Von Berufenen haben sie zuerst Nordau, Magalhaes, Morselli, Nisbet, Arndt teils bereichert, teils bekämpft. Diese Kämpfe um das Resultat meiner Arbeit nötigten mich, meine Nachforschungen auf dem umstrittenen Gebiete immer weiter fortzusetzen.
Trotzdem ich erst vor einigen Monaten die sechste Auflage meines »Genialen Menschen« vollendet habe, welche alles enthalten sollte, was für den Gegenstand in Betracht kommen konnte, zwingen mich dennoch die neuen Entgegnungen und Kritiken Reniers, Segres, Toulouses, Tanzis, Mingazzinis, Mantegazzas und anderer von neuem zur Sache zu reden.
Dies ist die Veranlassung zur Abfassung des vorliegenden Bandes gewesen, in dem nur die eigentlich wissenschaftlichen Kritiker eingehender berücksichtigt sind und der nur das wichtigste neuere Material über die Frage seit dem Erscheinen der letzten Auflage des »Genialen Menschen« enthält, dessen Vervollständigung er deshalb gleichzeitig ist.
Es ist mir unter anderem vorgeworfen worden, meine Theorie vom Genie gäbe zwar eine – gewagte – Erklärung von Tatsachen, die hier und da vorgekommen sein mögen, enthielte aber eine lediglich nervenärztliche Ansicht über die Genies, und es fehle bisher die Gegenprobe, die spezielle Beschreibung einzelner Individuen, die uns nach Art eines Krankenjournals Tag für Tag das vollständige Bild des betroffenen Genius vor Augen führe.
Auch solche weiterführende Werke sind nun inzwischen in größerer Zahl erschienen, ich nenne hier nur diejenigen Patrizis, Roncoronis, Toulouses, Möbius', Antoninis; es sind sogar solche darunter, die Geniale, welche bis vor kurzem noch unter uns lebten, behandelten, wie die Monographie über Zola, die eigentlich beabsichtigte, meine eigene Theorie zu stürzen.
So wird denn die Kritik wiederum zum Ausgangspunkte der Forschung und verdient aus diesem Grunde eine eingehende und liebevolle Beachtung, die in Hinblick auf die Wichtigkeit der in Rede stehenden Erscheinungen allen willkommen sein dürfte, die in Erwartung und Teilnahme den noch immer tobenden verheißungsvollen Kampf um den Ursprung des Genies im Auge behalten.
Turin, 2. Juni 1897.
Die Notwendigkeit einer zweiten Auflage dieses Buches, das im Kampfe um die Neurose des Genies nur ein bescheidener Plänkler genannt zu werden beansprucht, ist die beste Antwort auf die irrige Meinung, der Gegenstand sei nunmehr erschöpft, und ebenso auf die jetzt freilich nur noch selten vertretene Ansicht, er habe nie eine Existenzberechtigung gehabt.
Der Lärm, den die menschliche Eitelkeit, Selbstüberhebung und Unwissenheit angesichts meiner Schlußfolgerungen und derjenigen Moreaus, Morels, Nisbets, Ellis' und anderer erhoben haben, ist noch nicht verstummt, ist eher noch stärker und lauter geworden, seitdem Möbius in Deutschland in so wundervoller Weise über Entartung und erbliche Veranlagung bei Goethe, Schopenhauer, Nietzsche usw., seit in Frankreich Seillière über Stendhal, Haslouin über Berlioz und Dumas über Comte geschrieben haben. Deshalb will ich hier ungeachtet der neuen Auflagen meines »Genialen Menschen« und meiner inzwischen erschienenen »Neuen Studien über die Genialität« im folgenden noch ein paar Steine zusammentragen für den Ausbau unserer Kenntnisse auf dem strittigen Gebiete zu Nutz und Frommen von Freund und Feind.
Man hat mir vorgeworfen, daß meine Schriften wertlos sein müssen, da sie den Verschiedenheiten der Epochen und Länder nicht Rechnung tragen, Cambyses neben Berlioz, Tassoni neben Napoleon stellen usw. Ich kann es nun wohl verstehen, daß ein Historiker sich entrüstet, wenn er sieht, wie hier mit derbem Griffe Zeiten und Menschen des verschiedensten Gepräges durcheinandergeworfen werden, aber ich bekenne mich dieses Vergehens nicht nur gern schuldig, sondern ich muß sogar sagen, daß ich gar keine Reue dabei empfinde, denn hier und in meinen sonstigen einschlägigen Werken kümmert mich das biographische Faktum zunächst nur insoweit, als die Neurose des Genies dabei in Frage kommt und deshalb lassen mich auch die sonstigen Beziehungen des Betreffenden zu Zeit und Ort ganz gleichgültig: ein guter Meteorologe würde einer auffallenden atmosphärischen Erscheinung, von der aus der Zeit des Herodot berichtet würde, nicht minder Interesse entgegenbringen und sie mit unseren heutigen Beobachtungen ebenfalls in Einklang zu setzen suchen. Mehr Recht könnte die Kritik vielleicht beanspruchen, insofern ich auch in dieser neuen Ausgabe das Genie und das große Talent nicht genügend auseinandergehalten habe, aber die großen Genies sind so selten, daß man, wenn man sich ausschließlich nur mit diesen beschäftigen wollte, nur sehr wenig und sehr dürftiges Material zur Untersuchung bekäme; und da es echte Genies gibt, die in vielen Richtungen schwächer veranlagt sind als die Talente, und starke Geister, die in mancher Beziehung an das Genie heranreichen, so ist die Scheidung zwischen Genie und Talent auch etwas so Schwieriges, daß diejenigen, die mir diesen Vorwurf machen, gewöhnlich auch selbst in den eben gerügten Fehler verfallen.
Ich möchte mit einer Bitte an Freund und Feind schließen dürfen, nämlich anstatt über die Chronologie dieses oder jenes Genies und ähnliche Kleinigkeiten zu streiten, lieber die Hauptsache unserer Forschungsaufgabe sich angelegen sein zu lassen, die Interpretierung des genialen Werkes, die gleichzeitig eine Kritik und eine Naturgeschichte desselben darstellen und den großen Mängeln, wie den großen Vorzügen seines Urhebers in gleicher Weise gerecht werden soll.
Turin, 8. Januar 1907.