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Südlich vom Slot

Mitten durch Alt-San Franzisko, das heißt durch das San Franzisko früherer Tage, der Tage vor dem Erdbeben, lief der Slot. Der Slot war ein Eisenschlund, der in der Mitte der Market Street entlang lief, und aus ihm tönte das Surren des endlosen, ewigen Kabels, an das sich die Wagen nach Belieben festhakten, um hinauf- oder herabgezogen zu werden. Eigentlich waren es zwei Slots, aber in der schnellen Redeweise des Westens, die Zeit sparen wollte, sagte man – noch dazu in viel weitergehender Bedeutung – »der Slot«. Nördlich vom Slot befanden sich die Theater, Hotels, Kaufhäuser, Banken und die ehrwürdigen, soliden Geschäftshäuser. Südlich vom Slot lagen die Fabriken, das Armeleuteviertel, Wäschereien, Werkstätten, Kesselhäuser und die Wohnstätten der arbeitenden Klasse.

Der Slot war der bildliche Ausdruck für die Klassentrennung der Gesellschaft, aber niemand überschritt ihn – hin und zurück – erfolgreicher als Freddie Drummond. Er machte es sich zur Gewohnheit, in beiden Welten zu leben, und in beiden Welten lebte er ausgezeichnet. Freddie Drummond war Professor der Soziologie an der kalifornischen Universität, und in dieser Eigenschaft überschritt er zum erstenmal den Slot, lebte sechs Monate in dem großen Arbeiter-Ghetto und schrieb sein Werk »Der ungelernte Arbeiter «, ein Buch, das allseits als wertvoller Beitrag zur Literatur des Fortschritts und als glänzende Entgegnung auf die Literatur der Unzufriedenheit angesehen wurde. In politischer und ökonomischer Beziehung war es ganz und gar orthodox. Direktoren großer Eisenbahngesellschaften kauften ganze Auflagen, um sie unter ihren Angestellten zu verteilen. Der Fabrikantenverband allein verteilte fünfzigtausend Exemplare. Es war in seiner Weise ebenso unmoralisch wie die weltbekannte, berüchtigte »Botschaft an Garcia«, und in seiner verderblichen Predigt von Sparsamkeit und Zufriedenheit lief es »Frau Wiggs vom Kohlgärtchen« den Rang ab.

Zuerst wurde es Freddie Drummond ungeheuer schwer, unter den Arbeitern zu leben. Er war ihre Art nicht gewohnt, und sie die seine ganz gewiß nicht. Sie waren mißtrauisch. Was er tat, hatte keiner vor ihm je versucht. Er konnte von keiner Arbeit erzählen, die er geleistet hatte. Seine Hände waren weich. Seine ungewöhnliche Höflichkeit war verdächtig. Zuerst hatte er gedacht, die Rolle des freien, unabhängigen Amerikaners zu spielen, der es gewählt hatte, von der Arbeit seiner Hände zu leben, und nicht gewillt war, Erklärungen zu geben. Aber er merkte rasch, daß das nicht ging. Anfangs nahmen sie ihn bis auf weiteres wie eine Sehenswürdigkeit hin. Als er sich bald darauf ein bißchen eingelebt hatte, glitt er unmerkbar in eine Rolle hinein, die besser wirkte: Er war ein Mensch, der bessere, sehr viel bessere Tage gesehen hatte, und dem es jetzt – wenn auch sicher nur vorübergehend – schlecht ging.

Er lernte allerlei und verallgemeinerte viel und oft irrig – wie man es auf jeder Seite von »Der ungelernte Arbeiter« finden kann. Nach der gesunden, konservativen Art seiner Rasse zog er sich dadurch aus der Affäre, daß er seine Verallgemeinerungen als »Versuche« bezeichnete. Eine seiner ersten Erfahrungen machte er in der großen Wilmax-Konservenfabrik, wo er kleine Kisten in Akkord zu packen hatte. Eine Kistenfabrik lieferte die Teile, und er hatte nichts zu tun, als sie zusammenzupassen und mit einem leichten Hammer zu vernageln.

Es war keine Arbeit, die besondere Fertigkeit verlangte, aber es war Akkordarbeit. Die Arbeiter in der Konservenfabrik verdienten durchschnittlich anderthalb Dollar täglich. Andere Männer sah Freddie Drummond bei derselben Beschäftigung und dem gleichen bequemen Tempo einen Dollar, fünfundsiebzig Cent täglich verdienen. Am dritten Tage war er imstande, dasselbe zu leisten. Aber er war ehrgeizig. Ihm lag nichts an dem bequemen Tempo, und da er ungewöhnlich fähig und geschickt war, verdiente er am vierten Tage zwei Dollar. Am nächsten Tage holte er alles aus sich heraus und verdiente zweieinhalb Dollar.

Seine Mitarbeiter zeichneten ihn durch mürrische und finstere Blicke aus und machten in ihrer Sprache Bemerkungen und Witze, die er nicht verstand: daß er dem Aufseher schöne Augen mache, das Rennen gewinnen wolle und nicht zu halten sei, wenn er einmal losgelassen. Ihre Verlästerung der Akkordarbeit setzte ihn in Erstaunen, er verallgemeinerte, schloß daraus auf die unweigerliche Faulheit des ungelernten Arbeiters und machte sich am nächsten Tage daran, drei Dollar aus seinen Kisten herauszuhämmern.

Als er an diesem Abend die Konservenfabrik verließ, wurde er von seinen zornigen Kameraden gestellt. Er verstand die Motive ihres Tuns nicht. Dieses Tun selbst aber war herzerfrischend. Als er sich weigerte, weniger zu arbeiten und von der Freiheit und Würde der Arbeit und der Unabhängigkeit des Amerikaners sprach, machten sie sich daran, seine Leistungsfähigkeit praktisch zu vermindern. Es war ein harter Kampf, denn Drummond war ein großer, sportgeübter Mann, aber schließlich sprang ihm die Menge auf die Rippen und trat ihm auf das Gesicht und die Finger, so daß er erst, nachdem er eine Woche im Bett gelegen hatte, imstande war, aufzustehen und sich nach anderer Arbeit umzusehen. Dies ist alles getreu in seinem Buch erzählt, und zwar in dem »Die Tyrannei der Arbeit« genannten Kapitel.

Kurz darauf machte er sich als Obstträger unter Frauen prompt bei seinen Kollegen unbeliebt, indem er immer zwei Kisten auf einmal trug. Es war offene Anfeindung; aber er war einmal hier, und er beschloß, zu bleiben und zu beobachten. Er trug jetzt nur noch eine Kiste, und so gut studierte er die Drückebergerei, daß er ein eigenes Kapitel darüber schrieb, dessen letzter Teil dem Versuch einer Verallgemeinerung gewidmet ist.

In diesen sechs Monaten arbeitete er in vielen Berufen und entwickelte sich zur ausgezeichneten Imitation eines wirklichen Arbeiters. Er war sprachbegabt, legte sich Notizbücher an und machte wissenschaftliche Studien über Slang und Argot der Arbeiter, bis er ganz verständlich mit ihnen reden konnte. Das ermöglichte es ihm, ihre geistigen Prozesse besser zu verfolgen und viele Daten für ein künftiges Buch zu sammeln, das er »Synthese der Psychologie der arbeitenden Klasse« zu nennen gedachte.

Ehe er von diesem ersten Ausflug in die Unterwelt wieder auftauchte, entdeckte er seine schauspielerische Begabung und zeigte die Bildsamkeit seiner Natur. Er war selbst über seine Einfühlungsgabe erstaunt. Als er erst einmal die Schwierigkeiten der Sprache und zahlreiche schwer zu stillende Gewissenbisse überwunden hatte, meinte er, in allen Sätteln des Arbeiterlebens gerecht zu sein und sich so anpassen zu können, daß er sich überall zu Hause fühlte. Wie er im Vorwort seines zweiten Buches, »Der Schwerarbeiter«, sagte, bemühte er sich wirklich, die arbeitende Klasse kennenzulernen, und die einzige Möglichkeit hierzu war eben, daß er an ihrer Seite arbeitete und aß, in ihren Betten schlief, an ihren Vergnügungen teilnahm, ihre Gedanken dachte und ihre Gefühle teilte.

Er war kein tiefer Denker. Er glaubte nicht an neue Theorien. Seine Richtlinien und Maßstäbe waren die hergebrachten. Sein in den Jahrbüchern der Universität niedergelegtes Urteil über die französische Revolution war nicht sowohl durch die peinliche Genauigkeit und den Fleiß, mit dem er das Material zusammengetragen, wie durch den Umstand bemerkenswert, daß es der trockenste, geistloseste und langweiligste Aufsatz war, der je über den Gegenstand geschrieben worden. Er war zurückhaltend und hatte viele und schwere Hemmungen. Er besaß nur wenige Freunde. Er war zu gemessen, zu kalt. Er hatte weder Laster, noch kannte man etwas, das ihn in Versuchung führen konnte. Er verwarf Tabak, verabscheute Bier, und nie sah man ihn etwas Stärkeres trinken als gelegentlich einen leichten Tischwein.

Als Fuchs hatten ihn seine warmblütigeren Kommilitonen den »Eisschrank« getauft. Unter seinen Kollegen hieß er die »Gefrieranstalt«. Er kannte nur eine Sorge, und die war »Freddie«. In der Fußballmannschaft der Universität hatte er diese Sorge kennengelernt, und seiner aufs Äußerliche gestellten Seele war es nie gelungen, sie zu überwinden. Für sich blieb er immer »Freddie«, und in schweren Träumen sah er eine Zukunft, da die Welt von ihm als vom »alten Freddie« sprechen würde.

Denn für einen Doktor der Soziologie war er sehr jung, nur siebenundzwanzig, und er sah noch jünger aus. Äußerlich war er ein robuster, stämmiger Akademiker mit glattem Gesicht und guten Manieren, einfach, sauber und gesund, als glänzender Sportsmann bekannt und der Inbegriff kaltschnäuziger, auf Zurückhaltung beruhender Kultur. Fachsimpeleien waren ihm verhaßt, und er sprach erst widerstrebend über diese Dinge, als seine Bücher die allgemeine Aufmerksamkeit in scheußlicher Weise auf ihn lenkten; da gab er soweit nach, daß er gelegentlich in gewissen literarischen und wirtschaftlichen Vereinen Vorlesungen hielt.

Er machte alles richtig – nur zu richtig – und war in Kleidung und Benehmen von einer unfehlbaren Korrektheit. Nicht daß er ein Stutzer gewesen wäre: weit entfernt! In Kleidung und Haltung war er der Akademiker, ganz genau dem Typ entsprechend, der sich an unseren höheren Bildungsanstalten in den letzten Jahren entwickelt hat. Sein Händedruck war hinreichend fest und kräftig. Seine blauen Augen waren von einer kalten Bläue und überzeugenden Ehrlichkeit. Seine feste, männliche Stimme war mit ihrer klaren, deutlichen Aussprache eine Freude für das Ohr. Die einzige Schattenseite Freddie Drummonds war seine Zurückhaltung. Er wurde nie warm. In seinen Fußballtagen wurde er um so kühler, je heißer das Spiel wurde. Er machte als Boxer von sich reden, aber man hielt ihn für einen Automaten, der mit der übermenschlichen Genauigkeit einer Maschine die Entfernung abschätzte, jeden Schlag zur rechten Zeit austeilte und sich nie eine Blöße gab. Er wurde selten sehr mitgenommen, aber er nahm auch selten einen Gegner sehr mit. Er hatte zuviel Klugheit und Selbstbeherrschung, als daß einer seiner Stöße kräftiger als beabsichtigt ausgefallen wäre. Er trainierte eifrig und blieb in Form.

Mit der Zeit überschritt Freddie Drummond den Slot immer häufiger und tauchte südlich der Market Street unter. Er verbrachte seine Sommerferien und Winterferien dort, und ob mehrere Wochen oder nur das Weekend – immer fand er die Zeit erfreulich und wertvoll. Wieviel Material dort zu sammeln war! Sein drittes Buch »Masse und Herr« wurde zum Lehrbuch an amerikanischen Universitäten, und ehe er es wußte, war er dabei, ein viertes zu schreiben: »Der Trugschluß der Unfähigen.«

Irgendwie zeigte seine Verkleidung doch etwas Unechtes. Vielleicht war es ein anerzogenes Zurückbeben vor seiner neuen Umgebung, vielleicht ein von seinen Vorfahren, Generationen von Büchermenschen, ererbter Instinkt. Wie dem aber auch sein mochte, das Leben in der Welt der arbeitenden Klasse machte ihm doch Freude. In seiner eigenen Welt war er »die Gefrieranstalt«, hier unten aber war er der »große« Bill Totts, der trinken und rauchen, Slang sprechen und kämpfen konnte und allgemein beliebt war. Jeder hatte Bill gern, und mehr als eine junge Arbeiterin verliebte sich in ihn. War er zunächst nur ein guter Schauspieler gewesen, so wurde ihm die Verstellung bald zur zweiten Natur. Er spielte nicht mehr, er liebte wirklich Bratwurst und Speck, und doch gab es in seiner eigenen Sphäre keine verächtlichere Kost als diese.

Zuerst führte ihm die Notwendigkeit die Hand, bald aber tat er die Dinge um ihrer selbst willen. Als die Zeit näherrückte, da er in seinen Lehrsaal und zu seiner Zurückhaltung zurückkehren sollte, überraschte er sich bei einem Gefühl des Bedauerns. Und oft sehnte er sich nach der Traumzeit, die seiner harrte, sobald er wieder den Slot überschreiten, sein Ich aufgeben und den Teufel spielen konnte. Er war kein schlechter Mensch, aber als der »große« Bill Totts tat er tausend Dinge, die er sich als Freddie Drummond nie hätte erlauben können, ja, auf die Freddie Drummond nie verfallen wäre. Das war das merkwürdigste an seiner Entdeckung. Freddie Drummond und Bill Totts waren zwei völlig verschiedene Geschöpfe. Wünsche, Geschmack und Triebe beider liefen sich schnurstracks entgegen. Bill Totts konnte sich reinen Gewissens von einer Arbeit drücken, während Freddie Drummond Drückebergerei als ein verbrecherisches, unamerikanisches Laster ansah und ganze Kapitel der Verurteilung dieses Lasters widmete. Freddie Drummond machte sich nicht das geringste aus Tanzen, Bill Totts aber versäumte keinen Abend in den verschiedenen Tanzklubs, wie »Magnolia«, »Stern des Westens« und »Elite«, so daß er bei dem alljährlichen großen Maskenball der Fleischergesellen einen massiv silbernen Becher gewann. Und Bill Totts liebte die Mädchen, und die Mädchen liebten ihn, während Freddie Drummond in diesem Punkte den Asketen spielte, offen seine Gegnerschaft zum Stimmrecht der Frauen bekannte und sich zynisch über die Koedukation aussprach.

Mit seiner Kleidung wechselte Freddie Drummond mühelos seine Gewohnheiten. Wenn er den kleinen dunklen Raum betrat, der für seine Verwandlungsszene bestimmt war, trug er sich ein wenig zu steif. Er hielt sich zu gerade, seine Schultern waren zu weit nach hinten gebogen, sein Gesicht war ernst, beinahe hart und in Wirklichkeit ausdruckslos. Tauchte er aber in Bill Totts Kleidern wieder auf, so war er ein anderer Mensch. Bill Totts hielt sich nicht schlecht, aber irgendwie war seine Gestalt geschmeidig und anmutig geworden. Selbst der Klang seiner Stimme war verändert, er lachte laut und herzlich, redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war, und ein gelegentlicher Fluch war ihm etwas Selbstverständliches. Auch neigte Bill Totts dazu, sich bis tief in die Nacht hinein in Kneipen aufzuhalten und sich in gutmütige Streitigkeiten mit andern Arbeitern einzulassen. Wenn er Sonntags von einem Ausfluge oder irgendeiner Vorführung heimkam, pflegten sich seine Arme um den Leib je eines Mädchens zu stehlen, er riß gewagte Witze und machte ihnen so den Hof, wie sie es von einem tüchtigen Burschen ihrer Kreise erwarten durften.

So völlig war er Bill Totts, so ganz ein Arbeiter und echter Einwohner des San Franzisko südlich vom Slot, daß er genau so klassenbewußt wie die andern war und sein Haß gegen die Streikbrecher den irgendeines loyalen Gewerkschaftlers sogar noch übertraf. Während des großen Hafenarbeiterstreiks gelang es Freddie Drummond irgendwie, nicht in die allgemeine Erregung hineingezogen zu werden, und er beobachtete kalt und kritisch Bill Totts, der streikbrechende Schauerleute lustig verdrosch. Denn Bill Totts war zahlendes Mitglied der Schauerleute-Gewerkschaft und hatte ein Recht, sich zu ärgern, wenn andere sich seiner Arbeit bemächtigten. So stark und tüchtig war der »große« Bill Totts, daß es, wenn es Unruhen gab, hieß: »Der große Bill an die Front!« In der Rolle seines zweiten Ichs spielte Freddie Drummond Empörung, bis er wirkliche Empörung fühlte, und erst als er in die klassische Atmosphäre der Universität zurückkehrte, wurde es ihm möglich, seine Eindrücke aus der Unterwelt mit Vernunft zu verallgemeinern und so zu Papier zu bringen, wie es einem geschulten Soziologen zukam. Daß Bill Totts nicht soviel Perspektive besaß, um sich über Klassenvorurteile zu erheben, sah Freddie Drummond deutlich. Bill Totts aber konnte es nicht sehen. Sobald er eines Streikbrechers gewahr wurde, der ihm die Arbeit wegnahm, übermannte ihn die Wut. Freddie Drummond hingegen, der tadellos gekleidet und beherrscht an seinem Schreibtisch saß oder in seinem Hörsaal über Soziologie las, sah vor sich Bill Totts und alles, was mit Bill Totts, mit dem Problem des Streiks und mit der Gewerkschaft zusammenhing, sowie die Beziehungen zum wirtschaftlichen Wohlergehen der Vereinigten Staaten im Kampf um den Weltmarkt. Bill Totts war tatsächlich nicht imstande, weiterzuschauen als bis zu der nächsten Mahlzeit und dem Preisboxen am Abend im »Sportverein Frohsinn«.

Als Freddie das Material für sein Werk »Die arbeitende Frau« sammelte, erhielt er die erste Warnung, daß er sich in Gefahr befand. Es war ihm zu gut gelungen, in beiden Welten zu leben. Dieser merkwürdige Dualismus, den er entwickelt hatte, stand trotz allem auf schwachen Füßen, und als er so in seinem Arbeitszimmer saß und sann, sah er ein, daß es nicht lange so weitergehen konnte. Es war in Wirklichkeit ein Übergangsstadium, und mit der Zeit mußte er unvermeidlich die eine oder die andere Welt aufgeben. In beiden zugleich konnte er auf die Dauer nicht bestehen. Und als sein Blick nun über die Bücherreihe glitt, die das oberste Bord seines drehbaren Büchergestells schmückte, seine eigenen Bücher von der »These« bis zur »Arbeitenden Frau«, beschloß er, daß dies die Welt sein sollte, an der er festhalten, in der er bleiben wollte. Bill Totts hatte seinen Zweck erfüllt, aber er war ein zu gefährlicher Genosse geworden. Bill Totts mußte aufhören zu existieren.

Die Ursache der Furcht Freddie Drummonds war Mary Condon, die Vorsitzende der Internationalen Handschuharbeiterinnen-Gewerkschaft Nr. 974. Er hatte sie zuerst bei der Jahresversammlung des Nord-West-Verbandes der Arbeitnehmer von der Galerie aus gesehen, und zwar mit den Augen Bill Totts, und da hatte er einen äußerst günstigen Eindruck von diesem Geschöpf empfangen. Sie entsprach durchaus nicht dem Ideal Freddie Drummonds. War sie nicht ein Weib von königlichem Wuchs, stark und anmutig wie ein Panter, mit verwirrenden, schwarzen Augen, die je nach ihrer Stimmung lachen oder blitzen konnten? Er haßte Frauen von zu überschwänglichem Lebensdrang und einem Mangel an – nun ja, an Zurückhaltung. Freddie Drummond war ein Anhänger der Entwicklungslehre, weil sie allgemein von der Wissenschaft anerkannt wurde; auch er hatte den oberflächlichen Glauben, daß der Mensch die Stufenleiter des Lebens aus dem Chaos des Schmutzes und der Masse tieferstehender organischer Wesen erklommen hätte. Dabei schämte er sich aber ein wenig über diesen Stammbaum und zog es vor, nicht daran zu denken. Dies mochte auch einer der Gründe sein, daß er selbst eisige Zurückhaltung übte, sie andern predigte und Frauen vorzog, die ihm wesensverwandt, die imstande waren, diese viehischen, bedauernswerten Vorfahren abzuschütteln und durch Disziplin und Selbstbeherrschung den Abgrund zu vertiefen, der sie von ihrem finsteren Ursprung trennte.

Bill Totts kannte solche Bedenken nicht. Er liebte Mary Condon vom ersten Augenblick an, als er sie im Versammlungssaal gesehen, und er forschte unter der Hand nach, wer sie war. Einige Zeit darauf traf er sie ganz zufällig, als er als Fuhrmann für Pat Morrissey arbeitete. Er war in ein Wohnhaus in der Missionsstraße bestellt worden, um einen Koffer abzuholen. Die Tochter der Wirtin führte ihn in die kleine Schlafkammer, deren Bewohnerin, eine Handschuhmacherin, gerade ins Krankenhaus gebracht worden war. Aber das wußte Bill nicht. Er beugte sich über den Koffer, stellte ihn hochkant, schob die Schulter darunter und kam strauchelnd, den Rücken der offenen Tür zugewandt, auf die Füße. In diesem Augenblick hörte er eine Frauenstimme fragen:

»Gehören Sie der Gewerkschaft an?«

»Was geht das Sie denn an, he?« gab er zurück. »Gehen Sie aus dem Weg. Ich will mich umdrehen.«

Das nächste, was ihm zum Bewußtsein kam, war, daß er trotz seiner Stärke herumgewirbelt und taumelnd rückwärts gedrängt wurde; der Koffer verlor das Gleichgewicht und wäre zu Boden gestürzt, wenn er ihn nicht mit einem Krach gegen die Wand geworfen hätte. Er wollte fluchen, aber da sah er in die zornig blitzenden Augen Mary Condons.

»Natürlich bin ich Gewerkschaftler«, sagte er. »Ich habe nur Scherz gemacht.«

»Wo ist Ihre Karte?« fragte sie in geschäftsmäßigem Ton.

»In meiner Tasche. Aber ich kann sie jetzt nicht herausholen. Der Koffer ist verdammt schwer. Kommen Sie mit zum Wagen hinunter, dann zeige ich sie Ihnen.«

»Setzen Sie den Koffer hin«, befahl sie.

»Warum denn? Ich sage Ihnen ja, daß ich eine Karte habe.«

»Hinsetzen, sage ich! Kein Streikbrecher wird diesen Koffer anfassen. Sie sollten sich schämen, Sie großer Feigling, ehrlichen Leuten den Streik zu brechen. Warum gehen Sie nicht in die Gewerkschaft und benehmen sich wie ein Mann?«

Mary Condons Gesicht war weiß; sie bebte vor Zorn.

»Daß ein starker Mann wie Sie zum Verräter an seinen Genossen wird! Ich glaube, am liebsten möchten Sie unter die Soldaten gehen und die Gewerkschaftsführer bei der nächsten Gelegenheit niederknallen. Vielleicht gehören Sie schon der Union an. Sie sehen mir ganz so aus –«

»Hören Sie auf, jetzt wird's mir zu bunt!« Bill ließ den Koffer mit einem Krach auf den Boden fallen, richtete sich auf und fuhr mit der Hand in die Brusttasche. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß es nur Scherz war. Da, sehen Sie!«

Tatsächlich, es war die Gewerkschaftskarte.

»Schön, nehmen Sie den Koffer«, sagte Mary Condon. »Und das nächste Mal machen Sie nicht wieder solche Scherze.«

Ihre Züge entspannten sich, als sie gewahrte, wie er mit Leichtigkeit den schweren Koffer auf seine Schulter hob, und ihre Augen glänzten, als sie den starken Körper des Mannes sah. Aber Bill merkte nichts davon. Er war zu sehr mit dem Koffer beschäftigt.

Das nächste Mal sah er Mary Condon während des Wäscherstreiks. Die Wäschereiarbeiter hatten sich erst vor kurzem organisiert. Sie verstanden noch nicht viel von der Sache und baten Mary Condon, den Streik in die Hand zu nehmen. Freddie Drummond hatte einen Wink bekommen, was vorging, und so hatte er Bill Totts geschickt, um als Mitglied der Gewerkschaft Erkundigungen einzuziehen. Bill war im Waschraum beschäftigt, und die Männer hatten an diesem Morgen die Weisung erhalten, den Streik zu eröffnen, um die Frauen zu ermutigen. Zufällig stand Bill gerade an der Tür des Mangelraums, als Mary Condon eintreten wollte. Der Aufseher, ein großer, stämmiger Mann, trat ihr in den Weg. Er ließe es sich nicht gefallen, daß seine Mädchen mit in den Streik hineingezogen würden, und er würde ihr eine Lektion erteilen, daß sie lernte, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Mary versuchte, sich an ihm vorbeizudrücken, aber er packte sie an den Schultern und schleuderte sie zurück. Sie sah sich um und erblickte Bill.

»Heda, Herr Totts«, rief sie. »Helfen Sie mir. Ich möchte hinein.«

Bill fühlte sich verwirrt und überrascht. Sie hatte sich von der Gewerkschaftskarte seinen Namen gemerkt. Im nächsten Augenblick war der Aufseher von der Tür weggefegt und wütete über Gesetz und Recht, während die Mädchen ihre Maschinen verließen. Während der Dauer dieses kurzen, erfolgreichen Streiks spielte Bill den Pagen und Sendboten Mary Condons. Dann kehrte er an die Universität zurück, um sich als Freddie Drummond zu wundern, was Bill Totts an dieser Frau finden mochte.

Freddie Drummond war seines Herzens völlig sicher, aber Bill hatte sich verliebt. Um diese Tatsache war nicht herumzukommen, und sie war es eben gewesen, die Freddie Drummond zur Warnung gedient hatte. Schön, er hatte seine Arbeit beendet, und jetzt konnte es genug sein mit den Abenteuern. Es bestand keine Notwendigkeit mehr für ihn, den Slot zu überschreiten. Sein Buch »Taktik und Strategie der Arbeit« war bis auf die drei letzten Kapitel fertig, und für diese drei Kapitel besaß er Material genug.

Ferner gelangte er zu dem Schluß, daß er, um Freddie Drummond fester zu verankern, engere Beziehungen zu seiner eigenen sozialen Sphäre knüpfen müßte. Es war Zeit, daß er heiratete, und er war sich völlig bewußt, daß, wenn Freddie Drummond nicht heiratete, sicher Bill Totts es tun würde, und welche Verwicklungen sich dann ergaben, war gar nicht auszudenken. Da trat Catherine Van Vorst in Erscheinung. Sie war auch Akademikerin, und ihr Vater, das einzige reiche Mitglied der Fakultät, war zudem Vorsitzender der Philosophischen Gesellschaft. Es ist in jeder Beziehung eine vernünftige Ehe, schloß Freddie Drummond, als die Verlobung vollzogen und angezeigt worden war. In ihrem Äußern kalt, reserviert und aristokratisch, war Catherine Van Vorst, wenn auch auf ihre Art warmherzig, ebenso zurückhaltend wie Drummond.

Jetzt schien alles gut zu werden, aber Freddie Drummond vermochte es doch nicht ganz, sein Ohr dem Rufe der Unterwelt zu verschließen, dem Lockruf der Freiheit und Ungebundenheit, des hemmungslosen, verantwortungslosen Lebens südlich vom Slot. Als der Hochzeitstag herannahte, fühlte er, daß er sich die Hörner abgelaufen hatte, aber er hatte doch das Verlangen, sich noch ein einziges Mal gehen zu lassen, und ein einziges Mal noch, ehe er sich ganz dem grauen Vortragssaal und einer nüchternen Ehe überließ, Bill Totts zu spielen. Dazu kam, daß er unbedingt noch einige kleine, unwesentliche Daten sammeln mußte, wenn nicht das ganze letzte Kapitel seines Werkes »Die Taktik und Strategie der Arbeit« ungeschrieben bleiben sollte.

So wurde Freddie Drummond denn zum letzten Male Bill Totts, machte seine Notizen und traf unglücklicherweise Mary Condon. Als er wieder in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt war, mußte er mit Unbehagen daran denken, wie ungeheuerlich Bill Totts sich benommen hatte. Nicht nur, daß er Mary Condon in einer Versammlung des Hauptausschusses getroffen, er hatte sie in ein Gasthaus eingeladen und mit Austern bewirtet. Und ehe sie sich vor ihrer Tür getrennt hatten, hatte er die Arme um sie geschlungen und sie auf die Lippen geküßt, und zwar mehr als einmal. Und in seinem Ohr tönten noch ihre letzten Worte, die in einem verfänglichen Seufzer verklungen waren, der nicht mehr und weniger war als ein Schrei der Liebe: »Bill ... lieber, lieber Bill.«

Freddie Drummond zitterte bei der Erinnerung. Er sah, wie der Abgrund sich vor ihm auftat. Er war nicht polygam veranlagt, und die Möglichkeit einer solchen Situation entsetzte ihn. Es mußte ein Ende gemacht werden: entweder mußte er ganz Bill Totts und der Mann Mary Condons werden, oder er mußte ganz Freddie Drummond bleiben und Catherine Van Vorst heiraten. Andernfalls war sein Benehmen verbrecherisch.

In den folgenden Monaten wurde San Franzisko durch Lohnkämpfe zerrissen. Die Gewerkschaften und die Arbeiterverbände kämpften mit einer Verbissenheit, die zeigte, daß es jetzt um Biegen oder Brechen ging. Freddie Drummond aber las Korrekturen, hielt Vorlesungen und rührte sich nicht. Er widmete sich ganz Catherine Van Vorst und fand täglich mehr an ihr zu bewundern – ja, zu lieben. Der Straßenbahnerstreik führte ihn in Versuchung, wenn auch nicht so sehr, wie er erwartet hatte, und der große Fleischerstreik ließ ihn völlig kalt. Der Geist Bill Totts war erfolgreich gebannt, und Freddie Drummond stürzte sich mit jugendlichem Eifer auf eine längst geplante Broschüre über »Schwindende Rückfälligkeit«.

In zwei Wochen sollte die Trauung stattfinden, als er eines Vormittags in San Franzisko zufällig Catherine Van Vorst traf, die ihn sofort zur Besichtigung eines neugegründeten Schülerklubs mitnahm, eine Sache, für die sie sich interessierte. Sie fuhren in dem Auto ihres Bruders, und sie waren, abgesehen von dem Chauffeur, allein. An einer Ecke der Kearny Street treffen sich die Market- und die Geary Street wie die Schenkel eines scharfwinkligen V. Sie kamen im Auto die Market Street herab, in der Absicht, um die scharfe Ecke herum in die Geary Street einzubiegen. Aber sie ahnten nicht, was sich die Geary Street heraufbewegte und vom Geschick bestimmt war, ihnen an der Ecke zu begegnen. Obgleich die Zeitungen gemeldet hatten, daß der Fleischerstreik ausgebrochen und äußerst erbittert war, dachte Freddie Drummond in diesem Augenblick doch an ganz andere Dinge. Saß er nicht neben Catherine? Und entwickelte er nicht soeben seine Ansichten über die Siedlungsarbeit – Ansichten, hinter denen die Abenteuer Bill Totts' steckten.

Die Geary Street herauf kamen sechs Fleischerwagen. Die Kutscher waren Streikbrecher, und neben jedem saß ein Schutzmann. Vor, hinter und neben der Prozession marschierte eine Eskorte von hundert Schutzleuten. Der polizeilichen Nachhut folgte in ehrerbietigem Abstand eine geordnete, aber brüllende Volksmenge, die die Straße in ihrer ganzen Breite und auf eine Länge von mehreren Blocks füllte. Der Rindfleischtrust machte einen Versuch, die Hotels zu versorgen und bei dieser Gelegenheit den Streik zu brechen. Das St. Franzis-Hotel war schon auf Kosten vieler eingeschlagener Fensterscheiben und zerbrochener Schädel versorgt worden, und jetzt war die Expedition auf dem Wege nach dem Palast-Hotel.

Ahnungslos saß Drummond neben Catherine und sprach mit ihr über die Siedlungsarbeit, als das Auto, das regelmäßig hupte und sich durch den Verkehr schlängelte, in einem weiten Bogen um die Ecke herumschwang. In diesem Augenblick kam ein großer, mit Briketts beladener und von vier riesigen Pferden gezogener Kohlenwagen aus der Geary Street, als ob er die Market Street hinunterfahren wollte, und verlegte ihm den Weg. Der Kutscher des Wagens schien unentschlossen zu sein, und der Chauffeur fuhr zwar langsam, achtete jedoch nicht auf die Warnung, die ihm ein vorbeigehender Schutzmann zurief, sondern lenkte das Auto, um an dem Wagen vorbeizugelangen, mit einer plötzlichen Bewegung nach links und verletzte damit alle Verkehrsbestimmungen.

Freddie Drummond brach mitten im Wort ab. Und er nahm die Unterhaltung nicht wieder auf, denn die Situation entwickelte sich mit der Schnelligkeit einer Verwandlungsszene. Er hörte das Gebrüll der Menge im Nachtrab und sah die behelmten Schutzleute und die wankenden Fleischerwagen. Da trieb der Kohlenkutscher, die Peitsche schwingend und sich von seinem Sitz erhebend, die Pferde quer vor die heranrückende Prozession, zog die Zügel scharf an und bremste gleichzeitig. Dann hängte er die Zügel an den Bremsengriff und setzte sich wieder, mit dem Gesicht eines Mannes, der bleiben wollte, wo er war. Das Auto war ebenfalls durch seine schweren, keuchenden Bremsen zum Stehen gebracht worden.

Der Chauffeur wollte zurück, aber ehe er es vermochte, hatte ein alter Ire, der einen wackligen Rollwagen kutschierte, sein Pferd zum Galopp angetrieben und war mit seinen Rädern in die des Autos hineingefahren. Drummond erkannte sowohl den Wagen wie das Pferd, denn er hatte selbst oft auf dem Kutschbock gesessen. Der Ire war Pat Morrissey. Auf der andern Seite war ein Bierwagen mit dem Kohlenwagen kollidiert, und ein Straßenbahnwagen, der wildklingelnd die Geary Street hinabfuhr, und dessen Führer verächtlich auf die Schutzleute einschrie, machte die Blockade vollständig. Wagen auf Wagen rannte sich fest, versperrte den Weg und vermehrte die allgemeine Verwirrung. Die Fleischerwagen machten halt. Die Polizei war gefangen. Das Gebrüll des Nachtrabs wuchs, und der Mob stürmte an, während die Schutzleute vorn den zusammengefahrenen Wagen Befehle erteilten.

»Wir stecken mitten drin«, bemerkte Drummond kühl zu Catherine.

»Ja«, sagte sie ebenso kühl. »Was für Wilde das sind!«

Seine Bewunderung für sie wuchs noch. Sie war wirklich für ihn geschaffen. Er hätte es sogar verstanden, wenn sie geschrien oder sich angeklammert hätte, aber das – das war prachtvoll. Sie saß mitten in diesem Orkan so ruhig, als wäre das ganze nichts als eine Wagenstauung vor der Oper gewesen.

Die Polizei bemühte sich, eine Durchfahrt freizubekommen. Der Kutscher des Kohlenwagens, ein großer Mann in Hemdsärmeln, zündete sich die Pfeife an und saß ruhig rauchend da. Er blickte zufrieden auf einen Polizeihauptmann hinunter, der wütete und fluchte, und hatte als einzige Zustimmung nur ein Achselzucken. Vom Nachtrab her hörte man jetzt die Schläge der Polizeiknüppel, die auf die Schädel herabsausten, und eine Hölle von Flüchen, Tosen und Schreien. Plötzlich verkündete ein Anwachsen des Lärms, daß der Mob durchgebrochen und im Begriff war, die Streikbrecher vom Wagen zu reißen. Die vorn stehenden Schutzleute kamen ihren Kameraden zu Hilfe, und die Menge wurde zurückgetrieben. Unterdessen hatte sich Fenster auf Fenster in den hohen Geschäftshäusern zur Rechten geöffnet, und die Angestellten ließen einen Schauer von Kontorgeräten auf die Köpfe von Polizei und Streikbrechern herabregnen. Papierkörbe, Tintenfässer. Briefbeschwerer, Schreibmaschinen – alles, was ihnen in die Hände kam, sauste herunter.

Ein Schutzmann kletterte auf Befehl seines Hauptmanns auf den hohen Bock des Kohlenwagens, um den Kutscher zu verhaften. Der Kutscher erhob sich träge und lässig, packte ihn plötzlich und schleuderte ihn direkt auf den Hauptmann. Der Kutscher war ein junger Mann, und als er jetzt auf seine Ladung kletterte und in jede Hand ein Brikett nahm, ließ sich ein Schutzmann, der gerade den Wagen von der andern Seite erklettern wollte, wieder fallen. Der Hauptmann befahl einem halben Dutzend seiner Leute, den Wagen zu entern. Der Kutscher kletterte schnell über die Ladung hinweg und schlug den Angriff mit großen Briketts ab.

Die Menge auf dem Bürgersteig und die Kutscher der festgerannten Wagen brüllten vor Vergnügen. Der Straßenbahnführer zerschmetterte mit seiner Lenkstange Helme, bis er von der Plattform gerissen und halb totgeschlagen wurde. Außer sich über die Niederlage seiner Polizisten, leitete der Polizeihauptmann selbst den nächsten Angriff auf den Kohlenwagen. Einige zwanzig Polizisten stürmten die hohe Ladung. Aber der Kutscher verdoppelte seine Kräfte. Zeitweise rollten sechs bis acht Polizisten auf das Pflaster unter dem Wagen. Als sich der Fuhrmann, der sich abwehrbereit an der Rückseite der Festung hielt, umwandte, sah er, wie der Hauptmann gerade im Begriff stand, vorn den Bock zu erklimmen. Er war noch nicht oben, als der Fuhrmann ein schweres Brett gegen ihn schleuderte. Der Hauptmann wurde gegen die Brust getroffen und sank hintenüber, auf den Rücken eines Radfahrers, glitt zu Boden und klemmte sich im Hinterrad des Autos fest.

Catherine dachte, daß er tot sei, aber er erhob sich wieder und schickte sich zu einem neuen Angriff an. Sie streckte ihre behandschuhte Hand aus und streichelte die Flanke des stöhnenden, zitternden Pferdes. Aber Drummond sah es nicht. Er hatte nur Augen für die Schlacht, die um den Kohlenwagen tobte, und irgendwo in seiner komplizierten Seele regte sich Bill Totts und wollte lebendig werden. Drummond glaubte an Gesetz und Ordnung und an die Aufrechterhaltung des Bestehenden, aber der aufrührerische Wilde in ihm wollte nichts davon wissen. Da rief Freddie Drummond zur Rettung seine Zurückhaltung an. Aber es steht geschrieben, daß das Haus, das nicht einheitlich gebaut ist, zerfallen muß. Freddie Drummond sah ein, daß er sein ganzes Wollen, seine Menschenkraft mit Bill Totts geteilt hatte, und jetzt wurden die beiden Seelen, die in ihm wohnten, auseinandergerissen.

Freddie Drummond saß ganz gelassen neben Catherine Van Vorst im Auto; aber aus den Augen Freddie Drummonds blitzte Bill Totts, und irgendwo hinter diesen Augen kämpfte Freddie Drummond, der vernünftige, konservative Soziologe, mit Bill Totts, dem klassenbewußten, kriegerischen Gewerkschaftler, um die Selbstbeherrschung. Mit den Augen Bill Totts sah er das unvermeidliche Ende der Schlacht auf dem Kohlenwagen. Er sah einen Polizisten hinaufklettern, einen zweiten, einen dritten. Wankend standen sie auf dem lockeren Boden, aber ihre langen Knüppel sausten durch die Luft. Ein Schlag traf den Kutscher auf den Kopf, einen zweiten, dem er auswich, erhielt er auf die Schulter. Er hatte offensichtlich das Spiel verloren. Da stürzte er sich plötzlich auf die Schutzleute, umklammerte zwei von ihnen mit den Armen und sprang mit ihnen auf das Pflaster hinunter, seine Gefangenen, selbst ein Gefangener, festhaltend.

Catherine Van Vorst war beim Anblick des Blutes und des rohen Kampfes ohnmächtig geworden. Aber sie kam zu sich bei dem ganz unerwarteten, unerhörten Ereignis, das jetzt folgte. Der Mann neben ihr stieß einen ganz unmenschlichen, fast tierischen, gellenden Schrei aus und erhob sich. Sie sah, wie er über den Vordersitz hinwegsprang und sich auf den Kohlenwagen stürzte.

Sein Angriff war wie ein Wirbelsturm. Ehe der Polizist auf dem Wagen die Absicht dieses korrekt gekleideten, aber anscheinend äußerst erregten Mannes erraten konnte, hatte er einen Stoß erhalten, der ihn im Bogen durch die Luft auf das Pflaster schleuderte. Ein Stoß ins Gesicht schickte einen zweiten Hinaufsteigenden hinterher. Drei weitere kletterten jetzt hinauf, es entstand ein gigantisches Ringen mit Bill Totts, dem im Kampfe durch den Schlag eines Knüppels der Kopf entblößt und sein gestärktes Hemd vom Leibe gerissen wurde. Aber die drei Schutzleute wurden weit fortgeschleudert, und Bill Totts hielt die Festung, einen Regen von Briketts schleudernd.

Der Hauptmann griff tapfer wieder an, wurde jedoch durch ein Brikett zurückgeworfen, das auf seinem Kopf zu schwarzen Brocken zerstob. Worauf es ankam, war für die Polizei, die Blockade zu brechen, ehe die brüllende Menge die Nachhut durchstoßen hatte, und für Bill Totts, den Wagen zu halten, bis der Mob durchgebrochen war. So ging der Kampf auf dem Kohlenwagen weiter.

Die Menge hatte ihren Helden erkannt: Bill! Bill war wieder an die Front gekommen, und Catherine Van Vorst war bestürzt über die Rufe »Bill, Bill«, die von allen Seiten ertönten. Pat Morrissey hüpfte auf seinem Kutschbock und schrie in Ekstase: »Friß sie, Bill! Friß sie! Friß sie bei lebendigem Leibe!« Vom Bürgersteig her hörte sie eine Frauenstimme aufschreien: »Achtung – Bill, vorn!« Bill hörte die Warnung und säuberte mit einem wohlgezielten Wurf das vordere Ende des Wagens von Angreifern. Catherine Van Vorst wandte den Kopf. Sie sah auf der Bordschwelle des Bürgersteigs ein Mädchen mit geröteten Wangen und blitzenden schwarzen Augen, die mit ganzer Seele auf den Mann starrten, der vor wenigen Minuten noch Freddie Drummond gewesen war.

Die Fenster der Geschäftshäuser hallten wider vom Beifall. Ein neuer Schauer von Bürostühlen und Aktenmappen sauste herab. Die Menge hatte die Wagenreihe durchbrochen und rückte vor, und jeder Schutzmann bildete den Mittelpunkt einer kämpfenden Gruppe. Die Streikbrecher wurden von den Sitzen gezerrt, die Leinen der Pferde zerschnitten und die erschreckten Tiere in die Flucht gejagt. Viele Polizisten krochen schutzsuchend unter die Wagen, während die Pferde hier und dort über ihre Rücken und Köpfe hinwegsetzten, auf den gegenüberliegenden Bürgersteig jagten und dann die Market Street hinunterschossen.

Catherine Van Vorst hörte die Frauenstimme warnend rufen. Sie stand wieder an der Bordschwelle, den Rücken den Häusern zugekehrt, und rief: »Los, Bill! Zeig, was du kannst! Gib es ihnen!«

Die Polizei war jetzt weggefegt. Bill Totts sprang auf das Pflaster hinunter und bahnte sich den Weg zu dem Mädchen auf dem Bürgersteig. Catherine Van Vorst sah, wie das Mädchen die Arme um ihn schlang und ihn auf die Lippen küßte; und Catherine Van Vorst beobachtete ihn neugierig, als er jetzt, den Arm um das Mädchen gelegt, die Straße hinunterschritt, beide schwatzend und lachend, mit einer Ungezwungenheit, die sie nie für möglich gehalten hätte.

Die Polizei war wiedergekommen und säuberte die Straße, während sie auf neue Verstärkung, neue Kutscher und Pferde wartete. Der Mob hatte sein Werk vollbracht und zerstreute sich, und Catherine Van Vorst konnte immer noch den Mann sehen, den sie als Freddie Drummond gekannt hatte. Er überragte die Menge um Haupteslänge. Sein Arm war noch um das Mädchen geschlungen. Und von ihrem Auto aus sah sie, wie das Paar die Market Street kreuzte, den Slot überschritt und im Ghetto der Arbeit verschwand.

In den folgenden Jahren wurden an der kalifornischen Universität keine Vorlesungen mehr von Freddie Drummond gehalten, und es erschienen keine Bücher über Ökonomie und Arbeiterfragen unter dem Namen Frederick A. Drummond. Dagegen gab es einen neuen Arbeiterführer, namens William Totts. Es war derselbe, der Mary Condon, die Vorsitzende der Internationalen Handschuharbeiterinnen-Gewerkschaft Nr. 974, heiratete; und es war derselbe, der den berüchtigten Köche- und Kellnerstreik ins Leben rief, diesen Streik, der, ehe er zu einem erfolgreichen Ende geführt wurde, so weite Kreise zog, daß sich ihm außer vielen anderen Verbänden selbst die Hühnerrupfer und Leichenbestatter anschlossen.


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