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Niemand kannte seine Geschichte – seine Mitverschworenen am allerwenigsten. Er war ihr »kleines Geheimnis«, ihr »großer Patriot«, und auf seine Weise arbeitete er ebensosehr an der kommenden mexikanischen Revolution wie sie. Es dauerte lange, bis sie das erkannten; denn nicht einer in der Junta konnte ihn leiden. An dem Tage, als er zum ersten Mal ihre von geschäftigen Menschen überfüllten Räume betrat, hatten ihn alle im Verdacht, ein Spion – ein Spitzel im Geheimdienst des Diaz zu sein. Zu viele von seinen Kameraden saßen rings in den Vereinigten Staaten in Zivil- und Militärgefängnissen, und andere wieder waren gerade in dieser Zeit in Ketten über die Grenze geschafft und an die Wand gestellt worden.
Auf den ersten Blick machte der junge Bursche keinen guten Eindruck auf sie. Er war nicht mehr als achtzehn Jahre alt, nicht besonders groß und erklärte, Felipe Rivera zu heißen und für die Revolution arbeiten zu wollen. Das war alles – kein Wort mehr. Er blieb aber wartend stehen. Kein Lächeln war um seinen Mund, keine Liebenswürdigkeit in seinen Augen. Den großen schneidigen Paulino Vera schauderte es innerlich. Hier war etwas Abstoßendes, Furchtbares, Unergründliches. Etwas Giftiges, Schlangenartiges war in den schwarzen Augen des Knaben. Sie brannten wie kaltes Feuer und gleichsam in einer ungeheuren, geschliffenen Erbitterung. Von den Gesichtern der Verschworenen ließ er den Blick zu der Schreibmaschine schweifen, an der die kleine Frau Sethby, eifrig arbeitend, saß. Seine Augen suchten die ihren, aber nur für eine Sekunde – sie blickte zufällig auf –, und auch sie hatte ein unbestimmbares seltsames Gefühl, das sie ihre Arbeit unterbrechen ließ. Sie mußte das Geschriebene noch einmal durchlesen, um den Brief, an dem sie arbeitete, fertigtippen zu können.
Paulino Vera sah Arrellano und Ramos fragend an, und sie sahen sich gegenseitig ratlos an. In ihrem Blick war Unsicherheit und Zweifel. Dieser schmächtige Besucher war der Unbekannte, und alles drohende Unbehagen des Unbekannten umgab ihn. Man konnte aus ihm nicht klug werden, er war so ganz jenseits des Horizontes dieser ehrenwerten, schlichten Verschwörer. Ihr wilder Haß gegen Diaz und seine Tyrannei war der Haß ehrenwerter, schlichter Patrioten.
Hier aber war etwas Anderes und Stärkeres, sie wußten freilich nicht recht, was. Aber Vera, der stets der Entschlossenste und Tatkräftigste war, packte den Stier bei den Hörnern.
»Schön«, sagte er kühl. »Sie sagen, daß Sie für die Revolution arbeiten wollen. Ziehen Sie sich den Rock aus! Hängen Sie ihn dorthin. Ich werde Ihnen zeigen – kommen Sie –, wo die Eimer und Wischlappen sind. Der Fußboden ist schmutzig. Sie können gleich anfangen, ihn hier und in den andern Zimmern aufzuwischen. Auch die Spucknäpfe müssen gereinigt werden. Und außerdem die Fenster.«
»Ist es für die Revolution?« fragte der Bursche.
»Für die Revolution!« antwortete Vera.
Rivera sah sie alle kalt und mißtrauisch an und zog sich dann den Rock aus.
»Es ist gut«, sagte er.
Weiter nichts. Tag für Tag kam er zu seiner Arbeit fegte, schrubbte und machte rein. Er nahm die Asche aus dem Ofen, holte Kohlen und Holz und machte Feuer und war der erste im Büro.
»Kann ich hier schlafen?« fragte er einmal.
Aha! Das war es – die Hand Diaz' kam zum Vorschein. Wenn er in den Räumen der Junta schlief, bedeutete das, daß er Zutritt zu ihren Geheimnissen, zu den Namenslisten, zu den Adressen der Kameraden in Mexiko erlangte. Die Bitte wurde abgeschlagen, und Rivera kam nie mehr darauf zu sprechen. Er schlief, sie wußten nicht wo, und aß, sie wußten nicht wo und was. Einmal bot Arrellano ihm ein paar Dollars an. Rivera lehnte das Geld jedoch ab. Als Vera dann hinzutrat und es ihm aufzunötigen versuchte, sagte er: »Ich arbeite für die Revolution.«
Eine Revolution vorzubereiten kostet Geld, und die Junta befand sich stets in Geldverlegenheit. Die Mitglieder hungerten und rackerten sich ab, der längste Arbeitstag war ihnen nicht lang genug, und doch sah es zuweilen so aus, als stünde und fiele alles mit der Frage, wie sie sich nur einige Dollars verschaffen könnten.
Einmal – es war das erste Mal, daß sie zwei Monate mit der Miete im Rückstand waren und der Wirt sie hinauszusetzen drohte – war es Felipe Rivera, der Reinemachejunge in der schäbigen, abgetragenen Kleidung, der sechzig Dollar in Gold auf May Sethbys Pult legte. Und ebenso bei andern Gelegenheiten. Dreihundert auf den geschäftigen Schreibmaschinen geklapperte Briefe (Bitten um Unterstützung, um Anerkennung befreundeter Gruppen, Ersuchen an Schriftleiter um wohlwollende Erwähnung und so weiter) blieben liegen und warteten auf die Frankierung. Veras Uhr verschwand – die alte goldene Repetieruhr, die er von seinem Vater geerbt hatte. Der glatte goldene Ring an May Sethbys Ringfinger verschwand ebenfalls. Es war zum Verzweifeln. Ramos und Arrellano zerrten wütend an ihren langen Schnurrbärten. Die Briefe mußten abgehen, und auf der Post gab es keinen Kredit beim Kauf von Briefmarken. Da setzte Rivera den Hut auf und ging fort. Als er wiederkam, legte er tausend Briefmarken zu zwei Cent auf May Sethbys Pult.
»Ich möchte wissen, ob das verfluchte Geld von Diaz ist?« sagte Vera zu den Kameraden.
Sie zogen die Brauen hoch, wagten aber nicht, die Frage zu beantworten. Und immer war es Felipe Rivera, der, wenn es erforderlich war, der Junta Gold und Silber verschaffte.
Aber sie liebten ihn nicht, und sie kannten ihn nicht. Er ging seine eigenen Wege, schenkte ihnen kein Vertrauen und wies alle Annäherungsversuche zurück. Und trotz seiner Jugend brachte keiner den Mut auf, ihn auszufragen.
»Er ist überhaupt kein Mensch«, sagte Ramos.
»Seine Seele ist ausgedörrt«, sagte May Sethby. »Er kann nicht lachen. Er gleicht einem Toten und ist doch furchtbar lebendig.«
»Er ist durch die Hölle gegangen«, sagte Vera. »So sieht man nur aus, wenn man durch die Hölle gegangen ist – und dabei ist er noch so jung.«
Felipe sprach nie, fragte nie, schlug nie etwas vor. Er lauschte ausdruckslos wie ein toter Gegenstand, aber seine Augen leuchteten in kaltem Glanz, wenn die andern laut und leidenschaftlich von Mexiko sprachen. Dann glitten seine Augen von Gesicht zu Gesicht, von Redner zu Redner, bohrend und forschend und mit einem Schimmer wie funkelndes Eis, das sie störte und aus der Fassung brachte.
»Er ist kein Spion«, vertraute Vera May Sethby an. »Er ist Patriot – glaub mir, der größte Patriot von uns allen. Ich weiß es, ich fühle es, mit meinem Herzen und meinem Verstand fühle ich es. Aber von ihm selber weiß ich nicht das geringste.«
»Er hat ein gefährliches Temperament«, sagte May Sethby.
»Ich weiß«, sagte Vera schaudernd. »Er hat mich mit diesen Augen angesehen. Die sprechen nicht von Liebe, sie drohen und sind wild wie die eines Tigers. Wenn ich unsere Sache im Stich lasse, dann würde er mich töten, das weiß ich. Er hat kein Herz. Er ist unbarmherzig wie Stahl, scharf und kalt wie Frost. Ich fürchte weder Diaz noch all seine Mörder, aber vor diesem Rivera habe ich Angst. Es ist wahr. Ich habe Angst.«
Dennoch war es Vera, der die andern überredete, Rivera die erste, Vertrauen erheischende Aufgabe zu stellen. Die Verbindung zwischen Los Angeles und Niederkalifornien war unterbrochen. Drei von den Kameraden hatten ihre eigenen Gräber graben müssen und waren dann erschossen worden. Zwei weitere saßen als Gefangene der Vereinigten Staaten in Los Angeles. Juan Alvarado, der Bundesgeneral, durchkreuzte all ihre Pläne. Sie konnten nicht mehr mit den aktiven Revolutionären und mit den erwachenden Kameraden in Niederkalifornien in Verbindung kommen.
Der junge Rivera erhielt seine Anweisungen und wurde nach dem Süden geschickt. Als er wiederkam, war die Verbindung wiederhergestellt und Juan Alvarado tot. Er war mit einem Dolch in der Brust in seinem Bett gefunden worden. Das ging über die Rivera erteilten Anweisungen hinaus, aber man fragte ihn nicht, und er sagte nichts. Aber sie sahen sich an und dachten sich ihr Teil.
»Ich habe es euch gesagt«, meinte Vera. »Diaz hat von diesem jungen Mann mehr zu fürchten als von irgendeinem sonst. Er ist unversöhnlich.«
Das gefährliche Temperament, von dem May Sethby gesprochen, und das jeder von ihnen bemerkt hatte, offenbarte sich auch in anderer Beziehung. Bald erschien er mit zerrissener Lippe, bald mit einer blau und braun geschlagenen Backe, bald mit einem geschwollenen Ohr. Es war klar, daß er irgendwo in der Welt, wo er aß und schlief und sich Geld verschaffte und ein Leben führte, von dem sie nichts wußten, daß er in jener Welt oft Streit hatte. Nach einiger Zeit wurde er Setzer an dem revolutionären Wochenblättchen, das sie herausgaben. Gelegentlich war es ihm nicht möglich, zu setzen, weil seine Knöchel abgeschürft und zerschlagen, seine Daumen zerquetscht und hilflos waren oder weil seine Arme schlaff herabhingen, während sein Gesicht sich in stummem Schmerz verzerrte.
»Ein Straßenjunge«, sagte Arrellano.
»Ein Säufer und Raufbold«, sagte Ramos.
»Aber wo kriegt er das Geld her?« fragte Vera. »Ich habe gerade eben erfahren, daß er die Papierrechnung bezahlt hat – hundertundvierzig Dollar.«
»Er ist ja oft weg«, sagte May Sethby, »und gibt nie eine Erklärung dafür.«
»Wir sollten ihn beobachten«, schlug Ramos vor.
»Der Spion möchte ich nicht sein«, sagte Vera. »Ich fürchte, ihr würdet mich nie wiedersehen, außer bei meiner Beerdigung.«
»Ich komme mir ihm gegenüber immer wie ein Kind vor«, gestand Ramos.
»Für mich ist er eine Macht – der wilde Wolf –, die zustoßende Klapperschlange«, sagte Arrellano.
»Er kennt niemand«, sagte May Sethby. »Er haßt alle. Er ist allein ... einsam.«
Riveras Tun und Treiben war wirklich ein Geheimnis. Es gab Zeiten, in denen sie ihn eine ganze Woche lang nicht sahen. Einmal blieb er einen ganzen Monat verschwunden. Das war um so rätselhafter, als er bei seiner Heimkehr stets still und ohne ein Wort zu sagen Goldstücke auf May Sethbys Pult legte. Dann verbrachte er wieder Tage und Wochen seine ganze Zeit bei der Junta. Und dann konnte er wieder auf ungewisse Zeit vom frühen Morgen bis zum Abend verschwinden. In solchen Zeiten kam er spät und blieb lange. Arrellano hatte ihn um Mitternacht gesehen, wie er mit geschwollenen Knöcheln und einer zerrissenen, noch blutenden Lippe am Setzkasten stand.
Die Entscheidung näherte sich. Ob es zum Aufstand kommen sollte oder nicht, hing von der Junta ab, aber die Junta befand sich in großer Verlegenheit. Der Geldbedarf war größer als je, und dabei wurde es immer schwerer, Geld zu beschaffen. Die Patrioten hatten ihren letzten Cent hergegeben und besaßen nichts mehr. Die in der Verbannung lebenden Arbeiter gaben die Hälfte ihres kargen Lohnes ab. Aber man brauchte mehr. Die jahrelange, anstrengende Arbeit der Revolutionäre sollte bald Früchte tragen. Die Zeit war gekommen. Noch ein Stoß, noch eine letzte, heldenmütige Anstrengung, und der Sieg war sicher. Sie kannten ihr Mexiko. Einmal in Gang gebracht, nahm die Revolution von selber ihren Lauf. Die Grenzgebiete waren zum Aufstand bereit. Ein Amerikaner wartete mit hundert Mann auf ein Wort, um die Grenze zu überschreiten. Aber er brauchte Gewehre. Im ganzen Lande bis zum Atlantischen Ozean unterhielt die Junta Verbindungen, und alle brauchten sie Gewehre: Abenteurer, Glücksritter, Banditen, enttäuschte amerikanische Unionisten und die vielen mexikanischen Verbannten, der Sklaverei entflohene Peonen, Minenarbeiter, die man in den Gefängnissen von Coeur d'Alene und Colorado ausgepeitscht hatte und die deshalb besonders rachgierig und kampflustig waren – Wracks und Strandgut wirrer Geister aus der toll gewordenen Welt. Gewehre und Munition! Gewehre und Munition! Danach riefen sie alle unaufhörlich.
Wurde diese bankrotte, rachgierige Bande über die Grenze geworfen, war die Revolution sofort im Gange. Die Zollämter, die nördlichen Einfuhrhäfen wurden erobert. Diaz mußte die Hauptmacht seines Heeres im Süden des Landes halten, denn auch im Süden würde der Aufruhr beginnen. Stadt auf Stadt mußte sich ergeben, Staat auf Staat wanken und zusammenstürzen. Und zuletzt kam der Marsch der siegreichen Revolution nach der Hauptstadt Mexiko. Aber das Geld! Die Männer hatten sie, und die warteten ungeduldig auf die Gewehre. Sie kannten die Händler, die ihnen die Gewehre verkaufen und liefern sollten. Aber die Junta hatte ihre Kräfte erschöpft. Der letzte Dollar war ausgegeben, die letzte Hilfsquelle, der letzte hungernde Patriot ausgesogen, und die große Sache schwebte immer noch zitternd auf der Waagschale der Entscheidung. Gewehre und Munition! Die zerlumpten Bataillone mußten bewaffnet werden. Aber wie? Ramos wehklagte über sein konfisziertes Eigentum. Arrellano bejammerte die Verschwendung, die er in seiner Jugend betrieben hatte. May Sethby grübelte, ob nicht alles besser gegangen wäre, wenn die Mitglieder der Junta früher sparsamer gewesen wären.
»Der Gedanke macht mich wahnsinnig, daß die Freiheit Mexikos mit ein paar Tausend elenden Dollars stehen und fallen soll!« sagte Paulino Vera.
Die Gesichter aller drückten Verzweiflung aus. José Amarillo, ihre letzte Hoffnung, ein erst jüngst Bekehrter, der ihnen Geld versprochen hatte, war auf seiner Hazienda in Chihuahua ergriffen und an seiner eigenen Stallmauer erschossen worden. Die Nachricht war gerade gekommen.
Rivera, der auf den Knien lag und den Fußboden scheuerte, blickte auf, den Scheuerlappen in der Hand und die bloßen, von schmutzigem Seifenwasser bespritzten Arme ausgestreckt.
»Würden fünftausend genügen?« fragte er.
Sie starrten ihn an. Vera nickte und schluckte. Er konnte kein Wort hervorbringen, aber eine neue Hoffnung belebte ihn.
»Bestellen Sie die Gewehre«, sagte Rivera, und dann leistete er sich die längste Rede, die sie je von ihm gehört hatten. »Es ist nicht viel Zeit. In drei Wochen bringe ich euch die fünftausend. Das ist früh genug. Dann ist es wärmer für die, welche kämpfen sollen. Und schneller kann ich es auch nicht machen.«
Vera kämpfte mit sich selbst. Allzu viele Hoffnungen waren schon zerschellt, seit er dabei war, aber er glaubte an diesen abgerissenen Scheuerjungen der Revolution und wagte es doch nicht, an ihn zu glauben.
»Du bist verrückt«, sagte er.
»In drei Wochen«, sagte Rivera. »Bestellt die Gewehre.«
Er stand auf, krempelte sich die Hemdsärmel herunter und zog sich die Jacke an.
»Bestellt die Gewehre«, sagte er. »Ich gehe jetzt.«
Nach vielem Hin und Her, zahllosen Telephongesprächen und unendlicher Schimpferei wurde eine Nachtsitzung in Kellys Kontor abgehalten. Kelly steckte bis über die Ohren in Geschäften, und überdies hatte er Pech. Er hatte sich Danny Ward aus New York verschrieben und einen Boxkampf zwischen ihm und Billy Carthey arrangiert, der in drei Wochen stattfinden sollte, und jetzt mußte Carthey seit zwei Tagen, sorgsam versteckt vor den Sportreportern, wegen einer argen Verletzung das Bett hüten. Es gab keinen anderen, der für ihn eintreten konnte. Kelly hatte wie verrückt nach jedem annehmbaren Boxer der Leichtgewichtsklasse im Osten telegraphiert, aber alle waren durch Vereinbarungen und Kontrakte gebunden. Aber jetzt hatte er eine Hoffnung, wenn auch nur eine schwache.
»Sie haben viel Mut!« sagte Kelly zu Rivera.
In Riveras Augen blitzte es boshaft auf, aber das Gesicht bewahrte seinen unerschütterlichen, kalten Ausdruck.
»Ich kann Ward erledigen«, war alles, was er sagte.
»Wie können Sie das wissen? Haben Sie ihn je boxen sehen?«
Rivera schüttelte den Kopf.
»Mit einer Hand und mit geschlossenen Augen macht er Quetschkartoffeln aus Ihnen.«
Rivera zuckte die Achseln.
»Haben Sie nichts dazu zu sagen?« knurrte der Veranstalter.
»Ich kann ihn erledigen.«
»Haben Sie überhaupt je gekämpft?« fragte Michael Kelly. Michael war der Bruder des Veranstalters, betrieb das Yellowstone-Wettbüro und verdiente viel Geld an den Boxkämpfen.
Rivera knurrte ihn grimmig an.
Der Sekretär, ein junger Mann von ausgeprägtem Sportlertyp, räusperte sich höhnisch.
»Nun, Sie kennen ja Roberts«, brach Kelly das peinliche Schweigen. »Er hätte schon hier sein können. Aber setzen Sie sich und warten Sie, wenn Sie auch Ihrem Aussehen nach nicht viele Chancen haben. Ich kann dem Publikum keinen faulen Kampf bieten. Die Plätze vorn am Ring werden mit fünfzehn Dollar bezahlt, wie Sie vielleicht wissen.«
Als Roberts kam, war er offensichtlich angesäuselt. Er war ein großer, schlanker, schlottriger Mensch, und sein Gang war wie seine Rede, ruhig und schleppend.
Kelly ging gleich auf den Kern der Sache los.
»Sagen Sie mal, Roberts, Sie haben doch mit der Entdeckung dieses kleinen Mexikaners geprahlt. Wie Sie wissen, hat Carthey sich den Arm gebrochen. Und nun hat dieser kleine gelbe Bursche die Dreistigkeit, heut herzukommen und zu sagen, daß er für Carthey in den Ring gehen will. Was meinen Sie dazu?«
»Schon in Ordnung, Kelly«, lautete die schleppende Antwort. »Er kann boxen.«
»Sie wollen mir doch nicht einreden, daß er mit Ward fertig werden kann«, sagte Kelly bissig.
Roberts dachte nach.
»Nein, das will ich nicht behaupten. Ward ist überhaupt nicht zu schlagen. Aber er wird auch nicht im Handumdrehen mit Rivera fertig. Ich kenne Rivera. Er gibt sich nie eine Blöße, ich hab's jedenfalls noch nicht gesehen. Und er boxt mit beiden Händen gleich gut. In jeder Stellung kann er betäubende Schläge austeilen.«
»Na schön. Aber welche Chance hat er? Sie haben Ihr ganzes Leben lang Boxer trainiert. Ich ziehe meinen Hut vor ihrer Sachkenntnis. Kann er dem Publikum etwas fürs Geld geben?«
»Das kann er bestimmt, und dazu wird er Ward tüchtig zu schaffen machen. Sie kennen den Jungen nicht, aber ich kenne ihn. Ich habe ihn entdeckt. Er hat keine schwache Stelle. Er ist der reine Teufel. Wenn jemand Sie fragt, können Sie sagen, daß er ein Hexenmeister ist. Ward und euch allen werden die Augen übergehen. Ich will nicht behaupten, daß er Ward besiegt, aber auf alle Fälle wird er etwas leisten, daß ihr alle den neuen Mann in ihm seht.«
»Schön.« Kelly wandte sich an seinen Sekretär. »Rufen Sie Ward an. Ich hab' es ihm versprochen, wenn ich es der Mühe wert hielte. Er ist gerade gegenüber im Yellowstone-Büro und setzt wie gewöhnlich.« Kelly wandte sich wieder an Roberts.
»Was trinken?«
Roberts nippte an seinem Glas und schüttete sein Herz aus. »Ich hab' Ihnen noch gar nicht erzählt, wie ich den kleinen Burschen entdeckt habe. Vor ein paar Jahren tauchte er im Quartier auf. Ich trainierte gerade Prayne für seinen Kampf mit Delaney. Prayne ist ein schlechter Kerl. Es steckt nicht ein Funken Mitleid in ihm. Er hatte seinen Partner furchtbar zugerichtet, und ich konnte keinen finden, der Lust hatte, mit ihm zu trainieren. Da bemerkte ich diesen kleinen, ausgehungerten Mexikaner, der immer herumschlich und zusah. Ich war verzweifelt und wußte nicht, was ich tun sollte. Da holte ich ihn mir, zog ihm die Handschuhe an und puffte ihn hinein. Er war zäher als ungegerbtes Leder, aber schwach. Und dabei kannte er nicht einen Buchstaben vom Alphabet der Boxkunst. Prayne machte Apfelmus aus ihm. Aber er hielt doch zwei Runden durch, ehe er schlapp machte. Es war ausschließlich der Hunger. Ob er zerschlagen war? Sie hätten ihn nicht wiedererkannt. Ich gab ihm einen halben Dollar und was Ordentliches zu essen. Sie hätten seinen Wolfshunger sehen sollen, als er es verschlang. Er hatte seit Tagen keinen Bissen in den Leib gekriegt. Jetzt hat er genug davon, dachte ich. Aber am nächsten Tage kam er wieder, steif und wund, aber darauf versessen, sich wieder einen halben Dollar und ein gutes Mittagessen zu verdienen. Und mit der Zeit wurde er immer tüchtiger. Er ist der geborene Boxer und unglaublich zäh. Er hat kein Herz. Er ist der reine Eiszapfen. Und in der ganzen Zeit, die ich ihn jetzt kenne, hat er keine zehn zusammenhängenden Worte gesprochen. Er schwatzt nicht, aber er tut seine Arbeit.«
»Ich hab' ihn gesehen«, sagte der Sekretär. »Er hat ziemlich viel für Sie gearbeitet.«
»All die großen Bürschlein haben es mit ihm versucht«, antwortete Roberts. »Und er hat von ihnen gelernt. Ich hab' manches liebe Mal gesehen, wie er sie vertobakte. Aber er hat nie seine ganze Seele hineingelegt. Ich glaube, er hat das Spiel nie so recht geliebt. Es sieht jedenfalls so aus.«
»Er hat in den letzten Monaten ziemlich viel in den kleinen Klubs gekämpft.«
»Das stimmt. Ich weiß gar nicht, was in ihn gefahren ist. Plötzlich hat er sein Herz dafür entdeckt. Er ging mächtig drauflos und schlug sämtliche lokale Größen. Schien Geld zu brauchen und gewann auch eine ganze Menge, wenn man es seiner Kleidung auch nicht ansehen kann. Ein merkwürdiger Mensch! Niemand weiß, was er treibt. Niemand weiß, wo er seine Zeit verbringt. Mitten in der Arbeit läuft er plötzlich weg und verschwindet für den Rest des Tages. Manchmal bleibt er wochenlang weg. Aber man kann sagen, was man will, er hört nicht darauf. Ein Vermögen wartet auf den Mann, der ihn richtig zurechtstutzt, aber er will sich nichts sagen lassen.
Achten Sie mal besonders darauf, wie sehr er auf das Geld aus ist, wenn Sie die Bedingungen mit ihm abmachen.«
Soweit war die Unterhaltung gediehen, als Danny Ward eintrat. Jetzt war es eine ganze Gesellschaft. Sein Manager und sein Trainer waren mit ihm gekommen, und überströmend liebenswürdig, gutherzig und gewinnend, wie er war, brachte er einen frischen Hauch mit herein. Danny begrüßte alle, hatte für jeden einen Scherz, eine witzige Antwort, ein Lächeln oder ein Lachen. Das war nun einmal seine Art und Weise, aber sie war nicht ganz echt. Er war ein guter Schauspieler, und er hatte entdeckt, daß Liebenswürdigkeit nicht zu verachten ist, wenn man in dieser Welt weiterkommen will. Aber auf dem Grunde seiner Seele war er ein nüchterner, kaltblütiger Raufbruder und Geschäftsmann. Alles andere war Maske. Wer ihn kannte oder Geschäfte mit ihm gemacht hatte, sagte, daß Danny sich nichts vormachen ließe, wenn es darauf ankäme. Er war unweigerlich bei allen geschäftlichen Unterredungen dabei, und manche behaupteten, daß sein Manager nur ein Strohmann wäre, dessen Aufgabe es sei, als Sprachrohr zu dienen.
Rivera war ganz anders. In seinen Adern floß das Blut von Indianern und von Spaniern. Er saß stumm und unbeweglich in einer Ecke im Hintergrund, und nur seine Augen glitten von Gesicht zu Gesicht und beobachteten alles.
»Das ist also das Jüngelchen«, sagte Danny und ließ seinen Blick abschätzend über seinen künftigen Gegner schweifen. »Wie geht's, Alterchen?«
Riveras Augen funkelten boshaft, aber er rührte sich nicht. Er konnte keinen Gringo leiden, aber diesen Gringo haßte er so unmittelbar, wie es selbst bei ihm ungewöhnlich war.
»Mein Gott!« protestierte Danny lustig, an Kelly gewandt. »Sie wollen mich doch nicht mit einem Taubstummen kämpfen lassen.« Als das Gelächter sich gelegt hatte, machte er einen neuen Ausfall. »Mit Los Angeles muß es schlecht stehen, wenn das das Beste ist, was ihr aufzuweisen habt. Aus was für einem Kindergarten habt ihr ihn aufgelesen?«
»Er ist ein braver kleiner Junge, Danny, verlaß dich drauf«, sagte Roberts. »Nicht so leicht mit ihm fertig zu werden, wie es aussieht.«
»Und das Haus ist schon halb ausverkauft«, sagte Kelly eindringlich. »Du wirst es mit ihm versuchen müssen, Danny. Wir können nicht mehr tun.«
Danny warf abermals einen nachlässigen und nicht gerade schmeichelhaften Blick auf Rivera und seufzte. »Ich muß ein bißchen vorsichtig mit ihm umgehen, glaube ich. Wenn er nur nicht ganz kaputt dabei geht.«
Roberts lachte laut.
»Du mußt dich in acht nehmen«, warnte Dannys Manager. »Man kann bei so 'nem Neuling nie wissen, was er auf der Pfanne hat.«
»Oh, ich werde mich schon in acht nehmen«, lächelte Danny. »Ich werde mich seiner gleich richtig annehmen, daß das liebe Publikum was davon hat. Was meinst du zu fünfzehn Runden, Kelly – und ich will ihn schon tummeln.«
»Das genügt«, lautete die Antwort. »Du mußt es nur ein bißchen realistisch machen.«
»Also dann wollen wir das Geschäftliche besprechen.«
Danny hielt inne und rechnete nach. »Selbstverständlich fünfundsechzig Prozent wie gegen Carthey. Aber andere Verteilung. Achtzig Prozent für mich – so wird's in Ordnung sein.« Und zu seinem Manager gewandt: »Ist's nicht so?« – Der nickte.
»Sie da, haben Sie verstanden?« fragte Kelly Rivera. Rivera schüttelte den Kopf.
»Also die Sache ist so«, erklärte Kelly. »Die Kampfbörse beträgt fünfundsechzig Prozent von der Bruttoeinnahme. Sie sind ein Neuling und ganz unbekannt. Sie und Danny teilen, zwanzig Prozent kriegen Sie und achtzig Danny. Das ist doch gerecht, nicht wahr, Roberts?«
»Das genügt«, lautete die Antwort. »Sie müssen es«, räumte Roberts ein. »Sie haben ja noch keinen Namen, wissen Sie.«
»Wieviel kommen bei fünfundsechzig Prozent von der Einnahme heraus?« fragte Rivera.
»Na, vielleicht fünftausend, vielleicht sogar acht«, warf Danny ein. »So ungefähr wohl. Ihr Anteil wird etwa tausend bis sechzehnhundert betragen. Ganz nette Bezahlung für eine Tracht Prügel von einem Mann wie mir. Was meinen Sie dazu?«
Riveras Antwort ließ die andern nach Luft schnappen. »Der Sieger bekommt alles«, sagte er entschieden. Es wurde totenstill.
»Das ist ja, wie wenn man einem Kind einen Bonbon wegnehmen wollte«, erklärte Dannys Manager.
Danny schüttelte den Kopf. »Ich bin zu lange beim Bau«, meinte er. »Ich will weder den Schiedsrichter noch die Anwesenden irgendwie verdächtigen. Ich will nicht von Buchmachern sprechen und von gewissen Dingen, die hin und wieder vorkommen. Aber ich darf wohl sagen, daß es ein schlechtes Geschäft für einen Boxer wie mich ist. Ich weiß, daß ich siege. Daran ist gar kein Zweifel. Aber ich kann mir den Arm brechen, nicht wahr? Oder irgendein Taugenichts läßt mich in Wagenschmiere ausgleiten?« Er schüttelte feierlich den Kopf. »Ob ich gewinne oder verliere – ich kriege achtzig Prozent. Wie steht's, Mexikaner?«
Rivera schüttelte den Kopf.
Danny explodierte – jetzt wurde es ihm zuviel.
»Was, du dreckiger kleiner Schmutzfink! Ich hätte Lust, dir gleich jetzt den Hintern zu verhauen.«
Roberts legte sich auf seine langsame, zögernde Art dazwischen, um Feindseligkeiten zu verhindern.
»Der Sieger bekommt alles«, wiederholte Rivera mürrisch.
»Warum willst du das durchaus?« fragte Danny.
»Ich kann dich schlagen«, lautete die offenherzige Antwort.
Danny sprang auf und machte Miene, den Rock abzuwerfen. Aber das war, wie sein Manager wußte, nur Bluff und Pose. Der Rock kam nicht herunter, und Danny ließ sich von den andern beruhigen. Alle sympathisierten mit ihm. Rivera stand allein da.
»Sehen Sie mal, Sie kleiner Narr«, mischte sich jetzt Kelly hinein. »Sie sind nichts. Wir wissen, was Sie in den letzten Monaten getrieben haben – Sie haben einige kleine Boxer besiegt. Aber Danny ist Klasse. Wenn man ihn das nächste Mal nach diesem Kampf wieder im Ring sieht, geht es um die Meisterschaft. Aber Sie sind ganz unbekannt. Außerhalb von Los Angeles hat noch nie jemand etwas von Ihnen gehört.«
»Dann werden Sie es hören«, antwortete Rivera achselzuckend. »Nach diesem Kampf.«
»Du glaubst doch nicht einen Augenblick, daß du mich schlagen kannst?« brauste Danny auf. Rivera nickte.
»Nun hören Sie doch, nehmen Sie Vernunft an«, sagte Kelly eindringlich. »Denken Sie an die Reklame!«
»Ich will das Geld«, antwortete Rivera.
»Du kannst mich nicht besiegen, und wenn du tausend Jahre alt würdest«, tobte Danny.
»Weshalb bist du dann so eigensinnig?« fragte Rivera. »Wenn das Geld so leicht zu gewinnen ist, warum willst du es dann nicht gewinnen?«
»Ich will, Gott helfe mir!« rief Danny plötzlich mit Überzeugung. »Ich werde dich totschlagen im Ring, mein Junge – wenn du solche Possen mit mir treibst. Setzen Sie den Kontrakt auf, Kelly, der Sieger bekommt alles. Machen Sie tüchtig Reklame in den Zeitungen. Erzählen Sie den Leuten, daß es ein Kampf zwischen zwei persönlichen Feinden ist. Ich will es diesem Gelbschnabel zeigen.«
Kellys Sekretär begann zu schreiben, aber Danny unterbrach ihn.
»Einen Augenblick!« Er wandte sich an Rivera. »Das Wiegen?«
»Im Ring«, lautete die Antwort.
»Nicht zu machen, Gelbschnabel. Wenn der Sieger alles kriegen soll, wird morgens um zehn gewogen.«
»Und der Sieger bekommt alles?« fragte Rivera.
Danny nickte. Das entschied die Sache. Er würde in seiner höchsten Form den Ring betreten.
»Sie sind ein Esel«, sagte Roberts zu Rivera. »Danny wird Sie ganz sicher schlagen. Sie haben gerade so viel Chance wie ein Tautropfen in der Hölle.«
Riveras Antwort war ein wohlberechneter, haßerfüllter Blick. Selbst diesen Gringo verachtete er, und dabei hatte er in Roberts doch den besten von allen Gringos gefunden.
Man beachtete Rivera kaum, als er in den Ring trat. Er wurde nur mit vereinzeltem, mattem Händeklatschen begrüßt. Die Zuschauer glaubten nicht an ihn. Er war das Lamm, das von dem mächtigen Danny zur Schlachtbank geführt wurde. Zudem waren die Zuschauer enttäuscht. Sie hatten einen stürmischen Kampf zwischen Danny Ward und Billy Carthey erwartet, und jetzt sollten sie sich mit diesem elenden kleinen Anfänger begnügen. Das Publikum hatte seine Mißbilligung über die Veranstaltung auch dadurch gezeigt, daß es zwei, ja sogar drei zu eins auf Danny hielt. Und das Herz eines wettenden Publikums ist immer auf der Seite seines Geldes.
Der junge Mexikaner saß in seiner Ecke und wartete. Die Minuten schlichen dahin. Danny ließ ihn warten. Das war ein alter Kniff, der aber stets auf die Anfänger wirkte. Sie wurden aufgeregt, wenn sie so dasaßen und warteten, von bangen Ahnungen erfüllt und Angesicht zu Angesicht mit einem gefühllosen, rauchenden Publikum. Diesmal aber wirkte der Kniff nicht. Roberts hatte richtig gesehen: Rivera hatte keinen schwachen Punkt. Er, der zarter war und empfindlicher und feinere Nerven hatte als sie alle, war nicht nervös. Die Atmosphäre einer im voraus sicheren Niederlage, die seine Umgebung bedrückte, übte keinen Eindruck auf ihn aus. Seine Sekundanten waren Gringos und Fremde: Auswurf, schmutziger Abfall des Boxsports, ohne Ehrgefühl und Kraft. Und überdies lähmte sie das Gefühl, daß sie auf der Seite des Verlierenden standen.
»Sei nur vorsichtig«, warnte ihn Spider Hagerthy. Spider war sein erster Sekundant. »Zieh es nach Möglichkeit in die Länge – das hat Kelly mir eingeschärft. Wenn du das nicht tust, schreiben die Zeitungen von Humbug und machen den Sport in Los Angeles schlecht.«
Alles dies war nicht gerade ermutigend, aber Rivera machte sich nichts daraus. Er verachtete einen Kampf, der um Geld ging. Das war der verhaßte Sport der verhaßten Gringos. Er hatte ihn selbst oft genug betrieben, aber nur, weil er hungerte. Die Tatsache, daß er für diesen Sport wie geschaffen war, bedeutete ihm nichts. Er haßte ihn. Und er war nicht der erste unter den Menschensöhnen, der entdeckte, daß er in einer verächtlichen Beschäftigung Erfolg hatte.
Er untersuchte seine Gefühle nicht. Er wußte nur, daß er in diesem Kampf siegen mußte. Es war nicht anders möglich. Denn hinter ihm standen stärkere Kräfte, als irgend jemand im Publikum sich träumen ließ, und sie flößten ihm diese Überzeugung ein. Danny Ward kämpfte für Geld und für die Annehmlichkeiten, die das Geld ihm in diesem Leben verschaffen konnte. Aber alles, wofür Rivera kämpfte, brannte in seinem Hirn. Wie er jetzt mit weit aufgerissenen Augen ganz allein in seiner Ecke des Ringes saß und auf seinen schlauen Gegner wartete, hatte er leuchtende und schreckliche Visionen, und sie waren so klar und deutlich, als erlebe er sie.
Er sah die Wasserkraftfabriken von Rio Blanco mit ihren weißen Mauern. Er sah die sechstausend hungrigen, bleichen Arbeiter und die sieben- und achtjährigen Kinder, die sich für zehn Cent den Tag abrackerten. Er sah die wandernden Leichen, die gespensterhaften Totenköpfe der Färbereiarbeiter. Er erinnerte sich, seinen Vater die Färberei die Selbstmörderhöhle haben nennen hören, weil ein Jahr Arbeit dort den Tod bedeutete. Er sah das kleine Gut und seine Mutter, die kochte und von morgens bis abends mit ihrer Hausarbeit zu tun hatte, aber doch Zeit fand, ihn zu streicheln und zu lieben. Und er sah seinen Vater, groß, mit dichtem Schnurrbart und breiter Brust, seinen Vater, der, freundlicher als alle andern, alle Menschen liebte, dessen Herz aber so groß war, daß noch reichlich viel Liebe für die Mutter und für den kleinen Muchacho übrigblieb, der in einer Ecke des Patios spielte. In jenen Tagen hatte er nicht Felipe Rivera geheißen. Er hatte Fernandez geheißen, wie sein Vater und seine Mutter. Ihn hatten sie Juan genannt. Später hatte er den Namen geändert, denn er hatte gemerkt, daß der Name Fernandez den Polizeipräfekten und den politischen Behörden verhaßt war.
Der große, warmherzige Joaquin Fernandez! Einen hervorragenden Platz nahm er in den Visionen Riveras ein. Damals hatte er es nicht verstanden, wenn er jetzt aber zurückblickte, begriff er. Er konnte ihn sehen, wie er in der kleinen Druckerei Typen setzte oder an dem von Papieren überfließenden Pult hastig und nervös endlose Zeilen hinkritzelte. Und er erinnerte sich der seltsamen Abende, wenn die Arbeiter heimlich in der Dunkelheit, wie Leute, die Böses im Sinne hatten, zu seinem Vater geschlichen kamen und stundenlang mit ihm redeten, während der Muchacho, oft ohne Schlaf zu finden, in seiner Ecke lag.
Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimme Spider Hagerthys, der zu ihm sagte: »Also nicht gleich am Anfang aufgeben. Das wäre gegen die Instruktionen. Steck deine Prügel ein und leiste was fürs Geld.«
Zehn Minuten waren vergangen, und er saß immer noch in seiner Ecke. Man sah nichts von Danny, der seinen Kniff offenbar bis zum Äußersten trieb.
Aber vor Rivera stiegen nun Visionen auf. Der Streik von Rio Blanco, der Hunger, die Wanderungen in die Berge nach Beeren, Wurzeln und Kräutern, die sie aßen und die ihnen Magenkrämpfe und Leibschmerzen verursachten. Und dann das Entsetzliche: Die Soldaten von General Rosalio Martinez und Porfirio Diaz und die todbringenden Gewehre, die nie aufhören wollten, Tod und Verderben zu speien und die Sünden der Arbeiter in ihrem eigenen Blut zu ertränken. Und die Nacht! Er sah die flachen Wagen, auf denen die Leichen aufgehäuft waren, nach Vera Cruz zum Futter für die Haie in der Bucht bestimmt. Er sah sich wieder über den unheimlichen Leichenhaufen klettern und die halb entkleideten, mißhandelten Leichen seines Vaters und seiner Mutter suchen und finden. Besonders deutlich erinnerte er sich seiner Mutter – nur ihr Gesicht guckte hervor, ihr Leib war von der Last Dutzender von Toten verborgen. Wieder knallten die Gewehre des Porfirio Diaz, und er sah sich wie ein gejagter Bergkojote davonrasen.
Ein lautes Gebrüll wie vom Meer klang an sein Ohr, er sah Danny Ward an der Spitze seines Gefolges von Trainern und Sekundanten durch den Gang in der Mitte kommen. Das Publikum tobte vor Begeisterung. Alle jubelten ihm zu. Alle waren für ihn. Sogar Riveras eigene Sekundanten atmeten erleichtert auf, und ihre Laune besserte sich, als Danny sich gewandt unter den Seilen duckte und in den Ring trat. Sein Gesicht zeigte ein Lächeln nach dem andern, und wenn Danny lächelte, lächelte jeder Zoll seines Gesichtes bis zu den Fältchen in den Augenwinkeln und bis in die Tiefe der Augen selbst. Nie hatte man einen so liebenswürdigen Boxer gesehen. Sein Gesicht war eine Verkörperung von Gutmütigkeit und Kameradschaft. Er kannte alle Welt. Er scherzte und lachte und tauschte über die Seile hinweg Grüße mit seinen Freunden aus. Die andern, die ihre Bewunderung nicht bändigen konnten, riefen laut: »Danny!« Die Stimmung stieg und raste sich in Beifallsstürmen aus, die Minuten dauerten.
Rivera blieb unbeachtet. Spider Hagerthy beugte sich mit aufgedunsenem Gesicht über ihn.
»Krieg nun keine Angst«, warnte er ihn. »Und vergiß die Instruktionen nicht. Du mußt aushalten. Nicht aufgeben! Wenn du aufgibst, sollen wir dich nachher vertobaken. Verstanden? Du hast zu kämpfen.«
Das Publikum begann zu klatschen. Danny durchschritt den Ring, trat auf ihn zu und beugte sich zu ihm nieder. Er nahm Riveras Hand zwischen seine beiden und drückte sie mit überströmender Herzlichkeit. Das Publikum jubelte Beifall. Danny begrüßte seinen Gegner mit der Zärtlichkeit eines Bruders. Seine Lippen bewegten sich, und das Publikum, das die Worte, die er sprach, nicht hören konnte, sie aber als freundlich, liebenswürdig und sportsmäßig auffaßte, schrie wieder. Nur Rivera hörte die leise gesprochenen Worte.
»Du kleine mexikanische Ratte«, drang es zischend zwischen den lächelnden Lippen hervor, »ich will dir die Eingeweide zum Leibe herausprügeln.«
Rivera rührte sich nicht. Er stand nicht auf. Er sah den andern nur voller Haß an.
»Steh auf, du Hund«, heulte jemand im Hintergrund des Zuschauerraums. Die Menge begann ihn wegen seines wenig sportgerechten Benehmens auszuzischen und auszupfeifen, aber er blieb sitzen.
Ein neuer Beifallssturm begrüßte Danny, als er sich durch den Ring auf seinen Platz zurückbegab.
Als Danny sich entkleidete, wurde begeistert »Ah!« und »Oh!« gerufen. Sein Körper war vollkommen und strotzte von Geschmeidigkeit, Kraft und Gesundheit. Die Haut war weiß und glatt wie die einer Frau. Und unter ihrer Oberfläche spielten Anmut, Gewandtheit und Stärke. Das hatte er in Dutzenden von Kämpfen bewiesen. Sein Bild war durch die gesamte Sportpresse gegangen.
Als Spider Hagerthy Rivera das wollene Hemd über den Kopf zog, wurde gezischt. Sein Körper erschien wegen der dunklen Hautfarbe schmächtiger, als er in Wirklichkeit war. Er hatte Muskeln, aber sie traten nicht so in Erscheinung wie die seines Gegners. Was das Publikum dagegen übersah, war seine tiefe Brust. Und es hatte auch keine Ahnung – und konnte sie auch nicht haben – von der Zähigkeit seiner Muskelbänder und von der Explosivkraft seiner Fäuste. Das einzige, was das Publikum sah, war ein braunhäutiger, achtzehnjähriger Bursche mit einem Körper, der wie der eines Knaben wirkte. Da war Danny doch ganz etwas anderes. Das war ein Mann von vierundzwanzig Jahren, und sein Körper der eines Mannes. Der Gegensatz war noch auffälliger, als sie nebeneinander im Ring standen und die letzten Weisungen des Schiedsrichters empfingen.
Rivera bemerkte, daß Roberts direkt hinter den Reportern saß. Er war noch mehr berauscht als gewöhnlich und seine Rede entsprechend schleppender.
»Nur immer ruhig, Rivera«, sagte Roberts. »Totschlagen kann er dich nicht, das vergiß nicht. Er wird gleich im Anfang mächtig auf dich losgehen, aber laß dich nicht dadurch verblüffen. Deck dich nur gut, steh fest und geh in Clinch. Dann kann er dir nichts weiter tun. Stell dir einfach vor, daß er im Trainingssaal auf dich losschlüge.«
Rivera gab kein Zeichen, daß er es gehört hätte.
»Ein mürrischer kleiner Teufel«, murmelte Roberts seinem Nebenmann zu. »So ist er immer gewesen.«
Aber Rivera vergaß, ihm seinen üblichen gehässigen Blick zuzuwerfen. Eine Vision zeigte sich ihm in Gestalt zahlreicher Gewehre. Jedes Gesicht im Zuschauerraum von den teuersten Plätzen bis ganz hinten, soweit er sehen konnte, hatte sich in ein Gewehr verwandelt. Und er sah die mexikanische Grenze vor sich – ausgedörrt, von der Sonne versengt und trostlos, und an ihr die zerlumpten Scharen, die auf die Gewehre hofften.
Er wartete, aufrecht ganz hinten in seiner Ecke stehend. Seine Sekundanten waren unter den Seilen hinausgekrochen und hatten ihre Klappstühle mitgenommen. Danny stand ihm gegenüber in der entgegengesetzten Ecke des viereckigen Ringes. Der Gong ertönte, und der Kampf begann. Das Publikum brüllte vor Freude. Noch nie hatte es einem Kampf beigewohnt, der überzeugender begann. Die Zeitungen hatten recht gehabt. Es war ein Kampf zwischen erbitterten Feinden. Drei Viertel der Entfernung legte Danny in einem Sprung zurück, um seinem Gegner auf den Leib zu kommen, ein Vorstoß, der deutlich verriet, daß es seine Absicht war, den kleinen Mexikaner mit Haut und Haaren zu fressen. Er griff nicht mit einem Schlage, nicht mit zweien, nicht mit einem Dutzend Schlägen an. Es war ein Wirbelwind von Schlägen, ein vernichtender Sturm. Rivera verschwand gleichsam. Er wurde überschüttet, begraben unter Lawinen von Schlägen, die ein Meister von überall her austeilte. Er wurde über den Haufen gerannt, gegen die Seile gefegt, vom Schiedsrichter losgebracht und abermals gegen die Seile geschleudert.
Es war kein Kampf. Es war ein Gemetzel, ein Blutbad. Jedem andern Publikum als den Zuschauern eines Boxkampfes wäre einfach in dieser ersten Minute die Luft ausgegangen. Wahrhaftig: Danny wußte, was er konnte – es war eine fabelhafte Leistung. Das Publikum war seiner Sache so sicher und dabei so aufgeregt und voreingenommen, daß es ganz übersah, daß der Mexikaner sich noch auf den Beinen hielt. Es hatte Rivera ganz vergessen. Es sah ihn kaum, derart verschwand er unter der mörderischen Attacke Dannys. Eine Minute verging auf diese Weise, und noch eine. Dann sah das Publikum in einem Augenblick, als die Kämpfenden getrennt waren, deutlich den Mexikaner. Eine Lippe war gespalten, seine Nase blutete. Als er sich umdrehte und wankend in Clinch ging, sah man dort, wo er die Seile berührt hatte, rote Streifen auf seinem Rücken, aus denen das Blut hervorquoll. Was das Publikum aber nicht bemerkte, war, daß seine Brust nicht schwer arbeitete und daß seine Augen kalt und ruhig wie je waren. Allzu viele angehende Meister hatten es bei dem alles eher als weichlichen Training mit ähnlichen mörderischen Angriffen auf ihn versucht. Gegen eine Vergütung von einem halben Dollar bis zu fünfzehn Dollar wöchentlich hatte er durchzuhalten gelernt – eine harte Schule, die er durchgemacht hatte.
Da geschah etwas Erstaunliches. Das verwirrende Handgemenge, dessen Einzelheiten man kaum zu folgen vermochte, hörte plötzlich auf. Rivera stand allein da. Danny, der furchtbare Danny, lag auf dem Rücken. Sein Körper zitterte, während er langsam das Bewußtsein wiedergewann. Er hatte weder gewankt, noch war er niedergesunken oder langsam zu Boden gefallen. Riveras Rechte hatte ihn, als er in der Luft schwebte, wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Der Schiedsrichter wies Rivera durch eine Handbewegung zurück und beugte sich, die Sekunden zählend, über den gefallenen Helden. Das Publikum eines Boxkampfes pflegt den fällenden Schlag mit Beifall zu begrüßen. Aber dies Publikum jubelte nicht. Es war alles zu unerwartet gekommen. Die Sekunden wurden von einer gespannten Stille begleitet, die durch die triumphierende Stimme Roberts zerrissen wurde.
»Ich hab' es Ihnen ja gesagt, daß er mit beiden Händen gleich gut boxt.«
In der fünften Sekunde wälzte Danny sich auf das Gesicht herum, und als sieben gezählt wurde, stützte er sich auf das eine Knie, bereit, aufzustehen, sobald »neun« und bevor »zehn« gezählt wurde. Berührte sein Knie bei »zehn« noch den Boden, so wurde er ausgezählt und hatte verloren. In dem Augenblick, wenn sein Knie sich vom Boden hob, wurde er als stehend angesehen, und im selben Augenblick hatte Rivera das Recht, wieder zu versuchen, ihn zu Boden zu schlagen. Rivera gedachte nicht, sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen. Er umkreiste seinen Gegner, aber der Schiedsrichter kreiste vor ihm, und Rivera merkte, daß die Sekunden, die er zählte, sehr lange dauerten. Alle Gringos waren gegen ihn, sogar der Schiedsrichter.
Bei »neun« gab der Schiedsrichter Rivera einen Stoß, daß er zurückflog. Das war unfair, aber dadurch wurde es Danny möglich, lächelnd wieder aufzustehen. Halb gekrümmt und mit den Armen Gesicht und Unterleib schützend, wankte er vorwärts und ging gewandt in Clinch. Nach den Regeln des Boxsports hätte der Schiedsrichter seinen Griff lösen müssen, aber er tat es nicht, und Danny klammerte sich an wie eine Muschel im Wogenprall der Brandung und kam allmählich wieder zu Kräften. Die letzte Minute der Runde war angebrochen. Wenn er bis zu ihrem Ende durchhielt, konnte er sich eine ganze Minute lang in seiner Ecke erholen. Und er hielt durch und lächelte trotz aller Verzweiflung und Kläglichkeit.
»Seht, Danny lächelt!« schrie einer, und das Publikum lachte laut und erleichtert.
»Eine verfluchte Stoßkraft hat der Lausebengel«, sagte Danny ächzend in seiner Ecke zu dem Trainer, während seine Adjutanten ihn wie toll bearbeiteten. Die zweite und die dritte Runde waren matt. Danny, der ein kalter, gerissener Boxer war, stellte sich und blockte, um sich von dem betäubenden Schlag, den er in der ersten Runde bekommen hatte, zu erholen. In der vierten Runde war er wieder ganz der alte. Obwohl er zerschlagen und verwirrt war, setzte seine gute Form ihn instand, seine Kraft wiederzugewinnen. Aber er versuchte es nicht wieder mit seiner mörderischen Taktik. Der Mexikaner hatte ihm gezeigt, daß sie bei ihm versagte. Statt dessen tischte er jetzt seine besten Boxerkünste auf. In allen Tricks sowohl wie in Erfahrung und Ausbildung war er ein Meister; wenn er auch nichts Entscheidendes ausrichten konnte, so schlug er doch weiter auf seinen Gegner los und zermürbte ihn nach allen Regeln der Kunst. Er schlug dreimal, wenn Rivera einmal schlug, aber es waren nicht entscheidende Schläge. Die Summe vieler Schläge sollte den Ausschlag geben. Er bewunderte diesen mit beiden Händen gleich gut boxenden Neuling, dessen Fäuste mit erstaunlicher Wucht stießen.
In der Verteidigung zeigte Rivera sich im Besitz einer erstaunlichen Technik der Linken. Immer wieder, in einem Angriff nach dem andern, schoß sie vor und richtete Dannys Mund und Nase übel zu. Aber Danny paßte sich an. Das war es, was ihn später zum Weltmeister machen sollte. Er konnte nach Belieben eine Kampfart mit der andern vertauschen. Jetzt rückte er seinem Gegner nahe auf den Leib. Durch diese Technik, die ihm besonders lag, wurde es ihm möglich, der Linken des andern zu entgehen. Jetzt brachte er das Publikum mehrmals dazu, vor Begeisterung zu toben, und den Vogel schoß er ab, indem er durch einen mächtigen Schlag den Mexikaner in die Luft hob und auf die Matte fallen ließ. Rivera ruhte auf dem einen Knie und nutzte die Sekunden nach Möglichkeit aus, aber er war innerlich überzeugt, daß der Schiedsrichter die Sekunden für ihn sehr abkürzte.
In der siebenten Runde glückte es Danny wieder, den teuflischen Schlag zu landen. Er brachte Rivera nur zum Wanken, aber im nächsten Augenblick, als er hilf- und wehrlos dastand, ließ er ihn durch einen neuen Schlag zwischen den Seilen hindurchfliegen. Rivera fiel mitten zwischen die Presseleute, die ihn aufhoben und außerhalb der Seile in seine Ecke beförderten. Hier ruhte er auf dem einen Knie, während der Schiedsrichter eilig die Sekunden zählte. Innerhalb der Seile, unter denen er sich ducken mußte, um wieder auf den Kampfplatz zu gelangen, wartete Danny auf ihn. Der Schiedsrichter legte sich weder dazwischen, noch stieß er Danny zurück.
Die Zuschauer waren außer sich vor Begeisterung. »Schlag ihn tot, Danny, schlag ihn tot!« wurde gebrüllt.
Dutzende von Stimmen griffen den Schrei auf, und es klang wie das Kriegsgeheul eines Wolfsrudels.
Danny tat sein Bestes, als aber nicht »neun«, sondern erst »acht« gezählt wurde, schlüpfte Rivera unerwartet durch die Seile hinein und rettete sich durch Clinchen. Jetzt war der Schiedsrichter gleich da, riß ihn los, so daß er getroffen werden konnte, und half Danny so viel, wie ein unfairer Schiedsrichter helfen kann.
Aber Rivera überstand den Angriff, und der Schwindel verzog sich aus seinem Hirn. Sie waren alle gleich. Sie waren die verhaßten Gringos, und sie waren alle unehrlich. Aber selbst in den schlimmsten Augenblicken leuchteten und funkelten die Visionen in seinem Hirn – lange Eisenbahnzüge, die durch die Wüste ratterten, Gefängnisse und Kerker, Vagabunden an Wasserstellen – das ganze qualvolle, schmutzige Panorama, das er auf seinem Umherirren nach den Tagen von Rio Blanco und dem Streik gesehen hatte. Und in einer herrlichen, strahlenden Vision sah er die große Revolution über das Land hinbrausen. Die Gewehre waren da, gerade vor ihm. Jedes einzelne der verhaßten Gesichter war ein Gewehr. Für die Gewehre kämpfte er. Er und die Gewehre waren eins. Er und die Revolution waren eins. Er kämpfte hier für ganz Mexiko.
Das Publikum begann ärgerlich auf Rivera zu werden. Warum steckte er die Prügel nicht ein, die ihm zugedacht waren? Natürlich wurde er besiegt, aber warum machte er da so viele Geschichten? Nur sehr wenige interessierten sich für ihn, und das war der bestimmte, begrenzte Prozentsatz von Spielern, die ein hohes Spiel spielten. Obwohl sie an Dannys Sieg glaubten, hatten sie doch vier zu zehn oder eins zu drei auf den Mexikaner gesetzt. Ziemlich erheblich waren die Wetten, wie viele Runden Rivera durchhalten würde. Manche hatten sogar leichtsinnigerweise darauf gesetzt, daß er keine sieben, ja keine sechs Runden durchhalten würde. Die, welche dagegen gehalten, also gewonnen und die Frage bezüglich des gewagten Geldes glücklich gelöst hatten, schlossen sich jetzt den andern an und jubelten dem Mexikaner zu.
Rivera wollte sich nicht schlagen lassen. In der achten Runde versuchte sein Gegner vergebens, den Uppercut zu wiederholen. Die neunte Runde verblüffte wieder das Publikum. Mitten in einem Clinch machte sich Rivera mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung frei, und in dem engen Zwischenraum zwischen ihren Leibern fuhr seine Rechte von unten hoch. Danny ging auf den Boden und nutzte das Zählen aus. Die Zuschauer waren erschrocken. Er war auf seinem eigenen Gebiet geschlagen. Sein berühmter rechter Uppercut war gegen ihn selbst angewandt worden. Als er bei »neun« aufstand, versuchte Rivera nicht, ihn zu treffen. Der Schiedsrichter hätte es ja doch verhindert, obwohl er im umgekehrten Falle, wenn es Rivera war, der aufstehen sollte, beiseite trat.
In der zehnten Runde führte Rivera den rechten Uppercut vom Gürtel gegen das Kinn seines Gegners aus. Danny geriet vor Wut außer sich. Das Lächeln verließ zwar nicht einen Augenblick sein Gesicht, aber er ging wieder zu seinen mörderischen Angriffen über. Aber so sehr er auch herumtanzte, konnte er Rivera doch nichts tun, Rivera aber schlug ihn in der Verwirrung und dem Tumult dreimal hintereinander nieder. Danny gewann seine Kräfte nicht mehr so schnell wieder, und in der elften Runde sah es ernst für ihn aus. Aber von jetzt an bis zur vierzehnten Runde leistete er das Beste, was er je in seiner Laufbahn gezeigt hatte. Er stand und placierte die Schläge, schonte seine Kräfte im Kampf und versuchte die, welche er schon zugesetzt hatte, zurückzugewinnen. Dazu kämpfte er so regelwidrig, wie es nur ein erfolgreicher Boxer kann. Jeden Kniff und Trick wandte er an, ging in Clinch, tat aber, als wäre es zufällig, preßte Riveras Handschuhe zwischen Arm und Leib und legte seinen eigenen Handschuh Rivera auf den Mund, um ihm den Atem zu nehmen. Wenn sie einander dicht auf dem Leibe waren, zischte er zwischen den aufgeschlagenen, aber lächelnden Lippen Rivera abscheuliche, unaussprechliche Schimpfworte ins Ohr.
Alle, vom Schiedsrichter bis zum Publikum, hielten zu Danny und halfen Danny. Und sie wußten, was er im Sinne hatte. Überwältigt durch diesen überraschenden Unbekannten, setzte er all seine Hoffnung in einen einzigen entscheidenden Schlag. Er gab sich Blößen und steckte die Schläge ein, reizte seinen Gegner, machte Scheinangriffe und versuchte Rivera dahin zu bringen, daß er sich die Blöße gab, die es ihm erlaubte, aus aller Kraft zuzuschlagen und zu siegen. Wie ein anderer, größerer Boxer vor ihm getan, konnte er seinen Gegner vielleicht mit einem Rechten und einem Linken auf den Solarplexus und über das Kinn treffen. Er konnte es, denn er war bekannt für die Stoßkraft, die in seinen Armen war, solange er sich nur auf den Beinen halten konnte.
Riveras Sekundanten sorgten in den Pausen zwischen den Runden nur wenig für ihn. Sie trockneten ihn ein bißchen mit den Handtüchern ab, verschafften aber seiner keuchenden Lunge nicht viel Luft. Spider Hagerthy gab ihm Ratschläge, aber er wußte, daß es schlechte Ratschläge waren. Alle waren gegen ihn. Er war von Verrätern umgeben. In der vierzehnten Runde brachte er Danny wieder auf den Boden und ruhte sich aus, während der Schiedsrichter die Sekunden zählte. Aus der anderen Ecke hatte Rivera ein verdächtiges Flüstern gehört. Er sah, wie Michael Kelly zu Roberts ging, sich über ihn beugte und ihm etwas zuflüsterte. Riveras Ohren waren wie die einer Katze, in der Wüste geübt, und er hörte Bruchstücke von dem, was Michael sagte. Er wollte gern mehr hören, und als sein Gegner sich erhob, glückte es ihm, so zu manövrieren, daß er Gelegenheit zu einem Clinch an den Seilen bekam.
»Er muß«, hörte er Michael sagen, und Roberts nickte. »Danny muß gewinnen – ich verliere ein Vermögen – ich habe eine Unsumme gewettet – mein eigenes Geld – wenn er die fünfzehnte Runde durchhält, bin ich ruiniert – der Junge wird sich danach richten, was du sagst. Steck es ihm.«
Und jetzt hatte Rivera keine Visionen mehr. Sie versuchten ihn zu narren. Noch einmal schlug er Danny zu Boden und ruhte sich, die Hände in die Seiten gestützt, aus. Roberts stand auf.
»Jetzt ist er fertig«, sagte er. »Geh in deine Ecke.«
Er sprach gebieterisch, wie er oft beim Training mit Rivera gesprochen hatte. Aber Rivera sah ihn erbittert an und wartete, daß Danny aufstehen sollte.
Als er in der minutenlangen Pause wieder in seiner Ecke saß, kam Kelly, der Unternehmer, zu Rivera und sprach mit ihm. »Gib auf, verdammter Kerl!« fauchte er leise. »Du mußt dich schmeißen lassen, Rivera. Tue, wie ich dir sage, und ich sichere dir deine Zukunft. Nächstes Mal lasse ich dich über Danny siegen. Aber diesmal mußt du dich besiegen lassen.« Rivera ließ ihn durch einen Blick verstehen, daß er seine Worte gehört hatte, gab aber durch kein Zeichen zu erkennen, ob er einwilligte oder nicht.
»Warum sagst du nichts?« fragte Kelly zornig.
»Du verlierst unter allen Umständen«, fügte Spider Hagerthy hinzu. »Der Schiedsrichter läßt dich nicht siegen. Höre auf Kelly und laß dich schmeißen!«
»Ja, laß dich schmeißen, mein Junge!« drang Kelly in ihn. »Dann verhelfe ich dir zur Meisterschaft.«
Rivera antwortete nicht.
»Ich tue es, so wahr mir Gott helfe, mein Junge.«
Als der Gong ertönte, hatte Rivera das Gefühl, daß irgendeine Gefahr ihm drohte. Das Publikum merkte nichts. Was es auch sein mochte – jedenfalls war es innerhalb des Ringes und ganz in seiner Nähe. Danny schien seine frühere Sicherheit wiedergewonnen zu haben. Die Zuversichtlichkeit, mit der er ankam, erschreckte Rivera. Offenbar waren sie im Begriff, ihm irgendeinen Streich zu spielen. Danny sprang auf ihn los, aber Rivera wich ihm aus. Er brachte sich in Sicherheit, indem er einen Schritt zurücktrat. Der andere hatte erwartet, daß er in Clinch gehen würde. Das war zu einem gewissen Grade nötig, wenn der Streich gelingen sollte. Rivera zog sich zurück und umkreiste den Gegner, fühlte aber doch, daß bei dem Zusammenstoß, der früher oder später erfolgen mußte, der Kniff versucht werden würde. Als Danny wieder vorstürmte, tat Rivera, als wolle er in Clinch gehen. Aber im letzten Augenblick sprang er, gerade als ihre Leiber zusammenstoßen wollten, rasch zurück. Und im selben Augenblick ertönte aus Dannys Ecke der Ruf: »Foul!« Rivera hatte sie angeführt. Der Schiedsrichter zögerte unentschlossen. Die Entscheidung, die ihm auf den Lippen lag, fiel nie, denn eine Knabenstimme auf der Galerie schrillte: »Schiebung!«
Danny schimpfte laut auf Rivera und stürmte auf ihn los, aber Rivera wich ihm tänzelnd aus. Rivera beschloß jetzt, nicht mehr nach dem Körper des andern zu zielen. Damit setzte er seine halbe Chance, zu gewinnen, aufs Spiel, aber er wußte, daß er, wenn er überhaupt siegen wollte, den Nahkampf vermeiden mußte. Beim geringsten Anlaß würden sie ihn eines »Fouls« beschuldigen. Danny ließ alle Vorsicht beiseite. In zwei Runden stürmte er auf den Jungen los, der ihm nicht im Nahkampf zu begegnen wagte. Immer wieder wurde Rivera getroffen; er steckte die Schläge zu Dutzenden ein, um dem gefährlichen Nahkampf zu entgehen. Bei dieser einzig dastehenden Schlußszene Dannys erhob das Publikum sich und wurde wahnsinnig. Es verstand nichts von dem, was vorging. Das einzige, was es sehen konnte, war, daß sein Favorit doch siegte.
»Warum kämpfst du nicht?« schrien sie Rivera zornig zu. »Jammerlappen! Jammerlappen! Los, du Hund! Schlag ihn tot, Danny! Du hast ihn ja schon! Hau ihn«
Von allen im ganzen Hause war Rivera der einzige, der seine Kaltblütigkeit bewahrte. Nach Temperament und Rasse war er der leidenschaftlichste von allen, aber er war so weit größeren Aufregungen ausgesetzt gewesen, daß diese gemeinsame, aus zehntausend Kehlen schreiende Leidenschaft, die sich Woge auf Woge erhob, ihm nicht mehr als die sammetartige Kühle eines Sommerabends bedeutete.
In der siebzehnten Runde setzte Danny seine Angriffe fort. Unter einem heftigen Schlag wankte Rivera. Seine Hände sanken hilflos herab, während er widerstrebend zurücktaumelte. Jetzt dachte Danny, daß seine Chance gekommen wäre. Der Junge war in seiner Gewalt. Durch diese Komödie überrumpelte Rivera ihn und traf ihn mit der geraden Rechten auf den Mund. Danny fiel. Als er aufstand, fällte Rivera ihn durch einen rechten Haken auf Hals und Kinn. Das wiederholte sich dreimal. Kein Schiedsrichter der Welt hätte von einem Foul sprechen können.
»Oh, Bill! Bill!« flehte Kelly den Schiedsrichter an.
»Ich kann nichts dabei machen«, sagte der Schiedsrichter bedauernd. »Er gibt mir keine Gelegenheit dazu.«
Danny stand immer wieder auf, zerschlagen, aber heldenmütig. Kelly und andere in der Nähe des Ringes begannen nach der Polizei zu rufen, daß sie einschreiten sollte, obwohl Dannys Ecke sich weigerte, das Handtuch hineinzuwerfen. Rivera sah den dicken Wachtmeister einen ungeschickten Versuch machen, unter den Seilen hereinzuklettern, und wußte nicht recht, was das bedeutete. Diese Gringos wußten auf so vielerlei Weise bei einem Boxkampf zu betrügen. Danny, der wieder auf die Beine gekommen war, taumelte unsicher und hilflos vor ihm hin und her. Der Schiedsrichter und der Polizist streckten beide die Hände nach Rivera aus, als er den letzten Schlag führte. Es gab keinen Grund zum Einschreiten, denn Danny blieb liegen.
»Zähl!« rief Rivera dem Schiedsrichter heiser zu.
Und als das Zählen beendet war, hoben die Sekundanten Danny auf und trugen ihn in seine Ecke.
»Wer ist der Sieger?« fragte Rivera.
Widerwillig ergriff der Schiedsrichter seine behandschuhte Hand und hielt sie hoch.
Rivera erhielt keine Glückwünsche. Ohne Begleitung ging er in seine Ecke, wo seine Sekundanten noch nicht den Feldstuhl für ihn hingesetzt hatten. Er lehnte sich gegen die Seile, sah sie erbittert an, ließ den Blick auf ihnen ruhen und ließ ihn dann über die Zehntausende von Gringos schweifen. Die Knie zitterten ihm, und er stöhnte vor Erschöpfung. Vor seinen Augen wogten die verhaßten Gesichter hin und her in schwindelnder Übelkeit. Dann aber entsann er sich, daß sie Gewehre bedeuteten. Die Gewehre waren sein. Die Revolution konnte beginnen.