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Im Frühjahr setzte die große Abwanderung aus Dawson ein. Manche zogen fort, weil sie sich ein Vermögen gemacht hatten, viele, weil sie nichts mehr zusetzen konnten. Alle aber kauften Hunde, soviel sie nur kriegen konnten. Dann reisten sie über das dünne Frühlingseis nach Dyea.
Dave Harney hatte so viele Hunde aufgekauft, daß er die Preise diktieren konnte, und er diktierte nicht sanft! Er ging mit strahlendem Gesicht umher.
»Wollen Sie auch fort?« fragte ihn Welse eines Tages, als die blasse Mittagssonne zum erstenmal wärmte.
»Denke nicht daran! Erst muß ich mein Lager an Mokassins losschlagen, von den Stiefeln gar nicht zu reden. Wissen Sie, Welse, mit dem Zucker haben Sie mich tüchtig hereingelegt, meine Puddings haben mich diesen Winter ein paar tausend Dollar gekostet. Aber ich hab's wieder hereingeholt. Übrigens, haben Sie noch Gummistiefel?«
»Nein, mein Lager war schon Anfang des Winters geleert.«
Dave Harney lachte glückselig vor sich hin.
»Ja, wer mag die wohl fortgezaubert haben? Sehen Sie, das war wieder der pfiffige, kleine Dave.«
»Aber ich hatte doch meinen Leuten verboten, in Partien zu verkaufen!«
»Hat ja auch kein Mensch getan. Ein Mann pro Paar, ein Paar pro Mann, auf Ihre Jungens können Sie sich verlassen. Aber hundertmal eins gibt eben auch hundert, und jedesmal war es eben mein Goldstaub, der in die Waagschale gefallen ist. Ob wir jetzt einen zusammen heben, Welse? Mir ist so komisch, ich glaube, ein doppelter Schnaps käme jetzt gerad' in die richtige Ecke?«
Mitte April wurde am Hendersonfluß Gold gefunden; die Sache sah vielversprechend aus. Jacob Welse bereiste den Distrikt, und Frona begleitete ihn, denn es war eher eine Vergnügungs- als eine Geschäftsreise. Bald nach ihnen zog Gregory St. Vincent denselben Weg. Corliss und Bishop waren zunächst den linken Arm des Henderson hinaufgewandert. In einer Woche wollten sie auch bei den neuen Funden sein. Dann kam der Mai; jetzt war der Frühling so vorgeschritten, daß es gefährlich wurde, auf den Flüssen zu reisen. Über halb aufgetautes Eis zogen die Goldsucher und dankten Gott, wenn sie lebendig ihr Ziel erreichten. Es standen schon ein paar Hütten in der Nähe der neuen Funde, und ihre gastlichen Besitzer nahmen viele der Neuangekommenen auf. Welse und seine Tochter kampierten im Zelt, ihr Lager auf einem Höhenzug am oberen Ende von »Split-up-Island« im Yukon beherrschte wie ein Königssitz die ganze Gegend.
Die zunächst gelegene Insel hieß Freitags-Insel. Die beiden waren nur durch einen schmalen Kanal voneinander getrennt. Hier trafen Corliss und Bishop ein, als das Eis schon so morsch war, daß die Hunde beinahe ebensoviel schwimmen wie laufen mußten. Sie waren die letzten, die sich in diesem Winter über das Eis gewagt hatten. Nahe davon, auf Roubeau-Insel, hauste John Borg, ein mürrischer, alternder Bursche, der ungern sprach und sich am liebsten von der ganzen übrigen Menschheit abgesondert hätte. Zu seinem Unglück fand Gregory St. Vincent in seiner Hütte Quartier.
»Es ist nur wegen der Lausedollars«, sagte der Mann. »Gern nehm' ich Sie nicht etwa auf. Werfen Sie Ihre Decken in die Ecke. Bella kann die eine Koje ausräumen. Wir brauchen sie sowieso nicht.«
Er öffnete den Mund erst wieder am Abend, um zu sagen: »Ihr Essen kochen Sie sich selber. Wenn das Mädel am Ofen fertig ist, können Sie anfangen.«
Das Mädel Bella war die schönste Indianerin, die Gregory je gesehen hatte. Sie hatte nicht die fettig dunkle Haut ihrer Rasse, sondern einen klaren, bronzefarbenen Teint, und ihre Züge waren weicher, edler, als man es in der Regel bei Indianerinnen findet.
Nach dem Abendbrot legte Borg beide Ellenbogen auf den Tisch, stützte sein Kinn in die mächtigen Fäuste, rauchte stinkenden Indianertabak und starrte vor sich hin. Sein Gesicht war unbeweglich wie eine Holzschnitzerei.
»Wohl schon lange im Land, alter Freund?« fragte St. Vincent, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen.
Borg wandte ihm seinen düsteren Blick zu. Es war, als sähe er in ihn hinein, durch ihn hindurch und doch an ihm vorbei. Während er St. Vincent betrachtete, schien er ganz zu vergessen, daß dieser Mann überhaupt existierte. Worüber er wohl grübeln mag? dachte der Geograph, indem er sich eine Zigarette drehte. Diese erste Zigarette war schon in duftenden Rauchringen aufgegangen. Eine zweite kam an die Reihe, als Borg endlich den Mund auftat.
»Fünfzehn Jahre«, sagte er, sonst kein Wort.
Eine halbe Stunde lang studierte Gregory wie fasziniert dies unergründliche Gesicht. Der Kopf war riesengroß, aber nicht zu groß für den mächtigen Stierhals, der ihn trug. Jede Einzelheit an diesem Kopf schien gewaltig entworfen, aber nicht ganz fertig geworden. Es war der unfertige Kopf eines alternden Riesen. Sein Haar verfilzte sich hier und da zu seltsamen, grauen Flecken und ringelte sich dann wieder in schwarzen Locken, so dick wie gekrümmte Finger. Der Backenbart fiel wie in dicken Grasbüscheln, halb schwarz, halb grau, auf die Brust herab, aber er war nur tupfenweise in dem Gesicht angesetzt und konnte weder die großen, hohlen Backen noch die dünnen und grausamen Lippen verbergen. Die Stirn war es, die das eigentlich Widerspruchsvolle in John Borgs Gesicht brachte. Es war eine hochgewölbte, breite und fast edle Stirn. Wer sie allein sah, hätte gedacht, sie sei das Bollwerk einer allumfassenden Intelligenz.
Beim Geschirraufwaschen ließ Bella eine schwere Blechtasse fallen. In die völlige Stille hinein wirkte das Dröhnen wie eine ungeheure Sensation. Borg fuhr mit einem unartikulierten Gebrüll empor, daß sein Stuhl schmetternd umfiel; er stand aufrecht da mit flammenden Augen und wutverzerrtem Gesicht. Bella gab ein tierisches Wimmern von sich und lag sofort zu seinen Füßen gekrümmt, wie ein Hund, der die Peitsche erwartet.
Auf St. Vincents Kopf sträubten sich die Haare. Es lief ihm eiskalt den Rücken herunter. Was würde jetzt geschehen? Aber Borg hob den Stuhl auf und fiel in seine alte Stellung zurück, das Kinn in die Fäuste gestützt. Bella arbeitete vorsichtig mit den Tellern weiter, es fiel kein Wort, und während St. Vincent mit zitternden Händen seine nächste Zigarette drehte, fragte er sich, ob all das ein Traum gewesen sei.
Jacob Welse lachte, als Gregory ihm am anderen Tag die Geschichte erzählte.
»So ist dies knurrige alte Biest, genau so verrückt, wie es aussieht. Er ist mehr Jahre im Land, als er Menschen kennengelernt hat. Ich glaube, daß er in ganz Alaska keinen einzigen Freund hat, nicht einmal unter den Indianern, mit denen er viel zusammen ist. Sie nennen ihn: ›Jonny Halbverdreht‹, aber ebenso gut könnten sie ihn ›Jonny Schlagzu‹ nennen. Er ist jähzornig und hat eine schwere Tatze. Stellen Sie sich vor, wozu der Kerl imstande ist. Einmal hatte er eine Meinungsverschiedenheit mit meinem Faktor in Arktik City. Er hatte absolut recht, aber bei dem Faktor war es nur ein Irrtum, kein böser Wille. Was tut der Rübezahl? Erklärt meine ganze Unternehmung in seinen Boykott und lebt ein volles Jahr lang ausschließlich von Fleisch. Dann traf ich ihn zufällig und erklärte ihm die ganze Sache, und dann hat er wieder bei uns gekauft.«
»Und das Mädel?«
»Das hat er sich irgendwo aus dem höchsten Norden heruntergeholt. Ich beneide sie nicht. Dem sein Bettschatz zu sein, das ist kaum ein Vergnügen.«
Gregory St. Vincent kümmerte sich nicht viel um seine Wirte. Die meiste Zeit verbrachte er auf Split-up-Island mit Frona und ihrem Vater. Aber eines Abends kam es doch zu einem Zusammenstoß. Als St. Vincent nach Hause kam, saß der Alte im letzten dünnen Licht der Sonne vor seiner Hütte, und nahe von ihm stand Bella an einer Waschwanne. Es war ein klobiges, selbstgezimmertes Ding und, wenn sie halb voll Wasser war, viel zu schwer, als daß eine Frau sie heben konnte. Als Bella das Wasser wechseln wollte, sprang St. Vincent herbei, um zu helfen. Sie nahmen die Wanne zwischen sich und gingen ein paar Schritte weit zu einem Abflußrohr. Zuerst rutschte St. Vincent im halb aufgetauten Schnee aus, und das Seifenwasser übersprudelte ihn. Dann glitt Bella aus, und ein paar Schritte weiter fielen sie beide um. Es tat nicht weh, sie fanden es lustig; Bella kicherte laut, und St. Vincent lachte mit. In der Luft und in ihrem Blute war Frühling. An diesem Tag war alles zum Lachen. Aber sie hatten nicht bemerkt, daß Borg die Ohren spitzte. Als sie die Wanne zurücktrugen, passierte es abermals, daß Bella mit beiden Füßen zugleich ausglitt und sich mit einem hörbaren Plumps auf den Boden setzte. Jetzt klang ihr Lachen schon wie Jubeln. Gregory reichte ihr beide Hände zum Aufstehen, aber da war mit einem Satz und wildem Gebrüll Borg über ihnen. Er riß die vier Hände auseinander und schleuderte St. Vincent auf die Seite, daß er ein halbes Dutzend Meter weit taumelte. Dann wiederholte sich der Auftritt aus der Hütte. Bella warf sich winselnd vor ihrem Herrn zur Erde, in den Schmutz, aber es geschah ihr nichts.
»Hör zu, Bursche«, sagte Borg mit tiefem Schnauben zu St. Vincent. »Du schläfst in meiner Hütte und kochst deinen Fraß auf meinem Ofen! Das genügt! Mein Weib läßt du in Ruh!«
Der Frühling war gekommen wie ein Wunder, streichelte die Welt mit sanften Händen und wiegte sie in Träume ein, ehe der Sommer mit seiner Blumenpracht kam. Schnee lag nur noch auf den eisschründigen Zinnen, aus Schluchten und Tälern war er verschwunden; die Gletscher begannen zu schmelzen, und jeder Fluß war ein brüllender Strom. Jeder Tag wurde länger als der vergangene; jetzt begann die kühle Morgendämmerung schon um drei Uhr, und es wurde neun Uhr, ehe der Abend kam. Bald sollte sich ein goldener Kreis rings um den Himmel ziehen und die Mitternachtsstunde strahlend sein wie der Mittag. Weide und Esche hatten schon Kätzchen getragen. Jetzt schmückten sie sich mit Laub, und die Kiefern standen hoch im Saft.
Mutter Natur war mit einem Seufzer erwacht und hatte sich an ihre kurze Sommerarbeit gemacht. Die Grillen sangen nachts um stille Hütten, im Mondschein krochen Moskitos aus hohlen Baumstämmen, es waren große, lärmende, unschädliche Geschöpfe, die den ganzen Winter hindurch wie Eisstücke gelegen hatten und jetzt vergnügt einem neuen Tod entgegensummten. Alles kriechende, krabbelnde und flatternde Leben kam aus der warmen Erde hervor, um zu reifen, zu zeugen und zu sterben. Uferschwalben gruben ihre Niststollen in die weichen Lehmgänge, Rotkehlchen sangen von den Kiefern. Über ihnen pochte unaufhörlich der Specht, in der Tiefe des Waldes schwirrten jählings Rebhuhnweibchen auf, während die Hähne in der Pracht ihres Männerkleides auf und ab stolzierten.
Nur der Yukon kümmerte sich nicht um dies große Erwachen. Viele Meilen weit lag er noch immer kalt da, unbeweglich und tot. Wildgänse, die, vom Süden kommend, in keilförmigen Zügen den Wind spalteten, machten halt, spähten nach offenem Wasser aus und flogen enttäuscht weiter nach Norden. Hier und da brach das Wasser durch und überschwemmte das unerbittliche Eis, aber in der nächsten kalten Nacht gefror es wieder zu einer einzigen festen Masse. Man erzählte sich, daß das Eis auf diesem Strom einmal drei lange Sommer hindurch nicht gewichen war. Für diesen Sommer hoffte man auf besondere Wärme. Noch war der Fluß nicht willens, seinen Griff zu lockern, noch wollten die Eismassen nicht hinab ins Beringsmeer schwimmen, aber jede Stunde konnte Erlösung bringen.
Im Lager auf »Split-up-Island« war alles bereit, um die Eisschmelze auszunützen. Wasserstraßen sind in jedem wilden Land die ersten Landstraßen gewesen. Hier war der Yukon die einzige Straße. Die Leute, die darauf warteten, sie benutzen zu können, pichten ihre Boote aus und beschlugen ihre Bootsstangen mit frischem Eisen. Mit großen Messern schnitzten sie sich neue Steuerriemen zurecht.
Jacob Welse genoß das Nichtstun, das er sich im Leben so selten gegönnt hatte, und Frona sah, wie gut es ihm tat. Eines Nachmittags saß man zusammen vor dem Zelt; St. Vincent und sein Freund, der Baron Courbertin, waren zu Gast, und man berechnete, wie lang diese erzwungene Ruhe noch dauern könnte, als Jacob Welse witternd den Kopf hob.
»Da drüben, südlich von der Klippe! Könnt ihr etwas erkennen? Da bewegt sich was!«
»Ein Hund!«
»Für einen Hund bewegt es sich zu langsam. Frona, sei so gut, meinen Feldstecher.«
Die beiden jungen Männer liefen um die Wette. St. Vincent wußte, wo der Feldstecher lag, und kam wie ein Sieger damit zurück. Jacob Welse hielt das Glas lange an die Augen und suchte die Klippe ab. Es war eine ganze Meile von der Insel bis zum anderen Ufer; das Sonnenlicht lag blendend auf dem Eis, und es war schwer, etwas auszumachen.
»Es ist ein Mensch«, sagte er endlich und reichte dem Baron seinen Feldstecher. »Etwas ist da drüben nicht geheuer.«
»Er kriecht!« rief der Baron. »Ein Mann, der auf Händen und Knien kriecht. Sehen Sie nur, sehen Sie!«
Zitternd reichte er Frona das Glas. Als Fronas Augen sich an das leuchtende Weiß gewöhnt hatten, erkannte sie ein winziges dunkles Etwas, das sich kaum von einem ebenso dunklen Hintergrund aus Erde und Buschwerk abzeichnete.
Es war ein Mann. Jetzt erkannte sie jede seiner Bewegungen! Er kroch mühselig an eine vom Wind gefällte Kiefer heran und versuchte, dies große Hindernis zu überwinden. Zweimal war es ihm schon mißglückt. Beim dritten Versuch, der unsägliche Mühe zu kosten schien, gelang es ihm, hinüberzukommen. Hilflos taumelte er weiter, dann fiel er, das Gesicht nach unten, in wirres Gebüsch.
»Ich glaube, er hat keine Kraft mehr«, sagte sie und reichte Gregory das Glas.
Der alte Welse sprang erregt auf und holte sein Gewehr aus dem Zelt: »Wir müssen ihm ein Zeichen geben. Paßt auf, ob er reagiert!«
Sechs Schüsse knallten in kurzen Abständen in die Luft hinaus.
»Er bewegt sich!«
Alle verfolgten in entsetzlicher Spannung, was der Unglückliche unternahm.
»Er kriecht ans Ufer. Ach! Nein . . . Er liegt auf der Erde und hebt seinen Hut oder so etwas Ähnliches auf einen Stock! Jetzt winkt er!«
Jacob Welse steckte einen neuen Rahmen in sein Gewehr und gab noch einmal sechs Schüsse ab.
»Er winkt wieder! Mein Gott, jetzt hat er den Stock fallen lassen. Jetzt liegt er ganz still da!«
Alle drei sahen Jacob Welse an, als müßte er genau wissen, wie es um den Menschen stand. Der zuckte die Achseln.
»Ein Weißer oder ein Indianer? Wahrscheinlich Hunger. Vielleicht hat er auch einen Knochenbruch.«
»Aber vielleicht stirbt er!« sagte Frona, und ihre Stimme bettelte, als könnte ihr Vater dies Schicksal wenden.
Der Baron rang die Hände: »Insuppertable! Oh, das sein terrible, das! Entsezlik! Direkt vor unsere Augen, und wir könne nicht elfen!« Dann rief er plötzlich: »Nein! Das darf nicht passiere! Ich gehn ibber die Eis!«
Er wollte den Abhang hinunterspringen, aber Welse hielt ihn am Arm fest.
»Nicht zu hitzig, Baron! Helfen müssen wir, aber was braucht der Mann: Nahrung, Medizin, was sonst? Überlegen wir einen Augenblick, dann wollen wir einen Versuch machen.«
»Auf mich können Sie zählen«, erklärte St. Vincent schnell, und Fronas Augen leuchteten stolz.
Sie ging ins Zelt und packte Proviant zusammen. Die Männer besorgten ein zwanzig Meter langes Seil. Jacob Welse und St. Vincent wanden sich die Enden um den Leib, der Baron kam in die Mitte. Er wollte den Proviant tragen und schnallte sich den Rucksack auf. Frona sah vom Ufer aus, wie die Kolonne anmarschierte. Aber sonst schien niemand im Lager darauf zu achten.
Die ersten fünfzig Schritte ging alles gut, dann spürten die Männer, daß das feste Küsteneis sich veränderte. Welse führte sicher und ruhig; er tastete vor jedem Schritt ringsum das Eis ab und wechselte beständig die Richtung. St. Vincent brach zuerst ein, aber im Sturz hielt er seinen Stock quer, so daß er auf das Eis zu liegen kam. Sein Kopf kam nicht unter Wasser, aber die Strömung saugte an seinem Körper, und die beiden Männer mußten gewaltig ziehen, um ihn herauszuholen. Frona sah, daß sie einen Augenblick ratlos stehenblieben. Der Baron zeigte und gestikulierte eifrig, dann löste St. Vincent sich von den beiden anderen und kam ans Ufer zurück.
»Es ist unmöglich.«
»Aber warum kommen dann die anderen nicht zurück?«
»Dieser Courbertin ist ein schrecklicher Draufgänger. Sie wollen noch einen letzten Versuch wagen.«
»Und mein Vater ist auch ein schrecklicher Draufgänger«, sagte Frona mit einem bitteren Lächeln.
Dann fragte sie: »Willst du nicht ins Zelt gehen und warme Sachen von meinem Vater anziehen?«
Er warf sich neben sie auf den Boden: »Laß nur, die Sonne trocknet.«
Eine Stunde lang saßen sie da; Frona ließ das Glas nicht von den Augen. Die beiden Männer hatten jetzt die Mitte des Flusses erreicht; sie waren nur noch zwei schwarze Punkte in dem weißen Feld. Manchmal verschwanden sie völlig hinter Eismauern.
»Es ist nicht recht von ihnen«, beklagte sich St. Vincent. »Sie haben gesagt, sie wollen's nur noch einmal versuchen, sonst wäre ich doch nicht umgekehrt! Aber sie müßten längst wissen, daß es unmöglich ist.«
»Doch . . . Nein . . . Ja! Sie kehren um!« rief Frona.
»Aber hör? Was ist das?« fragte Frona.
Ein dumpfes Poltern kam wie ferner Donner vom Eise her. Frona sprang auf.
»Vincent! Vincent! Der Fluß bricht auf?«
»Nein, nein! Gewiß nicht! Es ist schon vorbei.«
Das Dröhnen hatte sich flußabwärts verzogen.
»Aber dort! Dort!«
Ein neues Poltern, noch dumpfer und unheilvoller als zuvor, machte die Schwalben und Rotkehlchen schweigen. Es lief über den Fluß, auf die Inseln zu, und zuletzt klang es wie das Poltern eines Eisenbahnzuges auf einer fernen Brücke. Dann war eine Minute Stille. Dann dröhnte es zum drittenmal aus dem Eis, noch fürchterlicher und länger andauernd als zuvor.
»Warum machen sie nicht schnell?«
Die beiden Punkte waren stehengeblieben; es schien, daß die Männer sich berieten. Frona suchte durch ihr Glas den Fluß hinauf und hinab. Es zeigte sich keine Bewegung im Eise. Aber jetzt begannen die Rotkehlchen wieder zu singen, und die kleinen Eichhörnchen spielten mit schrillem Pfeifen ihr altes Spiel von Ast zu Ast.
St. Vincent legte seinen Arm um das Mädchen: »Hab keine Angst, Frona! Wenn Gefahr wäre, wüßten sie es besser als wir. Aber sie lassen sich Zeit.«
Das Getöse kam und ging mit bald kürzeren, bald längeren Pausen, aber sonst verriet nichts, daß das Eis im Aufbrechen war, und allmählich kamen die Männer der Küste wieder näher. Sie troffen von Wasser und zitterten vor Kälte, als sie den Hang erreichten. Frona griff nach den Händen ihres Vaters, die halb erstarrt waren, rieb und küßte sie.
»Ich hab' geglaubt, du kommst nicht wieder.«
»War ja ganz ungefährlich, Mädel. Lauf jetzt hinein und schau, daß wir was zu essen kriegen.«
»Was war denn nur?«
»Der Stuart ist aufgebrochen. Sein Eis schiebt sich unter die Yukon-Eisdecke. Wir haben es deutlich scheuern hören.«
»Es war skreckerlick!« gestand der Baron. »Aber skreckerlicker noch, daß wir nicht könne retten diese unglücklike Mensch! Le misérable!«
»Sobald wir etwas gegessen haben, versuchen wir es mit den Hunden«, erklärte Welse. »Mach schnell, Frona!«
Aber die Hunde versagten. Sie wählten die Leithunde als die klügsten aus, bepackten sie mit Proviant und schickten sie auf den Fluß hinaus. Jedesmal, wenn sie umzukehren versuchten, wurden sie mit Erdklumpen und Flüchen wieder aufs Eis getrieben. Aber sie verstanden gar nicht, was man von ihnen verlangte. Sobald sie außer Reichweite waren, blieben sie stehen, hoben die nassen, kalten Pfoten und heulten kläglich. Zuletzt fingen sie an, einer des anderen Proviantlast aufzureißen und leer zu fressen. Da gab man den Versuch auf und rief sie zurück.
Von Stunde zu Stunde wuchs das Getöse. Während der Nacht wurde es ein ununterbrochenes Donnern; gegen Morgen ließ es nach. Der Fluß war um zwei Meter gestiegen. An vielen Stellen stand das Wasser auf dem Eise. Es knurrte und krachte unaufhörlich; in allen Richtungen bildeten sich Risse. Als es heller wurde, hielten sie nach dem Mann am anderen Ufer Ausschau. Er regte sich nicht. Aber als sie ihre Gewehre abschossen, winkte er schwach.
»Es ist nichts zu machen, ehe das Eis aufbricht«, erklärte Welse. »Dann müssen wir es mit dem Boot versuchen. St. Vincent, holen Sie sich Ihre Decken und schlafen Sie heute nacht hier. Wir müssen zu dreien paddeln, Sie und ich . . . ich denke, daß wir den alten Phillips noch dazukriegen können.«
Steht auf, die Vöglein zwitschern schon! Die Sonne scheint! Wacht auf!«
Es war erst drei Uhr morgens und noch tiefdunkle Nacht, als Del Bishop mit gurgelndem Baß diesen Ruf ausstieß. Frona fuhr aus dem Schlafsack, steckte ihre bloßen Füße in die Mokassins und warf sich einen Rock über. Im selben Augenblick hatte auch schon ihr Vater, der auf der anderen Seite eines Vorhanges schlief, die Zeltzipfel zurückgeschlagen und war hinausgetaumelt.
Der Strom war aufgebrochen! Seine Flut scheuerte gegen den höchsten Rand des Ufers. Er war mächtig im Steigen, und von Minute zu Minute konnte er die Insel überfluten. Manchmal schleuderte er gewaltige Eisschollen ins Land hinein. Als das erste Tageslicht matt erwachte, sah man auf hundertfünfzig Schritt Abstand sein weißes Feld mit dem grauen Himmel verschmelzen, das Plätschern seiner Wellen mischte sich mit dem Scheuern der gesprengten Eismassen. Del Bishop war weitergelaufen, um die Leute auf »Split-up-Island« zu wecken.
»Holen Sie den Phillips«, befahl Jacob Welse. »Er soll sich bereit halten, in spätestens einer Stunde brechen wir auf!« Dann wandte er sich an Frona: »Es wäre Zeit, daß St. Vincent über den Kanal kommt. Wir nehmen das Kanu vom Baron. Es ist das beste.«
Der Baron, barfüßig und vor Kälte zitternd, sagte: »Sie wollen mit meine Bott fahren? Warum mich nicht mitnemme? Man braucht dann keine Vincent!«
»Weil Sie nicht paddeln können!« antwortete Welse. »Zum Üben ist das heute kein Tag.«
»Jedenfalls hätten Sie Zeit, sich die Mokassins anzuziehen«, ergänzte Frona. »Sonst retten wir den Burschen da drüben vorm Verhungern, und inzwischen gehen Sie uns am Schnupfen ein.«
»Serr schade, daß mich nicht nemmen! Das bisken Rudern ich ätte schonn gelernt.« Damit sprang er auf eine große Eisscholle, die geräuschlos vorbeiglitt.
»Zum Teufel! Sind Sie wahnsinnig geworden?« rief Welse und streckte die Hand nach ihm aus, aber er war schon abgetrieben.
Die Bewegung im Eise wurde immer stärker, das scheuernde Geräusch immer lauter und drohender. Gewandt wie ein Zirkusreiter und kaltblütig wie ein Hurone, ließ sich der Franzose am Ufer entlang wirbeln. Seine Eisscholle bockte und bäumte sich wie ein störrisches Pferd. Er hielt sich etwa dreißig Meter weit, dann kam er mit einem eleganten Sprung wieder ans Ufer. Lachend kam er zurück, aber sein Reiterstück trug ihm nur ein paar auserwählte Namen aus dem allermännlichsten Teil von Jacob Welses Wortschatz ein.
»Warum Sie nenne mich ein zehnmal vernageltes Nass-Orn?« fragte er beleidigt.
»Darum!« antwortete Welse und wies zornig auf den schimmernd dahingleitenden Strom. Dort hatte gerade eine große Scholle sich mit dem vorderen Ende in das Flußbett hineingejagt, und nun richtete sie sich senkrecht empor. Rings um sie kräuselte sich treibendes Eis wie Papier, dann kippte die festgeratene Scholle plötzlich hoch, bohrte sich mit dem Schwanzstück in den Grund und reckte die schmutzige Schnauze in die Luft. Weiter abwärts prallte sie auf die treibende Masse, zerschellte zu tausend Trümmern, und losgerissene Eisstücke flogen wie aus einer Explosion bis zu den Füßen der Menschengruppe.
»Sie abbe rekt!« Tiefe Andacht vor diesem ungeheuren Schauspiel lag in der Stimme des Barons.
Die ganze Fläche des ungeheuren Stromes bog und bäumte sich jetzt, als seien riesige Minen auf seinem Grunde zur Entladung gekommen. Es war wie ein Kampf zwischen den Eisbergen und Eisklötzen, ein Kampf, in dem jedes Partikel Natur gegen das andere wütete, und jedes organische Wesen, das in dieses Gewühl geriet, mußte verloren sein.
Je höher der Tag stieg, um so majestätischer wurde das Bild. Frona war hingerissen:
»Ich hätte nie geahnt, daß es auf Erden so etwas Herrliches gibt!«
St. Vincent war noch immer nicht eingetroffen.
»Jetzt fällt der Fluß!« verkündete Welse eine gute Stunde später. Die Eisschicht war gefallen, sie lag jetzt zwei Meter tief unter dem Hang, und Baron Courbertin zeichnete die Stelle mit seinem Stock an. Nun war es auch hell genug, um wieder mit dem Feldstecher das ferne Dickicht abzusuchen. Dort lag der Verwundete, der sicher verloren war, wenn nicht heute noch Rettung kam.
»Er liegt noch da, aber er bewegt sich nicht mehr.«
Zwei Stunden später war unter der Gewalt eines Sonnenlichtes, wie diese Breiten es nur selten kannten, das Eis in Massen geschmolzen, und nun lag die Oberfläche des Flusses schon sechs Meter tiefer als beim Erwachen. Aber aus dem Stuart stießen sich immer noch Eisbarren vor, drängten in die Kanäle zwischen dem Split-up-Island und fuhren mit Krachen ineinander. Del Bishop erschien zum zweitenmal an diesem Tage, in fliegender Eile und schweißüberströmt, aber immer noch die gute Laune selbst. Er hörte, wie Frona und Courbertin sich auf französisch von Dingen unterhielten, die weitab von diesem Schauplatz lagen, vom Theater in Paris, dem letzten Roman von Anatole France.
»Würden die hochgebildeten Herrschaften nicht in dieses romantische Tal zurückkehren?« fragte er. »Kommen Sie mit mir! Es liegen ein paar Schwerkranke in der Hütte dort unten.«
Im Laufschritt verschwand er zwischen den Bäumen, und alle folgten ihm, so rasch sie konnten. Im Rennen stießen sie auf drei typische »Chechaquos«, die in einem Talkessel überwintert hatten. Ihr Lagerplatz war überschwemmt, hilflos standen sie vor ihrem Zelt, um ein Boot herum, das sie noch nicht flott kriegen konnten. Der Eisstoß war jetzt kaum fünf Meter von ihnen entfernt, er konnte plötzlich über die Insel hereinbrechen und alles zerstampfen.
»Schert euch hier weg, ihr Dummköpfe!« brüllte Jacob Welse und rannte weiter. Auch Del Bishop rief ihnen zu: »Ein bißchen dalli!«
Sie verstanden ihn nicht. Sie hörten kaum. Einer sah sie mit ganz verständnislosen, verschreckten Augen an. Ein anderer lag unbeweglich bäuchlings quer über dem Steuersitz des Bootes, seine Kräfte schienen völlig erschöpft. Ein dritter, der wie ein Büroschreiber aussah, schwankte hin und her und jammerte eintönig: »Mein Gott! Mein Gott!«
Der Baron blieb eine Sekunde stehen, um ihn zu schütteln. Frona rief: »Lassen Sie Gott aus dem Spiel, und nehmen Sie sich auf Ihre Beine! Weg vom Ufer! Lauft in den Wald, zwischen die Bäume! Irgendwohin, nur weg!«
Man versuchte, ihn mitzuziehen, aber der Mann schlug um sich und wollte nicht folgen. Sie eilten weiter und kamen an einen gerodeten, aber ganz überschwemmten Platz, auf dem eine Hütte stand. Auf dem flachen Rasendach lagen zwei in Decken gewickelte Männer. Jacob Welse, Courbertin und Bishop stürzten sich in die Hütte, in der die Flut wogte, um herauszufischen, was von der Habe dieser Männer noch brauchbar war.
»Passen Sie auf, zum Teufel, daß mein Tabak nicht naß wird«, bat einer der kranken Männer mit schwacher Stimme vom Dache.
»Was an deinem Drecktabak schon liegt!« flüsterte sein Kamerad. »Aber mein Mehl und mein Zucker, das ist wichtig!«
»Weil der Bursche Nichtraucher ist, Fräulein«, erklärte der erste Mann. »Aber die anderen Burschen sollen doch auf meinen Tabak acht geben.«
»Da hast du ihn, und damit Maul gehalten«, rief Del und warf dem Kranken seinen Tabaksbeutel hin, der danach griff, als wäre es ein Beutel mit Goldstaub.
»Was kann ich für euch tun?« fragte Frona. »Wir haben so einige Medizin mit uns, vielleicht haben wir das Richtige.«
»Uns kann nichts helfen, Fräulein, als das Land Gottes und rohe Kartoffeln. Wir haben Skorbut.«
»Aber was wollt ihr eigentlich hier? Marsch, aufs Trockene!«
In diesem Augenblick wurde mit Stöhnen und ungeheurem Krachen eine Eisscholle gegen die Hütte geschleudert. Die vorspringenden Eckpfähle zersplitterten, die Hütte schwankte. Courbertin und Jacob Welse waren darin. Dem Dröhnen folgte eine Sekunde tiefste Stille. Dann hörte man aus dem Innern die Stimme des Barons:
»Nach Ihnen, wenn ich bitte darf, Monsieur!«
Welse erschien mit vergnügtem Lachen; ihm folgte der höfliche Franzose, als sie sich zwischen der Eisscholle und den Pfählen ins Freie zwängten.
»Noch ein solches Osterei, und wir zwei sind erledigt, Billi!« sagte der Mann mit dem Tabak zu seinem Kameraden.
»Lange kann's nicht dauern«, antwortete Bill. »Nicht weit von hier, bei Nulatto, hab' ich mal gesehen, wie eine Insel reingefegt worden ist, ratzekahl, wie der Küchenfußboden bei meiner alten Mutter.«
»Retten müssen wir die Leute.«
Jacob Welse kletterte auf das Hüttendach und blickte auf die große weiße Barre hinab.
»Wo ist Phillips?«
»Der sitzt seit einer Stunde wie versteinert auf seinem Zelt.«
Welse sah von seinem Dach wie von einem Aussichtsturm auf die Fläche des Stroms. Der Stuart hatte neue Eismassen als eine Reservearmee ins Gefecht geworfen, der Yukon stieg wieder, und rings an der Küste warfen sich Schollen gegen den Wald. Mit Krachen und Knirschen wurden die Bäume zermalmt oder samt der Wurzel ausgerissen.
Frona und Bishop packten Bill an Schultern und Beinen und schleppten ihn ab, in der Richtung von Phillips Hütte. Jacob Welse und der Baron wollten gerade seinen Kameraden über die Dachtreppe heben, als ein zweiter Eisstoß die Hütte von vorn berannte. Ihre Balken stürzten wie ein Kartenhaus zusammen. – Frona wandte sich um, und bei dem Anblick erstarrte ihr Blut. Während Courbertin und der Kranke von dem Hüttendach heruntergeschleudert wurden, war ihr Vater plötzlich verschwunden, zwischen den zerborstenen Balken vergraben. Sie sprang zurück, Bill blieb im eisigen Wasser liegen. Sie suchte, ohne einen Laut von sich zu geben, die Trümmerstätte ab, fand ihren Vater, der eingeklemmt lag, den Kopf unter Wasser. Sie zerrte an ihm, um wenigstens seinen Mund über Wasser zu bekommen, aber es glückte nicht. Sie ließ den geliebten Kopf los, warf sich selbst in die eiskalte Flut, fühlte rings und fand die Stelle, an der sein rechter Arm zwischen die Balken geklemmt war. Die Balken konnte sie nicht heben, aber sie fand eine handliche Dachlatte – alles dauerte nur Sekunden –, preßte sie zwischen die Balken und setzte mit der Kraft eines Mannes den Hebel an. Der erste Versuch mißglückte, die kostbare Latte bog sich und knirschte drohend. Sie fand eine andere Lücke, in der sie den Hebel ansetzen konnte, beugte sich darunter, stemmte und drückte mit aller Kraft ihres Körpers. Der Arm ihres Vaters wurde frei! Mit Schmutz und Erde bedeckt, kam sein Gesicht zum Vorschein.
Jacob Welse schöpfte mühsam Atem, minutenlang brach und spuckte er das Wasser aus. Dann rieb er seine Augen und erkannte, daß sein Leben gerettet war.
»Das war nicht schlecht für ein kleines Mädel!«
Mit seinem Mund voll Schmutz und Erde küßte er Frona, dann spien sie beide lachend die Erde aus.
Courbertin kam um die Ecke des zusammengestürzten Hauses gesprungen.
»Das sein eine Bursche!« rief er begeistert. »Eine ganz rabiate Bursche! Hat sich bei die Fall seine Schädel eingeslagen, und seine Tabak ist weg. Jetzt er lamentieren nur um die Tabak!«
»Wir müssen warten, bis die anderen wiederkommen. Ich kann leider nicht mehr tragen helfen«, sagte Jacob Welse und wies auf seinen rechten Arm, der schlaff herunterhing. »Nur ein bißchen verstaucht. Nichts gebrochen. Aber für heute taugt er nichts mehr.«
Der Fluß schob seine Eisfülle ruhig weiter. Er war wieder im Fallen, aber an der Küste war eine drei Meter hohe Mauer von Eisschollen zurückgeblieben. Die großen Blöcke hatten sich zwischen gestürzten und noch aufrechten Bäumen, über die schlammbedeckten Wiesen hin, in das Land gewälzt wie der Auswurf eines titanischen Ungeheuers.
Die Sonne schien, daß die Eisberge dampften, sie flammten wie ein Berg von Diamanten, manchmal, hier und dort, kalbten sie, dann stürzten Türme und Minaretts, die in allen Farben des Regenbogens leuchteten, mit Brausen in die Flut zurück.
An einer offenen Stelle lag Courbertins Kanu, dort hatten sich alle Bewohner des »Split-up-Island« mit Ausnahme der drei Chechaquos und der beiden Kranken versammelt. Man hatte endlich wieder Zeit, an die Rettung des Verunglückten zu denken.
»Zwei Mann sind mehr als genug«, erklärte der Schotte Phillips. »Wenn drei im Kanu sind, kann man den Mann nicht mehr laden!«
»Wir müssen drei Mann sein, das wissen Sie so gut wie ich«, erwiderte Corliss.
»Nein, zwei sind mehr als genug, sage ich!«
»Ich fürchte auch, daß wir es zu zweit schaffen müssen«, erklärte Del Bishop.
Der Schotte machte ein zufriedenes Gesicht. »Absolut richtig. Und ich hab' keine Angst, daß ihr es nicht ausgezeichnet schaffen werdet, mein Junge!«
»Einer von den beiden werden Sie sein, Phillips«, fuhr Corliss ihn an.
»Denke nicht dran! Es sind genug andere da!«
»Das stimmt leider nicht. Courbertin hat keine Ahnung vom Paddeln. St. Vincent kann offenbar nicht über das dünne Eis kommen. Herr Welse kann nicht mit, weil er den Arm nicht gebrauchen kann. Also machen wir zwei es, Sie und ich!«
»So, und der Riesenbengel da, der Bishop? Der kann anders paddeln als ich.«
Aber Frona wußte es besser.
»Bishop ist ein tapferer Kerl!« erklärte sie. »Vielleicht hat er mehr Mut im kleinen Finger als Sie in Ihrem ganzen Leichnam. Ich bin mit ihm gereist. Aber ich weiß, daß er vom Rudern nichts versteht und vom Paddeln erst recht nichts, und auf dem Wasser ist er überhaupt nicht viel wert.«
Der Schotte wurde blaß: »Ich will nicht leugnen, daß ich leidlich paddeln kann, und aushalten tu ich schließlich auch, was ein anderer aushält. In Gottes Namen, dann wollen wir ein bißchen warten, bis der Fluß eisfrei ist.«
»Maul halten, du Feigling!«
Del war mit einer ledernen Lunge und einer Kehle aus Messing zur Welt gekommen. Als ihn jetzt die Wut packte, wurde der Schotte ängstlich und widersprach nicht mehr.
»Ich sehe offenes Wasser! Ich komme mit!« rief Frona. Im Augenblick riß Corliss sein dickes Flanellhemd herunter, um sich besser regen zu können. Frona warf Rock und Jacke ab und sah jetzt in ihren ledernen Reithosen wie ein junger, tüchtiger Bursche aus.
»Sie werden's schaffen«, erklärte Del.
Jacob Welse trat besorgt an das Boot, um die Paddeln zu untersuchen.
»Willst du wirklich? . . .«
»Ihr Mädel hat Mut!« fiel Phillips ihr ins Wort. »An mir sollte es auch nicht fehlen, aber ich hab' ein Weib und drei Kinder zu Hause.«
Gleich darauf wurde das Boot von einer flachen Eisscholle aus zu Wasser gelassen.
»In den Bug mit dir, Phillips!« kommandierte Del Bishop. Der Schotte stöhnte, aber er hörte Del Bishops schweren Atem in seinem Genick und wußte seinem Schädel die eisernen Fäuste zu nahe. Er gehorchte.
Frona setzte sich in den Stern und ergriff ihr Ruder: »Steuern kann ich!«
»Sie? Frona? . . .« fragte Corliss, der jetzt erst bemerkte, daß sie mitkommen wollte. Er sah Jacob Welse zweifelnd an, aber der Alte verzog keine Miene.
»Los jetzt!« rief Del ungeduldig.