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An Bord des »Espadon«.
In See, Juli 1874.
An dem Abend, bevor der »Espadon« die Rückreise nach Frankreich antrat, gab es in Saint-Louis ein Abschiedsdéjeuner bei den Spahis.
An dieses Festmahl bewahre ich eine liebe Erinnerung, denn uns alle verband herzliche Freundschaft und das aufrichtige Bedauern, uns vielleicht auf Nimmerwiedersehen trennen zu müssen. Wir alle saßen, der große Affe des Spahi-Leutnants Bremont mit inbegriffen, auf einer hellen Terrasse.
Es war ein heißer Julimorgen, und der Himmel strahlte in einem selbst in Italien unbekannten Blau. Wir überschauten die Stadt: Viereckige Häuser, deren maurische Terrassen sich in ihrer strahlenden Weiße vom tiefen Himmelsblau abhoben, und da und dort einige unbewegliche Palmen, die ihre gelben Häupter in die Höhe reckten. Die Sonne stand im Zenit, die Hitze war unbeschreiblich.
Nach dem Déjeuner erbat Brémont von unserem Kapitän die Erlaubnis, ihm einen Spahi vorzustellen, der sich im letzten Moment entschlossen hatte, nach Frankreich zurückzukehren.
Dieser Spahi war kein anderer als J. Peyral (aus Le Roman d'un Spahi). Er trug einen Ausdruck des Wohlbefindens und ein Lächeln der Heiterkeit zur Schau, so daß ich ihn kaum wiedererkannte. –
In der letzten Nacht, die wir auf dem Fluß verbrachten, ging eine Sturmflut nieder, die den »Espadon« überschwemmte.
Am nächsten Morgen – es war Sonntag – begannen um 6 Uhr morgens bereits die Abschiedsbesuche an Bord. Da wir sehr bekannt waren, stellten sich alle Offiziere der Kolonie der Reihe nach ein. Mitten in dieses Tohuwabohu brachte Brémont seinen Schützling J. Peyral und legte ihn uns ans Herz.
Um neun Uhr morgens liefen wir bei herrlichstem Wetter aus. In großen Mengen standen die Schwarzen am Ufer, um uns vorbeiziehen zu sehen. Bald war Saint-Louis, das alte, unserem Blick entschwunden, und diesmal für immer ... Wir sahen nur mehr noch die ungeheuere Sahara, deren eintönige Flächen uns lange noch begleiten sollten. –
Annecy, 28. Oktober 1874.
Nach endlosen Unterhandlungen mit einem alten Herrn und einer alten Dame ward mir endlich mein Platz in der linken Ecke des Gefährts zuteil. Und der Eilwagen, der wie in vergangenen Zeiten von einem Pferde gezogen wurde, raste im Galopp vorwärts.
Vor einem recht alten Haus, das eine Schmiedefamilie bewohnte, sagte ich einer alten rechtschaffen aussehenden Savoyardin Lebewohl. Auf der Schwelle ihres Hauses sitzend, verfolgte sie mein Kommen und Gehen mit verschwiegen geheimnisvoller Miene, wie jemand, der zur Hälfte errät, um was es sich handelt, und der die Nachbarn glauben machen will, er wäre ins Vertrauen gezogen. An der anderen Straßenseite stand weit weniger schüchtern, ihr Sohn, mein armer Freund Ermillet, mit seinem sanften, guten Gesicht. (Dies war ein einstiger Matrose des »Petrel«. P. L. hatte geheim jene Frau aufgesucht, die vor ihm den Senegal verlassen hatte, und es war seine letzte Zusammenkunft mit ihr).
Er wußte wohl, daß meine Reise eine trübe sei, und daß sich für mich Wichtiges entscheiden solle ...
Es waren die letzten Oktobertage, für Savoyen eine vorgerückte Zeit; doch dieser Tag war strahlend warm, die Berge standen rotbraun oder von dunklen Tannen gekrönt gegen den dunkelblauen durchsichtigen Himmel. Die schon vergilbten Bäume hatten den Weg mit toten Blättern besäet. Und der ganze Zauber letzter schöner Tage lag über dieser Landschaft.
Kamen Steigungen, so wurden die Reisenden ersucht, den Wagen zu verlassen. Solches vollzog sich wie im Familienkreis, es spielten sich kleine Szenen ab, die mich an die Erzählungen von Rodolphe Töpffer erinnerten und mich sicher heiter gestimmt hätten, hätte nicht bange Sorge mir das Herz zugeschnürt.
Langsam ward mir die Gegend um mich vertraut. Ich kannte sie aus Ermillets einfachen, kunstlosen Schilderungen. Er hatte dies Land einmal in seiner Kindheit als Flüchtling ganz durchmessen.
Die Nacht kam, und immer noch rollte der alte Eilwagen, rollte über Bergpfade, durch tiefe dunkle Täler, durchquerte da und dort verschwiegene Dörfer, Schmugglerwohnstätten offenbar, die zu solcher Stunde einen phantastischen Anblick gewährten ...
Nun war die Kälte scharf und die Nacht nebeldurchzogen. Wir sahen unter uns, in der Ebene, die Lichter einer großen Stadt. Und bald erklang der Hufschlag unserer Pferde auf dem Pflaster einer belebten Straße, in der geschäftige Menschen durch den Nebel eilten.
Das war die Stadt, in die ich gekommen war, um, einsam und ein Fremder, hier einen hoffnungslosen Schritt zu tun. Und mir war unbeschreiblich traurig zumute.
Ich irrte durch die unbekannten Straßen, fragte Vorübergehende nach der Adresse des Hotels, in dem Briefe mich erwarten sollten.
Das Hotel war von Russen und Engländern überfüllt, von Reisenden, deren Fröhlichkeit mir wie ein Mißklang ins Ohr tönte ... Das Abendessen wurde serviert, doch ich berührte die Speisen kaum.
Neun Uhr war es ungefähr, als ich aufbrach, nachdem ich mir den Weg hatte genau beschreiben lassen.
Es war finstere Nacht, dichter Nebel ringsum, und ich, der ich aus Afrikas leuchtenden Gefilden kam, fühlte mich namenlos bedrückt.
Lange schritt ich durch steile finstere einsame Gassen. Endlich kam ich vor das Haus, das ich suchte: es war ein alter palastähnlicher Bau mit einem Wappen über der Pforte.
Wie ein Kind habe ich vor dieser Pforte gezittert; nirgends Licht, kein Geräusch in diesem Haus, auf das ich meines Lebens Seligkeit gesetzt hatte ... Ich hob die Hand, um zu klopfen ... wie Schwindel kam es über mich, und ich atmete nicht mehr ...
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(Hier fehlen einige Seiten.)
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Gemächlich traten wir den Rückweg an, doch kaum hatten wir wieder die breite Straße vor uns, als der Eilwagen in einen beschleunigten Trab überging.
Es war ungefähr Mittag, und Savoyens Berge standen in schier unwirklicher Pracht unter dem herbstlich schönen Himmel. Wie gestern, so auch heute ein klarer warmer Tag, – Altweibersommer – einer jener Tage, deren Zauber unbeschreiblich ist, weil er das Scheiden des Sommers einleitet ... Ich empfand die tiefe Stille in mir, wie sie starken Erlebnissen zu folgen pflegt, vielleicht weil das Herz müde ist und ausruhen will.
Annecy ward sichtbar, in Sonne getaucht. Ich eilte, dahin zurückzukehren und den Freund wiederzufinden, den ich dort zurückgelassen hatte.
Mein armer Freund arbeitete im Taglohn, in einem Eisenwerk, wo er unter Mühen den Lebensunterhalt für sich, seine alte Mutter und seine Schwester erwarb.
»Alles ist vorbei, und hier bin ich,« sagte ich zu ihm. »Laß deine Arbeit, komm mit mir, ich fürchte mich, allein zu sein!«
Noch fünf Tage blieb ich in Annecy, die mein Freund und ich mit Bergwanderungen ausfüllten, und diese kurze Zeit blieb mir in lieber Erinnerung.
An jedem Abend ruderten wir über den stillen See, dessen ruhige, wehmütige Schönheit wunderbar mit meinem Denken in Einklang stand ...
Joinville (Turnschule), 25. Januar 1875.
Heute abend, als ein trüber Wintertag zu Ende und unser gewohnt elendes Mahl verzehrt war, fühlte ich mich plötzlich, mitten im Lärm und Gewirr gleichgültiger Stimmen, durch die Macht der Erinnerung auf das bewegte Meer versetzt, in die reine Luft der Tropen. Wie in einem Traum sah ich den alten »Espadon«, an den die Wogen schlugen, und all meine damaligen Eindrücke, die schon fern und vergessen schienen, erstanden mit verblüffender Wirklichkeitstreue aufs neue in mir.
Jener Augustabend zunächst, an dem ich, immer vier Stufen auf einmal nehmend, die Schiffsbrücke hinabstürmte und dem Kommandanten meldete: »Der Pic von Teneriffa vom Backbord aus in Sicht!« Ich war damals zweiter Offizier des »Espadon«, dieses kleinen halb zerfallenen Schiffes, das vom Senegal kam. Doch wir liebten uns alle an Bord, all meine Matrosen liebten mich, und es war mir sehr leid, als ich es verlassen mußte.
Berny, der lange Steuermann Francis Berny, der ein wenig mein Liebling war, spähte scharf, doch er sah noch nichts ... »Es stimmt,« sagte unser braver Kapitän, als er mit dem Fernrohr die Tatsache festgestellt hatte. »Aber, Leutnant, was haben Sie für gute Augen ...« Und blitzschnell drang die frohe Kunde bis in den untersten Schiffsraum: »Der Leutnant hat Land gesehen, den Pic von Teneriffa, vom Backbord aus!
Seit vierzehn Tagen war alles für uns in Frage gestellt, das schlechte Wetter hinderte ohne Unterlaß, und unser alter Kasten stand dauernd unter Wasser. Wir alle waren durchnäßt und ein wenig entmutigt und ganz erschöpft vor Müdigkeit. –
Seltsam ist es schon, dies Gefühl, mit wenigen Freunden aufs offene Meer verschlagen zu sein mit schwankem Boden unter den Füßen, und das, was in solcher Zeit die Seele bewegt, kann nur ein Matrosenherz verstehen ...
An jenem Abend jagte der Passatwind über unseren Häuptern die kleinen Wolken vor sich her, das Zeichen schlechten Wetters in den Tropen, die Sonne war versunken, der Abend kalt, das Meer bewegt, und feuchte Nebel lagen über uns ... Lange schon suchte mein Auge das Land in der Richtung, in der ich am Tag erwartet hatte, es auftauchen zu sehen ... Fern über einem schmalen Nebelband hob sich kaum sichtbar vom noch hellen Himmel ein hohes Etwas ab, doch brauchte man Seemannsaugen, um es zu erspähen. Ich hatte den unbestimmten Umriß des Pics von Teneriffa erkannt, dessen Silhouette sich mir eingeprägt hatte, als ich, drei Jahre früher, zum erstenmal die Welt durchfuhr.
Der heftige Wind, der uns mit salziger Feuchtigkeit überschüttete, wurde kälter und kälter, und das Meer schwoll hoch an beim Nahen der Nacht, doch an Bord war wieder Freude eingekehrt, und laut sangen die Matrosen ... Denn Land war da, ganz nahe vor uns, das Land von Teneriffa. Dieser so sehr umstrittene Punkt der Überfahrt war erreicht, und wir waren am Ende unserer Leiden ...
Ganz erstarrt betraten der Kapitän und ich die Kompaßhütte, um trotz des Schwankens den genauen Weg unseres Schiffes in die Karten einzuzeichnen.
Diese Erinnerung vom Bord des »Espadon« nimmt unter allen anderen eine besondere Stelle ein ... Die stete Gefahr, der heftige Sturm, die bewegte See, die Ungewißheit des morgen, und damit verbunden, das schöne Wissen um erfüllte Pflicht, ... die Verantwortlichkeit jeder Stunde, jeder Minute, die unumschränkte Notwendigkeit, alle Hilfsmittel meiner Intelligenz und meiner Kenntnisse der Allgemeinheit dienen zu lassen. Hier erfüllte ich meine beschwerlichen Seemannspflichten mit einem Herzen voller Leidenschaft, während in meinem innersten Leben unendliche Wandlungen sich vollzogen.
Ich fühlte neue Lebenskraft nach aller Erschlaffung im Senegal, indem ich die scharfe Luft des großen Ozeans atmete, die aus gemäßigteren Zonen zu uns hernieder strich. Die Heimat stand leuchtend am Ziel dieser Reise, zugleich jene Frau, die ich anbetete, und all die lieben Verwandten, die ich nun wiedersehen sollte ...
Doch dieser zauberhafte Traum verflog, und rauh fiel ich wieder in die Wirklichkeit zurück, in den rauchgeschwärzten Schiffsraum, die winterliche Erstarrung und den Lärm der derben Gespräche ringsumher. Wieder verwirrten sich meine Gedanken, die ich nur mühsam weiterspinnen konnte ... Dennoch entsann ich mich, daß ich beim Verlassen der Kompaßhütte die dunkle Brücke hinabstieg, bis ich mein Zimmer fand, den einzigen Winkel des Schiffes, in dem noch eine Lampe brannte. Dies einzige Zimmer war verschont geblieben, – sein Wohlstand stach grell ab von all der andern Not.
Hinter der Portiere war es da wie in einem exotischen Heiligtum voll leuchtender Farben. Überall glänzende Waffen, blinkende Rüstungen, Rosetten, die aus Perlmutter und den Flügeln der Tropenvögel kunstvoll gefertigt waren ...! All diese Pracht hatte ich hier aufgehäuft, weil sie sie sehen sollte.
Auf meinem Streckbett saß bei meinem Eintritt ein Mann. Blutrot war sein Gewand. Es war der Spahi von Cora (Jean Peyral).
Als er mich sah, hob er traurig den schönen Köpf: »Leutnant,« sprach er, »ist's wahr, haben Sie Land gesehen? ... Gleichviel, mir wäre recht, wenn wir es nie erreichten!«
Joinville, 1. Februar 1875.
Heute sind es genau fünf Monate, daß ich wieder in Frankreich bin ... An einem schönen heißen Sommersonntag bin ich zurückgekehrt. Der »Espadon« fuhr durch die stillen Wasser der Charente, nach einer vierzehntägigen Überfahrt, die wohl zum Schrecklichsten in meinem Leben zählt. Am 20. Juli hatten wir Saint-Louis und den Senegal verlassen.
Fünf Monate schon! Wie die Zeit verfliegt, sie rückt Erinnerungen fern und löscht sie aus ... Mein bitteres Leid werden die Jahre vielleicht auch einmal tilgen, wenn ich gleich wünschte, es behalten zu können. Denn lieber noch ist mir dieser Schmerz, der doch noch ein Teil von ihr ist, der alles ist, was in mir lebendig bleibt, und ich ziehe diesen Schmerz dem Vergessen vor, das die Zeit mir vielleicht bringt.
Alles ist in meinem Leben farblos und bleich geworden, das Drama ist aus, ich bleibe allein zurück, zermürbt von der Tat, und ich erwarte mit der Ruhe eines Verstorbenen die letzte furchtbare Phase.
Dies Jahr 1874 ist wie ein Orkan durch mein Leben gebraust, hat alles verwüstet und alles hinweggeweht, so daß mir ist, als hätte ich bis dahin nicht gelebt und als hätte ich jetzt zu leben aufgehört.
Und jetzt, mitten in der Stille und Leere meines Lebens, ist mir, als wäre jene verworrene Zeit, in der ich so heiß geliebt, nur ein wirrer Traum gewesen. Was war doch damals an Leidenschaft in mir und um mich, wieviel Widerspruch und wieviel Liebe ... Ich schritt dahin wie eingeschlossen in einem Wirbelwind von Fieber und Trunkenheit. Wie ein Spiel voll sträflicher Intrigen ist es gewesen, auf welches Afrikas heiße Sonne herniedersah, auf unsere Jugend, die da mimte in tropischer Luft, zwischen einsamen sandigen Kulissen.
Doch das war Leben, während ich jetzt gestorben bin. Mein Erinnern ist nicht stärker als das eines Toten sein mag, der des Lebens gedenkt. So ist mir, wenn ich nach rückwärts schaue.
Ach, der 1. September der Tag meiner Wiederkehr, – mein Gott, er liegt schon um fünf Monate zurück. Und drei Monate sind es nun bald, daß ich zum letztenmal die geliebte Hand gedrückt habe, die mir mein Leben zerbrach – das war in Savoyen, in einer Nacht im Oktober, einer kalten Nebelnacht, und unser Beisammensein war kurz, dunkel und geheimnisvoll, wie wenn Missetäter sich treffen ... dann war es zwischen uns zu Ende für immer.
Ihr dank' ich vermutlich, daß in meinem Erinnern ein solcher Zauber über diesem letzten Jahre liegt, über der öden afrikanischen Wildnis und über meinem alten Schiff ...
Mein Gott, schon fühle ich, wie mein Gedenken schwächer wird, und wie es mählich ganz vergeht. Tagtäglich trachte ich, einige Brocken auf dem Papier festzuhalten: Vergebliche Mühe, ich kann es nicht in Worte fassen, und wenn ich später nachlese, ist mir alles fremd und neu: geschriebene Sätze, kalt und machtlos, und bis ins Innere gelangen sie mir nicht. Ach, wenn die unerbittliche Zeit mein Haar gebleicht haben wird, und wenn man dann den Leib der Erde wiedergibt, bleibt dann nichts mehr zurück, keine Spur, kein Erinnern an das, was ich so tief empfand, und was mit fünfundzwanzig Jahren mein Herz so weh erzittern ließ?
Fünf Monate sind es heute, an einem schönen Sonntag ist's gewesen, leise kam der »Espadon« die Wasser der alten Charente heraufgefahren, und wir alle überließen uns der stillen Freude unserer Wiederkehr ...
Am Abend vorher, während der Wachablösung, war ein großes Fischerboot nahe an uns herangefahren, und die Bemannung hatte uns zugerufen: »Ihr steuert zu scharf gegen Norden, ihr werdet noch in der Bretagne landen!«
Hoch ging das Meer, und seine grünen, kurzen schnellen Wogen schüttelten uns fürchterlich.
Bellegarde und ich aber sagten nach dem Diner: »Botz, lieber Botz, die Nacht kündigt sich sehr stürmisch an, und unser altes Schiff ist wackelig. Es wäre gebotene Vorsicht, den Malvasier aus Palmas zu trinken, der uns übrig blieb.« Und wir tranken den Malvasier.
Dann gewann ich im Ecarté gegen Botz den weißen Mantel, den er für den Spahi gekauft hatte. Ich gewann ihn mit fünf Punkten in dem Moment, als die Schiffswache das Feuer von Rochebonne signalisierte, das erste Feuerzeichen der Heimat.
Da sind wir alle auf die Schiffsbrücke gelaufen.–
Joinville, 11. März 1875.
Ich bin einen Monat lang krank gewesen, und ich bin noch immer schwach ... Der Kummer hat mich krank gemacht, ich hätte nicht gedacht, daß es möglich wäre. Mein Arzt hat sich übrigens nicht getäuscht, trotzdem ich ihm das Ganze immer verbergen wollte. Viel Qualen hab' ich still erduldet, hab' all meine Verzweiflung hinuntergewürgt, ohne auch nur eine Träne zu vergießen. Dann mußte eben die Reaktion kommen, der Kummer schlug mich nieder und streckte mich auf mein Lager hin, wo ich körperliche Qualen tragen lernte. Ich hatte starke Kopfschmerzen, ununterbrochen Fieber, und zeitweise lag ich im Delirium. Meine Erinnerungen an das Sonnenland erstanden dann in erstaunlicher Greifbarkeit, einer Fata Morgana gleich; ohne Unterlaß sahen meine Augen die Dünen von Dakar, die Sandwüsten von Bobdiarah. Der lange Winter in Joinville hatte auch dazu beigetragen, mich so herabzubringen, denn seine Kälte und seinen Schnee, all seine trübe Öde konnte ich auf die Dauer nicht ertragen...
Meine Kameraden, einige Unteroffiziere, wachten bei mir und besuchten mich in regelmäßiger Einteilung. Mein militärischer Diener hingegen verbrachte ganze Tage damit, auf Befehl des Arztes meinen Körper mit Melissensaft einzureiben, damit er sich neu belebe, und alle wähnten, daß ich vor dem Scheiden stehe, man wußte nicht wie, noch warum ...
Dennoch geschah es eines sonnigen Tages, daß ich mich erhob und sorgsam ankleidete.
Meine Beine trugen mich fast nicht mehr, aber ich konnte mich doch bis ins Freie schleppen. Und von diesem Tage an war ich gerettet.
Jetzt fühle ich mich immer wohler, und immer, wenn die Sonne kommt, verlasse ich das Haus ...
Ich war bisher nicht gewohnt, zu leiden, ich kannte weder Krankheit, noch diese grenzenlose Schwäche. Nun mir all dies unbekannte vertraut ward, ist es mir ein schmerzliches Verwundern.
Joinville, 15. März 1875.
Nach einer qualvollen, schlaflosen Nacht lag ich einen ganzen Tag schier betäubt, umgaukelt von seltsamen Spukbildern.
Die Luft ist schwer von herbem Duft, drückend lastet die Hitze, lähmend die tiefe Stille ringsumher. Das Meer liegt regungslos, ein blaßblauer Spiegel, unter der sengenden Sonne, und das Licht ist so grell, daß der Himmel darob erbleicht ...
Dort im Weiten glänzt ein bläulicher Streifen, die Küste von Guinea, – am fernsten Horizont die eintönige Linie der grünen Urwälder, die von Wellen umspült sind.
Wo ist sie, meine Heißgeliebte? Allein bin ich in dies Land zurückgekehrt, in das ich dir nachgefolgt war, du hast mich verlassen, ich hab' dich verloren. Und ein Abgrund gähnt zwischen einst und jetzt ...
Mein Geschick hat sich entschieden, ich blieb Seemann und ging zurück, – doch warum bin ich allein, warum hast du mich verlassen?
Die schwüle Luft ist von Gewittern schwer und ganz erfüllt von herbem Duft. Aus tiefen Wäldern steigen Fieberdünste: Das ist die unselige Küste, das Land der Wälder, die kein Ende haben.
Unter heißen, giftigen Pflanzen lauern Schlangen, und das unendliche Meer dehnt sich reglos unter dem glühenden Himmel ...
Neger locken dumpfe Töne aus dem hölzernen Tam-Tam. Zauberer gleiten auf Piroguen vorüber. Schweißglänzende Männer tauchen ihre Ruder tief ins heiße Wasser, das sich furcht wie eine Ölfläche ...
Nun hör' ich ein klagendes Lied von jungen schwarzen Weibern. Dann sehe ich Neger im Sonnenbrand friedlich schlafen in den Wurzeln der heiligen Bäume ...
Und dann erwache ich vollends, und meine Blicke weilen auf einem Strauß Schneerosen, der neben mir auf der Decke liegt. Ich selbst bin auf ein Ruhebett gestreckt, bin in meinem Zimmer in Joinville ... Es ist vier Uhr am Nachmittag. Düstere Winterdämmerung dringt durch die Fensterscheiben, und am offenen Feuer sitzt meine Ordonnanz.
Es ist die Zeit des ärztlichen Besuches. Und der Doktor findet, daß ich kein Fieber mehr habe, daß ich nur noch sehr entkräftet bin.
Joinville, 20. März 1875.
Heute morgens erreichte mich die Kunde, daß mein Freund Brémont, Unteroffizier bei den Spahis, eben in Saint-Louis im Senegal den Verletzungen erlegen ist, die er in der Expedition gegen den König Lal-Dior davongetragen hat. Und diese Nachricht war für mich ein schwerer Schlag.
Den ganzen Tag hindurch irrte ich allein ohne Ziel durch die Wälder, und achtete nicht des furchtbaren eisigen Windes. Als ich zurückgekommen war, bin ich dann tief erschöpft in meinem Lehnstuhl eingeschlafen.
Viel später erst erwachte ich, beim Anbruch einer gespensterhaften Märznacht, trotz meines Mantels vor Kälte starr, die Füße vor dem erloschenen Feuer.
Mein erster Gedanke beim Erwachen: Brémont ist tot. Und wieder einmal ging all mein Denken fort von Joinvilles glanzlosem Himmel in jenes Sonnenland, das erfüllt war von Leben für mich, inmitten der Freunde, die ich dort besessen.
Brémont ist tot, er ruht nun auch im Gottesacker von Sorr, er, den ich immer voll von Leben kannte, der so bewunderungswürdig schön gewesen, und der eines Abends beim Liebesmahl fröhlich sein Glas erhob: »Auf jene, die gefallen sind in Bobdiarah und in Mekka!«
Und nun ist auch er so gestorben; er war einer jener Ausnahmemenschen, denen in ihrer seltsamen Existenz der Senegal zur Heimat ward, die Sandwüste zum Vaterland.
Mein Freund Brémont hinterließ Schulden in Saint-Louis, und darum mußte seine Habe – seine Waffen, sein Affe und sein Hund – an Mulattinnen verkauft werden. Das ist das Ende der Spahis.
Joinville, 21. März 1875.
In der Zeitschrift »Le XIXième siècle« lese ich, daß der Schiffsfähnrich und rumänische Fürst Brazza, mein einstiger Kamerad von der Seekadettenschule, am 1. September eine Expedition nach Dakar führt, wo das Transportschiff »Loiret« sie erwartet. Diese Expedition wird den breiten Fluß Ogooué stromauf fahren und von dort aus Zentral-Afrika erforschen.
Ein Jahr ist es her, daß Brazza mir in Dakar seinen kühnen Plan auseinandergesetzt hat, und ich war sehr versucht, mich ihm anzuschließen. Ich hatte ihm sogar meine große Hündin Couragai versprochen, von der wir alle wußten, daß sie bei Lagerungen im Freien ein vorbildlicher Wächter war.
Heute bin ich in Joinville in Schnee und Reif, – warum bin ich nicht mit meinem Freunde Brazza gegangen! Wer wird mir Afrikas Sonne wiedergeben, und sei es selbst die des Ogooué! ...
Joinville, 20. März 1875.
Ich versuche wieder Freude am Leben zu gewinnen, und es gelingt mir nicht ... Man bekommt alles satt, selbst den Schmerz, und der meine geht dahin, doch nichts rückt an seine Stelle, nur ein Gefühl der Leere und ein grenzenloser Ekel vor dem Leben ...
Das geliebte Bild der Frau, die mich verlassen, entschwindet mehr und mehr; ich füge mich in die seltsame Rolle, die mir in dieser Welt beschieden ist, und das unheimliche »Menetekel« schreckt mich nicht mehr ...
Ich bin übrigens wieder gesund geworden, meine Muskeln entwickeln sich dank fleißiger Turnübungen zu athletischer Kraft und das Leben überschäumt. –
Dem düstern klösterlichen Dasein, das ich bisher gelebt, habe ich Valet gesagt, und meine Türe hab' ich weit der Jugend und dem Leben auf getan. Und meine Stube, öde und einsam einst gleich eines Priesters Zelle, ist abends immer nun erfüllt vom frohen Lachen junger Frauen. Ich war meinen Freunden ein dunkler Punkt, ragte wie ein Rätsel in ihre Welt. Jetzt hab' ich die Rolle getauscht und bin ihr Führer geworden.
Freies Leben der Bohême. Als ich siebzehn Jahre alt war, wogte es schon einmal um mich. Das war, als ich im Quartier-Latin den Vorbereitungskurs zur Marinezöglingsschule absolvierte, und ich war der einzige, der sich fern hielt von dem munteren Treiben. Eine unbestimmte Traurigkeit, und ein Verlangen nach Luxus und Lebenskunst zwangen mich, am rechten Ufer der Seine nach Liebe zu suchen. Ich fand sie dort bei einem schönen, tieftraurigen jungen Mädchen, das von reichen Freunden ausgehalten wurde.
Was nützt es, sich mit Strenge zu umgürten! Jetzt brauch' ich all den Lärm und die Phantastereien, denn ich ertrag' es nicht, allein zu sein.
Die, für die ich meine Pforte aufgetan, verlangen nur einzutreten. Ich ward umringt und umjubelt. Denn weil ich ein düsterer Sterbender war, um den leise das Geheimnis webte, drum ist meine Wiederkehr ins Leben der Jugend gefeiert worden. Mein Seemannshandwerk und meine weiten Reisen verfehlen auch nicht ihre Wirkung auf die Menschen dieser Welt. Man drängt sich, mein Freund zu sein oder meine Geliebte.
Wohl sah ich, daß mein lieber Bruder Jean ob dieser meiner Umgebung und ob der ungewöhnlichen Art meines Lebens etwas verwundert war. Doch hat er mich verstanden und weiter nichts gesagt. Er weiß übrigens gut, daß alles dies nur Schein ist, und daß meine schier überfeinerte Selbstachtung mich immer hindern wird, ganz tief zu sinken und mich in groben Ausschweifungen zu ergehen.
Nein, dennoch, ich vergesse dich noch nicht, Geliebte mein ... noch ward mir nicht die Unbekümmertheit, die ich mir wünsche. Wohl hasche ich nach Freuden, aber das Herz in meiner Brust ist gestorben. Die Reue, die unerbittliche Reue quält mich des Nachts. Verzweifelnd ringe ich die Hände, denk' ich an sie, die mir entschwunden auf Nimmerwiederkehr. Und fürchterlicher Nacht folgt qualvolles Erwachen.
O, diese Angst, wenn der Schlummer weicht! Und warum immer diese seltsam fremde Heiterkeit, die diesen Augenblick so schrecklich macht?
Ich wohne in einem großen, häßlichen Hause, dem Bahnhof gerade gegenüber. Dieses Haus ist für jene Offiziere reserviert, die, wie ich, Kurse an der Turnschule besuchen.
Über mir wohnt ein Unteroffizier vom 57er Regiment. Seine Geliebte, sie heißt Henriette, kommt zweimal wöchentlich zu ihm, – ein schönes, kluges, ziemlich schamloses und lautes, aber immer glanzvolles Weib, das nie zweimal im gleichen Kleid erscheint. Manchmal kommt, gleichsam als Folie, ihre Freundin mit, eine gewisse Bertha, auch sehr herausgeputzt, aber häßlich ...
Mir zur Rechten wohnt ein Artillerieoffizier, aber er gehört nicht zu unserer Gesellschaft; seine Geliebte ist heimlich und unsichtbar, und er selbst ist nicht anders. Wir grüßen einander beim Begegnen, – das genügt hier und dort.
Links von mir ist die Wohnung von Mutter Julie, unserer Hausfrau, ihrer Katze und ihrer drei Hunde: Toutou, Toutoute und Titine.
Im zweiten Stock, linker Hand, wohnt Delguet, von den 30ern, einer unserer »Golos«, (dies Wort, das in der Negersprache »Affe« heißt, dient uns hier, um die Mitglieder unseres kleinen Kreises zu bezeichnen). Delguet ist sogar, nach mir, erster »Golo«. Aus Annecy, wo sein Regiment garnisoniert, brachte er sein savoyardisches Liebchen mit, eine kleine, anständige und nette Arbeiterin: La Fratine heißt sie bei uns, und wir gaben ihr damit den Namen einer alten Verkäuferin in Annecy, deren Geschichte sie uns einst erzählte. Sie ist siebzehn Jahre alt, ist graziös, fein, und gläubig wie ein Kind.
Das Paar Delguet-Fratine ist das ärmste von uns allen, und das reizendste außerdem.
La Fratine, die ursprünglich recht wild und ungebärdig war, sieht nun in mir ihren besten Freund und betrachtet mein Zimmer als das ihre. Seitdem ich ihr volles Vertrauen genieße, schätze ich auch die Eigenschaften ihres Herzens.
Sie arbeitet tagtäglich in Paris, bei sehr minderen Leuten, gegen die ich einige Male, nur ihretwegen, glaubte, leutselig sein zu müssen. (Sie verfertigen Krawatten für die Magasins du Louvre.)
La Fratine erscheint allabendlich mit dem Zug um 7 Uhr wie eine kleine Ausgehungerte, und immer bringt sie einen großen Haufen Arbeit für die Nacht, und stets verhindern wir sie, auch nur daran zu rühren. Delguet und ich belauern ihr Kommen auf meinem Balkon. Übrigens kennen wir all die Ankömmlinge des 7-Uhr-Zuges und hatten ihnen schon manchen Streich gespielt.
Unsere kleine Freundin sitzt gewöhnlich in ihrem oder in meinem Zimmer und verzehrt, aus Sparsamkeit, Delguets Abendbrot, der seinerseits darauf verzichtet.
Die Fratine besitzt, wie einst Mimi Pinson, nur ein einziges Gewand. Sie trägt es am Sonntag, wenn wir mit ihr im Wald von Vincennes lustwandeln. Doch da das Kleid aus Leinen ist, bleibt man zu Hause, wenn es regnet. Ich werde regelmäßig befragt, wenn es sich um Hüte handelt, oder um Reise- und Arbeitskleidung. Das alles wird bei mir verfertigt, während unsere Freundin uns mit verblüffender Unschuldsmiene Schauergeschichten aus dem Atelier erzählt.
Tür an Tür mit Delguet, rechts von ihm, wohnt ein vierter Unterleutnant der Dreißiger; er lebt in gemeinsamem Haushalt mit seiner »Dame von Welt«, der pyramidalen Liline, die immer höchst geheimnisvoll erscheint. Eines Tages kam Liline herunter und hat bei mir gefrühstückt. Wir halten sie aber doch in ziemlicher Entfernung.
Mutter Juliens Haus besitzt noch eine andere Stiege. Dort lebt im ersten Stock linker Hand der Schiffsfähnrich Roger, mein besonderer Freund, der Fürchterliche, der seinen Gegner im Säbelduell erstochen hat. Nun haben wir einen gemeinsamen Diener und eine gemeinsame Kasse.
Dann gibt's dort noch die Zimmer der beiden Kavallerieoffiziere. Der erste, dessen Charakter zuweilen nicht ganz einwandfrei ist, ist der Geliebte der kleinen Maria. Diese ist Geschäftsfräulein im Louvre – hübsch, blutjung, mit einem Anflug von Kindlichkeit, ein wenig übertrieben vielleicht, aber niedlich.
Der zweite, mit vielleicht noch unerträglicherem Charakter als der erste, ist dafür seelensgut. Er bringt es zuwege, den um Verzeihung zu bitten und unter Tränen zu umarmen, der ihn in Zorn gebracht hat. Seine Geliebte heißt Louise und ist eine brave Näherin aus der Rue Molière in Paris. (Sie schneidet zuweilen eine recht komische Fratze und nennt diese Leistung »Golo ist froh«. Das ist aber auch alles, was sie kann.)
Im Hause gegenüber wohnt ein Offizier vom 3ten Marine-Infanterie-Regiment, ein alter Senegalfahrer und ein entzückender Bursche obendrein. Er war vier Jahre lang Kommandant an der guineischen Küste, und er ist es auch, der die Negersprache im Dialekt bei uns eingeführt hat. Sein Verhältnis, die lange Victoria, ist gleichfalls ein Nähmädchen aus der Rue Molière, aber sie zeigt sich nie. Ihr Gesicht wäre nicht übel, wenn sie nicht gar so viel Sommersprossen hätte.
Victorias Zimmer in Paris steht mir zur Verfügung, wenn ich mich einmal verkleiden will.
Ein wenig weiter, in der Brauerei, wohnt der letzte »Golo«, ein Jägerleutnant: gut erzogen, sehr nett, aber eng liiert mit Armandine, einem Ladenfräulein, das uns nicht gefällt. Wer von all meinen Nachbarn mich am meisten stört? Zweifellos Henriette und ihr Freund. Henriette vor allem, die mich verfolgt, sowohl mit Blumensträußen als mit Liebe, und dann ihr Freund, der nichts bemerkt. Sowie ich auf dem Balkon erscheine, erhalte ich Blumen an den Kopf, Rosensträuße, Maiglöckchensträuße, und zuweilen sie selbst, denn sie liebt es, sich mit Hilfe ihrer Decken auf meinen Balkon herabzulassen. Schließe ich meine Türe, so kommt sie bestimmt durch ein Fenster herein ... Sie und Berthe sind einmal auf diesem Weg nächtlicherweise in mein Zimmer gedrungen, worüber ich nicht wenig erschrocken war. Und obwohl ich sie mit Faustschlägen empfing, haben sie mir es doch nicht nachgetragen. –
Doch ist es nutzlos, vor zwei Uhr morgens einschlafen zu wollen, wenn Henriette die Nacht in Joinville verbringt.
Joinville, 10. April 1875.
Wieder haben wir April, und der Frühling ist da. Das Wetter ist mild, die Wiesen stehen in voller Blütenpracht, und die »Golos« führen ein fröhliches Leben. Da gibt es kein ländliches Fest, an dem wir nicht teilnehmen, bei dem unsere kaltblütige Unverschämtheit nicht irgendwie in Aktion tritt.
Die Gegend hier, im Stil der Umgebung von Paris nahe verwandt, wird mir langsam unerträglich dank ihrer Heiterkeit und ihrem Blumenflor. An schönen Tagen kommen ganze Wirbelwinde Pariser Leutchen zu Landpartien hergeweht. Schiffer, Schiffermädchen, Grisetten, Ladenjünglinge, – all das hüpft und springt und singt und pflückt Blumen.
Zweimal in jeder Stunde speit der Eisenbahnzug aus Vincennes einen solchen Strom vor meinem Fenster aus.
In solchen schönen Frühlingsnächten bleiben wir lange auf dem Balkon; Delguet, seine Freundin und ich sind immer die letzten. Dann überschüttet die Fratine in ihrer Art, die schelmisch ist und tief zugleich, mich mit einem Schwall von Fragen: Über den Himmel, über die Welten, über fremde Länder. Sie ist lernbegierig und erfaßt alles mit verblüffender Leichtigkeit.
Joinville, 30. April 1875.
Unsere »Golobande« hält treue Freundschaft mit den Organisatoren der Turnschule. Das sind teils Feldwebel, teils Quartiermeister, brave Jungen mit rechtschaffenen Herzen, offenen intelligenten Gesichtern und all der sorglosen Fröhlichkeit, die gesunder Jugend eigen ist.
An jedem Abend ist Rendezvous beim »Springenden Kaninchen«, einer Soldatenkneipe tief in einem Garten, der von Rosen und Syringen duftet. Erst aber ordnet sich der Zug bei mir: Man kostümiert sich, tauscht die Kleider, und so entstehen neue Feldwebel, andere Matrosen, aber auch Lumpensammler, lustige Figuren, Zirkusclowns und Kunstreiter, ganz unwirkliche Verkleidungen einer Schar wirklicher Menschen ...
Mit den trefflichen Boxerregeln, die wir alle innehaben, und mit der Herkuleskraft unserer Turner dringen wir überall durch, sind überall gefürchtet, überall Herren und Meister.
Unser Bundeslied ist eine frohe Weise, und allabendlich klingt sie auf, wenn die Turner über die blühenden Wiesen hinauf zur Festung ziehen.
Oft werde ich sie zurückwünschen, diese Zeit voll Jugend und Lebenskraft, und all die frohe Heiterkeit, die wie ein Taumel auf mir liegt, – selbst unserer kindlichen Spiele im Wald von Vincennes werde ich denken, wo die Pariser uns leichtem zwanglosen Völkchen zugejubelt haben. Und stets werde ich mir unsere braven Turner vor Augen halten, die zu jedem meiner abgeschmackten Scherze zu haben sind, und die, gleich mir, beim geringsten Anlaß Freude empfinden, wie sie ähnlich sonst nur Kindern eigen ist.
Das »Spiel in vier Winkeln« beispielsweise, das meinem Erfindergeist sein Dasein verdankt, ist ganz besonders gelungen. Um es zu inszenieren, rotten wir uns am Sonntag in zahlreiche Gruppen, mindestens zwölf an der Zahl. Doch muß man für dieses Spiel einen Platz zu finden wissen, an dem bereits zahlreiche Krämerfamilien ihr ländliches Frühstück verzehren. Denn dann das durch uns verursachte tolle Durcheinander dieser Leutchen zu sehen, wirkt ungeheuer belustigend.
Jeden Sonntagabend erneut sich das gleiche heitere Schauspiel: Die Ausflügler aus Paris stürzen zur Bahn, um den Zug nicht zu versäumen und dadurch nicht gezwungen zu sein, in Joinville zu übernachten. Von unserem Balkon aus, dem Bahnhof gegenüber, können wir uns herrlich über sie lustig machen. Es freut uns sogar zuweilen, die letzten Nachzügler mit den Resten unseres Abendbrotes zu bewerfen, das sind Spargelstümpfe, Eierschalen und dergleichen liebliche Dinge mehr. Die Leutchen ärgern sich zuweilen, und, im Zweifel darüber, ob Rache hier wichtiger ist als das Erreichen des Zuges, wenden sie sich, drohen mit der Faust, und laufen dann nur um so schneller, was unsere Freude noch größer macht.
Brief Pierre Lotis an seinen Freund Delguet.
Annecy, 23. Juni 1873.
Lieber Freund!
Verzeihen Sie mir vor allem, daß ich Ihnen auf grauem Papier schreibe. Es ist Hotelbriefpapier – zur Entschuldigung sei es gesagt –, aber es hat so ziemlich die Färbung meiner Gedanken.
Seit heute morgen bin ich in Annecy, unaufhörlicher Regen strömt nieder, und ich kann diesem Ort keinen Zauber abgewinnen, trotzdem er mich im letzten Jahr so schön dünkte, als keine Wolke am Himmel stand, – und dann stürmen hier zu hart Erinnerungen auf mich ein.
Als ich vor einem Jahr hier war, hatte ich eben einen harten Schlag empfangen, doch war mein Innerstes noch des Lebens voll. Heute aber bin ich tot.
Sie, der Sie Annecy auch bei Regen kennen, Sie wissen, wie unheimlich es so wirkt. Ich habe meinen Freund Ermillet in seiner Werkstatt aufgesucht, und ich fand ihn so elend, so durch Krankheit verändert, daß ich ihn kaum wiedererkannte. Ich muß gestehen, daß es mich tief bedrückte, ihn so zu sehen, der einst ein so schmucker Matrose war. Doch ist er im Innern der gleiche geblieben, und ich habe ihn von Herzen gern.
Ich danke Ihnen für Ihre gute Absicht, ihn um meinetwillen kennenzulernen. Doch scheint mir dies ziemlich unmöglich, denn mein armer Freund hat eine rauhe Außenseite, und es wäre Ihnen bald unangenehm.
Ich habe hier Ihr kurzes trauriges Briefchen erhalten. Meine eigenen Angelegenheiten sind auch durchweg trüber Natur. Ich werde wohl gezwungen sein, wieder nach XImmer noch um jener Frau willen, die P. L. in Senegal gekannt hatte. zu reisen, wo mich zweifellos wieder Grausamstes erwartet. Ich habe keinen Sou im Vermögen, aber Sie wissen, daß solche Kleinigkeiten mir niemals nahegehen, und bin ich erst einmal dort, muß ich auch wieder zurückkommen, und bisher habe ich solche Knoten noch immer entwirrt.