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Auban sprang auf.
Es hatte geklopft. Der Boy des Bars, der jeden Sonntag kam, steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Sir?« – Er möge in einer halben Stunde wieder kommen.
Auban sah nach seiner Uhr. Er hatte abermals eine ganze Stunde vergrübelt ... Es war nun fast fünf Uhr. Es dunkelte bereits und Auban entzündete eine große Lampe, deren Schein vom Kaminsims aus das ganze Zimmer erleuchtete. Dann schürte er das Feuer zu neuer Gluth; schob den Tisch mit Anstrengung gegen das Fenster zu, so daß ein weiter Raum vor dem Kamin entstand; und stellte endlich Stühle in einem Halbbogen um diesen herum. Nun hatten wohl acht bis neun Personen Platz.
Er übersah den Raum, der jetzt, nachdem die Fenster durch Vorhänge verhüllt waren, erwärmt von dem aufflackernden Feuer und durchhellt von dem milden Licht, ein fast behagliches Aussehen erhielt.
Aber wie Anders war es doch früher gewesen: in den beiden kleinen Zimmern von Holborn, als seine Frau noch lebte, sie, die so gut verstanden hatte, es Jedem behaglich zu machen, an den Sonntagnachmittagstunden: den Zurückhaltendsten zum Aussprechen, den Geschwätzigsten zur Zügelung seines Redeflusses, den Mißtrauenden zur Theilnahme, den Phrasenhelden zum Nachdenken zu bringen, ohne daß er es selbst bemerkte.
Es war damals nicht selten, daß Frauen diesen Zusammenkünften beiwohnten. Aber der Ton war immer gleich unbefangen und frei von jedem konventionellen Zwange geblieben.
Die Zeit ihrer kurzen Krankheit hatte die Zusammenkünfte jäh unterbrochen; ihr Tod die größte Lücke in den Kreis gerissen. Auban hatte die Idee dieser Nachmittage, die von ihr ausgegangen war, nicht aufzugeben vermocht.
Sie kamen wieder zu ihm. Von Der, welche alle vermißten, die sie gekannt hatten, wurde nie gesprochen.
Wie Viele waren in diesen zwei Jahren bei ihm ein- und ausgegangen: wohl an hundert Menschen! Fast Alle standen sie mehr oder minder in der internationalen Bewegung des Sozialismus. Ihre Ideale waren so verschieden wie die Wege, auf denen sie ihnen zustrebten.
Alle aber litten unter dem Drucke der heutigen Zustände und sehnten sich nach besseren ... Das war das einzige Band, das sie lose zu diesen Stunden vereinigte.
Viele verübelten es Auban, daß er seine Thür so verschiedenen Elementen öffnete. Manche sahen darin schon eine Untreue. »Gegen wen?« wurden sie von ihm lächelnd gefragt. »Ich habe keinen leiblichen oder geistigen Herrn, dem ich Treue geschworen hätte. Wie kann ich untreu geworden sein?«
So blieben die politischen Schwätzer, die Parteimenschen, die orthodoxen Fanatiker nach und nach fort: alle Jene, welche wähnten, des Himmels der Freiheit nur dann theilhaftig werden zu können, wenn das Ideal ihrer Freiheit das Ideal Aller geworden sei.
Wieder und wieder kamen die Einzelnen – Aubans wenige persönliche Freunde –, denen die Erfahrungen ihres Lebens gelehrt hatten, daß die Freiheit Nichts ist, als die Unabhängigkeit voneinander: die Möglichkeit für Jeden, auf seine eigene Weise frei zu sein.
Es wurde gewöhnlich Französisch gesprochen. Aber nicht selten auch Englisch, wenn die Anwesenheit von englischen Freunden es erforderte.
Fremde kamen und gingen in letzter Zeit wieder öfter. Auban bat Niemanden, wiederzukommen; aber Jeder fühlte an seinem Händedruck, mit dem er Abschied nahm, daß er in acht Tagen ebenso willkommen geheißen werden würde.
Das Recht der Einführung stand Jedem frei und wurde zuweilen so fleißig geübt, daß die Zahl der Anwesenden die Zahl der Stühle überschritt. Aber oft war Auban auch allein mit einem oder zweien seiner Freunde.
Meistens stand eine Tagesfrage im Mittelpunkt der gemeinsamen Unterhaltung. Oder eine Diskussion entspann sich und die Anwesenden theilten sich in Theilnehmer und Zuhörer. Doch kam es auch vor, daß man zusammenrückend kleine Gruppen bildete und zwei, drei verschiedene Sprachen das Gemach durchschwirrten.
Einmal kam ein Mensch, Keiner wußte woher, der sich einige Zeit hernach als Spitzel entpuppte. Die Entdeckungssucht nach Verschwörungen und Attentätern hatte ihn auch hierher gelockt. Als er aber sah, daß hier nicht von Dynamit, von Bomben, der schwarzen Hand, Exekutivkomitees und Geheimbünden die Rede war, sondern von wissenschaftlichen und philosophischen Fragen, die er nicht verstand, verschwand er wie er gekommen, nachdem er sich einige Stunden unsäglich gelangweilt hatte.
Eine ähnliche Enttäuschung erlebten einige jugendliche Hitzköpfe, die sich einbildeten, das Werfen einer Bombe sei eine größere That und schaffe das soziale Elend schneller aus der Welt, als die mühsame Ergründung der Ursachen dieses Elends. Die Verachtung, mit welcher sie hinfort von diesem »philosophischen Anarchismus« sprachen, der völlig unfruchtbar sei und mit der Befreiung der hungernden Menschheit nicht das Geringste zu thun habe, war ebenso souverän, wie leicht erklärlich.
Auban hielt sich bei den Diskussionen meist zurück. Doch liebte er es nicht, wenn dieselben den Boden der Wirklichkeit völlig verloren und in jene leeren Wortschwallgefechte ausarteten, die nur schwer ein Ende und nie ein Ziel erreichten.
Heute aber wollte er – gedrängt von seinen Freunden und nicht zurückgehalten von seinen eigenen Wünschen – in ihrer ganzen Schärfe die Gegensätze zweier Weltanschauungen hervorheben, deren unlogische Vermischung eine Nacht von Widersprüchen und Unklarheiten geschaffen hatte ...
Heute wollte er die letzten Unklarheiten, die noch über seine eigene Person und ihre Stellung herrschten, vernichten und damit einen Kampf beginnen, dem er fest entschlossen war, auf Lange hinaus seine beste Kraft zu widmen ...
Er sah gerade Etwas ungeduldig nach der Uhr, als es klopfte. Aber der Eintretende war ihm ein völlig Fremder. Es war ein Mann von vierzig Jahren, der auf ihn zuging, sich vorstellte und ihm einen Brief überreichte.
Auban überflog dessen Zeilen, nachdem sie sich Beide gesetzt. Es war eine Empfehlung für den Ueberbringer, in leichtem, geistreichen Tone gehalten, und sie kam von einem Manne, mit dem Auban vor Jahren in Paris oft auf derselben Rednertribüne gestanden hatte, wenn es gegolten, die Rechte der Arbeit zu vertheidigen, der aber nun der Redaktion einer großen Oppositionszeitung des Tages angehörte und seiner scharfen Feder wegen sehr gefürchtet wurde.
Halb eine Entschuldigung, halb eine Selbstverspottung tändelte dieser Brief zwischen unvergessenen Erinnerungen und der Wohlgefälligkeit an Erreichtem hin und her ... Er empfahl der Güte Aubans einen Freund, der sich von dem Studium der sozialen Bewegung angezogen fühle, wie »der Schmetterling von der Flamme«, und insbesondere während eines kurzen Aufenthalts in London einige Aufschlüsse über das dunkle Gebiet des Anarchismus zu erlangen wünsche, in dem Auban ihn wohl besser zu leiten verstehe, als er selbst, dessen »Blicke allzu sehr gebannt seien in den Kreis des Tages, als daß eine verlorene Zukunft ihn noch zu locken vermöge ...« Dann ein Glückwunsch zu Aubans buchhändlerischem Erfolge, ein abermaliges Lächeln über gemeinsame Thorheiten, von denen »die Erfahrung auch den letzten Duft des Reizes geweht«, und eine zeremonielle Verbeugung.
Auban stellte einige Fragen, um sich dies veränderte Bild ergänzen zu können. Dann erklärte er sich freundlich zu jeder Auskunft bereit, die von ihm gewünscht wurde. Er freute sich an den Klängen seiner Sprache, er freute sich heimlich an diesem Besuch, der einen Duft von Paris in sein Zimmer trug ...
Dieser Fremde war ihm sympathisch: seine einfache Kleidung, das ruhige, sichere Wesen, sein ernstes Gesicht.
– Sie wünschen von mir Aufschluß über die Lehre des Anarchismus. Würden Sie mir zuvor sagen, was Sie bisher unter Anarchie verstanden haben?
– Gewiß. Aber ich gestehe, daß mir ein klares Bild nicht vorschwebt. Das Gegentheil vielmehr: ein blutiges und rauchendes Chaos, ein Trümmerhaufen alles Bestehenden, völlige Lockerung und Auflösung aller Bande, die bisher die Menschen verknüpften: der Ehe, der Familie, der Kirche, des Staates, eine zügellose, durch keine Fessel mehr in Ordnung gehaltene, sich gegenseitig zerfleischende Menschheit –
Auban lächelte bei dieser tausend Mal vernommenen Schilderung.
– So malt sich allerdings in den meisten Köpfen heute noch die Welt der Anarchie, sagte er.
– So wird sie hingestellt bei jeder Gelegenheit von unserer Presse, den politischen Parteien, unseren Enzyklopädien, den professionellen Lehrern der Volkswirthschaft, von Allen. Indessen habe ich hierin stets nur die bewußte Verleumdung der Feinde und die unbewußte Nachplapperei der Massen gesehen.
– Sie haben Recht gethan, sagte Auban.
– Aber ich gestehe weiter, daß mir auch das entgegengesetzte Ideal: das harmlose, friedliche, ungestörte Zusammenleben der Menschen in Gütergemeinschaft, in welchem sich der Eine fortwährend seiner Interessen zu Gunsten des Anderen und der Gesammtheit freiwillig entäußert, ich gestehe, daß mir ein solches Ideal einer »freien Gesellschaft« als völlig unvereinbar mit der wahren Natur der Menschen erscheint –
Auban lächelte wieder.
– Ich gestehe dasselbe von mir.
Der Andere war überrascht.
– Wie? fragte er. Und doch ist dies das Ideal der Anarchie?
– Nein, antwortete Auban, – im Gegentheil: es ist das Ideal des Kommunismus.
– Aber – diese beiden haben ein Ziel?
– Sie sind einander entgegengesetzt wie Tag und Nacht, Wahrheit und Wahn, Egoismus und Altruismus, Freiheit und Knechtschaft.
– Aber alle Anarchisten, von denen ich hörte, sind Kommunisten.
– Nein, die Kommunisten, die Sie kennen, nennen sich Anarchisten.
– So gäbe es überhaupt hier, bei uns in Frankreich, überhaupt in Europa keine Anarchisten?
– Soviel ich weiß nicht; jedenfalls nur hier und da in geringer Zahl. Indessen ist jeder konsequente Individualist Anarchist.
– Und die ganze, täglich wechselnde Bewegung des Anarchismus, welche so Viel von sich reden macht – ?
– Ist anti-individualistisch und daher anti-anarchistisch; ist, wie ich schon sagte, rein kommunistisch.
Auban bemerkte, wie sehr seine Worte überrascht hatten. Jener wollte von ihm Beschaffenheit, Länge und Ziel eines Weges wissen und nun hatte er ihm gezeigt, daß der Weiser des Weges eine falsche Inschrift trug ...
Er sah den ernsten, nachdenklichen Ausdruck in den Zügen seines Besuchers und war nun überzeugt, daß ihn in der That das Interesse an der Ergründung einer zweifelhaften Frage zu ihm geführt hatte.
Eine kurze Pause entstand, während der er ruhig wartete, bis der Andere seinen Gedankengang vollendet hatte und das Gespräch wieder aufnahm.
Darf ich Sie nun bitten, mir zu sagen, was Sie unter Anarchie verstehen?
– Gerne ... Sie wissen, das An-Archie ein der griechischen Sprache entstammendes Wort ist und in genauer Uebersetzung ›Herrschaftslosigkeit‹ lautet.
Nun ist ein Zustand der Herrschaftslosigkeit identisch mit einem Zustande der Freiheit; wenn ich keinen Herrn habe, bin ich frei.
Anarchie ist somit Freiheit. Es gilt nun, den Begriff »Freiheit« zu definieren, und ich muß sagen, daß es mir nicht gelingen will, eine bessere Definition zu finden als diese: Freiheit ist die Abwesenheit der aggressiven Gewalt oder des Zwanges.
Er hielt einen Augenblick inne, wie um seinem Zuhörer die genaue Aufnahme jedes seiner langsam und klar gesprochenen Worte zu ermöglichen. Dann fuhr er fort:
– Die organisierte Gewalt nun ist der Staat. Wie Gewalt sein innerstes Wesen ist, so ist Raub sein Privilegium; so ist die Beraubung der Einen zu Gunsten der Andern das Mittel seiner Erhaltung.
Der Anarchist sieht daher in dem Staat seinen größten, ja seinen einzigen Feind.
Es ist die erste Grundbedingung der Freiheit, daß Keinem die Möglichkeit genommen ist, sich ungeschmälert in den Ertrag seiner Arbeit zu setzen. Oekonomische Unabhängigkeit – so lautet daher die erste Forderung des Anarchismus: die Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Diese Ausbeutung nun wird unmöglich gemacht: durch die Freigabe der Bank, d. h. die Freiheit in der Herbeischaffung von Austauschmitteln, auf welchen kein gesetzlich geschütztes Vorrecht des Zinses mehr lastet; durch die Freigabe des Kredits, d. h. die Organisation desselben auf Grund des Prinzips des Mutualismus, der gegenseitigen wirtschaftlichen Stärkung; durch die Freigabe des Marktes und des Weltmarktes, d. h. die Freiheit des ungehinderten Tausches und Austausches geschaffener Werthe von Hand zu Hand, wie von Land zu Land; durch die Freigabe des Grund und Bodens, d. h. die Freiheit in der Besitzergreifung von Grund und Boden zum Zwecke persönlicher Benutzung, falls derselbe nicht zu gleichem Zwecke schon von Anderen persönlich mit Beschlag belegt wurde; oder, um alle diese Forderungen in eine zusammenzufassen: die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen wird unmöglich durch die Freiheit der Arbeit.
Hier schwieg Auban und wieder entstand eine Pause.
– Sie nähern sich, wie mir scheint, dem laissez-faire, laissez-aller der Verteidiger der freien Konkurrenz? – Umgekehrt: die Manchestermänner nähern sich uns. Aber sie sind weit hinter uns zurück. Konsequentes Fortschreiten auf dem eingeschlagenen Wege müßte sie indessen mit unfehlbarer Sicherheit dahin führen, wo wir stehen. Sie behaupten, die freie Konkurrenz zu befürworten. Aber in der That befürworten sie nur die Konkurrenz der Mittellosen unter sich, während sie das Kapital mit Hilfe staatlicher Gewalt der Konkurrenz entziehen: es monopolisieren. Wir dagegen wollen es popularisieren: es Jedem ermöglichen, Kapitalist zu werden, indem wir es durch die Freiheit des Kredits Jedem zugänglich zu machen suchen und es zwingen, wie jedes andere Produkt, an der Konkurrenz theilzunehmen.
– Diese Ideen sind sehr neu ...
– Sie sind nicht ganz so neu, aber sie sind es Heute wieder geworden, Heute, wo alle Rettung nur ›von Oben her‹ erwartet wird, und wo man nicht einsehen will, daß die soziale Frage nicht Anders gelöst werden kann, als durch die Initiative des Einzelnen, der sich endlich entschließt, die Besorgung seiner Angelegenheiten selbst zu übernehmen, statt sie in fremde Hände zu legen.
– Es ist mir nicht möglich gewesen, jedem Ihrer Worte bis in das Innere seines Sinnes zu folgen, aber ich glaube Sie darin nicht falsch verstanden zu haben, daß Sie keine Pflicht der Unterordnung unter den Willen eines Anderen und kein irgendwie geartetes Recht der Auferzwingung eines fremden Willens anerkennen?
– Ich beanspruche das Recht der freien Entschließung über meine Person, entgegnete Auban mit starker Betonung. – Ich verlange und erwarte keine Zuertheilung von Rechten seitens der Gesammtheit und ich fühle mich ihr gegenüber zu Nichts verpflichtet. Setzen Sie an Stelle des Wortes »Gesammtheit« was Sie wollen: »Staat«, »Gesellschaft«, »Vaterland«, »Gemeinwesen«, »Menschheit« – es bleibt sich gleich.
– Sie sind kühn! rief der Franzose aus. – Sie negieren die Geschichte!
–Ich negiere die Vergangenheit, sagte Auban. – Ich habe von ihr gelernt. Das können nur Wenige von sich sagen. Ich negiere alle menschlichen Institutionen, welche sich auf das Recht der Gewalt gründen. Ich bin mir selber mehr werth, als sie es mir sind!
– Aber jene sind stärker als Sie –
– Noch. Eines Tages werden sie es nicht mehr sein. Denn worin besteht ihre Macht? In der Thorheit der Bethörten.
Auban hatte sich erhoben. Auf seinen großen Zügen lag der Ausdruck eines freien, ruhigen Stolzes.
– So glauben Sie an den Fortschritt der Menschheit der Freiheit zu?
– Ich glaube nicht an ihn. Weh' dem, der glaubt! Ich sehe ihn. Ich sehe ihn, wie ich' jeden Tag die Sonne sehe ...
Auch der Besucher war aufgestanden. Aber Auban hielt ihn zurück. – Wenn Sie Lust und Zeit haben, so bleiben Sie noch. Ich erwarte Heute, wie jeden Sonntag, einige Freunde. Das Gespräch wird wohl gerade Heute auf manchen Punkt kommen, der Sie interessieren dürfte.
Mit offenbarer Freude wurde seine Einladung angenommen.
– Es wäre mir allerdings nicht lieb, jetzt schon von einem Mahle aufstehen zu müssen, von dem ich kaum den ersten Gang genossen ...
Auban fragte wieder nach Paris, nach einzelnen Persönlichkeiten des Tages, nach Manchem, was ihm die Zeitungen verschwiegen.
Dann kamen seine Gäste. Zuerst Dr. Hurt, ein Engländer, der Arzt, welcher seine Frau gepflegt hatte und seitdem ein regelmäßiger Besucher der Zusammenkünfte bei Auban geworden war. Er war ein kurzangebundener, in sich abgeschlossener Mensch, ohne jede Phrase, ohne alle Sentimentalität, ein Charakter, dessen hervorstechende Eigenschaften ein scharfer Blick unschwer erkennen mochte: unbeugsamer Wille, starke Neigung zu Spott, und zersetzende Ungläubigkeit.
Auban schätzte ihn außerordentlich. Es gab keinen unter seinen Freunden, mit dem er sich so gern unterhielt, wie mit diesem skeptischen Engländer, dessen Logik vor keiner Konsequenz zurückschreckte.
Man sprach von jetzt ab einige Zeit Englisch, das der Franzose verstand. Der Doktor nahm den zweiten Platz am Feuer ein, seinen Lieblingsplatz, und wärmte seinen breiten Rücken, indem er dies London verwünschte, wo Nebeldunst und Qualm alles mit einer klebrigen Kruste von Krankheitsstoffen überziehe ...
Er wurde unterbrochen durch Mr. Marell, den Amerikaner, welcher von einem jungen Mann von zwanzig Jahren begleitet wurde, der – sichtlich zwischen einiger Verlegenheit und neugierigem Interesse kämpfend – nur mit scheuer Zurückhaltung in Aubans offene Hand einschlug.
– Wie geht es, Mr. Marell?
– Well, ich bringe Ihnen einen jungen Schüler der sozialen Wissenschaft, einen deutschen Dichter, ich denke, Sie haben ihn bereits gesehen auf dem Protestmeeting in Finsbury Hall, er möchte Sie kennen lernen –
Auban lächelte. Wieder eine neue Bekanntschaft. Wo und wie der alte Herr sie schloß, war ihm ein Rätsel. Aber natürliche Herzensgüte erlaubte dem Alten nicht nur nicht, je eine Bitte abzuschlagen, sondern ließ ihn sogar in freundlicher Theilnahme jegliche sogleich errathen. So mochte es auch diesmal gewesen sein.
Fast immer auf dem Wege zwischen England und den Staaten kannte er hüben und drüben fast Jedermann aus der sozialen Bewegung persönlich und wurde von fast Jedermann, mochte er welcher Richtung auch immer angehören, gekannt und geliebt. Er brachte Auban die meisten Gäste, die dieser alle gleich freundlich aufnahm.
– Das ist Recht, sagte er auch jetzt, – die Dichter sind immer die Freunde der Freiheit gewesen und die deutschen Dichter vor Allen. Als ich mein Deutsch noch nicht ganz vergessen hatte, las ich Freiligraths herrliche Gedichte – ah, wie herrlich sie sind: »Die Revolution« und das Gedicht der Toten an die Lebenden, nicht wahr?
– Ja, sagte der Deutsche mit freudeleuchtenden Augen, – und die »Schlacht am Birkenbaum« ...
– Es ist ein seltsames Volk, diese Deutschen, sagte Dr. Hurt, das Land des Individualismus, und doch diese hündische Winselei. Ich kann nicht verstehen, wie ein Mann aufrecht dort leben kann unter diesen devot gebeugten Nacken.
– Nun, es sind auch nicht Wenige, die auswandern. Wie viele kommen allein zu uns nach Amerika – unterbrach ihn der Yankee.
Wieder ging die Thür.
Es war Trupp, der ernst, wie immer, die Anwesenden nur mit einem Kopfnicken begrüßte; ein russischer Nihilist, dessen Namen Niemand kannte, von dessen propagandistischer Thätigkeit seine Genossen aber Viel sprachen; und endlich ein Anhänger der New Yorker »Freiheit«-Richtung, dessen Kommen für Auban stets eine besondere Freude war, trotzdem er sich mit ihm noch weniger über manche Fragen zu verständigen vermochte, als mit Trupp.
Ihnen auf dem Fuße folgte der letzte Besucher des heutigen Nachmittags, ein Hüne von Gestalt, dessen blonden Haaren und blauen Augen man sofort den Nordländer ansah. Es war ein Schwede, welcher der jungen sozialdemokratischen Partei seines Landes angehörte, aber stark zum Anarchismus neigte und stets behauptete, es gäbe zwischen diesem und seiner Partei nur einen einzigen Unterschied, nämlich den der Taktik: was Diese auf dem Wege politischer Reformen, das wollten Jene auf dem der Gewalt erreichen; und da ihm der erstere mit der Zeit zu lang erschien, so war er geneigt, den zweiten einzuschlagen. Er war ganz das, was man ›Gefühlssozialist‹ zu nennen pflegt.
Man bildete einen Halbkreis um das Feuer. Der Barboy erschien und ging von Einem zum Andern, die Aufträge jedes Einzelnen entgegennehmend. Indem sich Auban auf diese Weise der Mühe zeitraubender Vorrichtungen und des störenden Anbietens enthob, sicherte er jedem die Freiheit individueller Wahl. Das Wohlbehagen seiner Gäste gab ihm Recht.
Die Unterhaltung wurde schnell lebhaft.
Auban vermied zeremonielle Vorstellungen seiner Gäste. Aber er hatte eine gute Art, indirekt – im Laufe des Gesprächs – den Einen mit dem Anderen bekannt zu machen. So wußte auch an diesem Nachmittag bald jeder seiner acht Gäste, wer der andere war, wenn er ihm nicht schon von früheren Gelegenheiten her bekannt war. Es sprachen nicht Alle miteinander. Hurt schwieg ganz, hörte aber aufmerksam zu. Man war Beides an ihm gewohnt. Auch der Russe mischte sich nicht ein. Nachdenklich vor sich blickend, ließ er sich keines der ihn umschwirrenden Worte entgehen, hinter jedem einen tieferen und eigenthümlicheren Sinn, wie beabsichtigt, suchend und findend. Er war zum vierten Mal auf Aubans Nachmittagen; und er war vor vier Wochen zum ersten Mal auf ihnen erschienen.
Die Freundlichkeit des alten Amerikaners, dessen ernste Unbefangenheit immer die gleiche war, und Aubans ruhige Zwanglosigkeit ließen indessen kein Unbehagen und kein längeres Schweigen aufkommen.
Die meisten rauchten. Nach einer halben Stunde war das Zimmer von Qualm erfüllt: die weißen Streifen des Rauches legten sich wie Kränze um diese, von der Natur so verschieden gebildeten Köpfe, um diese männlichen ernsten Stirnen und schlichen dann über sie hinweg zur Decke, wo sie zerflogen...
*
Als eine Pause entstand und die Gläser von Neuem gefüllt waren, beugte Auban, der zwischen seinem französischen Besucher und dem jungen Deutschen, von dem der Amerikaner gesagt hatte, daß er ein Dichter sei, saß, sich vor und sagte auf Französisch:
– Trupp und ich wollten Sie bitten, meine Herren, uns an dem heutigen Nachmittage eine Stunde zu einer Diskussion über die Frage: Was ist Anarchismus? – zu geben. Und zwar nicht, wie sonst öfters, zu einer Diskussion über eine ganz bestimmte und scharf umgrenzte Frage, sondern zu einer Diskussion über die allgemeinen Grundfragen des Anarchismus selbst. Denn wir fühlen Beide, daß ein Aussprechen über dieselben nöthig geworden ist.
Er hielt inne, eine Zustimmung erwartend. Das Gespräch hatte aufgehört. Man nickte ihm zu und er fuhr fort:
– Wie? – wird der Eine oder der Andere unter Ihnen fragen, wie? – Eine Diskussion über die Grundprinzipien des Anarchismus? Ja, sind denn diese Prinzipien nicht längst festgestellt und somit jedem Zweifel enthoben? –
Nein! antwortete ich darauf. – Trotzdem bald fünfzig Jahre vergangen sind, daß das Wort ›Anarchismus‹ zum ersten Mal – im Gegensatz zu der noch heute viel verbreiteten Auffassung, welche unter Anarchie nichts Anderes als die Unordnung des Chaos verstehen will – zur Bezeichnung eines Gesellschaftszustandes gebraucht wurde; trotzdem in diesen fünfzig Jahren der Anarchismus in allen zivilisierten Ländern der Erde zu einem Teil der Zeitgeschichte geworden ist; trotzdem er die ersten, unzerstörbaren Steine zu seiner eigenen Geschichte bereits gelegt hat; trotzdem es Heute Tausende von Menschen giebt, die sich ›Anarchisten‹ nennen (es sind hier in Europa zehn- bis zwanzigtausend und in Amerika wohl ebenso viele), – trotzdem, sage ich, giebt es nur eine ganz geringe Anzahl von Individuen, die das Wesen des Anarchismus in seiner ganzen Tiefe begriffen haben.
Ich will hier gleich sagen, wer diese Wenigen meiner Meinung nach sind. Es sind die Denker des Individualismus, welche seine Philosophie auf die Gesellschaft anzuwenden konsequent genug waren. Es sind – in der intelligentesten und bildungsreichsten Stadt des amerikanischen Westens, in Boston – einige kühne, bedeutende und völlig unabhängig von jeder Zeitströmung denkende Menschen, ebendort, wo der Anarchismus sein erstes und bis heute noch einziges Organ gefunden hat. Es sind endlich ganz vereinzelte und überall hin verstreute Schüler Proudhons, für die dieser Riese kein toter Mann ist, ob auch der Sozialismus in lächerlicher Anmaaßung ihn begraben zu haben wähnt...
– Ich glaube, Sie können noch hinzufügen, sagte Dr. Hurt, – daß es unter den großen Monopolisten des Kapitals einige gibt, denen es klar ward, was ihre großen Vermögen erhält und deren stetige Vermehrung ermöglicht, und denen daher ihr größter Feind nicht ganz unbemerkt geblieben ist.
– Wir also, die Arbeiter, die wir den Namen allen Verfolgungen zum Trotz hochgehalten haben, wir wären also keine Anarchisten? – begann Trupp erregt.
– Zunächst ist die Frage des Anarchismus nicht die Sache einer einzelnen Klasse, also auch nicht die der arbeitenden, sondern sie ist die Sache jedes einzelnen Menschen, dem seine persönliche Freiheit lieb ist. Sodann aber, – Auban stand auf, trat einen halben Schritt in den Kreis vor und reckte seine hagere Gestalt in die Höhe, während er mit lauterer Stimme fortfuhr – sodann aber, sage ich, daß Ihr – die, welche Du eben im Sinne hattest, Otto, als Du von den Arbeitern sprachst – allerdings keine Anarchisten seid. Und um Das zu beweisen, gerade deshalb habe ich heute gebeten, mir eine halbe Stunde zuzuhören.
– Sprich erst, warf Trupp scheinbar ruhig hin. – Ich werde Dir antworten, wenn Du fertig bist.
Auban sprach weiter.
– Ich kann sagen, daß ich immer nur Eines gewollt habe: die Freiheit. So kam ich an die Grenzen so mancher Anschauungen, und so bin ich auch in die Bewegung des Sozialismus gekommen. Dann habe ich mich von Allem zurückgezogen, mich ganz neuen Untersuchungen hingegeben und ich fühle jetzt, daß ich nunmehr bei den Endresultaten aller Forschung angelangt bin: bei mir selbst!
Ich spreche nicht gern mehr zu Vielen. Die Zeiten, wo sich bei mir die Worte leicht einstellten, da die Gedanken fehlten, sind vorbei, und ich mache auf dies Vorrecht der Jugend, der Frauen und der Kommunisten keinen Anspruch mehr. Aber mit aller Schärfe und Rücksichtslosigkeit muß endlich Front gemacht werden gegen jene unklaren Bestrebungen, Grundsätze in der Theorie miteinander zu vereinigen, welche praktisch verschieden sind wie Tag und Nacht.
Es gilt also Stellung zu nehmen: Hier oder Dort. Für das Eine und damit wider das Andere. Für oder gegen die Freiheit!
Besser ehrliche Feinde, als unehrliche Freunde! –
Die Entschlossenheit dieser Worte machte Eindruck auf alle Anwesenden. An dem Ernst, mit dem Auban sie gesprochen, fühlte Jeder, daß es sich heute gewissermaaßen um eine Entscheidung handelte.
Jeder brachte daher den folgenden Auseinandersetzungen Aubans ein doppeltes Interesse entgegen und blieb während ihrer Dauer sowohl wie während der Diskussion, die sich zwischen ihm und Trupp an diese Auseinandersetzungen knüpfte, ein aufmerksamer Zuhörer, der nur hin und wieder eine Bemerkung, eine Frage hineinwarf.
Von Aubans Lippen fiel Wort um Wort gleich leidenschaftslos. Er sprach mit gleichmäßiger Schärfe, die keine Mißverständnisse zuließ, betonte aber das eine oder andere seiner Argumente, die Fundamentalsätze einer unerbittlichen Weltanschauung, stärker.
Trupp redete mit der ganzen Wärme seines nach Gerechtigkeit dürstenden Herzens. Wo sein Verstand sich sträubte, Hindernisse zu nehmen, hob er sich fort über sie auf den Flügeln seiner unerschütterlichen Hoffnung.
Sie sprachen nunmehr Französisch. Es war Keiner unter ihnen, dem diese Sprache völlig unverständlich gewesen wäre.
Auban begann von Neuem und er sprach so langsam ein jedes seiner wohldurchdachten Worte, daß es scheinen mochte, er lese sie ab oder er habe sie auswendig gelernt.
– Ich behaupte, begann er, daß in der sozialen Bewegung unserer Tage eine große Spaltung entstanden ist, welche sich täglich sichtlich mehr und mehr erweitert.
Die neue Idee des Anarchismus hat sich von der alten des Sozialismus getrennt. In zwei große Heerlager sammeln sich die Bekenner der einen und die Anhänger der anderen.
Es gilt, wie ich sagte, Stellung zu nehmen hier oder dort.
Thun wir das heute. Sehen wir, was der Sozialismus will, und sehen wir, was der Anarchismus will.
*
Was will der Sozialismus?
Ich habe gefunden, daß es sehr schwer ist, auf diese Frage eine zufriedenstellende Antwort zu geben. Ich sehe seit zehn Jahren seine Bewegung vor mir in jeder ihrer Phasen und habe sie in zwei Ländern aus persönlicher Erfahrung kennen gelernt. Ich habe mit der Geschichte unseres Jahrhunderts sein Entstehen und sein Wachsthum verfolgt – aber noch bis Heute ist es mir nicht gelungen, mir ein klares Bild seiner Ziele zu machen. Ich wäre sonst vielleicht Heute noch sein Anhänger.
Wo immer ich nach seinen letzten Zielen fragte, wurden mir zwei Antworten.
Die eine lautete: »Es wäre lächerlich, schon jetzt das Bild einer Zukunft zu entwerfen, die wir erst vorbereiten wollen. Ueberlassen wir ihre Gestaltung unseren Nachkommen.«
Die andere war weniger spröde. Sie verwandelte die Menschen in Engel, zeichnete mir mit beneidenswerther Schnelligkeit ein Eden von Glück, Frieden und Freiheit und nannte diesen Himmel auf Erden die »zukünftige Gesellschaft«.
Die erste Antwort wurde mir von den Kollektivisten, den Sozialdemokraten, den Staatskommunisten; die zweite von den »freien Kommunisten«, die sich Anarchisten nennen, und jenen echt christlichen Schwärmern, welcher keiner sozialen Partei der Gegenwart angehören, deren Zahl aber viel größer ist, als man glaubt. Die meisten Religionsfanatiker und Philanthropen z. B. gehören zu ihnen.
In dieser kurzen Darlegung, die sich streng innerhalb der Grenzen der Wirklichkeit bewegt und natürlich nur mit den Menschen rechnet, wie sie sind, immer gewesen sind, und immer sein werden, muß ich von den zuletzt Genannten völlig absehen. Denn die Einen, die freien oder revolutionären Kommunisten, würden in der sozialen Bewegung nie diese Beachtung gefunden haben – trotzdem fast jedes Jahrzehnt unseres Jahrhunderts sie neu entstehen, sich bilden und vergehen sah: von Babeuf und Cabet an, über den Schneider Weitling und die deutsch-schweizerische Kommunistenbewegung der vierziger Jahre hinaus bis zu Bakunin –, wenn sie nicht eine Taktik befürworteten, deren gelegentliche Ausübung in den letzten zwölf Jahren den von ihnen fälschlich angenommenen Namen – ›Anarchisten‹ – in den Augen aller unselbstständig Denkenden (und das sind heute noch neun Zehntel aller Menschen) für gleichlautend mit Räuber und Mörder gemacht hätte; und die anderen, die philanthropischen Utopisten – nun, solche hat es immer gegeben und wird es voraussichtlich solange geben, als die Regierungen Elend und Armuth mit Gewalt schaffen.
Indem ich also von allen rein idealen Sozialisten und ihren utopischen Wünschen absehe und mich an die meinem Verstand allein erfaßbaren Bestrebungen der zuerst Genannten halte, beantworte ich in ihrem Sinne und mit ihren eigenen Worten die Frage: Was will der Sozialismus? – so:
Der Sozialismus will die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel und die gesellschaftliche, planmäßige Regelung der Produktion im Interesse der Gesammtheit.
Diese Vergesellschaftung und Regelung hat zu erfolgen gemäß dem Willen der absoluten Majorität und zwar durch die Person der von ihr gewählten und genannten Vertreter.
So lautet die erste und wichtigste Forderung der Sozialisten aller Länder, soweit sie auf dem Boden der Wirklichkeit stehen und mit den von ihr gegebenen Verhältnissen rechnen.
Es ist mir natürlich unmöglich, hier näher einzugehen:
Einmal auf die Möglichkeit der Durchführung dieser Prinzipien, die jedenfalls nur mit beispiellosem Terrorismus und brutalster Vergewaltigung des Individuums zu denken wäre, an die ich aber nicht glaube; und ferner auf die gar nicht zu ermessenden Folgen, die eine – auch nur zeitweilige – unbeschränkte Diktatur der Mehrheit für die Entwickelung der Zivilisation haben würde...
Wozu auch? Ich brauche nur hinzuweisen auf die heutigen Verhältnisse, unter welchen wir Alle leiden: die durch den Staat gewaltsam geschaffenen und vertheidigten Vorrechte, mit denen er das Kapital in der Form des Zinses und das Land in derjenigen der Rente belehnt, einerseits; und auf den vergeblichen Kampf der von diesem Kapital abhängigen Arbeit unter sich, diesen Kampf, in dem sie sich rettungslos selbst zerfleischt, andererseits – ich brauche nur auf diese von uns Allen so gehaßten Verhältnisse hinzuweisen, um dem selbstständig Denkenden einen Begriff davon zu geben, wie völlig Null und Nichtig die ökonomische und damit alle persönliche Freiheit werden muß, wenn diese Sondermonopole sich verkörpert haben würden in dem einen umfassenden, absoluten Gesammtmonopol der Gemeinschaft, welche Heute Staat und Morgen Allgemeinheit heißt.
Ich sage nur soviel:
Was Heute eine gewaltsame Ausbeutung der Mehrheit durch die Minderheit ist, würde Morgen eine in keiner Beziehung gerechtfertigtere gewaltsame Ausbeutung der Minderheit durch die Mehrheit sein.
Heute: Unterdrückung der Schwachen durch die Starken. Morgen: Unterdrückung der Starken durch die Schwachen.
In beiden Fällen: privilegierte Gewalt, welche thut, was sie will.
Nur ein Wechsel in der Herrschaft würde also sein, was der Sozialismus im besten Falle zu erreichen im Stande wäre.
Hier stelle ich meine zweite Frage:
Was will der Anarchismus? –
Und anknüpfend an das eben Auseinandergesetzte gebe ich die Antwort:
Der Anarchismus will die Abwesenheit aller Herrschaft, welche – auch wenn sie die »Klassenherrschaft« aufhebt – die Menschen unabweisbar in die beiden großen Klassen der Ausbeuter und der Ausgebeuteten scheidet.
Alle Herrschaft gründet sich auf Gewalt. Wo immer aber Gewalt ist, da ist Ungerechtigkeit.
Gerecht allein ist die Freiheit: die Abwesenheit aller Gewalt und allen Zwanges. Ihre Basis wird gebildet durch die Gleichheit der Bedingungen für alle Menschen.
Auf dieser Grundlage gleicher Lebensbedingungen das freie, unabhängige, souveräne Individuum, dessen einzige Forderung an die Gesellschaft in der Respektierung seiner Freiheit besteht, und dessen einziges selbstgegebenes Gesetz die Respektierung der Freiheit der Anderen ist – das ist das Ideal der Anarchie.
Erwacht dieses Individuum zum Leben, so hat die Todesstunde des Staates geschlagen: an die Stelle der Regierung tritt die Gesellschaft, an die des Staates treten die freien Vereinigungen zu bestimmten Zwecken, an Stelle der Zwangsgesetze die freien Kontrakte.
Die freie Konkurrenz, der Kampf »Aller gegen Alle«, beginnt. Die künstlich geschaffenen Begriffe der Stärke und Schwäche müssen verschwinden, sobald die Bahn freigegeben ist und die Erkenntnis! des echten Egoismus sich durchgerungen hat: das, das Wohlbefinden des Einen das des Anderen ist und umgekehrt.
Sind mit der staatlichen Gewalt die von ihr erhaltenen Privilegien machtlos geworden, so eröffnet sich für den Einzelnen die Möglichkeit, den vollen Ertrag seiner Arbeit zu erlangen, und erfüllt sich damit die erste Forderung des Anarchismus, jene Forderung, die er mit dem Sozialismus gemeinsam hat.
– Wann ich im Stande bin, mir den vollen Ertrag meiner Arbeit zu sichern? unterbrach sich Auban, als er einen fragenden Blick des Franzosen auffing, und fuhr fort:
– Wenn ich mein Arbeitsprodukt zu seinem vollen Werthe austauschen und mit dem Erlös ein gleichwerthiges zurückkaufen kann, statt, wie Heute, gezwungen zu sein, meine Arbeit unter ihrem Werthe zu verkaufen, d. h. mich vermittels Gewalt um einen Theil derselben bestehlen zu lassen.
Nach diesem Zwischensatz nahm Auban den Faden seiner Rede wieder auf.
– Denn mit dem Verschwinden der Gewalt sieht sich das Kapital, unfähig der Arbeit länger den bisherigen Tribut zu erpressen, genöthigt am Kampfe theilzunehmen, d. h. sich auszuleihen und zwar gegen eine Vergünstigung, welche die Konkurrenz der Banken unter sich in der Schaffung von Austauschmitteln bis auf das geringste Maaß herabdrücken würde, ebenso wie sie die Anhäufung neuer Kapitalien in den Händen Einzelner unmöglich machen müßte.
Die Fruchtbarkeit des Kapitals ist der Tod der Arbeit: der Vampyr, der sie aussaugt. Wird sie unmöglich, so ist die Arbeit frei.
Dann erst, wenn die Hilfsmittel der Natur nicht mehr verstopft sein werden durch die gewaltsamen Vorrichtungen einer allem gesunden Menschenverstand Hohn sprechenden, unnatürlichen Regierung, welche unter dem Vorgeben der Sorge für das Gesammtwohl mit dem Elend einer ganzen Bevölkerung den wahnsinnigen Luxus einer verschwindenden Minderheit erkauft, dann erst werden wir sehen, wie reich sie ist, unsere Mutter. Dann wird in Wahrheit der Wohlstand des Einzelnen gleichbedeutend sein mit dem Wohlstand der Allgemeinheit, aber statt ihr sich zu opfern, wird er sie sich unterthänig gemacht haben.
Denn Das und nichts Anderes will der Anarchismus: die Forträumung aller künstlichen Hindernisse, die vergangene Jahrhunderte aufgethürmt haben zwischen dem Menschen und seiner Freiheit, zwischen ihm und dem Verkehr mit seinen Nebenmenschen, immer und überall auf Grund jener ungeheuren Lüge, von den Einen erdacht in schlauer und doch so thörichter Selbstverblendung, und von den Anderen geglaubt in ebenso thörichter Selbsterniedrigung: daß der Einzelne nicht für sich, sondern für die Gesammtheit lebe! ...
Vertrauend auf die Macht der Vernunft, die aufzuräumen begonnen hat mit dem Wust der Ideen, sehe ich ruhig in die Zukunft. Mag die Freiheit auch noch so fern sein. Kommen wird sie. Sie ist die Notwendigkeit, welcher die Menschheit in dem Einzelnen immer zugestrebt hat und immer zustreben wird.
Denn die Freiheit ist kein Zustand der Ruhe, sondern sie ist ein Zustand der Wachsamkeit, sowie auch das Leben kein Schlaf, sondern ein Wachen ist, von dem uns erst der Tod entbindet.
Ihre letzte Forderung aber stellt die Freiheit unter dem Namen des Anarchismus, indem sie die Selbstherrlichkeit des Individuums verlangt. Unter diesem Namen wird sie ihren letzten Kampf kämpfen in jedem Einzelnen, der sich empört gegen die Vergewaltigung seiner Person durch die sozialistisch gewordene Welt, die in unseren Tagen sich bildet. Kein Einziger wird sich diesem Kampfe entziehen können; ein Jeder muß Stellung nehmen Für oder Wider ...
Denn die Frage der Freiheit ist eine ökonomische Frage! – –
Längst hatte sich aus Aubans Worten der überlegende, abwägende Ton verloren. Die letzten Sätze hatte er schnell, lebhaft, ergriffen gesprochen. Unter seinen Zuhörern war ihr Eindruck ein sehr verschiedener.
Keiner entgegnete sogleich.
Da sagte Auban noch:
– Ich habe Stellung genommen in den beiden letzten Jahren und ich habe Ihnen gesagt, wo ich stehe. Ob ich mich verständlich gemacht habe und ob Sie mich verstanden haben – ich weiß es nicht. Aber ich weiß, daß mein Platz außerhalb aller Zeitströmungen ist. Wen ich suche und wen ich finden werde, das ist der Einzelne: Du – und Du – und Du –, Ihr, die Ihr in einsamem Ringen zu gleicher Erkenntniß gekommen seid. Wir werden uns finden, und wenn wir stark genug geworden sein werden, dann schlägt auch für uns die Stunde des Handelns. – Aber genug! –
Er schwieg und nahm zurücktretend seinen alten Platz ein.
Es vergingen einige Minuten, in denen leise verschiedene Bemerkungen ausgetauscht wurden, ehe Trupp seine Antwort begann. Er hatte während Aubans Worten vorgebeugt dagesessen, das Kinn in die Hand und den Arm auf das Knie gestützt, und sich Nichts entgehen lassen.
Er sprach kurz und überzeugt, nachdem er die Anwesenden noch einmal mit seinem scharfen Blick überflogen hatte.
Es ist da eben von zwei verschiedenen Anarch–ismen gesprochen worden, von denen der eine gar keiner sein soll. Ich kenne nur einen, das ist der kommunistische Anarchismus, der sich unter den Arbeitern zur Partei ausgebildet hat und der allem in ›weiteren Kreisen‹, wie man zu sagen pflegt, bekannt ist. Er ist so alt, ja älter als unser Jahrhundert, Babeuf hat ihn schon gepredigt. Ob einige kleinbürgerliche Liberalisten einen neuen Anarchismus erfunden haben, das ist mir völlig gleichgültig und interessiert mich ebensowenig, wie alle andern Arbeiter. Was Proudhon anbetrifft, auf den der Genosse Auban immer wieder zurückkommt, so ist er längst überall abgethan und vergessen, sogar in Frankreich, und an seine Stelle ist überall der revolutionäre, kommunistische Anarchismus des eigentlichen Proletariats getreten.
Wenn die Genossen wissen wollen, was dieser Anarchismus will, der sich in Widerspruch zu den Staatskommunisten stellt, so will ich es ihnen gerne mit kurzen Worten sagen.
Vor Allem sehen wir in dem Einzelnen nicht ein von der Gesellschaft losgelöstes Wesen, sondern wir betrachten ihn als das Produkt eben dieser Gesellschaft, von der er Alles hat, was er ist und kann. Er kann also nur zurückgeben, wenn auch in anderer Form, was er zuvor von ihr empfangen hat.
Er kann aus diesem Grunde auch nicht sagen: Das und Das gehört mir allein. Ein Privateigenthum kann es unmöglich geben, sondern Alles, was produziert ist und produziert wird, ist gesellschaftliches Eigenthum, an das der Eine ebensoviel Anrecht hat wie der Andere, da der Antheil, den der Einzelne an der Erzeugung der Güter hat, auf keine Art und Weise gerecht bestimmt werden kann. Aus diesem Grunde proklamieren wir die Genußfreiheit, d. h. das Recht eines Jeden, seine Bedürfnisse frei und ungehindert zu befriedigen.
Somit sind wir Kommunisten.
Andererseits sind wir aber auch Anarchisten. Denn wir wollen eine Gesellschaftsform, in welcher jedes Mitglied sein eigenes »Ich«, d. h. seine individuellen Talente und Fähigkeiten, Wünsche und Bedürfnisse zur vollen Geltung zu bringen vermag. Daher sagen wir: Fort mit aller Regiererei! Fort mit ihr auch in Gestalt einer Verwaltung. Denn aus einer Verwaltung wird immer eine Regierung. Wir verwerfen desgleichen den ganzen Stimmkastenzauber und erklären die Führer, die sich angemaaßt haben, an die Spitze der Arbeiter zu treten für Schwindler.
Als Kommunisten sagen wir:
Jedem nach seinen Bedürfnissen!
Und als Anarchisten:
Jeder nach seinen Fähigkeiten!
Wenn Auban sagt, ein solches Ideal sei nicht möglich, so antworte ich ihm, daß er die Arbeiter immer noch nicht kennt, obwohl er sie kennen könnte, denn er hat lange genug mit ihnen verkehrt. Die Arbeiter sind keine so schmutzigen Egoisten wie die Bourgeois – wenn sie einmal mit diesen abgerechnet haben werden, wenn die letzte Revolution geschlagen ist, werden sie sich schon einzurichten verstehen.
Ich glaube, daß sie nach der Expropriation der Ausbeuter und der Wegnahme der Banken zunächst Alles Allen zur Verfügung stellen werden. Die leeren Paläste werden schnell genug Bewohner finden und die vollgespeicherten Lagerhäuser bald genug Abnehmer. Nur kein Kopfzerbrechen deshalb!
Dann, wenn jeder Nahrung, Kleidung und Obdach zur Genüge haben wird, wenn die Hungrigen gespeist und die Nackten bekleidet sind – denn es ist einstweilen genug für Alle da – werden sie sich gruppieren; werden, getrieben von ihrem Drang sich zu bethätigen, in Gemeinschaft produzieren; und je nach Bedürfnis konsumieren.
Der Einzelne wird höchstens mehr von der Gesellschaft zurückempfangen, nie aber weniger, als er ihr gegeben hat. Denn was sollte der Stärkere, der mehr produziert, als er konsumieren kann, mit dem Ueberfluß seiner Arbeit anfangen, als ihn dem Schwächeren zukommen zu lassen?
Und das sollte keine Freiheit sein? – Da wird nicht gefragt, wie Viel oder wie Wenig ein Jeder produziert und ein Jeder konsumiert, nein, ein Jeder wird seine geleistete Arbeit den großen Lagerhäusern überliefern und sich dort dafür nehmen, was er zu seinem Lebensunterhalt braucht. Gemäß dem Prinzip der Brüderlichkeit –
Hier wurde Trupp durch ein schallendes Gelächter Dr. Hurts unterbrochen. Eine allgemeine Bewegung entstand. Die Meisten wußten nicht, was sie denken sollten. Auban war ungehalten.
– Ich finde es nicht zum Lachen, sondern zum Weinen, Doktor, wenn Menschen mit offenen Augen in ihr Verderben rennen, sagte er.
Trupp stand auf. Seine ganze gedrungene Gestalt war gespannt bis auf den letzten Muskel. Er war nicht beleidigt, denn er fühlte nicht sich, sondern seine Idee angegriffen.
– Mit Leuten wie Sie wird man allerdings kurzen Prozeß machen! – – rief er.
Aber Dr. Hurt, der plötzlich ebenfalls ernst geworden war, überging diese Worte vollständig.
– Wo leben Sie? fragte er brüsk. – Auf der Erde oder auf dem Mond? Was für Menschen sehen Sie? – Wollen Sie nie klug werden? –
Und sich abwendend, brach er abermals in Lachen aus:
– Man muß so etwas hören, um es zu glauben: Zweitausend Jahre nach Christus, nach zweitausend Jahren der traurigsten Erfahrung in Befolgung einer Lehre, welche alles Elend geschaffen, immer noch derselbe Unsinn in derselben unveränderten Form! – rief er.
Mit einem Schlage hatte sich die Stimmung geändert. An die Stelle ruhiger Zuhörer, die sich von ihrem Erstaunen über diese Unterbrechung erholten, traten erregte Theilnehmer, die für oder wider Partei nahmen.
Trupp zuckte die Achseln.
Der Erfolg seiner Worte war ein unverkennbarer auf die Meisten gewesen. Auban sah es mit einem unheimlichen Erstaunen: was er selbst gesagt hatte, war ihnen fremde und kühle Vernunft gewesen. Sie wollten eine Vollkommenheit des Glücks – Trupp bot sie ihnen.
Ob sie möglich war? – Diese Frage kam keinem.
Es ist doch ein Böses um die Hoffnung, dachten Auban und Hurt, und ihre Gedanken grüßten sich schweigend in einem Blicke –: sie verachtet die Vernunft, welche mühsam zwar und allmählich nur, aber mit unfehlbarer Sicherheit Stein um Stein und Stockwerk um Stockwerk von dem Riesengebäude des Wahns abträgt ...
Der junge Deutsche hatte mit glänzenden Augen an den Lippen Trupps gehangen. Noch völlig fremd in der Bewegung erfüllte ihn die vernommene Schilderung des Ideals mit Begeisterung. O sicher, hier war alles Gute, Edle, Wahre! ... Er streckte nun Trupp seine Hand hin und sagte: »Lassen Sie mich ihr Genosse sein!« –
Unbeweglich saß der Russe. Keine Miene seines finsteren, jugendlichen und doch so männlichen Gesichtes veränderte sich. Der mit ihm gekommene Arbeiter wartete ruhig auf die Gelegenheit zu sprechen.
Der alte Amerikaner wandte sich an Dr. Hurt. Er zitterte vor innerer Bewegung.
– Glauben Sie mir, lieber Herr, der Sozialismus ist eine Sache des Herzens. Die ethischen Grundlagen der Moral –
Aber der unverbesserliche Doktor unterbrach auch ihn ohne Achtung vor seinen weißen Haaren.
– Ich weiß Nichts von den Grundlagen der Ethik, Sir, ich bin Materialist. Aber soviel hat mich ein hartes und saures Leben gelehrt, daß die Frage meiner Freiheit nichts ist als eine Frage meiner rücksichtslosen Kraft, und daß Sentimentalität das größte aller Laster ist.
Das unruhige Hin- und Her-Reden nahm sichtbar zu. Jeder wollte den in ihm wogenden Gedanken Ausdruck geben.
Um Trupp hatte sich ein Kreis gebildet, der aus dem jungen Deutschen, welcher soziale Gedichte schrieb, Mr. Marell, dem Amerikaner, dem Schweden, dem die fremde Sprache Mühe machte, und Trupps deutschem Genossen bestand. Sie lauschten ihm, wie er weiter den Kreis seiner Zukunftsbilder mit immer verheißender lockenden Farben ausfüllte.
Dr. Hurt und der Franzose sprachen wieder miteinander.
Der Russe sah Auban an mit einem Blicke, als wolle er ihn ergründen.
Aber dieser dachte bei sich, indem er diese acht Köpfe in ihrem unruhigen Wechsel betrachtete: Welches Bild für einen Maler! –
Das milde Profil des alten, weißbärtigen Amerikaners und das weiche, glatte des jungen Deutschen ... das düstere, blasse Gesicht des Russen, die Stirne mit wilden Haaren beschattet, und das geistreiche des Franzosen, mit dem modern zugestutzten Halbbart ... Dr. Hurts schmaler Kopf mit dem knochig in rastloser Geistesarbeit herausgearbeiteten Stirn, der Kopf eines Logikers, eines römischen Imperatoren, und der haarumwallte des Nordländers mit den kindlich-blauen Augen und ihrem vertrauenden Ausdruck, welcher sich gleich blieb bei der erregten Diskussion ...
Wie sind wir verschieden, wir Menschen! – dachte er weiter, und wir sollten uns beugen können unter das gemeinsame Gesetz eines Zwanges? – Nein, Freiheit immer und immer, im Kleinsten wie im Größten ...
Laut sagte er und trennte die Gruppe um Trupp wieder in den vorigen Kreis:
– Es tut mir leid, daß Du unterbrochen wurdest, Otto –
Aber Trupp fiel ein:
– Ich hatte gesagt, was ich zu sagen hatte –
– Nun, um so besser. – Wollen wir aber nicht doch versuchen, unsere Ansichten noch etwas eingehender zu entwickeln? Laß' uns in Frage und Gegenfrage näher auf Einzelnes eingehen.
Es herrschte bald wieder die ruhige Aufmerksamkeit, mit welcher man vorhin gefolgt war. Aber sie war diesmal erzwungen, nicht natürlich wie vorher. Mehrere nahmen an der Diskussion jetzt theil.
Auban begann von Neuem, immer zu Trupp gewendet:
– Ich will versuchen, zu beweisen, wie unvereinbar verschieden die Weltanschauungen des Kommunismus und des Anarchismus auch in allen ihren Folgerungen sind:
Du willst die Autonomie des Individuums, seine Selbstherrlichkeit und das Recht seiner Selbstbestimmung. Du willst seine freie Entwicklung zu seiner natürlichen Größe. Du willst seine Freiheit. Wir sind einig in dieser Forderung.
Aber Du hast Dir das Ideal einer Zukunft des Glücks gebaut, wie es Deinen Neigungen, Deinen Wünschen, Deinen Gewohnheiten am Meisten entspricht. Indem Du ihm den Namen »das Ideal der Menschheit« giebst, bist Du überzeugt, jeder echte und wahre Mensch müsse unter ihm ebenso glücklich sein wie Du. Dein Ideal soll das Ideal Aller sein.
Ich dagegen will die Freiheit, welche es Jedem ermöglicht, seinem Ideale nachzuleben. Ich will in Ruhe gelassen werden, ich will verschont bleiben von den Forderungen, die an mich im Namen des ›Ideals der Menschheit‹ gestellt werden.
Ich denke, das ist ein großer Unterschied.
Ich negiere nur. Du baust von Neuem.
Ich bin rein defensiv. Du aber bist agressiv.
Ich kämpfe einzig und allein für meine Freiheit. Du kämpfst für Das, was Du die Freiheit der Andern nennst.
Dein zweites Wort ist die Abschaffung, das meint: gewaltsame Zerstörung.
Es ist auch meines. Nur meine ich mit ihm: Auflösung.
Du sprichst von der Abschaffung der Religion. Du willst ihre Priester verjagen, ihre Lehren ausrotten, ihre Bekenner verfolgen.
Ich vertraue der stetig zunehmenden Erkenntniß, welche das Wissen an die Stelle des Glaubens setzt. Oekonomische Abhängigkeit zwingt heute die meisten Menschen zur Anerkennung irgendeiner noch herrschenden Kirche und verhindert sie an dem Austritt aus dieser selben Kirche.
Sind die Fesseln von der Arbeit gefallen, so werden die Kirchen von selbst veröden, die Lehrer des Wahns und der Thorheit keine Hörer mehr finden, ihre Priester verlassen sein. Aber ich wäre der Letzte, das Verbrechen gegen die Freiheit der Individuen gutzuheißen, welches einen Menschen mit Gewalt zu hindern suchte, für seine Person Gott als den Schöpfer, Christus als den Heiland, den Papst als unfehlbar, und den Fitzliputzli als den Teufel zu verehren, so lange er mich mit seinem Unsinn verschont und von mir Namen seines alleinseligmachenden Glaubens keinen Tribut verlangt.
Man lachte: zweifelnd, amüsiert, gereizt und mitleidig mit solcher Schwäche dem Feind gegenüber.
Aber Auban fuhr unbekümmert fort, denn er war fest entschlossen, nun, da er einmal angefangen, auch das Letzte von Dem zu sagen, was er zu sagen hatte.
– Du willst die freie Liebe, gleich mir.
Aber was verstehst Du unter freier Liebe? Was kannst Du unter ihr anders verstehen, wenn Du konsequent genug bist, das Prinzip der Brüderlichkeit – wie Du es in der Hingabe und Entäußerung der Arbeit vertrittst – auch auf das Gebiet anzuwenden, und so:
Daß jede Frau die Pflicht habe, sich dem Verlangen jedes Mannes hinzugeben, und kein Mann das Recht, sich dem Verlangen einer Frau zu entziehen; daß die diesen Bünden entsprossenen Kinder der menschlichen Gesellschaft gehören und daß dieser Gesellschaft die Pflicht ihrer Erziehung erwächst; daß die Sonderfamilie, wie der Einzelne, aufzugehen habe in der großen Menschheitsfamilie, nicht wahr?
Ich schaudere, wenn ich an die Möglichkeit denke, daß diese Idee je die herrschende werden könnte.
Niemand haßt mehr die Ehe, als ich. Aber es ist nur der Zwang der Ehe, welcher Mann und Weib veranlaßt, sich einander zu verkaufen; die freie Wahl beeinflußt und hemmt; eine Trennung hindert und meist unmöglich macht; ein Elend schafft, für das es keine Erlösung gibt, als den Tod – es ist nur dieser Zwang der Ehe, den ich verabscheue. Nie würde ich wagen, Einspruch zu erheben gegen die freie Vereinigung zweier Menschen, die der freie Wille zusammenführt und der freie Wille bis an ihr Ende zusammenhält.
Aber ebensosehr wie die freie Vereinigung zweier Menschen verstehe ich auch die Neigung vieler Menschen nach einem Wechsel des Gegenstandes ihrer Liebe, und Vereinigungen für eine Nacht, für einen Frühling – sie sollen so frei sein, wie die Heute von der öffentlichen Meinung allein sanktionierten Ehen auf Lebenszeit.
Die Gebote der Moral erscheinen mir lächerlich und einzig aus der krankhaften Sucht beschränkter Menschen nach Regelung und Normierung natürlicher Verhältnisse hervorgegangen.
Und endlich fegt Ihr mit derselben souveränen Leichtigkeit und einer Oberflächlichkeit der Betrachtungsweise, wie sie wirklich nur der Kommunismus übt, auch das Privateigenthum über den Haufen.
Ihr sagt: der Staat muß fallen, damit das Eigenthum fällt, denn er beschützt es.
Ich sage: der Staat muß fallen, damit es besteht, denn er unterdrückt es.
Ihr habt keine Achtung vor dem Eigenthum, das ist wahr: vor Eurem eigenen Eigenthum habt ihr keine Achtung, denn sonst würdet Ihr es Euch nicht Tag für Tag nehmen lassen. Vertreibt das unrechtmäßige Eigenthum, d. h. das Fremdthum. Aber vertreibt es dadurch, daß Ihr selber Besitzer werdet. Das ist der einzige Weg, es wirklich ›abzuschaffen‹, der einzige vernünftige und gerechte, zugleich der Weg der Freiheit.
Nieder mit dem Staat, damit die Arbeit frei wird, die allein Eigenthum schafft! – So rufe auch ich.
Wenn auf dem Gelde keine gewaltsam geschützten Vorrechte mehr lasten –
Doch nun war Trupps Geduld zu Ende. – Was? – rief er empört, – auch das Geld soll bestehen bleiben, das elende Geld, welches uns Alle beschmutzt, erniedrigt, versklavt hat?!
Auban zuckte die Achseln. Er wollte ärgerlich werden, dann aber lachte er. – Erlaubt mir eine Gegenfrage: Würde es Dich empören, zugleich Arbeitgeber und Arbeiter zu sein? Belohnter und Entlohner und als Teilnehmer Herr des Kapitals, statt wie heute nur sein Sklave zu sein? – Ich denke nicht. Das Empörende liegt nur darin, daß heute infolge gewaltsamer Beraubung Erwerb ohne Arbeit möglich ist.
– Was soll dann nach deiner Ansicht den Werth der Arbeit bestimmen?
– Ihre Nutzbarkeit in der freien Konkurrenz, die ihren Werth aus sich selbst heraus bestimmt. Jede andere Bestimmung von oben herab ist ungerecht und widersinnig. Aber ich weiß wohl, daß der Kommunismus auch diese Frage ohne Kopfzerbrechen löst: er wirft einfach Alles auf einen Haufen –
– Aber wir haben doch heute die freie Konkurrenz! – rief Trupp.
– Nein, wir haben die Konkurrenz der Arbeit, nicht aber in gleicher Weise die des Kapitals unter sich. Ich wiederhole es. – Ihr seht die verderblichen Folgen dieser einseitigen Konkurrenz und die des gewaltsam mit Vorrechten belehnten Eigenthums und Ihr ruft: ›Fort mit dem Privateigenthum!‹ – Ihr seht nicht, daß es gerade das Eigenthum ist, welches uns unabhängig macht, und Ihr seht nicht, daß es daher einzig und allein gilt, die Bahn zu seiner Erwerbung frei zu machen, um das Mißverhältnis zwischen Herren und Knechten aufzuheben. Glaube mir: die Organisation des freien Kredits, d. h. die Möglichkeit für Jeden, in den Besitz von Arbeitsmitteln zu gelangen, diese unblutige, tiefeingreifende, größte aller Revolutionen wird eine Umgestaltung aller unserer Lebensverhältnisse zur Folge haben, von der sich Heute noch schwer eine Vorstellung machen läßt.
Er schwieg und sah, wie seine Worte befremdeten. Alle waren erregt. Nur Dr. Hurt saß kalt, logisch Wort für Wort prüfend, wie rechnend da. Die Meisten konnten sich unter einer Revolution nur ein Chaos von Leichen und Trümmerhaufen denken und sie schüttelten den Kopf bei Aubans Worten. Daher versuchte dieser sich verständlicher zu machen. – Wissen Sie, was die Abschaffung des Zinses und damit die des Wuchers zur Folge haben würde? – Eine stete Nachfrage nach menschlicher Arbeit; die Ausgleichung des Angebotes und der Nachfrage; die Reduktion der Preise auf das geringste Maaß, und somit eine ungeheure Vermehrung der Konsumption; den genauen Austausch nach wirklichen Werthen und somit eine möglichst gerechte Vertheilung des Reichthums. Als Folge dieser großen ökonomischen Revolution aber einen täglich wachsenden Wohlstand des ganzen Landes, wie des Einzelnen ...
Nun lachte Trupp, empört und gereizt.
– Eine schöne Revolution! Und an solche Hirngespinste willst Du uns Arbeiter glauben machen?! – Wenn ich Dich nicht vor mir sähe, ich hätte geglaubt, einen Bourgeois-Oekonomen zu hören. – Nein, mein Lieber, die Revolution, die wir eines Tages schlagen werden, kommt schneller ans Ziel, als alle deine ökonomischen Evolutionen! Wir kennen einen kürzeren Prozeß: kommen und zurücknehmen, was man uns gestohlen hat mit offener Gewalt und mit wissenschaftlichen Listen!
– Wenn die Bourgeoisie nur einen nicht noch kürzeren Prozeß mit Ihnen macht! warf Dr. Hurt ein. – Exempla docent! Das heißt: Lernt von der Geschichte!
Das war seine Antwort auf Trupps vorhin scheinbar ganz überhörte Drohung.
Nur langsam legte sich die Erregung, welche diese Worte hervorriefen. Man sah in ihnen eine Inschutznahme der Bourgeoisie und entgegnete ihnen von allen Seiten.
Der Deutsche, welcher auf dem Boden der New-Yorker »Freiheit« und der »Pittsburger Proklamation« stand und der ersten Sektion des »Kommunistischen Arbeiter-Bildungs-Vereins« angehörte, nahm jetzt das Wort.
– Von dem eigentlichen Anarchismus, der schon bestand, als man von dem Bostoner kleinbürgerlichen Liberalismus um fünfzig Jahre hinter ihrer Zeit zurückgebliebener Manchesterleute und der überspannten Sektiererei der »Autonomisten« noch Nichts wußte – er zielte hier nach Auban und Trupp – und der heute noch die meisten Anhänger zählt, ist überhaupt noch nicht die Rede gewesen. Dieser will den Kommunismus der freien Gesellschaft, welche auf die Errichtung einer genossenschaftlichen Organisation der Produktion beruht. Er verwirft auch die Arbeitspflicht nicht, denn er sagt: Keine Rechte ohne Pflichten. Er verlangt ferner, das die gleichwerthigen Produkte von den Produktions-Genossenschaften selbst und ohne Zwischenhandel und Profitmacherei ausgetauscht werden, und daß die Kommunen durch freie Gesellschaftsverträge alle öffentlichen Angelegenheiten regeln. In einer so organisierten freien Gesellschaft aber, in welcher sich die Meisten sehr wohl fühlen werden, wird der Staat unnütz.
– So gestehen Sie der Mehrheit das Recht zu, ihren Willen mit Gewalt zu erzwingen?
– Ja. Der Einzelne hat sich dem Wohle der Allgemeinheit zu unterwerfen, denn dieses steht höher.
*
Auban sagte ruhig:
– Das ist ein Standpunkt, der eine von den Beiden, welche ich gezeichnet habe. Sie gehen den Weg des Sozialismus –
– Ein schöner Standpunkt für einen Anarchisten! rief Trupp. – Und die Freiheit des Individuums, wo bleibt sie? – Das ist nichts Anderes als der zentralistische Kommunismus, den wir überflügelt haben. (Die Flamme der Zwietracht, die vor einiger Zeit die Klubs auseinandergerissen und zur Gründung eines eigenen Blattes geführt hatte, drohte wieder aufzulodern.) – Ich für mein Theil glaube, und dabei bleibe ich, daß in der kommenden Gesellschaft ein Jeder freiwillig sein Theil Arbeit leisten wird...
Der Franzose fragte ihn jetzt höflich:
– Aber gesetzt den Fall, die Menschen arbeiten nun nicht freiwillig, wie sie es erhoffen? Wo bleibt dann das freie Recht, zu genießen?
– Sie werden es. Verlassen Sie sich darauf, war Trupps Entgegnung.
– Ich glaube, es ist besser, mich nicht darauf zu verlassen.
– Sie kennen die Arbeiter nicht.
– Aber aus den Arbeitern werden Bourgeois, sobald sie zum Besitz gelangt find, und sie werden dann die Ersten sein, welche sich gegen die Expropriation ihres Eigenthums wehren werden. Sie lassen die Natur des Menschen außer Acht, mein Herr; der Egoismus ist die Triebfeder alles Handelns. Stellen Sie diese Feder ab, so arbeitet die Maschine des Fortschritts nicht mehr. Die Welt würde zerfallen in Ruinen. Die Zivilisation hätte ein Ende erreicht. Ein Morast der Stagnation würde die Erde werden – aber es ist das unmöglich, so lange die Menschen auf ihr leben.
– Warum geht Ihr denn nicht mit gutem Beispiel voran und zeigt die Möglichkeit der praktischen Ausführung Eurer Theorien? wurde Trupp weiter gefragt.
Der ging dieser Frage aus dem Wege, indem er sie zurückgab. Auban war es, der sofort antwortete.
– Weil der Staat die Mittel der Zirkulation monopolisiert hat und uns an der Schaffung eines solchen mit Gewalt hindern würde. Unsere Angriffe richten sich daher in erster Linie gegen ihn und nur gegen ihn.
Die Diskussion zwischen Auban und Trupp schien ihr Ende erreicht zu haben und drohte sich gänzlich zu zersplittern. Da machte Auban seinen letzten Versuch, auf den Boden der Wirklichkeit zu zwingen, was unklare Wünsche in leere Räume der Phantasie erhoben.
– Noch eine einzige und letzte Frage an dich, Otto, erklang seine laute und harte Stimme, – nur diese einzige noch:
Würdet Ihr in dem Gesellschaftszustand, den Ihr ›freien Kommunismus‹ nennt, die Einzelnen daran hindern, ihre Arbeit unter Zuhilfenahme eines von ihnen geschaffenen Austauschmittels untereinander auszutauschen? – Und ferner: Würdet Ihr diese Einzelnen daran hindern, Grund und Boden in persönlichen Besitz zum Zwecke persönlicher Benutzung zu nehmen?
Trupp stutzte.
Die Anwesenden erwarteten wie Auban gespannt seine Antwort.
Aubans Frage war unentrinnbar. Antwortete Trupp mit »Ja!« so gab er zu, daß der Gesellschaft das Recht der Gewalt über den Einzelnen zustand, und warf damit die von ihm stets glühend verteidigte Autonomie des Individuums über den Haufen; antwortete er dagegen mit »Nein!« so gestand er das von ihm noch eben so emphatisch negierte Recht des Privateigenthume zu.
Er sagte daher:
– Du siehst Alles mit den Augen des heutigen Menschen an. In der zukünftigen Gesellschaft, wo Alles zur freien Verfügung Aller gestellt ist, wo es einen Handel im heutigen Sinne also nicht mehr geben kann, wird jedes Mitglied meiner innersten Ueberzeugung nach freiwillig auf die alleinige und ausschließliche Okkupation von Grund und Boden verzichten...
Auban war wieder aufgestanden. Er war um Etwas blasser geworden, als er jetzt sagte:
– Wir sind noch nie unehrlich gegeneinander gewesen, Otto, laß es uns Heute nicht werden. Du weißt so gut wie ich, daß diese Antwort eine Ausflucht ist. Ich aber halte Dich jetzt: beantworte mir die gestellte Frage und beantworte sie mit Ja oder Nein, wenn Du willst, daß ich jemals wieder eine Frage mit Dir bespreche –
Trupp kämpfte offenbar mit sich. Dann antwortete er – und es war ein Blick auf seinen Genossen, welcher ihn noch soeben angegriffen, und dem gegenüber er nie und nimmer das Prinzip der persönlichen Freiheit in Schatten gestellt hätte, der ihn jetzt sagen ließ –:
– In der Anarchie muß jede Anzahl Mitglieder im Stande sein, sich nach Belieben zu organisieren und so ihre Ideen ins Praktische zu übersetzen. Auch sehe ich nicht ein, wer einen Andern gerechterweise von dem Land und dem Hause, das er bebaut und bewohnt, vertreiben könnte...
– So habe und halte ich Dich! rief Auban. Mit Dem, was Du eben sagtest, stellst Du Dich in schroffen Gegensatz zu den bis jetzt von Dir vertheidigten Grundsätzen des Kommunismus.
Du hast das Privateigenthum zugestanden: an Rohprodukten und an Land. Du hast das Recht auf den Arbeitsertrag ungeschmälert befürwortet. Das ist Anarchie.
Die Redensart: Alles gehört Allen – ist gefallen, gestürzt von Deiner eigenen Hand.
Ein einziges Beispiel nur, um alle Mißverständnisse unmöglich zu machen: Ich besitze ein Stück Land. Ich verwerthe seinen Ertrag.
Der Kommunist sagt: das ist ein Raub am allgemeinen Gut.
Aber der Anarchist Trupp – jetzt zum ersten Male nenne ich ihn so! – sagt: Nein. Keine Macht der Erde hat ein anderes Recht, als das der Gewalt, mich von meinem Besitzthum zu vertreiben, mir den Ertrag meiner Arbeit auch nur um einen Pfennig zu schmälern.
Ich ende. Mein Zweck ist erfüllt.
Ich habe bewiesen, was ich beweisen wollte: daß es zwischen den beiden großen Gegensätzen, in denen sich die Welt der Menschen bewegt, zwischen Individualismus und Altruismus, zwischen Anarchismus und Sozialismus, zwischen Freiheit und Autorität keine Versöhnung gibt.
Ich hatte behauptet, daß alle Versuche, das Unvereinbare zu vereinen, sich von dem Boden der Wirklichkeit in die Wolken der Utopie verlieren müssen und daß jeder ernste Mensch sich zu entscheiden habe: für den Sozialismus und damit für die Gewalt und gegen die Freiheit, oder für den Anarchismus und damit für die Freiheit und gegen die Gewalt!
Nachdem Trupp lange versucht hat, dieser Forderung zu entgehen, habe ich ihn durch meine letzte Frage gezwungen, sich zu erklären. Ich könnte dasselbe Experiment mit jedem einzelnen von Ihnen machen. Es ist unfehlbar.
Trupp hat sich für die Freiheit entschieden. Er ist – was ich nie geglaubt hätte – in der That ein Anarchist.
Auban schwieg. Trupp sagte noch:
– Wir aber werden in der Anarchie die Grundsätze des Kommunismus praktisch ausführen und unser Beispiel wird Euch so sehr von der Möglichkeit der Verwirklichung unserer Prinzipien überzeugen, daß Ihr sie gleich uns befolgen und Euer Privateigenthum freiwillig aufgeben werdet...
Auban entgegnete Nichts mehr.
Er wußte ganz gut, daß diese äußerliche Versöhnung nur ein neuer und letzter Versuch seines Freundes war, den tiefen Zwiespalt zu überbrücken, der sie innerlich schon lange geschieden und nun auch äußerlich hierhin und dorthin gestellt hatte, wie er die Neuen von den Alten schied.
Ich und Keiner kann retten, was sich selbst dem Untergange weiht ... dachte er bei sich. Er betheiligte sich von jetzt an nur noch am Gespräch, wenn er direkt gefragt wurde. Es wurde ungemein lebhaft.
Noch nie war man so lange geblieben wie Heute. Die achte Stunde war längst vorüber und noch dachte außer Dr. Hurt und dem Franzosen Niemand an Aufbruch.
Als der Doktor sich von Auban verabschiedete, sagte er leise: »Hören Sie, lieber Freund, ich komme an Ihren Sonntagen nicht mehr. Alles was recht ist. Aber allzu wahnsinnig dürfen die Sprünge nicht sein, denen ich zusehen soll. Ihr ›Genosse‹ sprang mit beiden Füßen geradewegs in den Himmel. Das ist mir zu hoch...
Damit ging er und Auban sah ihm lächelnd nach. Auch der Franzose erhob sich nochmals dankend. Auban wehrte ab:
– Nur Pfähle und leere Gerüste haben wir aufgeschlagen. Aber es war unmöglich für Heute, tiefer einzudringen.
– Sie werden einen großen Kampf zu kämpfen haben, den Sie sich erleichtern können, wenn Sie dies Wort fallen ließen, das unzählige, die Ihnen sonst nahe stehen, ja vielleicht ganz mit Ihnen übereinstimmen, abschreckt und verjagt.
– Das Wort: Anarchie bezeichnet haarscharf, was wir wollen. Feig und unklug wäre es, es um der Schwächlinge willen fallen zu lassen. Wer nicht stark genug ist, das Wort auf seinen wahren Sinn zu prüfen und es zu verstehen, der ist auch nicht stark genug zu eigenem, selbstständigem Denken und Handeln.
– Ich gehe in wenigen Tagen nach Paris zurück. Darf ich unserem Freunde Ihre Grüße überbringen, Monsieur Auban?
– Ja. Sagen Sie ihm, er sei ein schlechter Egoist, weil er zum Verräther an sich selbst geworden ist. Er hat eine große Verantwortlichkeit auf sich genommen. Der echte Egoist aber scheut jede Verantwortlichkeit, außer der für seine eigene Person...
Der Fremde verabschiedete sich mit höflicher Verbeugung.
– Wer war das? fragte Trupp.
Auban nannte den Namen.
– Er kam kurz vor Euch und Heute zum ersten und zum letzten Male.
– So kennst du ihn nicht? – Trupp schüttelte mißbilligend den Kopf.
– Nein, nicht weiter.
– Das hättest Du mir gleich sagen sollen!
Aber Auban entgegnete ihm scharf:
– Wir haben hier Nichts zu verheimlichen. Wir sind keine Freimaurer. Was wir gesprochen haben, kann Jeder hören, der es hören will!
Er ließ sich auf Dr. Hurts verlassenen Platz am Feuer nieder und stützte den Kopf in die Hände. Alle sprachen jetzt, selbst der Russe. Wie aus der Ferne klangen die verschieden bewegten Stimmen an sein Ohr...
Aus Dem, was gesprochen wurde, hörte er Trupps Sieg und seine eigene Niederlage heraus. Jetzt ertönte die begeisterte Stimme des Schweden:
– Es mag sein, daß es weniger Genies geben wird. Das ist kein Unglück. Um so mehr Talente werden wir haben. Jeder wird Hand- und Kopfarbeiter zugleich sein. Die Fähigkeiten werden sich vertheilen, statt sich zu konzentrieren. Im Durchschnitt werden sie größer sein –
– Und tausend Esel werden klüger sein, als zehn Weise. Warum? Weil sie tausend sind! fügte Auban im Geiste hinzu. Man hatte ihn vergessen. Während er gesprochen hatte, war der kühle Hauch der Vernunft über sie hinweggezogen. Nun war es wieder warm: die Wärme eines zukünftigen, winterlosen, paradiesischen Lebens. Und sie überboten sich in Schilderungen dieses Lebens: sie berauschten sich gegenseitig an ihren Worten; sie vergaßen, wo sie waren...
Man spottete über die ewige Frage der Gegner: wer dann später die schmutzige und unangenehme Arbeit verrichten werde? – Es würden sich genug Freiwillige für Alles finden – meinte der Eine. Und der Andere: es würde keine solche Arbeit mehr geben, Maschinen seien erfunden für Alles...
Nie war Auban mehr davon überzeugt gewesen, als in diesem Augenblicke, daß die meisten Menschen sich selbst die größten Feinde sind, und nie hatte er mehr empfunden, daß die Herrschaft der Liebe weit furchtbarer noch sein müßte, als die Herrschaft des Hasses es war.
Er strebte danach, die Vorrechte zu stürzen. Aber diese Kommunisten negierten mit den Vorzügen zugleich alle Werthe, selbst den der Arbeit. Sein Kampf ging gegen die Menschen und gegen Das, was sie geschaffen hatten in Thorheit und Irrthum – ein Sieg war unausbleiblich; ihr Kampf aber richtete sich gegen die Natur selbst – ein Sieg, er war ewig unmöglich! –
Tiefer, weit tiefer noch lag der Riß, als wie er Heute von ihm aufgedeckt war. Zwischen einer alten und einer neuen Weltanschauung hatte der Kampf begonnen. Und das Christenthum in allen seinen Formen war das Alte! –
Der größte Verbrecher an der Menschheit war Der gewesen, welcher vorgegeben hatte, sie am Meisten zu lieben. Seine Lehre der Selbstentäußerung – sie hatte die Entsagenden geschaffen: das Elend, welches jetzt nach Befreiung schrie... Der Gott mußte fallen in jeder Gestalt!...
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Noch über eine Stunde blieb man beieinander. Allmählich lenkte das Gespräch auf die Ereignisse des Tages: Chicago und ernste Riots in London standen vor der Thür. Man kam überein, die Zusammenkünfte bei Auban für einige Wochen zu unterbrechen.
Als sich der Amerikaner erhob und damit das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch gab, waren die Meisten überrascht, zu sehen, wie spät es war.
Auban schüttelte Allen die Hand, die Trupps hielt er einen Augenblick länger als gewöhnlich, mit festem Druck, als wolle er noch einmal sagen: Entscheide Dich! Entscheide Dich völlig! – Denn er gab in der That große Stücke auf seinen Freund.
Der junge Deutsche war offenbar sehr Wenig zufrieden mit Auban und suchte es auch nicht zu verbergen. Auban hatte nur ein Lächeln dafür. Um so freundlicher war Mr. Marcell.
– Well, Auban, sagte er, und ergriff seine beiden Hände, – Sie sind ein seltsamer Mensch. Es ist viel Richtiges in Allem, was Sie sagen; aber es ist Eis und Kälte, was Sie lehren, Eis und Kälte; das Herz geht leer aus –
– O nein, Mr. Marcell, die Freiheit ist warm, wie die Sonne. Kalt sind die Mauern des Kerkers allein. Das Herz wird reichere Schätze zu geben haben, wenn es auf keine Gebote hin mehr schlägt und schweigt. Unserer Vernunft aber sollte es nie die Leitung unseres Lebens entwinden – haben wir doch erst Heute wieder gesehen, wie unfähig es ist, ihr in die Gebiete der Oekonomie hinein zu folgen.
Auban war allein. Er stieß beide Fenster auf. Während der Rauch in dichten Wolken dem Zimmer entfloh und der Aufwärter hinter ihm die Gläser forträumte, lehnte er sich an die Brüstung des Fensters und sah hinaus auf die Straße. Jetzt, wo die Abendluft seine Stirne kühlte, fühlte er, wie heiß er geworden war und wie ihn das Gespräch ergriffen hatte.
Und dafür deine Jugend! – dachte er bei sich. Das Opfer schien ihm wieder, wie so oft, zu groß für die Erkenntniß, die es ihm gebracht hatte. Ja, sie war kühl und herb, wie der Amerikaner gesagt hatte, diese Erkenntniß. Aber war sie nicht wie ein erfrischendes Stahlbad gewesen nach dem erschlaffenden Dämmerleben des Glaubens in thatenloser Hoffnung? –
Und er erinnerte sich, wie jung er noch war und wie viel ihm noch zu wirken bevorstand, und auch wenn dieses Wirken scheinbar so nutzlos sein sollte, wie der Versuch, den er heute in engem Kreise gemacht hatte: dennoch erfüllte ihn eine große Kraft und eine starke Freude, und zurücktretend in das Zimmer, sagte er vor sich hin:
– Ja, für diese Erkenntniß der Freiheit deine Jugend!
Und die Wände, die wie erschrocken waren über das plötzliche Schweigen nach dem Lärm des Gespräches, gaben ihm seine Worte zurück: