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19. Kapitel.
Ein armer Sünder


Das ist die wahre Liebe, die sieghaft vom Himmel gekommen,
Die der Vergebung königlich' Recht sich gewahrt.

Niemand hatte Florian Sylvester aufgehalten, als er den Konvent des heiligen Franziskus verlassen, am allerwenigsten der, welcher das größte Recht und die Macht dazu gehabt hätte – unbeweglich saß die greise Gestalt des Priors in dem hohen eichenen Stuhl am Feuer, und die grauen Augen starrten auf die vor ihm stehende Jungfrau, als sähe er eine Erscheinung aus einer anderen Welt vor sich. Ihre traumhafte Ruhe, mit der sie noch immer regungslos auf derselben Stelle stand, machte sie ihm fast unheimlich; nicht wie eine Gefangene war sie vor ihn getreten, sondern der Göttin jenes alten Volkes gleich, die mit kalter Hand den Lebensfaden des Staubgeborenen zerschneidet.

In dasselbe Antlitz hatte er vor Jahren geblickt, voll Jammer und Elend hatte es ihn angeschaut mit stummer, flehender Bitte, als er ein junges Weib von der Wiege des einzigen Kindes riß und in Ketten schlug. Dies Antlitz hatte ihn verfolgt, Tag und Nacht, all' die Monde und Jahre hindurch – und nun, wo der Tag zur Rüste ging, und der Tod bald an seine Thür klopfte, trat diese Erscheinung leibhaftig vor seine Augen. Ein Grauen überlief ihn, wenn er in das Antlitz blickte, dessen Trägerin heute wie die Botin des lebendigen Gottes vor ihm stand. Unruhig wandte er das Auge von ihr ab und blickte in die verlöschende Glut.

»Das Meer giebt seine Toten wieder,« murmelte er, – »auch das Feuer?« er schüttelte wie abwesend das Haupt – »wunderbar um die Geister der Abgeschiedenen! Gekommen sind sie oft alle – alle – oft – nur zu oft! Blut, dachte ich, durch Blut zu verwischen – aber kein einziger vergißt mich! O – diese Qualen! diese bluttriefenden Gestalten!«

Ilsabe stand regungslos vor dem Greise – hatte sie einen Irrsinnigen vor sich, der, durch sein Gewissen gefoltert, geistesumnachtet die Sünden seines Lebens vorüberziehen sah? Wachte bei ihrem Anblick die Erinnerung mit ihren Scheiterhaufen und blutigen Werkzeugen wieder auf? Mitleidig blickte sie auf den unglücklichen Mann, der sich im Leben, in der Kraftfülle nicht vor Gott gebeugt; würde er im Alter sein trotziges Herz zwingen können und dem König mit der Dornenkrone huldigen, den er mit Füßen getreten? Namenlos schwer mußte es sein, mit dem Blute Hunderter seiner Brüder auf dem Gewissen vor den Herrn zu treten, dachte Ilsabe – und doch – hatte er nicht sein Leben für Alle dahingegeben, daß ihre blutrote Sünde schneeweiß werde? Fast hatte sie's vergessen, daß sie vor dem Mörder ihrer Mutter stand – die entsetzliche Last auf dem Herzen des Priors hatte sie allen Haß vergessen lassen, und in ihrer Seele lebte nur der eine Gedanke, wie ihm zu helfen sei.

»Warum liegst du noch immer auf dem Rost, Pfarrer von Penzlin?« fuhr der Alte jetzt fort, die welke Hand über die Augen legend. »Ich weiß es ja, daß deine Mutter unschuldig war! Fort! fort! zur Hölle! Blutrot sind die Wände meines Gemachs, das Kloster des heiligen Franziskus schwimmt in Blut – wenn's lange so währt, wird's uns ersäufen – ha, ha – dann ist das Leben aus! Ob ich ein Engel des Satans werde? Für den Himmel ist mein Kleid zu rot« – ächzend fuhr er mit der Hand über die Tonsur.

Ein Mönch zündete die Lampe unter dem Kruzifix an, ihr heller Schein fiel auf Ilsabes Gestalt; der Prior schien sie vergessen zu haben – nun weckte ihr Antlitz neue Qualen in ihm.

»Was stehst du und blickst mich mit den schwarzen Augen an? Hinweg, ich weiß, daß ich dich auf die Folter brachte!« rief er aus.

Die Jungfrau rührte sich nicht.

»Bist du nicht das Weib des Oertzen?« schrie er und wollte sich erheben, um die Gestalt zu verscheuchen, aber die Gicht zwang ihn in den Sessel zurück. »Warum kehrst du wieder?« rief er verzweifelt, »Blut und Verdammnis predigt ihr mir alle – Blut – Blut – mein Gott, daß es zu spät ist.«

»Zu spät ist es nicht,« sagte eine tiefe, ruhige Stimme neben ihm. »Zur Rechten des Hochgelobten hing ein Schächer am Kreuz, der empfing in der letzten Stunde die Gnade des Herrn unter der Verheißung: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein, und noch jetzt gilt's: ›Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde!‹ Nicht die Heiligen helfen uns, nicht die Mutter Gottes, sondern allein Christi Blut!«

Die Augen des alten Mannes schienen aus ihren Höhlen zu treten. »Wer seid Ihr?« fragte er mit unsicherer Stimme.

»Ich bin die Tochter Ilsabes von Oertzen, die zu Penzlin auf der Folter starb,« erwiderte die Jungfrau.

Die Augen des Greises wurden noch größer, beide Hände auf den Lehnen seines Sitzes, wollte er sich erheben. »Ilsabe von Oertzen!« murmelte er, »und Ihr redet dem Mörder Eurer Mutter von Gottes Gnade? Ihr – Ihr könntet ihm vergeben? Seid Ihr keine von den vielen, die mir mein blutig' Schwert vor Augen halten – wieder, immer wieder? Unmöglich – mit dem Blute der Zeugen Jesu Christi ist mein Kleid befleckt – die Thür ist mir verschlossen, im Traum sah ich Sankt Petrus, der verriegelte sie und schüttelte das Haupt, als ich Einlaß begehrte.«

»Sankt Petrus schließt den Himmel nicht zu, wenn der Heiland ihn öffnet!« antwortete sie einfach. »Wer im Glauben an das Blut des Lammes Gottes rein geworden von seiner Sünde, dem steht die Himmelsthür offen – sie ist noch nie einem armen Sünder, der Buße that, verschlossen worden, das wäre wider Gottes Verheißung und Heilsrat.«

»Woher wißt Ihr das?« fragte er.

»Aus Gottes Wort!« erwiderte sie. »Der Herr ward arm um unsertwillen, daß wir durch seine Armut reich würden; und wenn wir in Buße und Glauben sein Kreuz umfassen, so haben wir das Leben – da hat weder Sankt Petrus, noch sein Stellvertreter zu Rom, noch die heilige Jungfrau, noch irgend ein Mensch etwas drein zu reden – der Herr bietet uns sein Heil an, und noch ist Gnadenzeit, ob auch das letzte Stündlein bald vorhanden sein mag!«

»Ihr seid eine Anhängerin der neuen Lehre,« sagte in zweifelndem Tone der Prior, »sagt mir, wie kommt Ihr dazu, mir Vergebung bringen zu wollen?«

»Eben weil ich die neue Lehre kenne, die Lehre, die nichts weiter birgt, als das uralte, reine Bekenntnis, das Rom unter dem Schutt seiner Weisheit begraben, weil ich selbst im Blute Jesu Christi rein geworden von aller Sünde und täglich rein werde, weil ich Gnade um Gnade empfangen, habe ich die Kraft, Euch zu vergeben, und weiß aus seinem Wort, daß Euch der Herr losspricht von Eurer Sünde, so Ihr in Buße und Glauben zu ihm kommt und Euch allein auf ihn verlaßt!«

Wie ein neues, nie gekanntes, seliges Evangelium grüßten die schlichten Worte den Mann der Kirche. Aber hatte er dies Wort nicht täglich in Händen und vor Augen gehabt? War's nicht sein Amt, seiner Gemeinde diese Botschaft zu bringen? Ja, er hatte es gehabt, aber er war ein Mietling gewesen und hatte am Ende nicht nur ein armes, blindes Volk bethört, sondern auch seine eigene Seele verhungern und verdursten lassen.

Aus dem Munde einer Jungfrau, die zu der Sekte des verachteten Augustiners gehörte, mußte er das Wort des Lebens hören – sein Herz wollte sich dagegen auflehnen, und doch zog's ihn mit unwiderstehlicher Gewalt, dem großen, heiligen Bekenntnis des Gotteskindes zu lauschen. –

Mitternacht war's, von den Türmen läuteten die Glocken das neue Jahr ein, und die Mönche von Sankt Franziskus wanderten hinab in die Klosterkirche. Der kranke Prior konnte nicht hinab, aber er saß noch wach, und neben ihm saß die Tochter der Frau, deren Blut auf seinem Gewissen lastete, und verkündete einem gebrochenen Manne das Wort von Christo, dem Gekreuzigten und Auferstandenen.

Längst waren die Glocken verstummt, als die beiden zur Ruhe gingen.

»Ihr seid die erste, die einen Schimmer von Licht in meine verlorene Seele brachte,« sagte er mit zitternder Stimme. »Wenn es möglich ist, daß einem Menschen, wie mir, Gottes Gnade noch zum Leben verhilft, so konnte der Allmächtige kein besseres Mittel wählen, um mich zum Glauben zu erwecken, als dem Mörder das Kind seines unschuldigen Opfers ins Haus zu senden, das Wort der vergebenden Liebe auf den Lippen. Hätt' mir's ein anderer gesagt, und wär's der heilige Vater selber – eine fruchtlose Absolution wär's gewesen, aber daß sie, deren Herz ich zum Tode verwundet, mir nicht nur Mitleid, sondern vergebende Liebe schenkt, das facht ein Fünklein bei mir an, ein stilles Hoffen, daß der Herr selbst mir noch das Armsünderpförtlein offen läßt.«

»Ganz gewiß thut er das,« antwortete sie, und in den strahlenden Augen schimmerte es feucht, als sie die Hand des Greises drückte. »Wir dürfen und sollen das Wort: ›Also hat Gott die Welt geliebt,‹ voll und ganz auf uns beziehen, ja, wir dürfen uns sagen: ›Also hat mich Gott geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß ich, so ich an ihn glaube, nicht verloren werde, sondern das ewige Leben habe.‹«

Er blickte sie dankbar an. »Wollt Ihr morgen wieder kommen?« bat er. »Einige Tage müßt Ihr meine Gefangene bleiben, bis ich Euch unter sicherem Schutz heimgeleiten lasse, und,« fügte er leise hinzu, »bis meine Seele in Frieden fahren kann.«

»Von ganzem Herzen gerne bleib' ich,« erwiderte sie, »und wenn Ihr mir eine Liebe erweisen wollt, gebt dem Magister Laurentius Tilenius in Schwerin Nachricht, daß ich wohl geborgen bin.«

»Laurentius Tilenius?« fragte der Greis; wieder schienen seine Gedanken in vergangener Zeit weilend. »War er nicht,« setzte er zögernd hinzu, »in Penzlin, als Eure Mutter –«

»Ja,« erwiderte sie, ihm den Schluß ersparend, »und jetzt lebt er in Schwerin mit Weib und Kind, und aus seinem Munde hab' ich das Heil empfangen. Morgen will ich Euch das Weitere erzählen – heute bedürft Ihr der Ruhe, schon sind wir im neuen Jahr!«

»Ja, Gott sei gelobt! Welch' eine Wendung durch sein Erbarmen!«

Mit gefalteten Händen blickte er in die Neujahrsnacht hinaus, Tausende von Sternen blitzten hernieder, als wollten sie mit ihrem goldenen Strahl noch einmal das gottselige Geheimnis der Weihnacht verkünden. Der Greis im Ordenskleid dachte auch daran zurück, er hatte so lange keine Christfreude gehabt, aber heute fing es auch in seiner Seele an, helle zu werden, ganz allmählich, bis der Aufgang aus der Höhe auch ihn mit dem himmlischen Licht seiner Herrlichkeit grüßen würde. Eine wunderbare Silvesternacht ging zu Ende. Einer der Stolzesten der Kirche Roms hatte von den Lippen einer Jungfrau das Heil empfangen; droben im Himmel aber unter den Engeln Gottes war Freude über einen Sünder, der Buße gethan.

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