Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Liebes Kind, ich wollte dir Rosen kaufen, einen großen Strauß roter Rosen als Zeichen meiner Freude über deinen tatbereiten Lebensenthusiasmus. Aber: Berlin, Eis, Schnee und – Rosen! Obwohl ich wußte, daß der ideale Wert schöner Rosen nicht hoch genug einzuschätzen ist, so wirkte der Mut des Verkäufers, als er seine reale Forderung stellte, doch verblüffend. Ich mußte verzichten. Die roten Rosen oder hatten mir ihren Hauch nicht vergeblich entgegengeströmt. Ihm verdankte ich die Schaffenslust, die mich überfiel, und die mich im Sturmschritt nach Hause trieb: Ich wollte versuchen, dir Rosen auf den Weg zu streuen, welche nicht gleich verblühen. Erst nach Jahren sollst du entscheiden, ob es mir gelang.

Zu den folgenschwersten Irrtümern gehörte bisher, daß man der Jugend alles sie anscheinend Gefährdende fernhalten wollte. Nein, nahebringen muß man es ihr, damit sie richtig sehen und richtig denken lernt. Wie soll ein vornehmer fühlendes Geschlecht sich entwickeln, solange nicht von Anfang an Kindern andere Begriffe von dem, was menschlich ist, eingeprägt werden? Mit der Muttermilch sollen sie es elnsaugen: Fortschritt muß sich zu allererst auf dem Gebiet der Liebe bemerkbar machen, auf dem Felde der verkrüppelten Menschenliebe.

Du, liebes Mädchen, fühlst das bereits, und empört würdest du dich zur Wehr setzen, sagte man dir, auch deine heute hochflammenden Ideale sollten eines sehr widerstandsfähigen Rückgrates bedürfen. Noch sträubst du dich dagegen, zu glauben, wie sehr der Wirklichkeit fortmahlende Mühle auch den tatbereitesten Enthusiasmus bedroht. Aber bleibe nur fest davon durchdrungen, daß völlig unberechtigte Anschauungen und als Folge davon rückständige Handlungen viel zu ungestört fortwuchern, und versuche, dagegen zu wirken. Und gehörst du zu den wahrhaften Menschen, die unentwegt bemüht sind, auch die Wahrhaftigkeit anderer zu steigern, so bist du auf der rechten Straße. Kurze Um- und Irrwege werden dann nicht allzuviel bedeuten.

.

Der in seinem Tun nur Moderne prunkt mit äußerem Schein; wertvoll kann nur jener sein, welcher weiß, daß des Menschen tiefstes und bestes Handeln Zeitlosem entsteigt. Betone deshalb nie das Modernsein von Ansichten oder Einsichten; Früchtereiches bedarf tieferer Wurzeln. Solange wir alles Heil nur von neuen Strömungen erwarten, wird es um unser Besserwerden schlecht bestellt sein. Vom Ewigen muß es kommen, nicht vom Vergänglichen. –

Eine andere Ära soll jetzt beginnen, dem Dasein soll ein gesünderes Gepräge gegeben werden. Der ersehnte Aufstieg konnte euch jungen Menschen ganz besonders schwere Überwindungeu auferlegen. Wird deine vertrauensfrohe Schaffenskraft nicht doch erlahmen? Wenn – nur ein Beispiel – der Dichter Christian Morgenstern von den Menschen sagt, sie seien kleinliche, grämliche, banale, kindliche, eitle, zanksüchtige, gedankenlose, planlose – kurz, durchaus noch dumpfe und niedere Wesen, so sollte sein Noch genügen, dir Mut zu geben und Hoffnungslosigkeit nicht aufkommen zu lassen. –

Kürzlich besuchte ich eine »ethische« Versammlung, in welcher immer wieder die Forderung ausgesprochen wurde: praktische Vorschläge! Mit denen sah es aber schlecht aus. Umso froher bin nun ich, liebes Mädchen, dir einige feste Bausteine zeigen zu können, ohne die kein Hinauf möglich ist.

Weshalb sollte sich nur im Kriege eine außerordentliche Liebe zum Vaterlande geltend machen? Gerade nach dem Kriege muß der Einzelne Gelegenheit suchen, die große Liebe, in veränderter Form, seinem Lande zu beweisen. Wir werden lernen müssen, vieles zu vergessen und vieles anders zu bewerten, um als tüchtige Mitkämpfer am Wohle der Menschheit mitzuwirken. –

Wenn wir im Manne und im Knaben die ritterliche Gesinnung, in der Frau und dem Mädchen das Gefühl für Mütterlichkeit, in allen das Empfinden für Sittlichkeit zu stärken versuchen, so beginnen wir das Fundament aufzurichten für den notwendigen Umbau. –

Du fragtest mich kürzlich, auf welche Weise auch du dazu beitragen könntest, daß es besser werde auf Erden; dir fehlen – wie du fast kleinlaut hinzufügtest – besondere Talente. Während du mich dann erwartungsvoll ansahst, glitt mein Blick über deine ebenmäßige Gestalt, die leicht erkennen ließ, sie hatte sich frei entwickelt. Ich stellte fest, daß kein turmhoher Haaraufbau die Form deines Kopfes entstellt, daß kein sackartiges Kleid die schönen Linien deines Körpers verdeckt, und daß du Fußbekleidung verschmähst, die deinen Gang jeder Anmut berauben müßte. Ohne Zögern antwortete ich dir damals: »Du kannst Unschätzbares für die Gesundheit anderer durch dein Vorbild erreichen; dir mangelt – dem Himmel sei Dank – Ehrfurcht vor dem, was man trägt

Bemühe dich, das Lächerliche und Verkümmernde gerade dieser Ehrfurcht zu beweisen. Dir wird man glauben, du bist jung; niemand kann dir Rückständigkeit vorwerfen, und du hast deinen Liebreiz keiner demütigenden, gedankenlosen Abhängigkeit geopfert. Versichere deinen Kameraden, männlichen und weiblichen: »Wir sind, was wir aus uns machen.« Erhalte dich in deinem Äußeren so vorbildlich und so schön wie in jenem Augenblick, und du könntest – mag es auch übertrieben erscheinen – auserwählt sein, die Glücksmöglichkeiten kommender Generationen zu erhöhen. Betone vor allem, daß du weit davon entfernt bist, es zu billigen, wenn eine Frau ihr Äußeres vernachlässigt. Betone dann aber die Bedeutung einer Revolution gegen die Knechtung des geraden und gesunden Körpers, der durch Übertreibungen und Einengungen geschädigt werden muß. Betone, daß du nur auf Verfeinerung des Gewissens und Veredelung des Geschmackes einwirken willst. Zeige an deiner eigenen Gewandung – ich könnte auch sagen, an deinem überlegenen Verständnis – daß nicht Kostbarkeit und Mode über den Wert einer Kleidung entscheiden, sondern der Grad harmonischer Wirkung zwischen Kleid und Persönlichkeit. – Wir leben zwar in einer Zeit, welche die meisten zwingt, äußerlich nicht so zu erscheinen, wie sie zu erscheinen wünschen, aber vielleicht könnte gerade dieser Zwang allmählich gesündere Zustände fördern. Daß frische Jugendkraft bereit und befähigt ist, sich von dem, was man tragen muß, nicht unbedingt weiter knebeln zu lassen, zeigt mir manches der anmutigen Mädchen, denen ich in nicht zu geringer Zahl allmorgendlich – vielleicht auf ihren Wegen in Büros – begegne. – Erinnere dich, wir freuten uns gemeinsam an einem Sonnen-Sonntag über die Schar junger Mädchen, die den Mut besaß – sie wanderte an uns vorüber –, sich nach eigenem Empfinden zu kleiden. Nicht jede hatte das Rechte für sich getroffen; denn individuelle Kleidung erfordert in besonderem Grade Schönheitsempfinden. Alle aber schienen in die helle Landschaft hineingeboren. Man glaubte ihnen, daß sie um ein fröhliches Hinauf im Leben zu kämpfen bereit waren. Und nach ihnen die andern! Sie schienen von ein und demselben Despoten uniformiert. Auch jene hätten sich wohl gern auf moosigem Boden im Sonnenlicht gedehnt, doch sie mußten es sich versagen, weil sie vorschriftsgemäß der natürlichen Bewegungsfreiheit beraubt waren.

Schroff, aber nicht ohne Berechtigung erklärt Multatuli: »Die Frau, die ihre Seele wegwirft an Lappen, Bänder, Tand und entstellende Aufpfropfungen, darf nicht emanzipiert werden. Und wollte man auch, es geht nicht! Wer sich zur Sklavin der oft geschmacklosen Fetzen der Pariser Mode macht, kann nicht Anspruch erheben auf den Rang eines entwickelten Menschen, und würde auch diesen Rang sich nicht zu erhalten wissen, wenn Gesetze und Sitten ihn zuerkennen wollten. Die Emanzipation der Frau muß von ihr selbst ausgehen, und dazu ist an erster Stelle nötig, daß sie unzweideutig ihre Mündigkeit erweist, indem sie sich nicht anstellt wie ein Kind oder eine närrische Person.« Seitdem Multatuli sich in dieser temperamentvollen Weise mit uns Frauen auseinandersetzte, sind Jahrzehnte vergangen, aber immer noch ist die Erziehung in vielen Familien, sobald es sich um das handelt, was man trägt, völlig veraltet; von Revolution ist wenig zu merken.

Nur wer die gesunde Entfaltung seines Körpers nicht in törichter Weise beeinträchtigt, verdient gesunde Kinder. Daran können junge Menschen nicht früh genug und nicht oft genug gemahnt werden.

Noch sehen zu viele in Schwächlichkeit und in Häßlichkeit stets nur Schicksalsfügung, nie eigenes Verschulden. Zu wenige glauben, daß Kraft und Beweglichkeit des Geistes in enger Verbindung mit höchstmöglicher Entwicklung des Körpers stehen, daß alles, was den Körper einengt, auch die Seele in ihrer Freiheit beschränkt. Es zeigten sich wohl Prediger in der Wüste, Menschen, denen die Gefahren der Kleidung nicht nebensächlich erschienen, und die vor ihnen warnten. Daß ihr Einfluß nur gering war, ist leicht an den zu vielen festzustellen, die noch heute in heldenhafter Selbstverleugnung keine Leiden scheuen, welche Modevorschriften auferlegen. Wieviel Nervosität diese Hörigkeit verschuldet, wieviel Geld- und Zeitverschwendung, wieviel Erniedrigung und Entstellung, wieviel ernste Erkrankung: das wird nicht beachtet. Wissen denn alle jene, welche auch heute noch ihr Glück nur darin sehen, modern zu erscheinen, gar nichts von den Schrecken der Zeit? Wissen sie nichts von den Unglücklichen, welche die Grausamkeit des täglichen Lebens gerade jetzt zu Krüppeln schlägt, zu seelischen und körperlichen? Wissen sie nicht, daß noch kein äußeres Schönheitsmittel erfunden ist, welches ewige Jugendlichkeit sichert? Wissen sie nicht, daß eine auffallend »herausstaffierte« Frau meist das Gegenteil von dem erreicht, was sie bezweckt: sie wird nicht, wie sie wünscht, für jünger gehalten als sie ist, sondern für älter. Mir sind bessere Mittel gegen frühe Alterserscheinungen bekannt, Mittel, für deren Erfolg ich, wenn sie richtig angewandt werden, mich verbürge. Aber man muß an die Kraft dieser Mittel glauben. – –

Nur von der Frau, in welchem Alter sie sei, die sich, innerlich frei, auch in ihrer Kleidung zum Ausdruck zu bringen versucht, setze voraus, daß sie auf anderen Gebieten ebenfalls stärker zur Erkenntnis neigt, als zur Verblendung. Deshalb handle, liebes Mädchen! Zögre nicht, suche dir Gesinnungsgenossen! Du findest ganz gewiß viele auch zwischen Männern. Zeige, wie man Auswüchse vermeidet, die reine Fröhlichkeit, Gesundheit, Schönheit, Verinnerlichung gefährden! Je hygienischer wir denken lernen, desto bezwingender wird unsere Lebenskraft sich entfalten. Gehe kühn gegen die frevelhafte Seichtheit auch auf diesem Felde des Denkens zu Gericht! »Wie«, so wird man später fragen, »war es wirklich einmal möglich, daß Frauen freiwillig auf das Recht verzichteten, von eigenen Gnaden so gesund, so schön als möglich zu werden? War es möglich, daß sie nach neuen Freiheiten seufzten, ohne die alten zu erkennen und auszunutzen?«

*

Besiegte, Untergehende sind wir nur dann, wenn wir bleiben, die wir waren. –

Erwecker, deren Rufe so überzeugen, daß sie nicht ohne Widerhall verklingen, können Welten erschließen, von denen nur eigene Gedankenlosigkeit, eigene Phantasielosigkeit, eigene Seelendürrheit fernhalten. Jedes Beispiel des Gütigen und Gerechten ist unendlich nützlich auch im kleinen Kreise; denn wirkt er dort nur auf Einen, so kann dieser eine auserwählt sein, Tausende klarsehender für die Zeichen der Zeit zu machen.

Schätze dich glücklich, liebes Mädchen, daß du gerade jetzt jung bist, jetzt in Tagen, in denen die Vervielfältigung des menschlichen Elends nicht mehr als Schicksal betrachtet wird, sondern als Schuld. – An euch, Ihr Erwachenden, geht! die Sendung: Veredelt das wirkliche Leben! Erkennt die geistige Verantwortung, die euch zugefallen ist!

Erst nachdem jene Schar sich verkleinert hat, die alles nur von dem andern fordert, von den andern erwartet, beginnt die Revolution, welche uns Not tut. –

Handlungen, die uns retten sollen, können sich nicht allein aus verstandeskühler Klugheit herausschälen. Alle geistig-seelischen Schätze, die noch schlummern, sie seien wachgerufen! Auf ein Brechen und Zerbrechen schädigender Gewohnheitssitten kommt es an. Unausrottbar sind sie nicht. Gewohnheitssitten – meist Unsitten – fristen ihr Dasein von gewohnheitsmäßiger Gedankenlosigkeit. Sie allein genügte, die Welt in dumpfe Nöte herniederzuziehen.

Auch ich forme die Welt, darf jeder von sich behaupten, auch mein Ich kann zum Segen oder Fluch werden. Solange ich nur für mein eigenes Ich sorge, bin ich jeder seherischen Erkenntnis fern. Solange ich untätig, kaltblütig dulde, daß Unverständnis und Ungerechtigkeit die Kräfte von Millionen Menschen zerstören, solange gehöre auch ich zu den Mitschuldigen.

Wäre unsere Menschenliebe nicht eine so dürftige, so gäben wir weniger bereitwillig, weniger unterschiedslos die auf, welche wir den sittlich Verwahrlosten zuzählen. An das, was diesen schon vor ihrer Geburt angetan wurde, erinnern wir uns nicht. Vielleicht wären viele von ihnen zu retten gewesen, hätte man sie in ihrer frühesten Kindheit vor der Straße und vor verbrecherischen Einflüssen zu schützen versucht. Geistige und ästhetische Genüsse sind Menschen unbekannt, die aus gänzlich verwahrlosten Familien hervorgingen. Weder Vater noch Mutter hatten Zeit für sie. Ihr Vorbild lehrte nur Schlechtes. Die Körper dieser Gezeichneten sind oft schon, bevor sie zur Welt kommen, von Alkohol vergiftet. Nicht selten wuchern Verlogenheit, Wankelmut, leichte Beeinflußbarkeit, Rachsucht, Mangel an ethischen Hemmungen, an logischen Erwägungen auf psychopathischem Boden. Wer bemühte sich, diesen Armen tröstliche Ausblicke zu verschaffen? Wer wollte mit ihnen in Berührung kommen? Immer bewegten sie sich in Kreisen, denen ebenfalls jede sittliche Kraft fehlte. Versuche, die sie machten, sich aus dem Sumpfe zu befreien, sind oft an der Umgebung gescheitert. Lächle nicht, wenn ich dir die Antworten einer auf ihren Schwachsinn hin geprüften Sechsundzwanzigjährigen wiederhole: »Was ist ein Eid?« »Wenn einer falsch schwört.« »Was ist ein uneheliches Kind?« »Eins, das dann später zurückgestoßen wird.«

*

Die Beurteilung der Gefühle aller Menschen geschieht meist nach der sichtbar äußeren Haltung. Sie aber ist Sache der Erziehung, des guten Geschmacks, des Temperamentes; sie ist verschieden wie feine oder gröbere, helle oder dunkle Adern im Marmor. Oder der Unterschied gleicht der Wiedergabe derselben Melodie durch Stadtmusikanten auf einem Marktplatze oder durch erste Künstler in einem Großstadtsaal. Glaube mir, die schicksalsschwersten Triebe sind standesfrei; Scham, Gier, Geiz, Leugnen und Lügen ziehen sich nicht vor den Türen der Intellektuellen oder der Millionäre zurück. –

Sprichst du von anderen Klassen und Rassen mißbilligend, so vergißt du, daß auch du irgendeiner Klasse angehörst, die zur Kritik herausfordert. Wiederholen die einen, Abstammung bedeute nichts, nur Adel der Gesinnung schaffe Aristokraten, so ärgern sich wieder andere über den Bürgerstolz, über das Pochen auf eine noch verhältnismäßig gesicherte Existenz, die durchaus nicht immer erarbeitet, oft dagegen ererbt wurde. Ist sie aber selbsterworben, so halfen fast immer gute Gesundheit und Bildungsmöglichkeiten oder andere glückliche Umstände, ohne die auch dem Tüchtigsten das Emporsteigen unmöglich gemacht wird. Viele, die Universitätsbildung genossen, sind geneigt, auf die Nichtakademiker herabzusehen. Der Freigeist hält den Gläubigen für einen Heuchler oder Dummkopf. Künstlern bleiben die fremd – wenn nicht gar verächtlich –, denen Kunstwerke niemals Andacht zu schaffen vermögen. Der beginnende Zeitabschnitt soll ja vor allem auch dadurch bedeutsam werden, daß keinem die Entwicklung seiner Fähigkeiten versagt werden darf. Niemand wird, wie bisher, gezwungen, eingemauerter Vorurteile halber sein Leben in falsche Geleise zu leiten. Alle jungen Menschen – du weißt es – bedürfen nur noch eines Ausweises, nämlich den ihrer geistigen Berechtigung, um freudig und frei bis zu dem Rang emporzusteigen, der ihrer Begabung entspricht. Das Recht aller Kinder auf eine fähigkeitsgemäße, also nicht wie bisher, nur standesgemäße Berufsausbildung, soll ebenso selbstverständlich werden, wie das unterschiedslose Eindringen der Sonne durch die Fenster einer Bauernstube und eines Schlosses. –

In die Reihe falscher Vorstellungen gehört auch der Irrtum, es genüge, gute Angestellte »in bar« zu entlohnen. Sind denn Treue und Selbstverleugnung und Fleiß überhaupt zu bezahlen?

Frage dich selbst, liebes Kind, ob nicht auch du Stimmungen unterworfen bist, die aber niemand Launen zu nennen wagt! Ob du nicht auch zuweilen Tanz und Theater als notwendige Zerstreuungen betrachtest, ob du nie heftig bist, nie ungerecht, nie unliebenswürdig, nie unpünktlich, ob deine Vorrechte unbedingt berechtigt sind? Willensbehauptung, die Befehlende zu Persönlichkeiten macht, nennen wir bei Untergebenen Trotz; Lebenslust wird bei ihnen zur Liederlichkeit gestempelt, Nervendepression zur unerträglichen Laune.

Wie begründen wir unsere Anmaßung Dienstboten gegenüber? Sind sie andere Menschen? Was hat sie anders werden lassen?

Oft gerät eine Angestellte gleich am Beginn ihrer Arbeitsjahre an verständnislose Menschen. Viele werden unehrlich oder leichtfertig, weil sie in Versuchungen jeder Stütze beraubt sind. Strauchelnde, deren Umgebung liebe- und verständnisvoll ist, werden nach einer Vergehung oft durch ermutigende Güte, durch verdoppelte Innigkeit und Sorgfalt geheilt. Selten aber findet ein junges, alleinstehendes Geschöpf, bei Vergehungen doppelte Güte.

Bedenke nur einmal, in welchem Dunkel die besten Jahre unserer Angestellten liegen, wie viele ihrer Lebensfreuden – vielleicht ihrer Begabungen – erstickt werden! Dennoch ist mancher Herrschaft eine ungeheure Geschicklichkeit eigen, jede Berechtigung für sich in Anspruch zu nehmen, dagegen aber in denen, die ihnen Dienste leisten, Undankbare zu sehen, die ihrer Gute nicht wert sind. Ist es nicht höchste Zeit, uns auch auf diesem Gebiete unserer seelischen Verwahrlosung zu schämen, anstatt immer nur die seelische Verwahrlosung und die »Dreistigkeit« der Gegenpartei zu beklagen?

Dienstbücher sind abgeschafft; die Folgeerscheinungen dieses Systems machen sich, wie versichert wird, bereits unangenehm bemerkbar. Das aber ist gewiß: Hätte nicht nur jeder Angestellten beim Verlassen ihrer Stelle ein Zeugnis ausgeschrieben werden müssen, sondern wären auch Herrschafts-Führungsatteste gefordert worden, so wären viele Damen ebenso schwer »anzubringen« gewesen, wie manches Mädchen, dessen Buch wenig Verlockendes enthielt.

Dienstboten

Aus dem Bande Anton Wildgans:
Und hätte der Liebe nicht ...
Verlag: Axel Junker.

Sie sind immer nur da, um zu dienen,
Niemand fragt sie nach ihrem Begehr.
Solang sie gehorchen, ist man mit ihnen
Freundlich so wie zu Fremden – nicht mehr.

Sie wohnen mit uns im selben Quartiere,
Aber für sie muß der schlechteste Raum
Gut genug sein. – Für unsere Tiere
Sorgen wir zärtlicher als für ihre
Menschlichen Wünsche – die kennen wir kaum.

Sie sind die Hände, die nie bedankt sind,
Wir wechseln sie aus wie den brüchigen Stahl
Einer Radachse. Wenn sie erkrankt sind,
Müssen sie aus dem Haus ins Spital.

Manchmal könnte ein Wort der Güte,
Ein Tag im Frühling, um auszuruhn,
In ihrem verdrossenen Gemüte
Eine verschämte, schüchterne Blüte
Leise wecken und Wunder tun.

So aber sind sie gewohnt, die letzten
Bei allem, was freut und nottut zu sein,
Und werden – wie alle Zurückgesetzten –
Entweder gebrochen oder gemein.

Manche freilich, die haben ohne
Haß dem eigenen Leben entsagt,
Waren Mütter an fremdem Lohne,
Tragen eine heimliche Krone
Wie Maria, die Magd.

Ergreifender als in diesen Versen kann das Schicksal derer, die durch das Leben entweder gebrochen oder gemein wurden, wohl kaum geschildert werden.

*

Ein Geschlecht anders erzogener Mütter heranzubilden ist heute eine der wesentlichsten Notwendigkeiten der Zeit.

Wir Älteren waren keine guten Vorbilder. Zu selten berührte uns der Hauch eines höheren Geistes. Zu lange blieben wir blind für die Versklavung des eigenen Gewissens, überdachten kaum die Schäden, die wir aus Mangel an ethischem Denken anrichteten. Wohl wünschten wir, körperlich gesunde Kinder zur Welt zu bringen, forderten aber viel zu wenig von uns selbst an Gemüt und Rechtsgefühl, an Gedankenschärfe, an jener vererbbaren Gesundheit des Geistes, deren Fehlen in der Geburtsstunde eines Kindes nicht bemerkbar ist. Alle möglichen Glücksgüter ersehnten wir für die Neugeborenen, ahnten aber gar nicht, wie wenig wir ihnen an unveräußerlichen Gütern mit ins Leben gaben.

Nun aber sollen Frauen, die sich höhere Erkenntnis erwarben, Gebärerinnen des kommenden Geschlechtes werden. Sie sollen dazu beitragen, daß die Ergebnisse der Revolution größer werden als die Veränderungen in einem gewaltsam hin und her geschleuderten Sack voll Körnern. Wohl wechselt darin jedes einzelne Korn seinen Platz, aber trotzdem bleibt doch jedes, wie es war. Welch eine kindliche Anschauung, zu glauben, nur allein durch das Hin- und Herwerfen wertvollere Arten zu züchten. –

Erst wenn sich Mütter viel mehr als bisher der folgenschweren Tragweite fast jeder ihrer Handlungen – auch der scheinbar geringfügigsten – bewußt sind, kann der neue Staatskörper zu anderen Hoffnungen berechtigen als der zusammengestürzte.

Kein geeigneterer Zeitpunkt ist denkbar als der jetzige, um der Jugend weite Gesichtsfelder zu eröffnen.

Die Möglichkeit einzuwirken, wie selten wird sie von Müttern ganz erfaßt, und doch ist sie eine Gnade und ein Glück. Dieses Glück liegt weit entfernt von straffer Erziehung oder von gewaltsamen Maßregeln.

Worte könnten leicht bei der Erziehung fast vermieden werden. Ist eine Mutter selbst gütig und gerecht, Feind jeder Unwahrheit, und hat sie das rechte Empfinden für Gesundheitschädigendes, so hat sie eigentlich alle Pflichten gegen ihr Kind erfüllt: sie zeigt unmittelbar ohne Umwege, daß das Gute und Gerechte das Selbstverständliche ist. Mehr kann sie für ihr Kind nicht tun. Tut sie viel mehr – also weniger –, dann beunruhigt sie die Nerven ihres Kindes und stört es. So verschuldet oft die Diktatur der Mutter seelische Verletzungen. Aber bisher geht den Müttern zu wenig gegen ihr Gewissen, viel zu wenig! Sie vergessen, daß die ganz Kleinen lange in dem Wahne leben, nur ihre Eltern verfügen in jedem Augenblicke über alle Weisheiten auf Erden. Von der Mutter erwarten sie gläubig die Deutung des vielfarbenen Lebens.

Ein glückliches Familienleben baut sich nicht auf blindem Gehorsam auf, sondern auf Rücksicht und Verständnis für die Gefühle und Rechte anderer. Der ritterlich rücksichtsvolle Vater hat nie verrohte Söhne. Das Beispiel wirkt in guter wie in schlechter Richtung. –

Betrachte es als Verbrechen, Kinder aus Gedankenlosigkeit um echte Lebenswerte zu betrügen. Eine Schuld wird nicht geringer, wenn sie gewohnheitsmäßig begangen wird. –

Mütter sollen in der Liebe zu ihren Kindern größer, aber nicht – wie es so oft geschieht – kleiner werden. Sie sollen nicht erst warten, bis die Werdenden das Morsche an bestehenden Zuständen mit gutem Recht herausfühlen; sie sollen rechtzeitig eine Neuprüfung von Sitten und Gebräuchen für unerläßlich halten und sich gegen Menschenunwürdiges aus innerem Zwange heraus aufbäumen. –

Eine Zeit, die Abrechnung fordert, hat uns überrascht wie Sturm, der zwischen verjährtes Laub fährt. Schlecht waren wir für diese Abrechnung gerüstet. Jetzt entscheidet jeder Schritt, ob wir fähig werden wollen, für ein Vorwärts mitzukämpfen. Führten uns nicht die ersten Schritte neu bauend zur Jugend, so begannen wir mit dem fünften oder sechsten Schritt, und diesem Irrtum entsprechend muß das Ergebnis werden. –

*

Eine junge Seele weiß nichts von »gewöhnlichen Leuten«, erst Erwachsene richten Mauern auf von Mensch zu Mensch. Beharrlich müßte es äußerlich bevorzugten Kindern eingeschärft werden, daß sie zahllose, das Leben erleichternde Dinge besitzen, die ihren Kameraden versagt sind. Wünsche! warum werden sie ihnen erfüllt und jenen nicht? Und wenn sie heranwachsen: Sind sie nicht von einem Schutzwall umgeben, den nur materielle Vorteile aufrichteten?

Soziale Probleme bestünden gar nicht, wäre jedermann bemüht, zur Schaffung von Verhältnissen beizutragen, die es möglichst vielen Menschen erleichterten, gut zu bleiben. Im Gegensatz hierzu erschweren wir das Gutsein und Gutbleiben. Dächten und täten wir doch viel öfter das, was nicht nur uns allein, sondern auch anderen zum Vorteile gereicht. –

Rasch wird die tragische Blindheit der Mütter nicht zu heilen sein, diese Blindheit, welche eine natürliche Ausbildung des Rechtsgefühls in jungen Seelen hemmen muß. Aber warum sollte es bis in die Unendlichkeit unmöglich bleiben, dem einzelnen die freiwillige Neigung, den Trieb zur ausgleichenden Gerechtigkeit einzuimpfen? Sagt doch ein Ausspruch Forels, daß, wenn ein genialer Mensch eine große Herde von normalen Menschen so lange ärgert und aufrüttelt, bis sie teils von ihm suggeriert sind, teils, um ihre Ruhe zu genießen, ihre Ansicht entsprechend geändert haben, so bilde die genannte Herde eine neue öffentliche Meinung, die zu ebenso eingewurzelten Sitten führt wie die frühere. Bisher zeugt die öffentliche Meinung gegen uns. Skrupellosigkeit, soziale Unempfindlichkeit, verbrecherische Duldung sind eingenistet. Und vielleicht setzen die, welche den Kampf eines jeden gegen sich selbst fordern, ihre Kräfte tatsächlich für ein halbwegs verlorenes Unternehmen ein; aber auch diese Möglichkeit oder selbst diese Wahrscheinlichkeit ändert nichts an der Forderung, den Kampf zu beginnen. Wird unsere Jugend reicher an Kühnheit und reicher an Einsicht, so könnte sie wohl auch einmal die öffentliche Meinung schaffen, welche die Welt aus ihren verrosteten Angeln hebt. Sie hinauszuheben, bedeutet nicht mehr wie das Öffnen einer Tür, damit jener Notschrei eindringlicher werde, der Tieferes verlangt als nur eine rasche, unvorbereitete politische und soziale Revolution.

Es ist nicht der erste Zeitabschnitt der Geschichte, in dem man an eine Wiedergeburt der Menschheit glauben wollte, aber du mußt dir vorstellen, es sei der erste Versuch; dann nur wird dein Glaube nicht zu zerstören sein. –

Ich kann dir ja nur flüchtig andeuten, wie große Werte unsere Zeit in die Hände und an das Herz der Erwachenden legen will. Sie ist reich an Hoffnung, aber arm, arm an Erfüllung.

*

Immer glaubte ich bisher nur zu dir zu sprechen, und doch habe ich mich wohl auch selbst oft trösten wollen; denn wieviel Jahre wir auch zählen, aus der Tiefe jeder Seele tönt es doch immer wieder wie das angstvolle Weinen eines Kindes. Wohl niemand, auch der scheinbar Stärkste, ist frei von Augenblicken, in denen er nicht tastend nach Händen greifen möchte, die ihn über die dunklen Tiefen des Daseins hinfort fuhren könnten. Vielleicht unterscheiden wir, denen das Lied vom Leide eine alte Melodie ist, nur besser echte Ideale von unechten. Glaube mir, es gibt so unendlich viel, an das sich Menschen sinnlos verschwenden. Laß dich warnen! Nur an die Großstadt will ich erinnern. Viele ihrer Werte sind verhängnisvolle Täuschungen, die blenden und berauben. Ihre Geräusche übertönen die leisen Weisen der Seele. Sie läßt keine Zeit zum Lauschen. Sie ergreift wie ein ansteckendes Fieber.

Weißt du noch, liebes Mädchen, während du einmal meine Hände streicheltest, fragtest du: »Sie haben doch stets in einer großen Stadt gelebt, aber woher blieben Sie so?« Damals wußtest du nicht, daß ich nur deshalb leidlich unverletzt bleiben konnte, weil mir das Natürliche sinnvoller ist als das Gekünstelte, das Ländliche fruchttragender als das Städtische, Einfachheit wohltuender als Prunk, und weil ich Geist allein nie überschätze. So laut konnte das Leben um mich herum nie werden, daß ich den Segen einer Stunde der Stille nicht immer wieder tief erlebte. – Ich bin ein guter Hirte des Himmelreichs in mir gewesen; vieles mußte ich mir vom Leben rauben lassen – das nicht. Jeder hat einmal sein Himmelreich in sich, aber er weiß es nicht, er pflegt es nicht. –

Am schlimmsten ist das Herz von der Großstadt bedroht. Moderner Geist versucht es lächerlich zu machen, Eilbetrieb aus Asphaltboden mußte Herzen verhärten. Sie wären aber auch in ihrer früheren Eigenart heute nicht mehr »verwendbar«. Und doch können wir uns zuweilen nach ihnen sehnen, wie nach den Schönheiten alter, kleiner Städte, deren stimmunggebende Tore seltsames Erinnern wachrufen. Ein dauernd kraftvolles Verhältnis gewinnen wir nicht mehr zu altmodischen Herzen. Stillen Inseln ähnlich berühren sie, die sich noch mitten im Großstadtmeer erhielten. Oder wie eine alte, liebe Volksweise. Doch so wenig der erforderliche Bau einer Eisenbahn unterbleiben kann, weil er schöne, stille Stadtwinkel vernichtet, ebensowenig darf eine kraftvolle Höherentwicklung verzögert werden aus Schonung vor überempfindsamen Seelen.

Ins Reich dieser von der Zeit Überrannten gehört heute auch die noch im alten Stile gute Frau. Sie liebt es nicht, aus dem Rahmen des Herkömmlichen hervorzutreten, ihr ist immer der große Troß sympathischer als die wenigen. Von Erziehung im neuen Geist will sie nichts hören. Viel zu spät beginnt sie zu ahnen, daß weniger »echtes Weib« und mehr »ganzer Mensch« die günstigere Grundlage für ihre eigenen Glücksmöglichkeiten und für die ihrer Kinder gewesen wäre. Diese mangelnde Erkenntnis ist an der Verbitterung schuld, in die sie widerstandslos hineingleitet. Weil es zu leicht war, sie auszuschalten, alterte sie viel zu früh. Geradezu für läppisch würde sie es ansehen, wollte man von ihr erwarten, daß sie wie der tätige Cornelius empfände, als er die Achtzig schon überschritten hatte. Damals äußerte er: »Ich würde mich daß ärgern, wenn ich nicht jeden Tag jünger würde.« – Die nur gute Frau ist »beliebt«, aber außer solcher Beliebtheit erreicht sie viel zu wenig, um ein Weltbegreifen auch nur zu streifen. »Sie jammert über Dinge, die keiner Träne wert sind und geht ahnungslos über das Zarteste mit Nagelschuhen hinweg.« Jede nur gute, ihre Zeit nicht erfassende Mutter – ich möchte es dir ins Gewissen hämmern – verzögert das Heranreifen eines gesünderen, sozialer fühlenden Geschlechtes. Sie wirkt lebengefährdend. Mich erinnert sie an ein ausgetrocknetes, vom Winde hin und her gewehtes Grashälmchen. –

Von der unverstandenen Frau wollen wir lange schon nichts wissen. Noch vor einigen Jahren konnte sie für eine interessante Erscheinung gelten. Heute hat sie ihre Rolle ausgespielt; nicht alltägliche Menschen neigen leicht zu innerer Zerspaltung, schwankend zwischen Qual und Seligkeit. Ihr geistiges Gleichmaß wird von den Gesetzen des eigenen Selbst beunruhigt, von den Verpflichtungen, die sie gegen die Menschheit fühlen und von der Liebe zu denen, die zwar ihre Nächsten sein sollen, aber die durch ganz andere innere Lebenseinstellung niemals ihre Nächsten sein können. –

Und nun die tüchtige Frau. Von ihr verlangt der heutige Kleinkampf stärkste Widerstandskraft. Eine verwandelte Alltagswelt verkümmert ihr das Auf-sich-selbst-besinnen. Kein einsichtsvoller, seelisch gesund gebliebener Mensch wird die Bedeutung der Werktagsrufe verkennen, wird aufhören wollen, sich und sein Zuhause nach Möglichkeit vor raschem Sinken zu schützen. Aber vor der Gefahr des völligen Vernüchterns muß die tüchtige Frau auf der Hut sein. Mehr denn je kommt es auf das Klingen in uns an, auf das: »Und doch.«

*

Frauen, welche unbekümmert um die Welt draußen, in ruhig arbeitendem Idealismus handeln, erfassen vielleicht am tiefsten die Forderungen der Zeit. Wir müssen heute zu erkennen versuchen, welche Mängel es waren, die uns so oft in den Hintergrund schoben, ganz unabhängig von gesetzlich verweigertem Zutritt. Sicher gab es immer einzelne fähige Frauen; aber auch das ist nicht zu leugnen: zu viele unseres Geschlechtes verschwendeten Zeit und Kräfte an Dinge, die nicht der Mühe wert waren. Sie erfaßten nicht die Unwiederbringlichkeit des Augenblickes; sie glaubten, Zerstreuung nötiger zu haben als Sammlung; sie schöpften ihr Glück aus flachen Schalen und sehnten sich nicht danach, durch Unerschöpflichkeit ihres Wesens andere zu bereichern. Aussterben werden solche stumpfen, lichtarmen Naturen nie, aber ihre Zahl kann sich so verkleinern, daß sie kaum noch mitrechnet.

Belächle die Frauen, die glauben, sie leisteten dem Staate etwas, nur weil sie das Wahlrecht gewannen, und weil sie sich jetzt auch um Angelegenheiten kümmern sollen, von denen man bisher meinte, sie gingen Frauen nichts an, nur Männergehirne wären fähig, sie zu fassen. Der Frauen neue Rechte bedeuten wenig, solange der Boden, auf dem sie sich entwickeln könnten, von den alten Ungerechtigkeiten unterhöhlt bleibt. Daß wir Frauen bisher in so großer Unkenntnis der Gesetze dahin leben durften, gehört hoffentlich bald auch zu dem Unbegreiflichen, das fortgemäht wird. Schon vor Jahren meinte Professor Kohler, ein anerkannter Rechtsgelehrter, daß die Frage: »Sollen auch Frauen das Recht gründlich kennen lernen?« einst ebenso wunderlich berühren werde, als fragte man: »Sollen auch Frauen lesen lernen?«, und er fügte hinzu: »Wir Männer wollen lieber mit der Vernunft der Frau leben, als über die Unkenntnis der Frau herrschen.«

*

Worte sind bisher das Hauptergebnis unserer – nicht immer freiwilligen – noch viel zu wenig verinnerlichten sozialen Umstellung. Noch stehen wir im ersten Beginn praktischer Anwendungen. Nur sie können eine zuverlässige Antwort auf die Frage geben: »Haben wir eine Revolution erlebt oder nicht?« Du und junge Menschen deiner Wesensart werden die Entscheidung herbeiführen. Verwirf aber nicht leichten Sinnes alles Überlieferte; traue nicht blind allem von der Jetztzeit Geschaffenen, denke an die Auslese. In deinen Blicken kann so schöne Heiterkeit leuchten, so feste Zuversicht, daß Tausende, wie von einem Impulse getrieben, sich dir zugesellen. Halte nur daran fest, daß jede Vertiefung und Verfeinerung, sei sie auch wenig sichtbar, wie ein warmer Hauch, der sich im All verflüchtigt, nicht ohne Fernwirkung auf die Gesamtheit ist. Deshalb kannst du also ruhig die Zurschaustellung des eigenen Ich vermeiden, sie treibt oft unbewußt in den Strom äußerer Eitelkeit. Achte auf das Leid, das unmittelbar neben dir durch dem Verstehen gemildert werden könnte. –

Sehende fehlen uns, Einsichtige, welche dafür wirken, daß Schaffende, die berufen waren das Leben zu beseelen, nicht der Willkür einer lähmenden Wirklichkeit preisgegeben werden. Von ihren zerstückelten, zerrissenen Gedanken wären viele zu retten gewesen. Die Folgen der atemberaubenden Jagd auf die einfachsten, allernotwendigsten Lebensbedürfnisse entscheiden heute über die Geschicke von Unzähligen, besonders über das Schicksal geistig Arbeitender. Adliges und Erniedrigendes, Schwermut und Bitterkeit ringen in ihnen. Die Leiden der sich selbst Entgleitenden beachtet niemand. – Immer von neuem zuckt es in Seelen, die nicht sterben wollen; immer von neuem bäumen sich lebende Seelen empor, bis sie endlich doch tot zusammenfallen. Gestoßene, wohin wir blicken. Niedergebrochene erschüttern kaum noch. Lähmung scheint sich besondere der Stelle in unserem Gehirn bemächtigt zu haben, von der das Mitfühlen ausgeht. Blicke aus gehetzten Augen begegnen nur zu oft mißbilligenden Mienen. Um so mehr hängt die Zukunft der Welt von der Kraft der neuen Mütter ab. Sie muß sich so formen, daß sie eine im Blute sitzende Gerechtigkeit auf ihre Kinder zu vererben hat. Ihr muß der Einzelnen Mitverantwortlichkeit so selbstverständlich werden, wie die Luft zum Atmen. Ihr soziales Empfinden muß den Irrtum des »Alles für uns« in der Kinder Herzen für immer aus der Welt schaffen. Die »Geschichte von dem Frieder, der alles hat«, muß zu einem Märchen aus längst entschwundenen Tagen werden. Vielleicht erzählst du diese Geschichte Kindern: »Es war nämlich einmal ein Junge, der hatte alles, was er haben wollte. Von früh bis spät konnte er Schokolade essen, dabei sah er aber nie vergnügt aus. »Ich will vergnügt sein, ich will lachen,« sagte er zu seiner Mutter. Die Mutter aber war eine törichte Mutter und auch gar nicht vergnügt. Daher wußte sie nicht, wie sie andere vergnügt machen sollte. Und sie fuhr von einem großen Laden zu einem anderen großen Laden und kaufte immer noch mehr Schokolade und noch viel mehr schöne Spielsachen und brachte alles ihrem Jungen. Der fing an zu bauen, und er ließ die Eisenbahn, die von richtigem Dampf getrieben wurde, in den Stuben fahren, und draußen ließ er sein Luftschiff fliegen, und ringsumher standen alle armen Kinder und sahen neidisch auf den Jungen, der alles hatte. Aber vergnügt war der Frieder immer noch nicht. »Wir müssen in das Land ›Irgendwo‹ reisen«, sagte die Mutter zu dem verdrießlichen Knaben. »Im Lande Irgendwo wirst du vielleicht das Lachen lernen.« Und sie stiegen in dem schönen Lande »Irgendwo« aus. Dort schien immerfort die Sonne, und immer blühten die Blumen. Aber der mürrische Frieder riß die Blumen ab und sagte: »Sie riechen zu stark, und die viele Sonne macht mich zu warm.« Da reisten sie bis an den Nordpol – erst in der Eisenbahn und dann in einem großen Schiff, – aber da sagte der Frieder, der ganz in warme Pelze gehüllt war: »Ich mag die roten Nasen der anderen Leute nicht sehen« und wieder reisten sie fort, und zwar diesmal nach Amerika, gleich direkt zu den Niagara-Wasserfällen. Die glitzerten, wie alles in Tausendundeiner Nacht glitzert, aber Frieder tupfte mit seinem seidenen Taschentuch auf seinen seidenwattierten Mantel und sagte blos: »Wie wild das Wasser spritzt, es macht alle ringsumher naß; nein, hier bleib ich nicht.« So reisten die törichte Mutter und ihr törichter Frieder von Stadt zu Stadt. Zuletzt sagte Frieder nur noch: »Ich habe Magendrücken.« Aber kein Doktor konnte ihm helfen, und wenn er auch Professor war. Und als Frieder endlich wieder in seine Heimat kam, sah er noch viel verdrießlicher aus als vor seiner großen Reise. Am liebsten wäre er gar nicht mehr aufgestanden. – Einmal baute er nach langer Zeit wieder all seine Spielsachen auf: die vielen Pferde und die vielen Wagen, die großen Eisenbahnen und die großen Bausteine. Er nahm auch die vielen, schönen Lesebücher aus seinem Schrank und legte sie mit auf den großen Tisch und dazu soviel Schokolade und Bonbons und soviel Apfelsinen, daß er ganz müde von allem Herbeischleppen wurde. Dann stellte er sich mit seinem verdrießlichen Gesicht ans Fenster und sah hinaus, und er sah draußen ein paar arme Kinder, die waren ganz dünn, und ihre Augen waren ganz groß und ihre Stiefel waren ganz zerrissen, und Mäntel hatten sie überhaupt nicht an. Die Kinder lehnten sich an die Wand des gegenüberliegenden Hauses, weil sie ohne Stütze gar nicht viele Stunden stehen konnten. Einige verkauften Streichhölzer, einige Schnürsenkel oder sie riefen Zeitungen aus. Frieder sah sie an und dachte gar nichts. Weil er aber nicht wußte, was er nun tun sollte, machte er das Fenster auf und warf aus lauter Langeweile zehn große, rote Apfelsinen heraus. Ja, wirklich, gleich zehn große, rote Apfelsinen auf einmal. Und als er sah, wie vergnügt die armen Kinder hinter den rollenden Apfelsinen herliefen, so lustig, als waren sie gar nicht müde und hungrig, wurde ihm auch so anders zu Mute, und er warf gleich noch zehn große Pakete Schokolade hinterher, und weil er doch nicht alles, was er hatte, zum Fenster hinauswerfen konnte, rief er den Kindern zu, sie sollten alle zu ihm nach oben kommen. Während nun die armen Kinder die Treppe heraufstiegen, – ganz bescheiden und ganz ängstlich, – merkte der Frieder: sein Magendrücken war weg. Urplötzlich war es weg, und als er all seine Spielsachen und all seine Bücher und all seine Bonbons nahm und sie den armen Kindern schenkte, da geschah etwas mit dem Frieder, was noch kein Mensch an ihm gesehen hatte: Frieder lachte! So herzlich lachte Frieder, daß er gar nicht zum Wiedererkennen war, und er fand das Lachen so schön, daß er sich nur immer bei den armen Kindern bedankte. –

*

Verstehst du jetzt, du Liebe, daß ich dir von Rosen sprach, deren Schönheit immer dein sein kann? Verstehst du es endlich, denn gewiß fragtest du dich lange schon, bevor du bis hierher gelesen hattest: »Rosen, dies sollen Rosen sein?«

Ja, Rosen, die dir aus jedem Lächeln erblühen werden, das durch dein Verstehen und dein Handeln über vergrämte Züge gleitet. Laß dich nicht von klugen Leuten lähmen, die versichern: »Es bleibt ja doch immer alles beim alten«, von Leuten, die keine Flugkraft haben, keinen Glauben und keine Liebe. Daß die Zahl dieser tatsächlich Gemeingefährlichen sich verringere, muß mit zu den Aufgaben der erwachenden Menschen gehören. Nur dann kann das Chaos um uns sich lichten, wenn wir mit beispielloser Zähigkeit den Glauben an Menschlichkeit festhalten und unbeirrbar für diesen Glauben handelnd uns bemühen. Dabei ist es ganz nebensächlich, ob der einzelne für einen Narren gehalten wird, ob man ihn verlacht oder steinigt. »Der Tor in Menschen Augen und der Tor in Gottes Augen ist etwas ganz anderes.«

Schaffe inneres Glücksempfinden in Bekümmerten. War es nicht Lorm, welcher von dem unvernünftigen Sonnenglanz sprach, der so manches Herz nie verlassen will? Verstandesmenschen werden nichts von diesem unvernünftigen Sonnenglanz wissen und nichts von ihm wissen wollen, der trotzdem so machtvoll sein kann, daß er allein genügt, eine gepeinigte, zusammengesunkene Kreatur immer wieder zu erheben. –

Bleibe denen fern, die kein Glühen im Herzen haben. Sie sind die am stärksten Lähmenden. Nie waren begeisterte Führer der Welt in so hohem Maße notwendig als jetzt, Menschen, welchen es unmöglich ist, die Winkel des Daseins in völliger Dunkelheit liegenzulassen, und die unermüdlich zu beweisen bereit bleiben, daß die Welt von Werten erhellt sein will, welche unabhängig von äußerem Besitze sind. Du darfst aber nun nicht folgern, ich glaubte, diese geistigen Werte sollten genügen, die Qualen leiblich Hungernder zu stillen, aber hätten wir rechtzeitig für die Vergrößerung der Seelen gekämpft, so wäre das heutige Leben unmöglich. Hunger bedrohte und verzehrte nicht die Kräfte von Millionen Menschen, und Millionen wären nicht fähig, über diese Gefährdeten gleichgültig fortzusehen. Der Weise fühlt die Leiden der Anderen so, als habe er selbst sie mitverschuldet.

Ein Land, in dem emporkömmlingshafte Vergeudung, leere Belustigungen, Unmäßigkeit in fast jeder Art der Genüsse pestartig verbreitet sind, ist tausendmal ärmer an Verantwortungsgefühl als an Geld. Stünde doch in Flammenschrift vor jedermanns Auge die Frage: »Was tat ich bisher, um die Qual derer zu lindern, die ärmer sind als ich? Was tat ich, um Irrende zu führen? Was tat ich, um die Liebe in der Welt zu mehren? Tat ich genug?« –

Eine alte Erfahrung will lehren, Vernunft und Liebe hätten nichts miteinander zu tun, ich aber behaupte, daß gerade Vernunft die Liebe erzeugen könnte, welche der Welt fehlt. Ich denke nicht an kühle, verstandesmäßige Liebe, ich denke an glühende Liebe, die immer nur wohltun und heilen will und Freude schaffen und für alles erfahrene Leid entschädigen möchte. Erst wenn uns diese Liebesfülle ganz von innen her ergriffen hat, wird das Weiterbringen der Welt aufhören, eine Sisyphusarbeit zu sein. Ohne beharrliche Versuche, die Leistungsfähigkeit Unterernährter, die Arbeitsmöglichkeiten Notleidender zu heben, ist kein Aufstieg Deutschlands möglich. Ein gebeugtes Land, das so viele seiner Bürger verkommen lassen muß oder verkommen läßt, weil ihm die Mittel fehlen, sich die notwendigste Ernährung zu beschaffen, darf nicht ruhen, bis es das Gewissen der Unempfindlichen aufgerüttelt hat. Beweise in jedem Augenblick, daß ungeschriebene Rechtsbegriffe dein Handeln leiten. Schreibe an die Stelle in deinem Zimmer, auf die du am häufigsten blickst, das tiefe Dostojewskiwort: »Sättige die Masse, und dann erst verlange Tugend von ihr!« –

*

Ich weiß, dies alles sind alte Erkenntnisse, die an den meisten vorüberrauschen, wie das Plätschern eines Wassers, neben dem sie jahrzehntelang hausten, gleichgültig – gleichmäßig – gleichgültig – gleichmäßig. Nur hin und wieder ballen sich diese Erkenntnisse zusammen und werden zu hoch aufschäumenden, donnernden Wogen, die über dürres Ackerland rollen. Sie zwingen, eine Minute aufzuhorchen – eine Minute – nicht viel länger. Und doch: in ein paar winzige Erdkrümchen kam neues Leben – das war alles. Der Lebensgläubige erwartet nicht mehr, weil er einsehen muß, daß die Begrenztheit menschlicher Vervollkommnung unser ewiges Erbe bleibt. Solch ein Wissen beseitigt aber nicht ein Verlangen, an der Erweiterung dieser Grenzen mitzuarbeiten. Ohne die mitschöpferische Kraft der Freude kann dieses Ziel nie erreicht werden. –

»Freude schaffen in Tagen der Not und der Verzweiflung?« höre ich praktische Leute tadeln. »Einst dachte ich, die Menschen müssen leiden, um stark zu werden; jetzt denke ich, sie müssen Freude haben, um gut zu werden.« So arm kann kein Krieg machen, uns dieses Heilmittels dauernd zu berauben. –

Die Stärke des Freudegefühls, mit dem du Gutes tust, zeigt so sicher die Wärme deines Herzens, wie das Thermometer die Wärme der Atmosphäre. – Zu wenig Menschen verstehen, ihre Freuden festzuhalten. Sie lassen sie bei der leisesten störenden Berührung zerstieben, sie fliegen ihnen davon gleich Flaumfederchen, die sie vergeblich wieder fangen möchten. Graue Erinnerungen halten sie um so fester. Und doch ist die Fähigkeit des Vergessen-Könnens eine so fruchtbare; sie zerbricht Hemmungen, die wie Blei auf den Quellen zum lebendigen Leben liegen. Am Ursprung unserer Freuden zeigen wir, welche Hoffnungen auf uns zu setzen sind.

Anderen Freude zu schaffen, wird die Wissenschaft und die Weisheit der Zukunft sein müssen.

Freude, an die ich hier zuerst denke, gebärdet sich nicht laut und prunkhaft. Oft brachte nur ein leises Händestreicheln sie zum Erwachen, oder sonst eine scheue Zärtlichkeit, die bedrückten Menschen zuteil wurde. Vielleicht entstieg sie nur dem Lauschen auf einen fernen Harfenton, dessen Klang minutenlang über Ohnmacht und Not forttäuschte. –

Laß sie lächeln, denen du mit deinem Glauben an die Macht der Freude kindertöricht erscheinst; laß sie deine »Verständigkeit« gering schätzen, neide ihnen nicht ihre Überlegenheit, die sie arm, immer nur ärmer machen muß und alt schon in den Tagen ihrer Jugend. –

Mir brauchen aber noch Freuden gänzlich anderen Ursprungs, die das Fundament für eine in ihren Tiefen gewandelte Welt werden muß. Wir brauchen Freude am heiligen Zorn. In zu wenigen flammt er auf, zu wenigen treibt er Röte in die Wangen und das rechte Wort auf die Lippen. Flehe um ihn, flehe, daß er endlich seinen Einzug in die Herzen der Menschen halte! Flehe, daß er Gedankenarmut und ihre Gefolgschaft unbarmherzig entlarve!

Fürchte nicht, liebes Kind, heiliger Zorn züchte Megären. Hedwig Dohm, die Unvergeßliche, war mit ihm begnadet. Noch als Krieg und Krankheit sie ganz zu verzehren drohten, konnte er begeisternd aus den Augen der Sechsundachtzigjährigen leuchten. In ihr, der Scheuen, die Heldin und Poetin zugleich war, glühte der Kampf ums Recht bis zum letzten Atemzuge. Er war so naturgewollt in ihr, wie das Blühen der Blume.

*

Die letzten beiden Jahrzehnte entfachten lauten und lautlosen Kampf für das Recht auf Anerkennung der eigenen Persönlichkeit, ganz besonders auf die möglichst freie Selbstbestimmung junger Menschen. Dieses Kämpfen darf fast als beendet angesehen werden. Veränderte Voraussetzungen sind in Familien anerkannt, veränderte Formen des Zusammenlebens werden gebilligt. Die Forderung, Töchter aus »guter Familie« nicht des Glückes der Arbeit zu berauben, weil sie es »nicht nötig haben«, ist erfüllt, oft aus Gründen der Einsicht, oft der gefährdeten häuslichen Ruhe halber. Nur ungesunde Übertreibungen reizen zur Abwehr. Junge Menschen erobern sich mit ihren Idealen ein reiches Leben; sie gewinnen es nicht nur für sich, sondern auch für die, welche noch nicht selbst zu entscheiden vermögen, wo eigentlich die Welt ihrer Freuden oder die ihrer Leiden liegt.

Der Kampf ums Brot, der ungleich mehr Menschen als bisher in den kommenden Zeiten auferlegt sein wird, findet keine unvorbereitete Generation. Heute nun soll sich die Jugend mit der gleichen Hingabe, mit der ganzen Aufbietung ihres Willens für ein starkes, neues Werben rüsten, das überzeugend an das Herz der Menschen dringt. Sie muß ihre befreiten Kräfte für die Rechte auch des anderen einsetzen.

Auf das vertiefte Verständnis zu vieler haben wir noch zu verzichten. Noch krampft sich Eigenliebe zusammen, Gerichtstag über sich selbst halten zu sollen. Aber schon heute ist die Ausführbarkeit von Vorstellungen erwiesen, deren Verwirklichung früher ganz unmöglich erschien. Der Widerspruch jener, die sich durch einschneidende Verwandlungen bedroht und benachteiligt glauben, wird nicht verhindern können, daß sich aus den Verbrechen der Politik und aus Umstürzlerischem allmählich gesunde Ideen und Taten entwickeln. Zweifelsucht, immer nur Zweifelsucht in Bereitschaft zu halten, verlangsamt wohl das Tempo der Entwickelung, wird aber nie all die aus der Welt entfernen, die immer wieder »da sind«, bereit zu neuen Kämpfen für den Aufstieg zu wahrer Menschlichkeit. Spott und Gelächter wurden oft die besten Bundesgenossen der Wenigen, die fort von vergrauten Straßen führen wollten. Je mehr man ihnen zu nehmen glaubte, je stärker machte man sie. –

Setze Vertrauen in die Menschheit, aber vergiß nicht, daß es – was ihren Aufstieg anbetrifft – immer nur mangelhaft erfüllt werden kann. Vergiß auch nicht, daß die ungeheuren Umwälzungen der Zeit Blick und Urteil gefährden. Erst spätere Geschlechter können in der richtigen Entfernung die heutigen Niederlagen und Erhebungen unterscheiden. –

Trotz meines Wunsches, dich gerade in schweren Tagen von der Bedeutung des Freude-Schaffens zu überzeugen, kannst du nicht glauben, ich wäre empfindungslos für die Erniedrigungen, die sich über uns dahinwälzen; du wirst nicht glauben, ich vernähme die Laute der Verzweiflung nicht, die sich in nächtlicher Stille auch aus den stärksten Herzen ringen; du wirst nicht glauben, ich fühlte den Lebensatem unseres Volkes nicht flackern, als drohe ihm in jedem Augenblick ein Verlöschen. Aber wie hart die Werdenot auch sein mag, welche den nächsten Generationen auferlegt ist, eines ist sicher: Menschenliebe kann sich an der Mannigfaltigkeit neuer Aufgaben entwickeln und steigern. Zwar haben Niederlagen und Revolution noch wenig sichtbar gute Früchte getragen. Erkenntnisse, die Höheres zum Reifen bringen mußten, werden immer wieder von altgewohnten Vorstellungen und vernichtenden Taten unschädlich gemacht. Zu vielen Augen ist nur die Traurigkeit unserer Umwelt erkennbar. Talent zum Unglücklichsein ist das weitverbreitetste Talent auf Erden. Wie aber wollen wir vorwärtskommen zwischen Menschen, die sehen, doch nicht schauen, – zwischen Menschen, die nichts von der lautlosen Musik der Seelen wissen, nein, schlimmer noch, die ständig an ihrer kleinlichen Seele kranken?

Du aber bist das Mädchen mit dem singenden Herzen; denn mit Augen der Liebe schaust du um dich. Auf jungen Menschen deiner Art – wieder und wieder muß ich es aussprechen – ruht unser Hoffen.

Die Macht des Wortes ist angesichts der Schrecknisse der Zeit, die soviel Niederes entfesselten, gering. Durfte ich wirklich hoffen, deine Kräfte zu steigern? Aber waren sie nicht bereits entflammt, als wir uns fanden? Und ich wollte dir ja auch nur einige der fälschenden Grundanschauungen bezeichnen, die zu Tode gehetzt werden müssen. –

Eigentlich habe ich von Selbstverständlichem gesprochen. Aber ist nicht vielleicht der Grund all unseres heutigen Elends der, daß das Selbstverständliche nie zum Selbstverständlichen wurde?

*

Trotz aller Verirrungen und Verstrickungen lechzen heute unendlich viel Menschen, wo immer sie leben, wes Standes sie sind, mehr denn je danach, Selbstverständlichem zu seinem Rechte zu verhelfen. Diese alle bilden eine Wesensgemeinschaft und ein Volk, diese, die da wissen, nur aus gemeinsamem, gütigem Geist kann neue Kraft zu höherem Leben quellen. Diese Allverbundenen schreckt es nicht, daß noch das Handeln so vieler jedem göttlichen Sinn des Lebens Hohn zu sprechen scheint; sie fühlen nur um so dringlicher die Verpflichtung, durch Verfeinerung des eigenen Gewissens den Ausgleich mitschaffen zu helfen. Sie vergessen nie, daß ein Lichtträger viele noch dunkle Pfade erhellen kann, daß ein hilfreicher Mensch für viele, die nicht hilfreich sind, entschädigen muß. Sie wollen das Verhältnis gegenseitiger Beraubung zwischen Menschen, wie Sitte und Gebrauch es züchteten, nicht länger dulden. Sie sind sich ihrer glücksschöpferischen Macht bewußt, die es ihnen ganz leicht und nur natürlich macht, für die Umformung in ein sinnvolleres, vornehmeres, leuchtenderes Dasein zu kämpfen. Ihre Gedanken lösen sich so wenig von diesem Ziel, wie das Licht vom Tage.

*

Monate sind vorübergegangen, in denen ich diese Blätter nicht berührte. Sie schienen mir viel zu matt inmitten der schweren Umwälzungsperiode, die wir erleben. Heute aber will ich sie dir senden, liebes Mädchen, an diesem Frühlingsmorgen, der, ein beredter Bundesgenosse, mein Werben um die Seele der Menschen leicht erscheinen läßt. Ein fast beklemmendes Glücksgefühl durchjubelt mein Herz. Jedes grüne Blatt und jede Blüte wurden mir heute früh zur Verheißung. Ich begegnete vielen jungen, schönen – in meinem Sinne schönen – Menschen. Aus ihren Augen leuchteten Mut und Ungeduld, freudig die große Arbeit zu beginnen für die Menschheit. Sie wissen, daß sie Unendliches fürs Leben verlören, wenn sie zurückblieben. Auch durch Wüstenwege wollen sie gehen für die Rechte schuldlos Entrechteter und nimmer ruhen, bis auch die heute noch Stumpfen und Blinden erwachen und mitgerissen werden in ihre Reihen,

sich selbst zur Erhöhung, –
den Niedergebrochenen zur Neubelebung –
um der Menschheit willen.

*

So empfange diese Blätter, die ein – auch in schwerster Zeit – hoffnungsvoller, tatbereiter Mensch für dich geschrieben hat. –

.


 << zurück