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Fünftes Kapitel

Die Bar war ein ernstes Geschäft. Pünktlich halb acht trafen die Mädchen ein. »Sehr angenehm. Lehning«, so stellte Marie sich allen vor. In ihren großen Abendkleidern räumten die sechs Damen zuerst einmal auf. Die vorderen Tische waren von ihnen selbst in Ordnung zu bringen; den Kellnern gehörten die Plätze um die Tanzfläche sowie die kleinen Abteilungen zwischen den Tapetenwänden. Es bestand gutes Einvernehmen; Gäste kamen noch fast zwei Stunden nicht.

Wenn die Barfrauen zu Abend gegessen hatten, legten sie einander die Karten. Hedi verhieß Stella: »Ein großer Freier kommt über den kleinen Weg!« Dann konnte Stella nicht wohl anders, als ihr dasselbe weiszusagen. Etwas unheimlich klang die Auskunft, die Marie am dritten Abend von Nina bekam:

»Marie, es liegt Verdruß zum Haus in der Morgenstunde.«

»In der Morgenstunde?«

»Du mußt dich hüten. Aber es ist noch weit weg.«

Dies klang unheimlich, weil grade Nina gegen Marie gewiß keine bösen Absichten gehegt hätte. Im Gegenteil stammten beide von der Waterkant. Die echte Hamburgerin war sogar Nina, sie wurde nur nicht dafür anerkannt, weil sie klein und dunkel war.

Sie hatte hinter sich ein Leben über See und auf der Reeperbahn. In Städten mit schwierigen Namen, die sie vermittels fremder Tonmischungen aussprach, hatte sie selbst Lokale besessen. Ihr waren Männer gestorben oder verlorengegangen, und schon fuhr ihr großer Junge zur See. Sie blieb in jeder Lage gleichmütig, sah übrigens jung aus und erzählte geschickt. Die Gäste wurden bei ihr auf den Hockern leicht heimisch und verzehrten nicht selten für mehr als zwanzig Mark. Bei den »großen Freiern«, die »über den kleinen Weg« gekommen waren, rechnete sie mit beträchtlich höheren Summen. Ihre Prozente aber sparte Nina für den Seemann. Er sollte die Navigationsschule besuchen, sollte Steuermann und Kapitän werden.

In dem Büfett, über das sie ihre entblößten und beglänzten Schultern neigte, lag zwischen Zigarettenschachteln und Wischtüchern ein kleiner Handatlas, darin verfolgte sie die Reisen ihres Sohnes. Sogar ohne Nachrichten von ihm konnte sie, nur durch ihre Kenntnis der Schiffahrt, bestimmen, wo er sein mußte. Am vierten oder fünften Tag ertappte sie Marie, die Neue, die ihr zusah. Seitdem wurden sie Vertraute, Nina erfuhr von einem Matrosen namens Mingo. Das war der Freund Maries. Übrigens kannte sie die Gesellschaft, für die er arbeitete, sie erinnerte sich auch an den Kapitän des kleinen Schoners. Als Marie ihr den Tag seiner Abfahrt genannt hatte, konnte Nina von Zeit zu Zeit einen Hafen mit der Stecknadel bezeichnen: dort war Mingo.

Sie beschrieb die Hafenstraße und das Lokal, in das Mingo sogleich nach der Landung unweigerlich einlief. In fremdem Tonfall, demselben, der die Gäste so beeindruckte, daß sie mehr ausgaben, sprach Nina die Namen von Männern und auch von Frauen, denen Mingo gewiß begegnete. Ein Gast war noch nicht hier, aber die Musik spielte schon, um anzulocken. Marie träumte; das Hämmern eines Tanzes erfüllte ihr den Kopf, und im Augenblick des Besinnens war ihr noch zweifelhaft, was sie gehört hatte, das ferne Geräusch einer Bar über See, die Mingo betrat, oder nur die Jazzband des »Harem«, Uhlandstraße, eine Minute vom Kurfürstendamm.

Dann öffnete der Portier auf der Straße den ersten, unentschlossenen Gästen. Die Kapelle wurde lauter, damit sie nicht umkehrten. Eins der Mädchen sang hell zwei Takte, und jede machte das Gesicht, das sie für das wirksamste hielt, Hedi ein abweisendes, während Stella aufleuchtete. Die ersten Gäste hatten zu viel Auswahl. Besonders Bürgermeister aus kleinen Orten gingen anfangs das ganze Büfett entlang, ohne sich zu setzen. Die Zurufe der Barfrauen und ihr beredtes Schweigen empfingen sie wie eine längst geschuldete Darbietung, während sie innerlich vielleicht für das mitgeführte Geld einer städtischen Kasse zitterten. Nachdem sie auch noch die bis jetzt einsamen Hintergründe des »Harem« besichtigt hatten, erschien für die Mädchen der Augenblick des Endkampfes um die Bürgermeister. Jede machte sich kräftig bemerkbar, und schwankte der Gast, dann mußte er in ihrer schonungslosen Miene lesen, daß ihm nebenan bei der Kollegin nichts als eine schwere Enttäuschung winkte und daß er der Dumme war.

Gegen elf war die Bar besetzt, die Tanzfläche füllte sich mit wirklich befreundeten Paaren, nachdem so lange nur Eintänzer und Verkehrsdamen sie belebt hatten, und durch die schwach beleuchteten Winkel zwischen den Pappwänden glitten die Kellner. Es war der Zeitpunkt, da die irdischen Mängel des Betriebes verschwanden, man sah nicht mehr den Staub auf den Gewinden aus papiernen Blumen. Die Bilder aus der Südsee, mit denen die Wände bekleckst waren, wurden zart, wurden himmlisch, und aus der weiten Spiegelfläche hinter dem Büfett strahlten Sonnen. Illusion, Alkohol und die Voreingenommenheit, als wäre das Glück erreichbar, verleiteten weniger gehaltene Naturen zum Krakeel; alsbald trat der riesige rote Portier dazwischen. Er drückte sich gütig, aber bestimmt aus. Wenn sonst nichts half, erinnerte er daran, daß auf der Straße gleich gegenüber das Polizeirevier war.

Infolgedessen konnte er wieder gehen, und auftraten einerseits das Hausballett, andererseits die Inhaberin Adele Fuchs persönlich. Die engagierten Tänzerinnen schwebten in den Augen aufnahmefähiger Gäste überirdisch eine Treppe herab. Tatsächlich war es der Direktion möglich gewesen, für diesen Zweck eine Treppe von ungefähr fünfzehn Stufen nutzbar zu machen. Diese führte zwar geradeswegs zu den Toiletten, aber daran grenzte ein ganz enger Raum, wo die Damen des Balletts sich umzogen. Aus armen Mädchen in offenbare Feen verwandelt, stelzten die Langbeinigen von Stufe zu Stufe, die Kleineren hüpften vor ihnen her, alle hielten sich große Federfächer hinter die ondulierten Köpfe, und ihre Glieder, die sie wie ausgemachte Kostbarkeiten herbeiführten, gleißten im Licht des Scheinwerfers, als käme ihre Haut vom Juwelier – oder wenigstens aus dem Leihhaus.

Sie wurden angekündigt von einer Dame, die gewöhnlich einen Trichter vor den Mund hielt und zur Musik die Schlager mitsang. Sie war schwarz angezogen und hatte eine wienerische Klangfarbe. In ihren Zwischenbemerkungen bediente sie den »Humorbetrieb«, wie auf der Straße eine Inschrift es auch versprach. Außerdem wurden die draußen Vorübergehenden durch stark übertriebene Plakatmalereien neugierig gemacht auf hundert preisgekrönte Schönheiten. In Wahrheit tanzten neun an der Zahl. Ob schön und preisgekrönt, sie arbeiteten gewissenhaft, denn es gab doch das Essen und zwei Mark. Einem Herrn zunächst der Tanzfläche, der die Längste, Fräulein Neumann, eine Zeitlang ins Auge gefaßt hatte, lächelte sie überraschend zu wie aus ihrer wirklichen Welt – nichts von Glitzern, nichts von Fee, nur einfach, ernsthaft, gut.

Erst hiernach zeigte Adele Fuchs sich öffentlich. Sie war der Höhepunkt des Programms, und nur auf unermüdliches Drängen einiger Stammgäste trat er ein. Inzwischen war es zwölf Uhr, Adele hatte manches getrunken und Sieghaftigkeit erlangt. Vom Beifall getragen, bestieg sie das Podium und setzte sich an den Flügel. Der Kapellmeister ließ gedämpft spielen, Adele begleitete sich und sang, in den hinteren Abteilungen war es grade noch zu hören. Aber es wirkte, sobald man sie sah. Eine schon gebrechliche Stimme, lange Jahre hatte sie sich überschrien in den Tingel-Tangeln von ehedem, – geblieben war ihr die Gebärde. Damit täuschte sie die gefeierte Diva vor, war die Beherrscherin dieser ganzen Ansicht vom Leben, wie Schlager sie bieten, und verführte auch die noch, halb und halb, die eigentlich eine alte Frau erblickten.

Die Gäste bestätigten ihr den Erfolg, weil sie ihn gut spielte, aber sie huldigten auch der Eigentümerin mehrerer gutgehender Betriebe. Adele Fuchs besaß noch einen im Lunapark und einen in der Provinz, alles selbst aufgebaut zusammen mit dem jetzt verstorbenen Otto Schwander, – der neben ihr andere Frauen geliebt hatte; aber Adele war unersetzlich gewesen in geschäftlicher Hinsicht und daher in jeder. Sie hatte sogar aufrichtig zu ihm gehalten, vielleicht wäre es ihr Wunsch gewesen, den ganzen Rest ihres Lebens treu zu sein, da sowohl die Interessen des Herzens wie die anderen doch schließlich vereinfacht werden müssen. Leider ließ Schwander sie nicht zur Ruhe kommen. Es war, als könnte er sich von seiner bewegten Jugend nicht endgültig trennen. Wegen seiner unerlaubten Vermittlungsgeschäfte mit Frauen sollte er einst sogar gesessen haben.

Er hatte Adele niemals geheiratet. Während sie daher mit den Jahren immer wachsamer werden mußte, nutzte der unzuverlässige Mann ihre Gefühle reichlich ab, zuletzt ermüdete selbst ihre Eifersucht. Nicht ohne Genugtuung bemerkte sie, daß Otto dem Alkohol weniger lange standhalten werde als sie. Indes er zwischen seinen Lokalen noch pendelte, war sie innerlich schon darauf vorbereitet, daß sie den Berliner Betrieb noch zehn Jahre nach seinem Tode führen werde. Die beiden anderen beschloß sie abzustoßen, denn allein konnte sie so viel nicht im Auge behalten, und der Nachfolger sollte geschäftlich überhaupt draußen bleiben. Nach kurzen Versuchen mit anderen jungen Leuten blieb sie bei Kurt.

Schwander machte sich daraus nichts. Er dachte, während er bei seinem Personal auf Stimmung hielt, persönlich mehr an den Tod als an das Nachtleben. Sein Blick war zuletzt tief, merkwürdig tief geworden in seinem Gastwirtsgesicht; aber es fiel nicht einmal seiner Gefährtin auf. Als er sich nach seiner letzten Reise hinlegen mußte, war ihm klar, warum sie ihn ermunterte, seinen Anfall leichtzunehmen. Sie wollte keinen Arzt im Hause und besonders nicht den Notar; sein Anteil am Geschäft fiel an die Überlebende. Er hätte dies übrigens niemals abgeändert, selbst dann nicht, als sie den jungen Kurt in ihr Zimmer nahm, und die Tür nach dem seinen war ausgehängt. Er wußte: sie rächte sich, da sie endlich die Siegerin blieb, für erlittene Demütigungen, – die er heute einsah, wenn auch nicht bereute. Außerdem hatte sie Angst und war dadurch sogar dem Sterbenden noch unterlegen.

Der scheidende Lokalbesitzer vertiefte sich unaufhaltsam in den Gedanken: ›Ich werde nicht mehr sein!‹ Ihm war es gleich, ob hinter ausgehängter Tür die Angst sich an den Leichtsinn klammerte. Wenn er Zeit gehabt hätte bei seiner starken Inanspruchnahme durch die Ewigkeit, oder wenn es sich gelohnt hätte, würde er die arme Adele gewarnt haben, und sogar dem armen Kurt hätte er abgeraten. Es war nichts Gutes zu erwarten für dies Paar. Adele wollte endlich herrschen, nachdem sie sich lange genug hatte beugen müssen. ›Sie konnte gar nicht anders, als ihren neuen Mann in finsterer Abhängigkeit zu erhalten – immer unter den trügerischen Sitten und Gebräuchen der Liebe‹, dachte Schwander, der glücklich über diese hinaus war. ›Was vermochte andererseits der Junge in ihr zu erblicken, außer dem künftigen Erbe. Sonst nichts auf die Dauer – und wahrscheinlich schon jetzt!‹ meinte der Weise, der nicht mehr aufstehen sollte.

Seit dem Einbruch, verbunden mit dem Verrat ihres Geliebten, wußte Schwander, wie sehr Adele bedroht war von der Unterwelt, der wirklichen – und mehr noch von ihrer eigenen im alternden Herzen. Als sie aber nach schweren inneren Kämpfen Kurt dennoch zurückgenommen hatte, wettete Schwander auf ihren Untergang. Sie tat ihm weiter nicht leid, wir alle müssen unsere Erfahrungen machen, und in der allein entscheidenden, die das Sterben ist, war er selbst mittendrin. Dennoch fand er etwas mehr Bedauern für Kurt, einen Jungen – wenn sonst nichts, doch wenigstens jung. Ihn sah Schwander von seiner eigenen Altersgenossin mit auf die abfallende Ebene gezogen. Dort mußte es immer schneller gehen mit Kurt, und enden konnte es sogar – wie denn? Dem Sterbenden war es bekannt, er vermochte mehr zu ahnen als je vorher. Während sie nebenan sich zueinander legten, hätte er ihnen beschreiben können, was sie einst in letzter Stunde für Bewegungen machen sollten – ganz andere, ganz andere!

Der Blick in die Zukunft wäre eine schöne Rache für den, der keine mehr hat; aber Schwander genoß sie nicht. ›Ich werde nicht mehr sein!‹ Dieser Gedanke überflutete ihn aufs neue ganz.

Eine kleine Freude widerfuhr ihm noch, da Kriminalkommissar Kirsch in die allen Besuchern verschlossene Wohnung drang. Offenbar fand er das heimliche Ableben des Mannes verdächtig und hatte gegen die Frau und den Liebhaber etwas vor. Der Kranke verstand auf schlaue Art seinen Argwohn zu bestärken. Im Grunde legte er keinen Wert darauf. Es war nur ein Scherz zum Abschied.

Als Schwander tot war, besaß Adele alles, was sie gewollt hatte, ja, außer dem Jungen hielt sie auch noch seine kleine Freundin unter ihrer persönlichen Aufsicht. Wenn Adele gesungen und ihren Erfolg entgegengenommen hatte, ging sie ab und wurde ihr eigener Gast, ein Verehrer durfte sie einladen. Sie wählte zwei Hocker vor dem Standplatz Maries, die sie bedienen, immerfort mittrinken und gleichzeitig Buch führen mußte. Den Cocktails folgte Sekt, und nach mehreren Flaschen erlaubte Adele dem bezechten Gast, ihr seine Telefonnummer zu geben. Sie machte halbe Versprechungen, die sie nicht ernst nahm – der Gast übrigens auch nicht. Adele wurde begehrt, solange man betrunken war, und das ergab auch schon die Erfüllung. Sie war die Tanzbar selbst und der Harem in Person. Ihre Figur hatte Fehler, die Hüften erweiterten sich neuerdings, ihr Bauch beängstigte sie sogar.

Aber sie trug rotes Haar und verschenkte verquollene und lüsterne Blicke, im bläulich weißen Fleisch blähte eine gedrückte Nase die Nüstern, der geschminkte Mund wurde röter durch das bleiche Doppelkinn, ja sogar die Falten auf der Stirn reizten, wenn sie sich bewegten. Adele war ein Geheimnis. Der Gast, der sein Geld für sie ausgegeben hatte, fragte sich später vergebens, warum. Endlich sah er im Geiste nur noch das Funkeln ihres Schmuckes und sagte sich, daß andere es gemacht hatten wie er.

Meistens triumphierte Adele über Marie, die frisch und jung daneben stand. Beide forderten übrigens um die Wette. »Kaufen Sie mir die Schokolade! Kaufen Sie mir den Affen!« Marie bekam eines Nachts einen Affen aus Stoff geschenkt, aber Adele entriß ihn ihr wieder. Es war schon Mai, sechs Wochen nach dem Eintritt Maries als Barfrau – eine Nacht, die voll Bedeutung mit dem Affen in die Morgenstunde überging.

Adele erklärte dem Herrn, als sie sich den Affen aneignete: »Ich habe keine Kinder, aber Marie hat eins!« So kam heraus, daß sie es wußte. In dieser spätesten Stunde hatten die anderen Barfrauen keinen Gast mehr und rechneten ab, längst waren Tänzerinnen, Kellner und Kapelle fort. Der letzte Herr vergaß plötzlich den Streit der Damen um den Affen, den er bezahlt hatte. Ihm war alles entfallen, was ihn umgab, er rutschte vom Hocker und verschwand.

Alfred, der Barmann, verschloß hinter ihm die Tür, er selbst verließ das Lokal über den Hof. Dort blieb das Gittertor nach der Straße meistens die ganze Nacht offenstehen, grade wegen der Bar.

Drinnen rechneten die Barfrauen mit der Chefin ab. Hedi und Stella wurden nicht beanstandet, nur Lotte hatte trotz ihren großen, feuchten Augen zu wenig umgesetzt, aber sie gab kurzweg Nina die Schuld. »Die beschmust die Kavaliere. Es ist nicht mehr zu machen, Frau Fuchs, ich kündige.«

Alle standen um Adele her, in großen Abendkleidern, frisch gepudert, und Müdigkeit war keiner anzusehen. Im Gegenteil, dem Zwang, die Gäste in Stimmung zu erhalten, folgte sofort die Erfrischung. Endlich konnte man mit dem Gesicht, das man hatte, von Geschäften sprechen. Nina rechtfertigte ihr Verfahren. »Ich bin nicht so jung und so hübsch wie Lotte. Wenn ich nicht Schmus mache, falle ich ab.«

»Da Sie es selbst wissen, Frau Nina, muß ich es Ihnen nicht erzählen.« Lotte stürzte ein Glas Soda ohne Whisky hinunter. »Sie haben einen großen Sohn. Meine Mama könnten Sie ebensogut sein. Na Schluß.« Sie warf ihren Pelzmantel über. Nina zog ihn ihr an.

»In der Nacht ist es kühl, und Sie sind zu zart, Lotte. Erwartet er Sie wenigstens?« Sie meinte einen jungen Verehrer, der sich während einer der vorigen Nächte in Lotte verliebt hatte. »Wie kann er!« erklärte das Mädchen. »Er wohnt eine Stunde weg von seinem Geschäft, um sieben muß er aufstehen, und jetzt ist es vier. Am Tag arbeitet er, und ich schlafe.«

»Das geht hier immer so«, bestätigte die erfahrene Nina. »Wenn ihr zusammenzieht, könnt ihr euch abends um sieben auf der Treppe begegnen, sonst habt ihr nichts davon.«

»Mir paßt das nicht. Ich kündige weniger Ihretwegen, Frau Nina, sondern weil ich kein Talent zur Nonne habe.« Sie wandte sich dem hinteren Ausgang zu, aber Adele rief sie zurück. »Dein Junge macht Schlager, Text und Musik. Ich will einen singen, sag ihm das! Er soll mal herkommen – kann hier zu Abend essen, sooft er will.«

»Dann nehme ich die Kündigung zurück, Frau Fuchs!« Lotte umarmte Nina aus inniger Freude. »Ich bleibe Nonne, und der Junge kriegt Abendbrot!«

Adele hatte sich kurz unterbrochen in einer Auseinandersetzung mit Marie. Der Gegenstand war zwar nur ein Mokka, den Adele zum Schein dem Gast geschenkt hatte, damit er um so mehr ausgab. Sie belehrte Marie. »Das wissen Sie doch, Fräulein, daß bei mir im Ernst keiner etwas umsonst hat! Sie wollen mich wohl schädigen.« Adele wurde scharf, aber auch Marie verlor die Geduld.

»Das glauben Sie selbst nicht. Ihr Mokka ist nicht so wichtig, aber Sie meinen mein Kind, das hab ich allerdings von Ihrem Freund. Den laß ich Ihnen! Er wollte Sie wohl ärgern, weil er es Ihnen geflüstert hat.«

Adele fuhr auf. »Sie reden höchstens wie eine Schneiderin! Weiter bringen Sie es auch nicht!« Sie wandte sich an die anderen. »Die trug wollene Strümpfe, als ich sie aus ihren Flickereien herausholte. Aber Dank soll man nie erwarten, besonders nicht von kalten Hamburgerinnen. Ich bin fröhliche Rheinländerin«, sagte sie besonders nüchtern. Die Getränke wirkten bei ihr nicht länger, als Gäste mittranken.

Stella bemerkte: »Ich bin Gott sei Dank aus München.« – »Ich Gott sei Dank aus Breslau«, setzte Hedi hinzu. Nina fragte Marie: »Sie sind hier wohl die einzige vom Lande?« Denn Nina wußte: in Wahrheit stammten alle aus Dörfern, sogar sie selbst. Den Gästen erzählte sie, daß sie auf dem Ozean geboren sei.

»Jedenfalls kommt ein zweites Kind nicht in Frage«, bestimmte Adele. »Dich und meinen Süßen, euch beide hab ich hier unter Aufsicht. Du kannst mir nicht kündigen, bei dir ist das anders als bei Lotte. Dich hab ich sicher!« Adele saß auf dem Hocker, sie stemmte die Handrücken auf beide plattgedrückten Schenkel. Die Zigarette verbrannte ihr gleich die Lippen, der Rauch zog ihr in die Augen. »Das weißt du auch, Marie!« Niemals verließ ihr verengter und grausamer Blick das Opfer, und ihre Stirnfalten schlängelten sich. Jetzt wäre sie der richtige Anblick für ihre Verehrer gewesen. Marie antwortete kein Wort, aber ihr Gesicht war nicht weniger hart.

Den Zuschauerinnen rieselte es angenehm über den Rücken; gleichwohl begriffen sie, daß es geraten sei, dem Vorfall nicht länger beizuwohnen. Nina als die Vernünftigste trieb die anderen vor sich her nach dem Ausgang. Für sich selbst bemerkte sie, daß man die beiden eigentlich nicht allein lassen dürfte. Als sie aber die Tür schließen wollte, stand dahinter Kurt.

»Dicke Luft?« fragte er.

»Geh lieber hinein und paß auf!« bat Nina. Er dachte nur daran, auszuweichen. »Ja, ja.« Sie ging, und er trat noch nicht ein.

Marie sagte:

»Was wollen Sie eigentlich von mir, Frau Fuchs? Wenn ich behaupte, daß Sie den blauen Stein gar nicht bei mir gefunden haben, können Sie es mir mit keinem Zeugen beweisen.«

»Doch. Mit Kurt. Der gehorcht mir.«

»Dem glaubt Herr Kirsch nicht. Nein, Frau Fuchs, ich bleibe hier, weil ich will. Mir gefällt es bei Ihnen, – und bilden Sie sich ruhig ein, daß ich unter Ihrer Aufsicht bin! Sie sind vielleicht noch mehr unter meiner!«

»Merken Sie sich mal eins, Fräulein! In der Leiche ist nichts gefunden worden. Ihr Freund Kirsch ist Neese, grüßen Sie ihn von mir! Ich bin aus der Sache heraus – aber nicht Sie, und auch Kurt nicht!«

»Dann können Sie sich gleichfalls etwas merken, Frau Fuchs. Sie sehen mir nicht so aus, als ob Sie noch sehr lange leben sollen.«

»Wollen Sie mich auch vergiften?«

Marie schüttelte den Kopf. Sie betrachtete den leicht geschwollenen Bauch der anderen. Sie hatte ihre ganze Zeit, in Warmsdorf, Lübeck und Berlin, mit wenigen Menschen gelebt, mit ihnen aber in einer solchen Abgeschlossenheit, daß sie darüber belehrt war, wie jeder sich hielt und wie er dahinging. Sie sah ihnen den Tod an, ohne daß sie es wollte. Sie glaubte durchaus nicht, daß man es verschweigen müsse – weder den anderen noch sich selbst. Sie war sogar erstaunt, weil Adele einsank und nach der Messingstange am Büfett griff. »Setzen Sie sich lieber auf das Sofa«, bat Marie und führte Adele zu dem nächsten Tisch. Das Versagen Adeles kam zu plötzlich, es wirkte verwirrend auf Marie.

»Na ja, mein Otto ist jetzt auch tot«, sprach Adele vor sich hin. »Wenn ich bedenke, wie wir anfingen! Er war damals Zuhälter, und nachts vor den Lokalen verkaufte er Hunde an die betrunkenen Weiber. So lernte ich ihn kennen und lieben. Das erste Lokal haben wir mit meinem Geld aufgemacht und haben immer zusammen weitergebaut. Der Mann wäre niemals ein anständiger Geschäftsmann geworden ohne mich, und wie oft hätte es trotzdem mit ihm schiefgehen können! Jetzt ist es gleich«, seufzte sie. »Recht besehen, worauf kommt es jetzt noch an? Kurt ist doch nicht Otto.«

Sie besann sich. »Lang mir den Kognak her, Marie! Um diese Zeit kommt man auf Dummheiten. Weißt du? Morgens zwischen vier und fünf mußt du auf dich aufpassen!« Marie dachte: ›Warum?‹ Sie verstand es nicht, nur erblickte sie in dem Brokatkleid Adeles auf einmal leere Falten, und das Gesicht schien ihr zusammengeschrumpft zwischen dem Haar und seiner grellen, künstlichen Farbe. Davon wurde es Marie nicht gut; auch sie griff nach der Flasche.

Hierauf entschuldigte Adele ihren Zustand. »Ich konnte doch unmöglich um ihn trauern, solange ich ihn umgebracht haben sollte. Erst seitdem ich aus jedem Verdacht bin, kommt mir alles wieder in den Sinn. Schluß, eine Geschäftsfrau darf keine Anwandlungen bekommen.«

»Außerdem haben Sie Kurt. Auf mich brauchen Sie wahrhaftig nicht eifersüchtig zu sein. Ich habe das Kind.«

»Ist das auch wahr? Sei mal aufrichtig, Marie! Was tust du, wenn ich feuerbestattet werde und Kurt mein Lokal erbt? Das rede ich aber nur. Erstens hat er es noch nicht schriftlich, und dann ist mir gar nicht nach Sterben.«

»Das ist ein Wort!« rief Kurt aus dem Hintergrunde. Er war bleich und abgespannt; zu allem, was er draußen hätte mit anhören können, hatte er nur gegähnt. Aber der Anblick der beiden Frauen belebte ihn. An Kurt rührten Worte nicht oft, er hielt sie für Luft. Dafür begriff er mit den Augen, besonders Frauen. Marie und Adele vereinigt erfüllten seine Vorstellung der Frau, ihre Pracht und ihren Niedergang. In dieser wie in jener Form fühlte er sich ihnen verwandt, wenn auch immer im Abstand. Mit ihm in derselben Luft atmete nur Vicki.

»Die Damen erlauben«, begann er, setzte sich zwischen sie und küßte beiden das Handgelenk. »Dies ist die gemütlichste Stunde des Tages. Jetzt kann nichts mehr passieren«, bemerkte er und trank einen Kognak, indes Marie und Adele einander ansahen. Beide erinnerten sich, daß von dieser Stunde vorhin ganz anders gesprochen worden war. Kurt zog aus der Hosentasche ein Päckchen Geldscheine. »Ich habe gewonnen. Adele, du kriegst zurück, was du mir geliehen hast. Ich weiß, du nimmst es nicht.«

Sie streckte die Hand aus, aber die Scheine waren schon wieder verschwunden. Darauf lachte sie und ließ sich von ihm küssen. »Das gefällt mir an ihm. Sie, Fräulein, können Leichtsinn bestimmt nicht leiden.«

»Kann sie auch nicht«, bestätigte Kurt. Wange an Wange gelehnt, sahen beide Marie an. Adele sagte:

»Sie haben übrigens noch nicht geantwortet auf meine Frage, Fräulein. Nun? Was tun Sie, wenn Kurt erbt!«

»Was tust du, Marie?« fragte Kurt. »Adele lebt neunzig Jahre. Du kannst dich ruhig äußern.«

»Dann mußt du Alimente für das Kind zahlen.«

»Sonst nichts?«

»Sonst will ich von dir bestimmt nichts«, sagte Marie.

Er fand sie schön und ihre Antwort gut, daher beschloß er, die Lage umzudrehen. Er ließ Adele los, rückte nahe zu Marie, und gleich darauf blickten beide Wange an Wange auf Adele, die erschrak.

»Tut das nicht!« bat Adele und streckte die Hand vor. »Ich glaube, daß ich ein Myom im Bauch habe!«

Nach diesem Geständnis erschrak sie noch mehr und suchte in den beiden Gesichtern; aber beide lächelten – entweder, weil sie gar nicht zuhörten, oder sonst blieb ihnen doch fremd, was es heißt, ein Myom zu fürchten! Das machte Adele überaus einsam und wehrlos. Sie senkte die Augen und ergab sich. In ihrem Kopf rauschte es – vom Alkohol, der Einsamkeit, dem Gedanken an den toten Lebensgefährten, der nur für sie noch zugegen war. Mit Grauen fühlte sie, daß er das Lokal so wenig wie die Wohnung je verlassen werde und ihr näher saß als die beiden Jugendlichen, die Wange an Wange zu ihr herüberlächelten. »Bestelle jeder sein Haus beizeiten!« äußerte sie; aber warum drückte sie sich so lehrhaft und altertümlich aus? Sie erschrak nochmals.

»Deinen ›Harem‹ willst du bestellen?« fragte Kurt überlegen. »Ich dachte, du kannst dein Glück noch gar nicht fassen, weil der Olle weg ist.«

»Merkst du nicht, daß sie trauert?« sagte Marie und sah es sich an, wie das ist.

»Solange ich unter Verdacht stand, war mir nicht so«, murmelte Adele. »Jetzt kommt es nach. Ich hätte ihn nicht fortgehn lassen sollen.«

»Dann, Adele, bin ich hier wohl überflüssig.« Kurt fand es angezeigt, beleidigt zu tun und vom Stuhl aufzustehen. Sie streckte die Hand aus.

»Nein, Kurt! Ich will doch mein Haus bestellen.« Es schien keinen anderen Ausdruck zu geben. »Wenn ich hops gehe –« Sie lachte, das war das Wort! »Dann kriegst du den ›Harem‹. Vier Wochen später schließt du natürlich den Laden, aber das ist deine Sache. Ich habe sonst niemand. Wir wollen es gleich richtig machen.«

Sie sah sich nach etwas zum Schreiben um, aber schon holte Kurt alles herbei. Papier, eine Flasche mit unverdünnter Tinte und eine Feder, die noch schrieb, alles hatte bereitgelegen. Adele mußte begreifen, daß auf den Zeitpunkt, da sie nachgeben und ihr Testament machen sollte, jemand wartete, und wahrscheinlich waren es zwei. Grade ihr Scharfblick rettete Adele; wenigstens ein Teil ihrer gewohnten Sicherheit kehrte zurück. Sie sprach:

»Ich bestimme, daß Kurt Meier, Büroangestellter, wohnhaft Lietzenburgerstraße 21, mein Lokal ›Der Harem‹ und meinen übrigen Besitz erbt.«

»Danke schön«, sagte Kurt. »Aber erst in fünfundvierzig Jahren.«

»Nein. Viel früher«, stellte Marie ruhig fest.

Adele sah sie an – bei allem weiteren nur Marie, und jetzt war sie auf der Höhe, sie hatte das ganze Gesicht der Chefin.

»Die Bedingung ist nur, daß ihr nicht heiratet.«

»Kleinigkeit!« warf er leichthin. Adele beachtete ihn nicht, sie herrschte nur Marie an. »Daß er Sie nicht heiratet, mit Ihnen nicht lebt und Sie am Geschäft nicht beteiligt. Mehr will ich nicht. Sonst könnt ihr machen, was ihr wollt. So. Jetzt setze ich es hinein.«

Sie schrieb. Kurt stieß Marie an und versuchte ihrem Blick zu begegnen, es mißlang. Dagegen traf Adele, sooft sie von dem Papier aufsah, immer pünktlich in die Augen Maries, – die ihr verstockt und drohend erschienen, weil sie von noch ungetrübtem Graublau waren. Daher wurden die eigenen Augen Adeles jedesmal trüber. Sie sah uralt aus, aber nicht mehr durch Verfall und Müdigkeit, sondern weil sie Rache über den Tod hinaus nahm.

»Er darf mit Marie Lehning aus –?«

»Warmsdorf«, ergänzte Marie.

»Nicht in Kameradschaftsehe leben.« Adele schrieb weiter.

Jemand hatte in diesem Augenblick die klare Gewißheit, daß sie ihr Todesurteil hinschrieb. ›Das bin ich‹, dachte Marie. ›Ich weiß das; aber warum? Wegen des Myoms, natürlich, deshalb!‹ Gleichzeitig hörte sie in der Erinnerung sagen: »Es liegt Verdruß zum Haus in der Morgenstunde.« Was ist das? Ach so, Nina hat es in den Karten gelesen, aber es betraf doch nur mich selbst – wie? Es betrifft nicht Adele, außerdem, daß nur die Karten es gesagt haben. Doch! Adele wußte es ebenso, – und sie hat geradezu Angst gehabt! Richtig, so sprach Adele: »Um diese Zeit kommt man auf Dummheiten. Weißt du, Marie? Morgens zwischen vier und fünf mußt du auf dich aufpassen.« So hieß das, was Adele sprach, und ich mußte einen Kognak nehmen, als ich es hörte!

Kurt ging ungeduldig hin und her. Sooft er anhielt, kreischte die Feder Adeles. Nur die Tischlampe gab Licht, die ganze übrige Beleuchtung war abgestellt. In der mehr oder weniger dichten Dunkelheit hockte stellenweise eine Puppe, und ein Stück Kupfer glühte auf. Plötzlich ein raschelndes Geräusch, – das Gewinde von Papierblumen grade über diesem Tisch machte sich los an der einen Seite, es bestrich den Tisch und hätte das Blatt fortgefegt. Marie hielt das Testament noch fest; Adele hatte ihren Stuhl fortgestoßen und wollte flüchten. Nachher lachte durchaus niemand.

»Warum mach ich das eigentlich?« fragte Adele, während sie zu ihrem Testament zurückkehrte. Sie hob es auf, nahm es in beide Hände –. »Laß das mal!« rief Kurt, denn er sah, sie wollte es zerreißen. Die Tischlampe, unter die er den Kopf vorschnellte, zeigte sein Gesicht bleich und unbeherrscht, mit dem verkrümmten Mund.

»Mein Süßer!« flötete Adele und setzte ihren Namen unter das Schriftstück. »Nicht zu vergessen: Berlin, Freitag, 15. Mai 1931. Geht in Ordnung, du kannst es bei deinem Schwager in den Safe legen. Paß aber auf, daß nach meinem Tode kein späteres Testament da ist!«

Sie behielt beide im Auge, ihn und Marie.

»Ich habe immer noch Macht und Gewalt«, behauptete sie, und Kurt bestätigte es ihr.

»Natürlich. Du behältst deine Verfügungsfreiheit.« Das Testament ließ er in seiner Tasche verschwinden.

»Mit mir kannst du jetzt erst recht anfangen, was du willst, Adele!« Er umarmte sie flüchtig und wollte sich Marie anschließen, denn Marie hatte ihren Mantel angezogen. Adele sagte:

»Hiergeblieben, Süßer! Sonst schreibe ich auf der Stelle ein anderes.«

»Wieso? Ich will doch nur zu Bäuerleins – mal wieder ausschlafen. Ist das verboten?«

»Du kommst mit mir nach Hause! Ich will nicht allein in die Wohnung – in das Zimmer neben seinem. Die Tür ist ausgehängt.«

»Laß sie endlich einhängen!«

Sie dachte, daß dies nicht so leicht wäre, weil »er« es nicht erlaubte. Inzwischen blieb sie sitzen, wo sie saß. Auch Kurt kehrte auf seinen Platz zurück; die Wohnung Adeles und des verstorbenen Otto zog ihn nicht an. Marie wünschte ihnen vom hinteren Ausgang her gute Nacht.

Sie ging zu Fuß durch völlig leere Straßen. Es war die graue Stunde des unruhigen Schlafes. Alle, die sie kannte, lagen in ihren Betten, und wahrscheinlich seufzten sie aus schlechten Träumen – nur zwei nicht, ihr Kind und Mingo. Ihr Kind erwartete sie schlafend unter guten warmen Decken, die ihre Arbeit bezahlt hatte, und in dem besten Zimmer des Hauses. Wenn seine Mutter eintrat und noch im Dunkeln sich über sein Köpfchen neigte, streckte es seine kleinen Arme aus und wollte aufgehoben werden. Es hatte nur sie, sie nur dies Kind, und beide verließen einander auch im Traum nicht.

Ein feuchter, frostiger Wind kam ihr entgegen, er schien sich verirrt zu haben; nach Tagesanbruch, wenn diese Straßen ihren dichten Verkehr trieben, erinnerte niemand sich mehr, wer ihn geschickt hatte: die See. Dort draußen erhoben sich unter seinen Schlägen die leeren Gewässer, er pfiff, und sie donnerten um einen kleinen Schoner. Die Meere waren groß und die Jahre lang für solch ein Schiff und zehn oder elf Mann. Der elfte konnte die Wache haben im Morgengrauen, oder sank dort drüben zur selben Stunde ein dunkelblauer Abend? Seine Augen suchen die See ab, aber seine Gedanken ziehen über sie fort bis zu Marie. Er erreicht sie nicht. Fühlt er auch nur, daß sie wacht, wie er, und daß ihr Geist den trennenden Raum aufheben will, wie seiner? Nein, er kann nicht mehr zu ihr herüberfinden, er kennt nicht den Weg, den sie geht, und was alles mit ihr geht. So vieles, das er von ihr nicht weiß, macht zwischen ihnen die Entfernung größer, als die tausend Seemeilen.

Sie besteht eine Fahrt – er wird auf keiner Karte den Punkt, wo sie gegen die See kämpft, mit einer Stecknadel bezeichnen, und sie selbst vermöchte es nicht. Welcher wird der letzte Hafen sein, und was ist über sie beschlossen? Von ihrem Schiff, einem kleinen schlechten Schoner, sieht sie andere Schiffe in Seenot. Sie begegnen ihr – und haben schon das Steuer verloren, während sie selbst noch die See hält.

Mitten auf einer leeren Straße wartete ein Schupomann. Da seine Augen sonst kein Ziel hatten, hielten sie die einzelne Herankommende fest. Er war schwer und breit, es hätte Kirsch sein können! Marie war versucht, in die Seitenstraße abzubiegen. Kriminalkommissar Kirsch, der sich Uniform angezogen hatte, – aber immer noch war er reglos wie ein Steinklotz, und sie mußte auf ihn zu, wie damals am Strande, als Kind mit schlechtem Gewissen. In diesem Augenblick wurde ihr klar, was sie heute getan hatte. Sie hatte Adele gezwungen, das Testament zu schreiben.

Sie konnte nicht erkennen, wie und warum. Das hatte sie auch nicht gewußt, als sie es tat. Aber Adele war nicht Kurt unterlegen, sondern ihr. Adele hatte Furcht bekommen, nachher wollte sie nicht nach Hause gehen. Sie sind auch nicht gegangen! Marie sah beide noch immer am Tisch sitzen, aber endlich entschlossen sie sich, die Treppe zu ersteigen – fünfzehn Stufen, am Abend war das Ballett im Licht des Scheinwerfers sie herabgeschwebt. Diese führten zu den Toiletten, und daneben, in dem kleinen Garderobenzimmer der Tänzerinnen legten Adele und Kurt sich schlafen. Wahrscheinlich seufzten sie aus schlechten Träumen.

Es war die graue Stunde des unruhigen Schlafes. Vicki Meier-Bäuerlein ruhte in ihrem schön gemaserten und gebogenen, ungeheuer breiten Bett unter einem angedeuteten Himmel und wollte, bewußtlos wie sie war, vieles besitzen, was ihr nicht gehörte. Den blauen Stein, sie stöhnte auf dem Kissen, den hatte sie hergeben müssen! Kurt, ihr Eigentum, stand im Dienst Adeles, Vicki warf sich herum unter dem angedeuteten Himmel. Das Kind – das Kind ihres Bruders und ihr eigenes, geliebtes Blut, Vicki schluchzte, es hatte eine fremde Mutter!

Der schön geschnittene, tiefbraune Kopf bewegte sich in dem gelbseidenen Kissen und Vicki sprach aus dem Schlaf mit Marie. »Marie, nicht fortgehen! Marie, du bleibst hier, du setzt dich in das Nähzimmer, ich will dich im Hause haben und wissen, was du tust, Marie!« Denn diese Leidenschaft hatte Vicki. Wenn Marie nicht am Tage bei ihr geschneidert hätte, Vicki wäre nachts in der Bar erschienen, sie war dazu imstande – mit Polizei, um die Schließung zu verlangen, weil Minderjährige verführt wurden. Einer war ihr Brüderchen! Damit hatte sie Marie gedroht wie eine Verrückte, in ihren Träumen lallte sie natürlich dasselbe.

Das Merkwürdige war, daß sogar Bäuerlein die besten Aussichten hatte, Marie in seinen Träumen zu erblicken. Er entdeckte immer mehr Wichtigkeit bei ihr, seitdem er veranlaßt hatte, daß der blaue Stein in ihrem Nähkorb gefunden wurde. Das machte sie ihm entschieden beachtenswerter. Seither sah er sie sich genauer an. Vicki, die ihm das Kind verschwieg, sagte ihm natürlich auch kein Wort von der Bar. Aber sicher bemerkte er an Marie schon manches, das nicht mehr war wie früher. Wenn Alfred, der Barmann, recht hatte, war er vor kurzem sogar gesichtet worden in einer der hinteren Abteilungen des »Harem« – möglichst unauffällig, aber er schielte nach Marie!

Sie selbst konnte es kaum glauben, – das mit dem dicken Rechtsanwalt und alles andere, Vicki, Kurt, Adele, es war doch gar nicht wahr? Ihr kam der frostige Wind von der Küste entgegen, den Schupomann hatte sie längst hinter sich. Sie war ein Mädchen aus Warmsdorf »an die Oostsee« – sprach Marie. Ich war ein armes Kind, von den Untersten, uns wurde der Katen weggeschwemmt. Die See nahm meinen Vater mit. Früher hatte sie meine kleine Schwester geholt. Auf dem Steindamm standen noch die beiden Pantinen nebeneinander, als sie schon fort war. ›Lütt Matten gev Pot, de Voß bet em dot‹, – sang in ihr eine Kinderstimme.

›Ich wurde eine Schneiderin, eine Landarbeiterin, und mein Freund war Mingo, immer und einzig Mingo. Es ist nicht wegen der anderen Leute, aber was soll es, die brauch ich doch gar nicht! Ich gehe zu meinem Kind, das gehört mir!‹ Damit schritt sie schneller aus. ›Von denen will ich doch nichts, nur mein Brot verdienen, die warmen Decken für mein Kind, seine Milch, seine weichen Schuhchen verdienen mit meiner harten Arbeit!‹

Marie wußte, daß sie für Adele nicht anders arbeitete als früher für den Bauern. Die Kunden verlangten, was hier und was dort verkauft wurde, – alles eins. Marie, auf dem Heimwege zwischen vier und fünf Uhr morgens, ging mit so festen Beinen, wie einst, als sie um dieselbe Stunde grade aufstand. Ihr Gang hatte schon immer beides gezeigt, Nachlässigkeit und Kraft. Mingo pflegte einst zu sagen: »Bei jedem Schritt fällst du!« Gegen seine Hüfte glitt sie, in seinen Arm sank sie – immer wieder; das war ihr Gang.

In der Morgenkühle des fünfzehnten Mai, während ihr minutenlang niemand begegnete, spürte sie auf einmal die Kraft, die durch sie arbeitete, wenn sie nur fiel und sich nur auffing. Fühlbar wurde ihr aber auch zum erstenmal, was sie anrichtete unter Menschen – nicht, weil sie es wollte, wahrhaftig nicht, weil sie darauf ausging. Sondern sie holten sie: warum? Sie versündigten sich an ihr und hängten sich dann erst recht an sie: wie kam es? Sie sah, daß Vicki eine andere wurde und daß Kurt den Boden verlor. Inzwischen schritten ihre eigenen festen Beine schneller aus. Sie spürte die Kraft, die durch sie arbeitete.

Schon beim Öffnen der Wohnungstür hörte sie das Kind schreien. Marie wurde wütend; sie bezahlte Frau Zahn dafür, daß sie des Nachts nach dem Jungen sah! Das Geschrei kam nicht aus ihrem eigenen Zimmer, sie lief stürmisch durch die Küche, erst in der engen Schlafstube dahinter machte sie Licht. Auf dem Bett lag das Kind, sein Hemd war hinaufgerutscht, die Decke hinuntergefallen. Am Boden hingewälzt, noch halb in den Kleidern, schlief Frau Zahn. Marie war so wütend, daß sie die Frau schüttelte, noch bevor sie das Kind aufnahm.

Der Körper der Wirtin ließ sich herumdrehen ohne Widerstand, sie war todbleich, und vom Atem merkte man nichts, nur einen Geruch, den kannte Marie allerdings. Vorübergehend dachte sie, die Frau sei tot, – ohne daß darum ihre Wut aussetzte. Das Kind in dieses ungelüftete Loch zu verschleppen! Sie schüttelte die Bewußtlose und schrie sie an, indessen das Kind weinte. In der Tür standen schon längst die beiden Holländerinnen in schmutzigen Schlafröcken, mit grau gedunsenen Gesichtern und grauen Rattenzöpfchen. Als Marie endlich aufsah, war sie still, grade in dem Augenblick, als auch das Kind schwieg. Dafür wurde sie gleich nachher um so heftiger. »Sie haben wohl keine Ohren, Sie beiden alten Öster? Hier schreit mein Kind die ganze Nacht, in dem Loch, und Sie sehen absichtlich nicht nach! Öster!« wiederholte sie für die Mehrzahl von Aas.

»Fräulein, was wollen Sie von uns, wir kriegen doch von Ihnen nichts«, wiederholten die beiden abwechselnd, ohne daß sie durchdrangen; Marie war lauter. Als ob nichts sie beirren könnte, redeten sie weiter.

»Sie haben es uns verboten, Fräulein, daß wir Ihr Kind nicht sollen besorgen. Sie haben gesagt, Sie schlagen uns, weil wir es eines Nachts treuherzig und edel, haben wir es hinübergestellt mit Bett und allem in unsere Werkstatt, wo wir haben entstaubt, mit Wasser gesprengt und herrscht Fichtennadelduft.«

»Ihr Öster verkommt ja vor Dreck!« rief Marie, aber gegen dieses ruhige, gleichförmige Gerede half Heftigkeit zuletzt nichts mehr. »Was habt ihr mit Frau Zahn gemacht!« rief sie noch. »Ihr seid zu allem imstande, weil ihr die Wohnung haben wollt, wenn sie versteigert wird. Ihr denkt, daß ich nicht weiß, woher ihr das Geld habt!«

Das Geld bekamen sie von Vicki! Das Merkwürdige war nur, daß sie es nicht leugneten.

»Gewiß ist Frau Direktor hilfreich. Unser Konsulat sorgt, Frau Direktor gibt, aber auch wir sind verläßliche Frauen. Bei uns ist Geld gut angelegt. Wir trinken nicht.« Sie wiesen gleichzeitig mit zwei mißfarbenen Zeigefingern auf den daliegenden Körper. Das schnitt Marie das Wort ab. Den Geruch des Alkohols hatte sie schon vorher erkannt, sie wollte nur nicht daran glauben. Fortan floß das Gerede der beiden trüb und ungestört dahin.

»Diese fromme Frau trinkt«, sagten sie gelassen, immer eine nach der anderen, inzwischen begriff Marie entsetzt: Natürlich! Das war los mit Frau Zahn, wenn ich meinte, sie verlöre stundenlang die Sprache, weil sie innerlich mit Gott redete! Ich, die den Leuten ansehen kann, wann sie sterben müssen, – die Besoffene hat mir was vorgemacht. Einmal kaufte ich ihr selbst noch Rum, weil ihr etwas »vor dem Magen stand«!

»Auch wir loben Gott«, erklärten die Holländerinnen abwechselnd. »Für seinen gnädigen Beistand durch unser Konsulat und durch Frau Direktor. Aber wir trinken nicht. Wir glauben, daß es besser ist, nicht zu trinken«, wiederholten sie – albern, hartnäckig und mit einer Bescheidenheit, die Marie erbitterte; aber was konnte sie erwidern? Sie fragte endlich:

»Für das Geld von Frau Direktor sollen Sie doch wohl auf mein Kind aufpassen. Warum lassen Sie es dann schreien?«

»Nein, wir sollen nicht aufpassen. Wir würden es aus Herzensgüte dennoch tun. Ja, aus Herzensgüte«, bestätigte die zweite. »Auch, weil das Geschrei des Kindes uns nicht schlafen läßt. Aber –« Die erste wußte sogleich, welches Aber gemeint war. »Sie haben gesagt, Fräulein, daß Sie uns schlagen würden, und Sie sind ein kräftiges Mädchen, wir möchten nicht geschlagen werden. Sie üben gewiß einen schweren Beruf aus. Wenn es Morgen wird, hören wir Sie die Wohnung betreten, Sie geben sich keine Mühe, leise zu sein. Aber wir werfen es Ihnen nicht vor.«

Ständig gaben sie einander recht. »Nein, wir werfen es Ihnen nicht vor. Wir sind überzeugt, daß Ihr harter Beruf Sie nötigt, viele Getränke zu sich zu nehmen. Aber Sie sind jung, und es wirft Sie nicht zu Boden wie diese fromme Frau, sondern Sie werden davon noch stärker und gefährlicher … Ja, noch stärker und gefährlicher.«

»Machen Sie endlich, daß Sie hinauskommen!« sagte Marie erschöpft. Sofort verneigten die beiden dicklichen Gestalten sich vor ihr, und mit einer ihrer einmütigen Bewegungen wendeten sie dem Zimmer die Rücken zu. »Halt!« rief Marie. Sie stürzte vor, riß die beiden Frauen an den Schultern herum und schrie ihnen, wieder mit voller Wut, in die verschlossenen Gesichter: »Gesteht, wofür Vicki euch das Geld gibt! Gesteht, ihr Öster!«

»Wir bitten um Entschuldigung«, antworteten sie geduldig. »Frau Direktor hat der frommen Frau weniger vertraut als Sie, Fräulein. Sie hätten auf uns nicht gehört, aber Frau Direktor lieh das Ohr. Es war nur Vorsicht, daß sie uns Geld gab – nichts als Bedachtsamkeit. Wenn infolge Trunksucht der frommen Frau Ihrem Kind etwas zustieß, dann allerdings sollten wir da sein.«

Marie sah sie noch eine Weile an, sie behielten dieselben dümmlichen Gesichter, und zu erwidern gab es nichts. Sie ließ die beiden gehen, aber sie glaubte ihnen kein Wort. Vicki zahlte für etwas anderes, – sie wußte, wofür! Sie nahm das Kind auf und trug es hinüber in ihr Zimmer. Es war eingeschlafen während des Lärmens. Als seine Mutter es zudeckte und küßte, schlug es die Augen auf, lächelte groß und schlang die Arme um sie.

Marie lächelte zurück, die Augen überschwemmt von Tränen, die einen tiefen, nicht leicht zu unterscheidenden Ursprung hatten. Was ihr bewußt wurde, war einzig: Jetzt fort! Mein Kind nehmen und fort zur Bahn, – wie wir hergekommen sind! Ich wickle es wieder in meinen alten Mantel! Aber sie tat es nicht. Fort! Noch ist Zeit! Aber es war keine.

Sie begriff: Ich muß bleiben, denn sie halten mich. Ich muß weiter mitmachen – muß sie alle kaputt machen, begriff sie einen Augenblick. Ich hab Kraft und Gewalt über sie – aber sie auch über mich!

Das war nur ein Augenblick. Gleich darauf begegnete Marie im Spiegel einer großen Frau im Abendkleid, glitzernd, blondiert, dunkelrote Lippen um die Zähne: Zähne und alles wie von einem Reklameplakat am Eingang des »Harem«. Ein beruhigender Anblick, sie sah: Das ist nicht mehr die Marie, die zum Bauern hinausfährt mit ihrem Kind im Mantel! Die wirft sich auch vor den Zug nicht mehr, weil sie gestohlen hat. Das müßte zackig kommen! – Minuten später schlief sie schon.

Gegen Mittag saß sie wieder in ihrem Nähzimmer hei Bäuerleins, und das Mädchen Lissie erteilte ihr freiwillig Auskunft über die Zustände dieser Ehe. Lissie hatte dem Rechtsanwalt alles zu melden, was seine Frau anging, und bekam Geld dafür; aber sie tat nicht nur ihre Pflicht, es war ihr ein wirkliches Vergnügen, hier mitzuspielen, wie sie sagte. Allerdings begriff sie nicht ganz, was gespielt wurde.

»Wie nennen Sie das, Fräulein, der Mann ist eifersüchtig, aber wenn nichts vorkommt, paßt es ihm auch nicht. Ich sage: nicht normal. Januar, Februar erzählte ich ihm immer frischweg, was Muttchen Nuttchen Puttchen mit dem Chauffeur macht. In Wirklichkeit nicht soviel!« Sie zog mit dem Finger das untere Augenlid weg. »Ich hätte dabei mitzureden; Edgar ist mein Süßer.« Dies begleitete sie mit einem forschen Ausstoßen des Ellenbogens.

Lissie war froh, daß sie sich Luft machen konnte.

»Verlogen sind die Leute!«

»Sie meinen wohl, wenn sie mal zusammen essen, das Getue.« Marie hatte keinen Grund, mitzuteilen, was sie sonst noch wußte, obwohl Lissie darauf ausging.

»Fräulein, was hat die Gnädige bei Ihnen zu suchen?« fragte sie endlich gradezu. »Edgar fährt sie immerlos hin. Er hat sich auch persönlich umgesehen in der Wohnung, aber was kann da schon sein. Immerhin, ich werde mir erlauben, mal selbst vorbeizukommen.«

»Sie würden auch nichts sehen«, sagte Marie. ›Aber das Kind schreien hören!‹ dachte sie, und sie zog vor, daß Bäuerlein nicht unterrichtet werde. Die Verhältnisse des Hauses waren schon unterwühlt genug. Lissie wurde grade abberufen, Marie blieb allein und fühlte sich auf einmal viel unbehaglicher. Da stellte sie erst richtig fest, daß der zweite, nächtliche Teil ihres Lebens der natürlichere war.

Die gute Tanzbar, der anständige »Harem«, wenn sie an Familie Bäuerlein dachte! ›Dort waren alle Mädchen vom Lande, von Dörpen‹, dachte Marie. Sie versahen ihr Geschäft, und keine wünschte der anderen etwas Böses, obwohl sie ihr aus voller Kraft die Kunden fortnahm. Nach ihren Dienststunden schliefen sie und gingen an die Luft, das war alles. Vor ihrem Büfett konnte auf dem Hocker ein »großer Mann« sitzen, oder es war sogar ein ausgebrochener Einbrecherkönig, den sie erkannten, aber durch sie erfuhr die Polizei nichts. Die Mädchen waren romantisch, neben ihrer Tüchtigkeit.

Die Schliche Vickis ließen sich nicht mit Gemüt erklären, so wenig wie das Verhalten ihres Mannes. Marie begriff im Grunde nicht mehr als Lissie, obwohl doch sie selbst eine handelnde Person war. Sie sagte wohl: Es sind schlechte Menschen! Aber welchen Nutzen hatten diese Leute zuletzt von ihrer Unzuverlässigkeit? Gar keinen anderen, als daß sie immer tiefer in Verlegenheiten kamen! Sie trauen einander nicht und machen einander durch absichtlichen Schwindel noch mißtrauischer. Mich aber brauchen sie, damit er etwas gegen sie und sie etwas gegen ihn hat; deshalb muß ich hier sitzen! Damit zuletzt alles auffliegt!

Was sie erwartete, traf auch heute ein, Bäuerlein, der Hausherr, zeigte sich um die Zeit des Mittagessens. Früher war es nicht üblich gewesen.

»Was ist denn das? Schon wieder niemand außer Ihnen?«

Als ob er darauf nicht gefaßt gewesen wäre!

»Fräulein, wir werden uns noch allein zu Tisch setzen müssen.«

»Warum nicht. Ich weiß doch, daß Sie ein für alle Male Ihrer Frau treu sind. Aber gehen Sie lieber ins Restaurant, hier gibt es nur Scholle.«

»Sie haben es sich ausgebeten!«

»Ja.«

»Wer ist eigentlich Ihr Freund?«

»Ein Seemann.«

»Haben Sie ihn betrogen, während er schwimmt? Ich habe Sie mit Kurt im Verdacht.«

»Sagen wir also Kurt! Mein Freund hat mich auch betrogen«, äußerte sie plötzlich und sah ihn an. Der Dicke schien unberührt. »Herzliches Beileid!« murmelte er. »Mit wem denn?«

›Wenn ich es ihm erzähle!‹ dachte sie. ›Aber er würde nicht mal seine großen Backen verziehen, und niemals brächte ich heraus, ob er es nicht glaubt oder es schon längst gewußt hat.‹

Er blieb indes bei der Sache, um die es ihm ging.

»Jetzt soll Kurt mit einer älteren Frau sein. Sie kennen sie nicht. Er macht das wegen ihres Ladens, soweit ich informiert bin. Eine eigenartige Methode, wie würden Sie sich geschäftlich dazu stellen? Ich muß gestehen –« Er ließ dies offen.

»Sagen Sie mal«, begann er statt dessen, »warum behalten Sie jetzt immer Ihre Kappe auf? Sie haben so schönes aschblondes Haar, wenn ich das erwähnen darf, aber Sie zeigen davon rein gar nichts mehr!«

»Es ist wegen der ausrasierten Brauen. Die Stirnlinie paßt besser mit der Kappe.« Sie bückte sich über ihre Arbeit. Sie ärgerte sich, weil ihr Herz klopfte. Der Mann wußte um ihr Doppelleben! Es einfach auszusprechen, lag nicht in seiner Art. Er wollte sie nur veranlassen, ihre blondierten Haare aufzudecken, und augenblicklich hob er irgend etwas vom Boden auf, um nachzusehen, ob sie noch ihre wollenen Strümpfe trug. Nun, sie hatte sich darauf eingerichtet, aus Seide jedenfalls waren sie nicht! Das kam erst am Abend.

Indessen stieg in sein Gesicht eine helle Röte. »Haben Sie heute abend etwas vor?« fragte er. »Ich biete Ihnen ein regelrechtes Verhältnis an, warum nicht.«

»Weil Sie sich entschlossen haben, treu zu sein.«

»Ich kann mich anders entschließen.«

»Ich glaube nicht.« Sie wollte nur trocken sprechen. »Ich kenne Vicki«, setzte sie nach einem Atemzug hinzu, – aber welchen Ton hatte sie unwissentlich gefunden für diese gewöhnlichen drei Worte, daß er zuerst auffuhr und dann vor ihren Augen zu Stein wurde.

»Sie hassen Vicki«, sagte er, ohne die Stimme zu erheben. »Ich hatte schon öfter den Eindruck. Jetzt weiß ich es. Darum sitzen Sie hier. Wieviel brauchen Sie noch, bis Sie imstande sind, Vicki umzubringen?«

»Dumme Frage!« Ihre Stimme senkte sich von selbst. Er bestätigte es ihr sofort. »Gewiß. Dumme Frage. Aber überlegen Sie sich doch mal meinen Vorschlag, unser Verhältnis betreffend! Sie würden mich zu auffallend anständigen Gegenleistungen geneigt finden. Ich deutete Ihnen wohl schon mal an, daß der Bruttowert eines Menschen für mich dadurch bestimmt wird, wie weit seine kriminelle Veranlagung geht.«

Einen Augenblick aussetzen, – plötzlich wurde er wieder der federnde Geschäftsmann, griff nach seiner Aktentasche und war draußen.

›Kavaliere neppen ist sonnig gegen so etwas‹, dachte Marie und ließ ihren Schrecken abklingen.

Eine Reihe von Tagen verging, und es war sehr warmes Wetter geworden, als Marie wieder einmal mit Vicki ins Gespräch kam.

»Ich sehe schlecht aus«, stellte Vicki fest. »Es ist die Hitze. Endlich rauskommen! Den ganzen Winter war ich nicht fort, höchstens mit dir in Lübeck; das können wir beide nicht als Erholung rechnen. Na es dauert nicht mehr lange, dann gehe ich nach Sankt Moritz.«

»Allein?«

»Keinesfalls mit Ignaz. Der Herr steht noch nicht fest, ist auch nicht wichtig.«

»Dein Mann kennt ihn sicher schon jetzt. Du solltest dich vorsehen, Vicki! Er weiß mehr als du denkst – von dir, von mir und von Kurt, und sogar –«

»Sogar deinen Mingo kennt er. Denn du hast ihm die Geschichte erzählt.«

»Nein!«

»Ihm braucht man nur den kleinsten Anhalt zu geben. Jetzt ist er im Bilde. Ich dagegen – als er mir mit komischen Anspielungen kam, mußte ich erst nachdenken, wie der Junge überhaupt hieß! Es war doch damals nur ein Zufall. Der Junge jedenfalls hätte auch ein bißchen anders aussehen können.«

»Nun sah er aber wie Mingo aus. Und wenn der Junge dir gleich war, Vicki – woran lag dir eigentlich?« Marie hielt den Atem an, indes Vicki ihre Gedanken sammelte.

»Bei der Hitze wäre es in Warmsdorf netter«, erklärte sie mit einem Lächeln, das Marie enttäuschen sollte. Mich fängst du nicht, hieß es. Vicki legte sich auf ihre Couch und bat: »Setz dich doch, Marie! Es plaudert sich so hübsch bei herabgelassenen Fensterläden. Ein kleiner Sonnenfleck fällt grade auf deinen schönen Mund. Mit deinen Zähnen machst du sie verrückt.«

Indes sie dies hinsprach, träumte Vicki. Das Kind! Ihren albernen Mingo mußte ich nehmen, damit Kurt sie bekam – und sie von ihm das Kind. Dieser gesunde Körper hat mein Kind zur Welt gebracht, nicht ihres, sondern meins. Bald, bald hab ich es ganz!

»Was sagte ich? Man wird schläfrig. Ja, daß du ihnen allen gefällst. Kurt finge am liebsten gleich wieder mit dir an, trotz Adele und ihrem Testament. Ignaz aber, – Marie, wie stehst du zu der Frage?«

»Welche Frage?«

»Ich stelle ihn dir zur Verfügung.«

»Das meinst du auch nicht so.«

»Ich versichere dir. Wenn er mich mit dir betrügt, laß ich mir eine Rente von ihm aussetzen und gehe. Muttchen Nuttchen Puttchen haut ab, und wie!«

Ihre Brust hob sich schneller, Vicki hatte sich nicht mehr ganz in der Gewalt. »Marie! Von dem Mann kann ich kein Kind haben.«

»An wem liegt es?« fragte Marie ohne Ton. Sie fürchtete, es nicht zu erfahren.

»An mir«, flüsterte Vicki.

Erst nach einer Weile des Schweigens fiel ihr ein, welche Absichten sich ihrem Geständnis entnehmen ließen – von ihrer Feindin. Sie stand auf, wehrlos daliegend fühlte sie sich nicht mehr sicher. »Kein Wort wahr!« sagte sie besonders rauh. »Ich bin noch verlogener als ich selbst dachte«, behauptete sie und war überzeugt, daß sie damit alles ungeschehen machte.

Aus ihrem kleinen Schreibtisch nahm sie ganz schnell ein hübsches Revolverchen und sagte: »Wenn du mir meinen Ignaz verführst, erschieße ich dich und kriege sechs Monate mit Bewährungsfrist. Bleibe lieber in deiner Bar – zu deiner eigenen Sicherheit! Er ist zu feige, dir öffentlich nachzulaufen. Hier mußt du dich nicht wieder zeigen, aber tu, was du willst!«

Marie kehrte zu ihrer Arbeit zurück, das war ihre Antwort. Sie dachte nicht daran, dies gefährliche Wesen ohne Aufsicht zu lassen! Ihr erschien alles verändert, denn ans Licht gekommen war: Sie kann kein Kind haben! Dadurch wurde Vicki eine arme Frau, und Marie wurde es müde, sie zu hassen, – obwohl sie fühlte: Jetzt steht es noch schlimmer! Das mit den Holländerinnen, das mit dem großen blauen Stein! Wie Vicki meinem Kind nachstellt! Wie sie mich in den »Harem« abgeschoben hat! ›Lauter schlimme Sachen, – leg Sak‹, dachte sie. ›Eins muß ich bloß noch herauskriegen! Eins fehlt bis jetzt. Warum hat sie mir Mingo genommen, darüber weiß ich nicht alles. Wenn ich das aber wüßte –!‹ Ihr war auf einmal heiß bis in die Fingerspitzen, und das Sehen verging ihr. Sie legte die Arbeit hin, schon zitterten ihr die Hände und der ganze Arm.

In der Bar ging es damals herzhaft zu. Die Mädchen entzweiten sich wegen Herrn Meier oder des »Chefs«; das war Kurt. Er mißbrauchte die Anhänglichkeit Adeles, um den Pascha zu spielen. Das Ballett war auf seine Gunst angewiesen. Eine Verkehrsdame, die gegen ihn »keß« geworden war, bekam den »Ausweis«, und das bedeutete Erwerbslosigkeit in dieser Zeit der Zusammenbrüche. Der »Harem« ging noch gut, trotz Kurt. Er wollte Nina hinaus haben, an der einen Alten habe er genug. Das paßte Hedi, die ihren Platz neben Nina hatte und ihre Kunden zu erben hoffte. Stella dagegen stimmte zu, als Marie dem Jungen ihre Meinung sagte.

»Wir beide sind hier die Hamburgerinnen«, sagte Marie im Beisein aller Frauen, beim Abendessen. »Ich will, daß du Nina in Ruhe läßt! Du sollst dich was schämen. Sie hat einen Jungen, der fährt zur See. Na und du?«

Kurt schnitt Fratzen, weil ihm schwül war. Alle die groß angezogenen, halbnackten Frauen legten ihre gepuderten Arme breit auf den Tisch und betrachteten ihn sachlich. Er half sich, indem er Adele küßte; sie aber ging darauf nicht ein. Sie war hellhörig, ihr blieb nicht verborgen, warum Marie sich in ihrer Gegenwart zur Sprecherin aufwarf für die öffentliche Meinung. Das kam, weil Kurt mit Marie wieder etwas hatte, ob es bis jetzt geschehen war oder nicht. Adele hätte geschworen, es sei passiert. Wenn sie die beiden erst erwischte! Sofort wollte sie ein anderes Testament machen, schon sah sie sich um,, zu wessen Gunsten.

Der Blick Adeles fiel auf den kleinen Menschen, der auch mit zu Abend aß, den Freund Lottes, einen zwanzigjährigen Angestellten, er machte Schlager. ›Mein Myom wächst‹, dachte sie, ›und ich bin feige, ich gehe nicht in die Klinik. Wie wäre es, wenn nach mir mal Lotte und ihr Kleiner hier den Laden haben. Er ist tüchtig, außerdem erspart er den Kapellmeister, das wäre im Sinne des Verstorbenen!‹ Mit tiefer, schmerzlicher Freude bildete sie sich ein, wie Kurt mitsamt Marie auf die Straße mußte. Marie machte sich hier manchen Abend hundert Mark; die sollte spüren, daß es anders kam! Kurt verfiel dann wohl endgültig der Einbrecherkolonne, vor der nur Adele ihn noch gerettet hatte. Allerdings konnte man von dem allen eine Gänsehaut bekommen.

Kurt verlangte inzwischen von Marie, daß sie mit ihm hinaufkomme in das Künstlerzimmer neben den Toiletten, um festzustellen, wie das Ballett die Kostüme zugrunde richtete. Er verzerrte den Mund, weil sie nicht wollte. Ich will! Sie hat so zu mir gesprochen, daß alle Weiber mich anstarrten wie die Toten. Das war wieder wie damals in dem Stall, da hielt sie mich auf den gestemmten Armen hoch. ›Ich hasse sie, sie muß ran!‹

Nina beobachtete ihn. Erfahren, wie sie war, nahm sie sich vor, mit dem haltlosen Jungen ein mütterliches Wort zu reden. Von Adele, das sah sie, war es nicht zu erwarten. Adele blieb, solange kein Gast kam, ihrem ungeordneten, vielleicht stürmischen Innenleben hingegeben, und das macht alt, wußte Nina. Herr Radlauf pries der Chefin sein neues Chanson an, er machte schüchterne, aber hartnäckige Versuche, sie ans Klavier zu bringen. Sie saß, antwortete abwesend und hatte – was hatte Adele?

Furcht. Sie mit ihrer großen Macht und Gewalt, die Menschen zu enterben, abzubauen, nach der Stempelstelle zu verschicken – Adele fühlte mit Grauen, daß die Lebenden stärker sind als eine reiche Frau mit einem Myom im Leib. Die gingen über sie weg! Sie haßten oder liebten einander, – gegen mich aber halten sie zusammen, ich kenne sie, ich weiß, was sie wollen! Sie wußte gar nichts; aber schlimmer sind dunkle Gefühle. Furcht. Furcht. Plötzlich raffte sie sich auf und rief nach Radlauf. »Los, Erni!« Sie setzte sich an das Klavier und probierte die Noten, die er ihr vorlegte. Ehe jemand es erwartete, hatte sie die Sache heraus und sang.

»Die Seemannsbraut«, kündigte sie an und begann.

Mein Mann das is ein Seekaptain
Woll auf die deutsche Flott,
Auf alle Schiffe gibt es kein
Son vollgesoffnen Pott.

»Mitsingen!« rief Adele.

Haha! Hoho!
Bliw man so!

Sie ließ den Chor wiederholen, sie selbst fuhr fort.

Nanu, das wäre ja gelungen!
Ich nehm mir 'n andern Jungen.

»Das war alles nur Vorspann. Jetzt kommt es!« schrie sie.

Wir Mädchens vom Hafen
Kriegen Seelüd un Grafen
Fürs Wachen und Schlafen,
Und der Flottste von sie all,
Der is mein Fall!

Nina sah Kurt gütig in das bleiche Gesicht. »Gefällt Ihnen das, Herr Chef?«

»Ich schmeiß den Jungen raus!« Ächzend betrachtete er den armen Radlauf, der selig lauschte, wie seine Schöpfung durch die Bar schallte. Lotte, die ihn liebte, weinte vor Glück.

Nina erklärte: »Das hat er gemacht, weil Marie und ich zwei Hamburgerinnen sind. Er ist nett.«

»Das Schwein!« fauchte Kurt. »Mich meint er. Mir gibt er es, daß Marie einen Seemann hat, und der darf sie verhauen.« ›Mich aber verhaut sie‹, setzte er für sich allein hinzu und wurde krumm vor Wut.

Nina legte ihm die Hand auf die hinaufgezogene Schulter. »Kurt! Wenn Sie es sich überlegen, ist Ihnen das alles gleich. Mein Junge, mich möchtest du auch schädigen, trotzdem meine ich es gut mit dir. Ja, sie hat einen Seemann, und für ihn ist sie manches imstande. Wenn einer es weiß, mußt du es wissen. Die geht ganz plötzlich hoch, das siehst du ihr vorher nicht an. Hände weg, Kurt, – und sag es jedem, der gegen Marie etwas vorhat!« Sie nahm ihre eigene Hand von seiner Schulter und ließ ihn stehen, dadurch machte ihre Warnung erst Eindruck. Für diesmal war ihm die ganze Wut vergangen.

Adele verkündete: »Zweiter Vers!«

Mein Mann ist mächtig auf 'n Damm,
Un kömmt er duhn nach Haus,
Denn zieht er mir die Hosen stramm
Und ich ihm seine aus.

Der Chor legte von selbst los, auch das Ballett war inzwischen angekommen und kreischte mit.

Haha! Hoho!
Bliw man so!

Das war bis auf die Straße zu hören, die ersten Gäste drangen angeregt ein. Adele spielte und sang.

Nanu, das mach ich nicht mehr lange!
Deswegen keine Bange!

»Jetzt kommt es!« schrie sie.

Wir Mädchens vom Hafen
Kriegen Seelüd un Grafen
Fürs Wachen und Schlafen,
Un der Flottste von sie all,
Der is mein Fall!

Hier war schon große Stimmung. Das Geschäft setzte ein.


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