Kurt Martens
Verzicht und Vollendung
Kurt Martens

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I.

An einem kalten Januarmorgen des Jahres 1804 traf in dem württembergischen Städtchen I. von Norden her eine von zwei stattlichen Rappen gezogene, geschlossene Kutsche ein. Vom Schneegestöber umwirbelt, rumpelte sie über das Pflaster und hielt vor dem Gasthof zum Schwan. Der Kutscher in Livree sprang vom Bock; ob ein Appartement von drei bequemen und vor allem ungestörten Zimmern zu haben wäre, fragte er den beflissen herbeieilenden Wirt. Ja, sie könnten sofort bezogen werden. Darauf entstiegen dem Wagen ein großer, schlanker Herr und die fast kindliche Gestalt einer jungen Dame, beide von Pelzen dicht vermummt, so daß die Gesichter nicht zu erkennen waren. Stumm folgten sie dem Wirt zum ersten Stock, der Kutscher versorgte inzwischen die Pferde. Später schrieb er ins Fremdenbuch den Namen seines Herrn; Baron Vavel de Versay, mit Madame und Bedienung, aus Frankreich.

8 Zu jener Zeit reisten noch immer zahlreiche französische Edelleute durch Deutschland. Seit der Revolution von 1789 hatten sie über den Rhein zu flüchten begonnen, besonders an dessen rechtem Ufer sich seßhaft gemacht und sogar mit eigener Heeresmacht, als Bundesgenossen von Preußen und Österreich, die verhaßte Republik bekriegt. Aber auch die neue Ordnung ihres Staates unter Napoleon Bonaparte als Erstem Konsul konnte sie nicht versöhnen. Noch zogen sie im westlichen Deutschland voller Unrast weiter hin und her, heimatlos, ratlos oder zu Umtrieben geneigt. Die Ankunft des Barons Vavel de Versay, übrigens ein völlig unbekannter Name, fiel also nicht weiter auf.

Wunderlich nur fanden der Wirt und seine anderen Gäste, bald auch alle Einwohner von I., die zurückgezogene Lebensweise des fremden Paars, die denn doch alles Dagewesene überschritt. Nach zwei Tagen hatte es am Rande der Stadt, bei einer alten Geheimrätin, eine stille Mietwohnung bezogen, zwei durch einen Salon getrennte Schlafzimmer, sprach mit niemand, ließ sich die Mahlzeiten durch den Kutscher François, der zugleich Kammerdiener war, im Salon auftragen und fuhr zuweilen in der geschlossenen Equipage durch den nahen Wald spazieren. Für Madame wurde zwar eine Zofe 9 angenommen, doch auch dieser erteilte nur der Baron selbst die nötigen Befehle; die Herrin vermied es, sich vor ihr zu zeigen, nicht anders wurde sie sichtbar als tief verschleiert, wenn sie einmal über den Korridor glitt oder sich am Arm des Barons zum Wagen begab.

So ging es den Januar, den Februar hindurch. Diese Fremden beförderten auch keine Briefe noch erhielten sie welche, außer daß ihnen durch die Post einmal eine beträchtliche Summe, von einem Bankhaus in Amsterdam überwiesen, ausgezahlt wurde. Reich mußten sie sein, nahm man an; denn so wenig sie für sich selber brauchten, sie erwiesen sich überaus gebefreudig. Nicht nur daß der Baron die Bediensteten des Gasthofs und die Lieferanten reichlich mit Trinkgeldern bedachte, er stiftete auch regelmäßig Beiträge für die Stadtarmen und das Waisenhaus.

Selbstverständlich wurden die Nachbarn neugierig. Doch weder die Geheimrätin noch deren Magd oder selbst die Zofe wußten etwas zu erzählen. Aus dem Kammerdiener François war vollends nichts herauszubringen. Mit der steinernen Miene seines klugen, gutgeschnittenen Gesichts überhörte er jede Frage nach Herkunft, Erlebnissen und Aufenthaltszweck seiner Herrschaft. Von der Dame sprach er nur ehrfurchtsvoll als »Madame«. Die Leute nannten sie 10 schließlich die Frau Baronin, ohne zu ahnen, ob sie es wirklich war. Daß sie kaum älter als sechzehn und von einer zarten, berückenden Schönheit sei, hatte sich nicht verheimlichen lassen. Mehr umstritten wurde das Alter des Barons. Sein Antlitz, elfenbeinblaß, an Stirn und Augen und besonders an dem schmalen, zusammengekniffenen Mund von Furchen durchzogen, wirkte dennoch sehr jugendlich, das volle schwarze Haar zeigte schon graue Fäden; seine Haltung, leicht gebeugt, von vollendeter Vornehmheit, deutete auf edle Rasse.

Hochmütig oder ungesellig von Natur war er gewiß nicht; denn in den Geschäften, die er – niemals Madame – schließlich hin und wieder zu einem Einkauf betrat, äußerte er seine Wünsche freundlich und rücksichtsvoll, Bettler und Hausierer verwies er ohne Ungeduld an die stets offene Hand des Kammerdieners. Mit dem Apotheker und dem Buchhändler bahnte er sogar eine Art Verkehr an, indem er sie häufiger aufsuchte, bei jenem allerhand chemische, bei diesem literarische Kenntnisse zeigend. Bücher und Revuen der verschiedensten Richtungen ließ er sich kommen, auch ausländische Zeitungen.

Mehr persönliche Anteilnahme als dienstliche Wißbegier erregte der Fremde beim Herrn 11 Amtmann. Der war ein beleibter, immer wohlgelaunter Junggeselle und bummelte gern durch die Stadt, mit dem oder jenem sein Schwätzchen zu machen. Bei erster Gelegenheit schreckte er den versunken dahinwandelnden Baron Vavel an einer Straßenecke auf, indem er sich ihm vorstellte und bat, ihn ein Stück Weges begleiten zu dürfen. Befremdet, in kühler Höflichkeit erwiderte dieser nur: »Oh, bitte!«

»Gefällt es Ihnen in unsrem Ländle, Herr Baron?« eröffnete der Amtmann aufgeräumt das Geplauder. »Hawe Sie und Ihre Frau Gemahlin sich gut eingelebt?«

»Wir sind zufrieden«, lautete die Antwort.

»Ruhiger als in Frankreich lewe Sie hier gewiß.«

»Wieso? Die Kanaille ist dort niedergerungen, die Ordnung zurückgekehrt«, bemerkte Vavel gelassen. Der Amtmann klopfte auf den Busch:

»Ja, aber der Bonaparte ist doch auch ein gefährlicher Kujon, der seine Pläne spinnt.«

»So? Nicht daß ich wüßte. In den Zeitungen las ich nichts davon.«

»Na, die Zeitungen! Denen hat er sie freilich nicht verraten! Woher denn aber die englischen Agenten, die überall in Deutschland mit ihren Enthüllungen herumziehen?« Jedermann war bekannt, daß sie Verbindungen mit den französischen 12 Emigranten anknüpften und diese von neuem zu mobilisieren suchten. Der Baron bewahrte seine Zurückhaltung:

»England befindet sich im Krieg mit Bonaparte – daher die Agenten. Ich persönlich bin niemals einem begegnet.«

Der Amtmann bemerkte sehr wohl, wie das Thema den Baron innerlich aufregte; die blassen Lippen kniffen sich noch fester zusammen, die Augen schlossen sich leidensvoll, aber seine Zunge behielt er in der Gewalt. Der Ausfrager zog es vor, sich zu empfehlen.

Bei einem anderen Anlaß ging Baron Vavel allerdings mehr aus sich heraus: auf der Rückkehr von einer seiner Spazierfahrten beobachtete er durch das Wagenfenster, wie eine Horde Gassenbuben ein ärmliches kleines Mädchen drangsalierte; einer zerrte sie an den Haaren, ein anderer schlug sie ins Gesicht; herumstehende Bürger kümmerten sich nicht darum. Zornrot beugte sich der Baron heraus und ließ den Wagen halten. Mit einem Satz sprang er auf die Gruppe zu:

»O pfui, ihr schämt euch nicht, ein wehrloses Mädchen zu mißhandeln?!« schrie er sie an. »Was sie auch begangen haben mag, das ist keine Art . . . eine Schande ist es, eine Schande!« Er ergriff die 13 Kleine bei der Hand und zog sie an sich. »Warum solche Roheit? Was hat sie euch getan?«

»Isch do' den Abdecker sei' Madle!« wollten sie sich verteidigen. Ein paar Erwachsene sammelten sich hinter ihnen, verwundert über die Entrüstung des sonst so teilnahmlosen Herrn.

»Abdecker? Was ist das? Verstehe ich nicht. Gilt wohl für einen schlechten Beruf? Daran trägt ein Kind niemals die Schuld! Nur zu bedauern ist es. Habt also Mitleid mit der Armen, behandelt sie künftig mit besonderer Güte!« Die Jungen glotzten töricht. »Sagt den Eltern dieser schlechterzogenen Rüpel«, rief er den Erwachsenen zu, »daß sie versuchen sollen, sie Anstand und gute Sitte zu lehren! Jetzt werde ich das Opfer trösten und nach Hause bringen.« Damit hob er das Töchterchen des Abdeckers, das nicht wußte, wie ihm geschah, in den Wagen, und die Leute sahen noch, daß »die Frau Baronin« es schützend umschlang. Zwischen den beiden fuhr es davon.

Später sprach es sich herum, die feinen Fremden hätten das Mädel wirklich im Wagen zu seinem Vater gebracht. Stolz wies die Verachtete in der Schule ein goldenes Kettchen vor, das die wunderschöne junge Frau sich vom Halse genommen und ihr zum Andenken umgehängt hatte. Niemand 14 begriff das. Sollten es doch am Ende keine echten Barons, sondern nur verdächtige Abenteurer sein, die sich zu solchem Gesindel hingezogen fühlten?

Als Anfang März die ersten milden Vorfrühlingstage hinaus in die wärmende Sonne lockten, sah man den Baron, seine Begleiterin am Arm, bisweilen auch zu Fuß sich am Waldsaum hin bewegen. Eifrig und anscheinend sorgenvoll unterhielten sie sich leise auf französisch. Der Wirtin gegenüber sprach Vavel von baldiger Abreise; wahrscheinlich würden sie ihren Aufenthalt hier mit einem drüben im Badischen vertauschen, vielleicht aber kämen sie auch zurück.

Noch bevor seine Pläne feste Gestalt annahmen, verbreitete sich in der Stadt eine Nachricht, die ihnen eine ganz andere Richtung wies. Die Frau Geheimrat brachte sie von ihren Morgeneinkäufen mit nach Haus. Da sie gerade dem Diener François unten an der Treppe begegnete, verkündete sie ihm:

»Denken Sie, was geschehen ist! Das wird Ihrer Herrschaft nahegehen – französische Truppen haben bei Straßburg den Rhein überschritten und sind in badisches Gebiet eingefallen. Den Herzog von Enghien, der dort in Ettenheim lebt, haben sie gleich aufgehoben und mitgenommen. Dem Bonaparte soll eine Verschwörung gegen sein Leben zu 15 Ohren gekommen sein und der Enghien dahinterstecken. Der hübsche junge Mann kann einem leidtun, den sieht man lebendig nicht wieder!«

Wie nahe die Kunde den Fremden ging, erkannte die alte Dame sogleich an François' verstörtem Ausdruck. Er stammelte etwas Unverständliches und eilte in großen Sprüngen die Treppe hinan zu seiner Herrin. Gegen seine Gewohnheit nur flüchtig anklopfend und seine Haltung verlierend, rief er schon auf der Schwelle: »Madame, ein großes Unglück! Seine Hoheit . . . der Herzog . . . Bonaparte hat ihn gefangengenommen und weggeschleppt!«

Ein durchdringender Aufschrei war die Antwort. Der Diener schloß sofort die Tür. Aber die Lauscherin unten, der sich ihr Hausmädchen zugesellte, vernahm deutlich noch weitere Schreie und ein lautes, jammervolles Weinen. Dann schrie die Baronin wie von Sinnen: »Louis!! – Louis!!« Der Diener schien begütigend und beschwörend auf sie einzureden.

Der Baron war ausgegangen. Rief sie nach ihm? Sein Name war Charles-Louis. Doch Louis hieß auch der Herzog von Enghien.

Zitternd kam François wieder herab, um sich ein Glas Wasser und Stärkungsmittel für Madame zu erbitten; sie läge in Ohnmacht, er wisse sich nicht zu helfen.

16 »Lassen Sie mich doch zu ihr!« bot die Geheimrätin sich an. »Ich verstehe mich eher auf sowas und kann der Frau Baronin besser beistehen als Sie.« Der Diener lehnte verlegen, aber sehr entschieden ab:

»Nein, nein! Das geht keineswegs. Auch für solche Fälle ist mir streng befohlen, jeden Eintritt zu verwehren. Geben Sie nur, bitte, geben Sie das Wasser und irgendein Riechsalz! Ich weiß im Augenblick nicht, wo Madame das ihrige verschlossen hält.«

Inzwischen kehrte der Baron zurück, auch er schon in mühsam beherrschter Aufregung. An der Wirtin vorübereilend, rief er ihr zu:

»Wir reisen noch heute! Umstände sind eingetreten, die . . . es empfiehlt sich, die Abfahrt nicht länger aufzuschieben!« Den Diener, der ihm über den Zustand von Madame berichten wollte, ließ er gar nicht erst zu Worte kommen, sondern gebot ihm, auf der Stelle den Wagen herzurichten und die Pferde einzuspannen.

»Schon gut, schon gut!« unterbrach er dessen Gestammel, »ich sehe selber nach Madame.« Dann etwas ruhiger, vor der Tür sich umwendend: »Das Packen der Koffer besorge ich selbst. In einer Stunde werde ich damit fertig sein.«

Die Anwesenheit ihres Gatten, Begleiters oder was er sonst sein mochte, wirkte offenbar beruhigend 17 auf Madame, sie war wieder zu sich gekommen. Die Geheimrätin hörte, wie die beiden Mieter über ihr hastig hin und her gingen, hörte sie Schubladen schieben, packen, Koffer rücken.

In der Tat waren sie nach einer guten Stunde schon zur Abreise bereit. Der Baron bezahlte die ungekündigte Wohnung großzügig auf drei Monate voraus, obgleich er hinzufügte, er werde sie nicht mehr benutzen, auf eine Wiederkehr habe er nun endgültig verzichtet; Gründe gab er nicht an. Die Geheimrätin, sehr zufrieden, wagte nicht danach zu fragen. Sie erhielt unter den lebhaftesten Danksagungen Vavels von ihm ein schönes Kaffeegeschirr aus Sèvres-Porzellan. Auch der Apotheker, der Buchhändler und andere Bekannte wurden durch François als Boten mit einem Abschiedsbrief und wertvollen Andenken bedacht, das Waisenhaus mit einem Beutel voll holländischer Dukaten.

Noch vor Mittag rollte die Reisekutsche mit ihren beiden Insassen und François auf dem Bock ostwärts aus der Stadt – wie das Dienstmädchen verstanden zu haben glaubte, auf das bayrische Rothenburg zu.

Die Panik, die Bonapartes Gewaltstreich in I. wie auch sonst in Württemberg und Baden hervorgerufen hatte, legte sich bald; es war kein Auftakt zu einem Krieg, sondern galt ausschließlich dem Herzog von 18 Enghien. Frankreichs Erster Konsul hielt den still nur seinem jungen Eheglück lebenden Bourbonenprinzen irrtümlich für den Anstifter der royalistischen Verschwörung. Die Voraussage der Geheimrätin bestätigte sich: es war um ihn geschehen. Wenige Tage später wurde er nach einem Scheinprozeß als Hochverräter im Graben von Vincennes erschossen.

Vom Baron Vavel de Versay hörte man in I. nicht das geringste mehr und vergaß ihn bald trotz seiner Andenken. Daß er in die Emigrantenverschwörung verwickelt gewesen sei, galt für sehr wahrscheinlich. Woher sonst seine Aufregung über Enghiens Verhaftung? Warum seine überhastete, einer Flucht nur zu ähnliche Abreise?

Verstärkt wurde die Vermutung durch eine Zeitungsnachricht, die etliche Monate später im »Schwäbischen Merkur« erschien und meldete, daß ein hervorragender französischer Edelmann, der sich mit seiner Gattin seit Anfang des Jahres in I. aufgehalten habe, jetzt in Bayern gestorben sei. Außer der Dame, die Deutschland verlassen hätte, wären Angehörige nicht bekannt. 19

 


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