Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Mutter fuhr mit dem Schwesterchen und mit mir nach Liestal; es war schönes Wetter, die waldigen Täler links und rechts taten sich auf, schlossen sich wieder zu, auf den sanft gebuchteten Wiesenhängen standen die zahllosen Obstbäume, jeder mit seinem eigenen Schatten, das Land war gesprenkelt wie ein weiches Tierfell. Vom Eisenbahnzug aus sahen wir irgendwo tief unten im Tal auf der schimmernden Landstraße die zwei Möbelwagen dahinkriechen, die unsern Hausrat schon am frühen Morgen von Basel fortgeschleppt hatten. Und etwas später wies die Mutter wieder durch das Fenster hinaus: »Seht dort, unser Haus!« War das 61 möglich, wurde so im Handumdrehen ein neues Haus zu »unserm« Haus? Starb man nicht dort, wo man geboren war?
Das Haus stand dicht an der Landstraße, vor dem Städtchen draußen, ein alter, mächtiger Bau mit schmuckloser Fassade, ernstem Toreingang an der Seite, großem Hof, den zwei vom Mitteltrakt auslaufende, niedriger gebaute Flügel herrschaftlich umschlossen; es hieß im Volksmund, was es auch war: das Gut. Der Hof war die verschwiegene Schönheit des Besitzes – der Hof und die schattendunkle Allee seitlich vom Hause. Dort wo der Hof unverbaut war, sah man über grüne Hecken, an einem massigen, steingrauen Brunnen vorbei auf die Wiesen hinaus und zum Wäldchen hinunter; all das gehörte noch dazu, gehörte uns: die wildstruppigen Wiesen, die Allee mit den moosigen Baumstämmen, mit dem Springbrunnen zutiefst im Dunkel, das Wäldchen mit den ganz überwachsenen Wegen, mit den Efeuranken auf Stein und Rinde, und das Tannendickicht, in das man überhaupt nur eindringen konnte, wenn man sich auf den Bauch 62 legte und über die verfaulenden Nadeln am immer feuchten Boden hinkroch. Dahinter, als Grenze und Abschluß, floß tief unten an einem Steilhang ein dunkeltrübes Gewässer lautlos dahin.
Im Haus stieg man auf breiter Holztreppe in einer geräumigen Halle aus dem Erdgeschoß empor in den ersten Stock, den wir bewohnten. Auf den langen Gang mündeten beidseitig unzählige Türen aus einer Fülle von Zimmern, in denen ich mich noch wochenlang nicht zurechtfand. Eines gehörte uns, den Kindern; es ging auf den Hof, in die Wiesen hinaus, und abends, bevor wir einschliefen, hörten wir den alten Brunnen, der mit kräftigem Strahl im steinernen Trog rumorte. Am Geräusch des Wassers hörten wir, ob draußen der Wind ging; die Nacht kam aus dem Wäldchen über die Wiesen zum Haus, wir sahen sie, wenn wir an Herbstabenden aufmerksam hinschauten.
Ueber unserer Wohnung im Dachstock war uns Kindern ein Spielzimmer eingeräumt – mit den alten Möbeln, die von der neuen Mutter hierher verbannt worden waren und um die noch immer ein 63 Duft von Basel und von der früheren Zeit schwebte. Dort stand ein Sekretär, der gehörte mit allen großen und kleinen Schiebladen mir ganz allein; an seiner leicht geneigten Platte saß ich – mein Kinn schob sich knapp darüber – und schrieb mit großen Buchstaben auf Doppelblättern, die ich nachher sauber zusammenheftete, die Geschichte der bewegten Umzugstage nieder. Vorn auf dem rotweißen Titelblatt stand: Eine langweilige Züglete – obgleich ich persönlich ja das ganze Unternehmen sehr kurzweilig gefunden hatte, aber die Mutter war eben anderer Meinung. Ich hatte damals eine genaue Vorstellung von den Erfordernissen eines literarischen Werkes, und mein Dutzend Seiten Text wurde denn auch, wie es sich gehört, durch ein genaues Inhaltsverzeichnis eingeleitet und mit einem Lebenslauf des zehnjährigen Autors abgeschlossen.
Nicht immer aber, wenn man uns Kinder droben in der Dachstube still beschäftigt wähnte, waren wir es auch: wir hatten in einer der Kammern ein regelrechtes Kegelspiel entdeckt und es auf den riesigen Dachboden im Seitenflügel verschleppt, dort 64 schoben wir an regnerischen Nachmittagen die schweren Kugeln über die Holzdielen und sahen uns dann beim Abendbrot rasch und vergnügt in die wissenden Augen, wenn Vater und Mutter darüber nicht einig wurden, ob es gedonnert habe oder nicht. Schlimmer jedoch war, daß wir in einem ganz tollen Spielübermut, den das viele Alleinsein und ein völliges Verkennen der Gefahr hochgezüchtet hatten, aus einem der Fenster auf das abschüssig steile Dach hinausstiegen, uns gleiten ließen, bis unsere große Zehe die Dachtraufe unter sich spürte, und dann um die Hausecke herumschlichen, Fuß um Fuß in der knarrenden Dachrinne, die Hände tastend am rostigen Blech, den Blick schwindelfrei in die Tiefe – die eine Tiefe des sicheren Todes war. Ein gewandter Dachdecker hätte sich nicht ohne Seil und Haken dorthin gewagt, wo das sechsjährige Mädchen und ich lachend herumseiltänzerten, denn er hätte gewußt, was wir nicht bedachten: daß das Haus alt und fast baufällig war. Wohl regnete es uns durch das Dach auf unsere Kegelbahn im Estrich, wohl geriet ein Stubenwagen auf dem harthölzernen 65 Parkett des Saals von selber ins Rollen, wohl war es ausgeschlossen, im Winter einen Teil der unmäßig großen Räume zu erheizen, weil die Oefen nicht zogen und die Fenster nicht dicht schlossen; aber was sagte uns dies? Hätte es uns von unsern Promenaden am Rande des Abgrunds abhalten sollen? Fröhlich krochen wir zum einen Fenster hinaus in die Welt zwischen Himmel und Erde, zum andern wieder herein in die abgeschiedene, stille Spielstube mit den lieben, alten Möbeln, mit den dicken Büchern, den Zinnsoldaten, der Puppenküche: beides war unser Reich, drinnen und draußen, der Traum vom Leben und die Todesgefahr, wir unterschieden es noch nicht, es war beides eins und dasselbe – ein Spiel.
Die Welt des Spiels! Meine Schwester und ich, wir fanden uns darin und nahmen gemeinsam davon Besitz: vom alten Haus mit seinen verborgenen Winkeln, von der Allee hoch über der Straße, vom Wäldchen und von der sommerlichen Wiese. Hatten wir nicht mitten im dichtesten Gras einen leeren, flachhohlen Brunnentrog aus grauglänzendem 66 Granit entdeckt? Der lag da, halb in den Erdboden eingesunken, von Halmen und blumigem Gras rings umbuscht, Gott weiß wieso er dahingekommen war; in seine sonnenwarme Rundung schmiegten wir unsere Rücken, legten die Arme behaglich auf seinen Rand – nun fuhren wir dahin in unserm steinernen Schiff durch die grünen Wiesenwogen, die ein Wind leise vor sich hertrieb, und kein Mensch konnte uns sehen, solange wir so ohne Segel und Ruder dahinzogen. Und wiederum – hatten wir nicht im Tannendickicht, hinter dem Erdwall, eines Abends eine arme Landstreicherfamilie überrascht? Die saß da im blassen Gras um ein rauchloses Feuerchen herum, ein Mann in abgerissenen Kleidern, eine Frau mit rotem Haar, Jungvolk, faul und wegemüd; uns aber schlug das Herz im Halse, wir waren auf Knien und Händen herangekrochen und hatten sie, ohne es zu wollen, auf richtige Indianerart beschlichen. Ein solches Geheimnis also barg unser Wald; auf unserm Grund und Boden suchte lichtscheues Gesindel Zuflucht, Räuber vielleicht, wer weiß, oder feiner noch: Zigeuner.
67 Das kribblige Wissen um dieses Geheimnis behielten wir für uns; das ging die Erwachsenen nichts an, sie hätten dem spannenden Abenteuer womöglich gar ein rasches Ende bereitet! Wir aber bezogen es in unser Spiel ein: Tag für Tag spähten wir nach den Tannen, wir lagen stundenlang hinter einem Steinblock und ließen den dämmrigen Waldboden nicht aus dem scharfen Blick, stießen uns mit den Ellbogen an, wenn wir meinten, etwas habe sich dort geregt, und flüsterten heiser miteinander; und noch am Schlafzimmerfenster standen wir die halbe Nacht Wache, lösten uns ab und tauschten unsre Beobachtungen aus, und während unsre Augen sich in die dichte Dunkelheit über Hof und Wiesen bohrten, lauschten unsre Ohren rückwärts in das Haus hinein, damit die Mutter uns nicht überrasche, der Vater nicht die nächtliche Schildwache aufhebe. Ab und zu sahen wir huschende Lichter im lockern Gestrüpp, sahen auch am Tag schleichende Gestalten, dann wieder wochenlang gar nichts, und gewöhnten uns langsam an die unheimliche Nachbarschaft, deren Dasein wir beharrlich verschwiegen.
68 Die Welt – noch war es die Welt des Spiels für uns. Zwar über der Straße wohnte der ungarische Spengler mit Weibern und Anhang, Greisen und jungen Gesellen, eine ganze wilde Horde, so schien es uns, mit unaussprechlichen Namen und langen Schnurrbärten, und daß einer von ihnen, ein geschmeidiger Bursche, ein blutrotes Radfahrertrikot trug, auf dem weiß eingestickt war: »Gott ist die Liebe« – das machte die Sache wahrhaftig nicht besser. Ihrer schwarzen Hände Gehämmer scholl feuriger auf dem blanken Blech, als dies bei andern Handwerkern üblich war, und manchmal scholl auch der Lärm ihrer streitenden Stimmen noch heftiger aus der offenen Blechschmiede heraus; sahen wir Kinder – wir lagen auf der Mauer unter den Alleebäumen versteckt– eine der aufgeregten Frauen zum Hausgang herausstieben oder den alten Vater (der noch von Radetzky erzählte) am Stock herumhumpeln, so dichtete unsere Phantasie das Drama fertig, das in Wirklichkeit wohl meist ein harmloser Wortwechsel war. Der Spengler selber war ein Mann, aus dem wir Kinder nicht klug wurden. 69 Er war freundlich mit uns und machte auf seine Art unsrer Mutter den Hof: eines Abends – die Mutter saß in der dunkeln Allee auf einer Gartenbank, ganz allein, in Gedanken vertieft; das hatte der Ungar von drüben gesehen, er packte die zwölf blechernen Pastetchenformen zusammen, die er auf Bestellung angefertigt hatte, schlich sich über die Straße an die Alleemauer und schleuderte die klirrende Bombe als Gabe seines galanten Herzens der tötlich erschrockenen Mutter vor die Füße. Er war aber auch grausam: zog er nicht einmal, als er in unserm Wäldchen die überwucherten Wege freilegte, plötzlich zwei eiserne Röhren aus der Rocktasche, schob und schraubte sie blitzschnell zusammen und schoß mit der selbstgeschmiedeten Büchse ein Eichhörnchen vom hohen Baumwipfel herunter? Er zeigte uns stolz das blutende Tierchen: »Mitten ins Herz!«, prahlte er. Daß er friedliche Singvögel und Spatzen in einer Falle fing, die er von der Werkstatt aus zum Klappen bringen konnte, beobachteten wir häufig mit stiller Wut und verschämter Bewunderung. Und er war auch witzig und schlau: die geizige Herrin 70 unseres Hauses, die in einem Zimmer des Erdgeschosses hauste und ihre Mahlzeiten über einem Spiritusbrenner auf der Kellertreppe zubereitete, hatte ihn dazu bewogen, die Alleebäume zu stutzen, und ihm als Entgelt das Fallholz versprochen; er sägte ihnen, knapp über dem Stamm und nach den ersten Astgabelungen, die breiten Kronen ab, so daß sie kahl und furchtbar verstümmelt im späten Winter standen und zum grauen Himmel hinauf die geizige, drahtdünne Frau mit ihrem altertümlichen Kapotthütchen und ihren blauen Knochenfingern verklagten.
Das Spiel – es war noch unsre Welt. Wenn ich im schallenden Hof meine Kompanie antreten ließ, mit beherrscht-nervösen Schritten auf und ab gehend und die Hand am Säbel, so sprang zwar nur das Schwesterchen aus dem schmalen Schatten an der Mauer hervor auf den knirschenden Kies – doch wir hörten, beide, einer ganzen Kompanie genagelte Marschschuhe eilig und mit Getöse sich ordnen, wir hörten die Hände an ihre Gewehre klatschen, die Arme herabsausen. Wenn ich in die Wiese einschwenken und in Schützenlinie 71 ausschwärmen ließ, so konnte sich das Schwesterchen beim besten Willen nicht vervielfachen, es schob sich eben als Einzelgänger geduckt durchs Gras – doch wir empfanden, beide, die stetig vorrückende Schützenkette links und rechts neben uns, ich brüllte Befehle fernhin, wo einer unzulässig weit zurückblieb, und im Anschleichen warf auch das Schwesterchen rasche Seitenblicke aus seinen Kirschenaugen, um mit dem Nebenmann Fühlung zu behalten, um die Linie nicht zu zerreißen. Lagerten wir nach unzähligen Uebungen – denn wir spielten nie Krieg, immer nur Militärdienst – im Schattenwäldchen, so war auch bald ein Lagerleben mit Sang und Scherz, mit Spatz und Fußblasen im Schwang; natürlich wurden Posten aufgezogen – und es ließ sich nicht gut anders machen, als daß das Schwesterchen Posten stand und für die Sicherheit der müden Truppe sorgte. Ich saß abseits und brütete über neuen Drillübungen.
Das häufig wiederholte Turnfest in der grünen Schattenhalle der Allee brachte uns als Zuschauermenge unsere Eltern auf die ersten Bankreihen. 72 Ich eröffnete von tannzweiggeschmückter Rednerkanzel herab das vaterländische Fest durch eine sorgfältig vorbereitete und bis aufs Tüpfelchen genau niedergeschriebene Ansprache an die Turnerscharen und die übrigen Eidgenossen. Ich nahm die Fahne in Empfang, die mir das Schwesterchen im feierlichen Augenblick überreichte, und ich hieß die Landeskraft zur ernsten Arbeit schreiten. Die Turner im weißen Gewand traten an, richteten sich mit Blick und Ellbogenfühlungnahme aus, und wenn ich mit singend getragener Stimme die Freiübungen im langsamen Zähltakt über die vielen hundert Köpfe hinweg leitete, so wogten die Leiber wie ein Meer hin und her und die Arme flogen wie Raketen empor, die Füße schlugen mit klatschenden Sohlen in den Sand. Das sahen, hörten und spürten wir, beide: ich, der befahl, und das Schwesterchen, das gehorsam turnte. In Lauf und Sprung tat ich mit und wir besetzten ohne Ausnahme die ersten Ränge; so hatten wir Anspruch auf die wertvollsten Preise, die von den Eltern gestiftet, vom Vater mit Ernst und Würde verteilt wurden. Zogen wir, den 73 Lorbeerkranz aus Efeu an der funkelnden Fahnenspitze befestigt, vom Turnplatz ab, so war der wohlverdiente Beifall der Zuschauer um uns, das Flattern der Banner über unsern Häuptern, der Stolz in unsern Herzen und Augen – in mir, der ich voranging, und im Schwesterchen, das mit überlangen Schritten nachzufolgen sich anstrengte.
Ein Spiel war unsre wahre Welt – und nahmen nicht die Erwachsenen daran teil? Freute sich nicht die Mutter wie ein Kind, wenn ihr Sohn – aber eben, sie war auch seine Gotte – wenn Fritz auf kurz oder lang ins alte Haus einzog und Bernerluft schwallweise mit sich brachte, Grüße und Neuigkeiten von Bekannten und Freunden, und immer wieder und dringender die Frage: ob man's aushalte im Städtchen? Die Mutter schmunzelte oder sie erzählte Geschichten, die nicht ohne Boshaftigkeit waren; Fritz übertrumpfte sie noch mit grausamen Witzen, er stopfte die kleine Stadt überlegen in den Sack; für Leute, die nach Bern gehörten, war hier zu leben eine harte Prüfung. Mir tönte solch verwegene Rede lästerlich ins Ohr.
74 Dann zog er mit uns Kindern aus; strahlend schaute ihm die Mutter nach, wenn er groß und vergnügt die Straße hinabschritt, und auch wir hatten ihn gern. Durch den Wald stiegen wir zur weißen Fluh hinauf, die stotzig aus dem Laubgrün stach. Hatte Fritz nicht sein Bergseil über der Achsel mitgenommen, der Tausendsassa? Er band erst mich, dann das Schwesterchen ans Tau und ließ uns ganz einfach von oben über den glatten Felsen hinuntergleiten, wir krabbelten ohne Gefahr mit Hand und Fuß am heißen Gestein und tauchten langsam in die kühlen Buchenwipfel am Fuße der Fluh nieder. Und er trieb sich mit uns in den Heidelbeerstauden herum; wir sahen nachher alle um Lippen und Nase aus wie die Neger – gerade recht, so spazierten wir durch das Städtchen nach Hause, ein Aergernis, nun wohl! was focht es ihn an? Er balgte sich mit uns auf den Wiesen umher, wir bekamen Flecken und Risse in die Waschkleider – Kleinigkeiten, wenn Fritz daran schuld war! Die Mutter schmälte lachend, die doch sonst darin keinen Spaß verstand.
75 Auch Mili war gelegentlich da. Sonderbar, man möchte sagen: er tauchte auf und verschwand wieder. Seine Ankunft wurde nie wochenlang vorher berechnet. Auch kam er, dünkt mich, meist im Winter – vielleicht hatte ihn seine Gärtnerei dann nicht nötig, vielleicht war es ihm sonst zu kalt in der Welt draußen. Ein blonder Schnurrbart wuchs ihm unter der kräftigen Nase; seine Hände aber waren rauh und rissig, dennoch spielte er noch immer die Geige.
Wollte er mit uns Kindern über Land ziehen, so erhob die Mutter Einspruch. Zu anstrengend für das Schwesterchen, für mich bei dem Wetter auch nicht besonders gesund. Mili blickte erstaunt zum Fenster hinaus: Wetter? Ihm war jedes recht. Verstimmung überall – endlich erhielt ich die Erlaubnis mit hundert Einschränkungen und Vorsichtsmaßregeln, die mir vor Scham das Blut in den Kopf trieben. Warum ist die Mutter ihm gegenüber so? fragte ich mich murrend im stillen; aber ich gab es nicht einmal vor mir selber zu: daß er auch ganz anders war als sein Bruder. Im Schnee, unter grauem Himmel, 76 stapften wir durch abgelegene Täler, an unwegsamen Hängen empor, meist schweigsam, ich in der breiten Fußspur des großen Bruders. Er trug Ledergamaschen, aber keinen Mantel; den Rockkragen hatte er hochgeschlagen. Laublose Eichen standen knorrig schwarz im Schnee, dahinter hoch ein Burgbau, fahl im winterlich kargen Licht. Wir schlichen um die Mauern, stemmten uns gegen die Türbalken, Mili hob mich auf seine Schultern, damit ich über die Steinbrüstung in den stillen verschneiten Garten sähe. Dann kehrten wir im nahen Dorfe ein. Es war, als ob Mili daheim wäre: er ließ sich am Tisch beim Ofen nieder, wärmte die Hände, plauderte mit den Leuten, bestellte Glühwein, Brot und Käse, war um mich bemüht und hängte meine Strümpfe zum Trocknen auf. Die Wirtsleute setzten sich herzu. Sie fragten, er erzählte, die Zeit verstrich. Er erzählte von Paris; ja, da war der Wirt auch gewesen, vor vielen Jahren. Aber in Bosnien war er nicht gewesen, dort wo Mili auf einem großen Gut die Landwirtschaft beaufsichtigt hatte; da waren Zustände und seltsame Menschen und Abenteuer 77 allerlei. Sie fragten, er erzählte, die Zeit verstrich. Der frühe Abend stand vor dem Fenster, eh man es für möglich hielt. Rasch brachen wir auf, warm waren uns Herz und Kopf und Glieder, ein kalter Wind klatschte uns an die Wangen. Damit ich Schritt halte, legte mir Mili seinen starken Arm um Schulter und Rücken und trug mich halb dahin über die Straße, die dunkel vor uns in die graue Nacht stieß. Außer Atem kamen wir zu spät nach Hause zu Tisch, und ohne daß wir es verabredet hätten, verschwiegen wir das Schönste unserer Wanderung.
Nur dem Schwesterchen gegenüber in langen Flüstergesprächen vor dem Einschlafen tat ich groß in Andeutungen, und es hörte erschrocken zu und wußte nicht, sollte es der Mutter dankbar sein oder zürnen, weil es nicht hatte dabei sein dürfen. Mir aber schien es richtig so. Denn was man mit Mili erlebte, das war kein Spiel. Was aber war es? Verboten war es, verwegen war es, frech und schön. Ich wußte nicht, daß es das Leben war. Doch ich schnupperte tüchtig daran und es gefiel mir über alle Maßen.