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Der Herbst war gekommen. Die Du Roys waren den ganzen Sommer in Paris geblieben und führten während der kurzen Kammerferien einen energischen Feldzug zugunsten der neuen Regierung.
Zwar war es erst Anfang Oktober; aber die Kammer hatte bereits ihre Sitzungen wieder aufgenommen, denn die Marokkoaffäre wurde immer ernster und verwickelter. Eigentlich glaubte ja niemand an die Expedition nach Tanger. Obwohl am Tage, wo das Parlament auf Ferien ging, ein Abgeordneter der Rechten, Graf Lambert-Sarrazin, in einer geistreichen Rede, die sogar im Zentrum Beifall fand, erklärt hatte, er wolle — wie einst ein berühmter Vizekönig von Indien — mit seinem Schnurrbart gegen den Backenbart des Ministerpräsidenten wetten, daß das neue Kabinett genau so handeln würde wie das frühere, und auch ein Expeditionskorps nach Tanger schicken würde, wie einst nach Tunis, schon der Symmetrie wegen, wie man zwei Vasen auf einen Kamin stellt.
Er fügte noch hinzu: »Die afrikanischen Länder sind für Frankreich tatsächlich ein Kamin, meine Herren, ein Kamin, der gut zieht und unser bestes Holz verzehrt und den man mit Bankaktien heizen muß. Sie haben sich die Laune gestattet, die linke Ecke mit einer tunesischen Kostbarkeit zu schmücken, die Ihnen teuer zu stehen kommt, nun werden Sie sehen, daß Herr Marot seinen Vorgänger nachahmen und auch die rechte Ecke mit einer Kostbarkeit schmücken wird.
Diese Rede war berühmt geworden. Du Roy hatte im Anschluß daran zehn Artikel über die Kolonisation Algiers veröffentlicht; die ganze Serie, die er bei Beginn seiner Journalistenlaufbahn unterbrechen mußte. Er trat energisch für eine militärische Expedition ein, obwohl er überzeugt war, daß sie niemals stattfinden würde. Er gebärdete sich überpatriotisch und überschüttete Spanien mit allen möglichen beleidigenden und verächtlichen Bemerkungen, die man gegen Völker gebraucht, deren Interessen den eigenen zuwiderlaufen.
Die Vie Française hatte durch die Beziehung zu der herrschenden Staatsgewalt außerordentliches Ansehen und Bedeutung gewonnen. Sie brachte die politischen Neuigkeiten früher als die maßgebenden altbewährten Blätter und legte die Absichten der ihr befreundeten Minister durch verschiedene Redewendungen klar; fast alle Pariser und Provinzzeitungen bezogen aus ihr ihre Informationen. Man zitierte sie, man fürchtete sie und begann sie sogar zu achten. Sie war nicht mehr das verdächtige Organ einer Gruppe politisierender Börsenspekulanten, sondern das anerkannte Organ, das dem Ministerium nahestand. Laroche-Mathieu war die Seele der Zeitung und Du Roy sein Sprachrohr. Vater Walter, der stumme Deputierte, und gerissene Zeitungsdirektor, hielt sich im Hintergrund, und man erzählte, daß er sich im stillen mit einem großen Kupferminengeschäft in Marokko beschäftige.
Der Salon Madeleines war zu einem einflußreichen Mittelpunkt geworden, wo man allwöchentlich einige Mitglieder des Ministeriums traf. Der Ministerpräsident hatte sogar zweimal bei ihr gespeist, und die Frauen der Staatsmänner, die früher kaum über die Schwelle ihrer Wohnung traten, rühmten sich jetzt, ihre Freundinnen zu sein und kamen öfter zu ihr, als sie zu ihnen.
Der Minister des Äußeren war beinahe Herr bei ihr im Hause geworden. Er kam zu jeder Tageszeit, brachte Telegramme, Nachrichten und verschiedene Informationen mit. Er diktierte sie bald dem Manne, bald der Frau des Hauses, als wären sie beide seine Sekretäre. Blieb Du Roy, nachdem der Minister fortgegangen war, mit seiner Frau allein, so ging er mit drohender Stimme und perfiden Andeutungen gegen das Benehmen dieses mittelmäßigen Emporkömmlings los. Sie zuckte aber verächtlich die Achseln und sagte immer wieder:
»Mach' du es ebenso. Werde Minister, da kannst du alles nach deinem Belieben leiten. Bis dahin mußt du schweigen.« Er drehte seinen Schnurrbart und warf auf sie von der Seite einen Blick.
»Man weiß noch gar nicht, wozu ich fähig bin,« sagte er, »aber eines Tages wird man es vielleicht erfahren.«
Sie antwortete mit philosophischer Ruhe:
»Die Zukunft wird es zeigen.«
Am Morgen der Wiedereröffnung der Kammer lag die junge Frau noch im Bett und gab ihrem Gatten, der sich für das Frühstück bei Laroche-Mathieu ankleidete, tausend Verhaltungsmaßregeln, um noch vor Beginn der Sitzung von ihm die nötigen Instruktionen für den Leitartikel einzuholen, der am nächsten Tage in der Vie Française als offiziöse Darstellung der wirklichen Absichten des Kabinetts veröffentlicht werden sollte.
Madeleine sagte: »Vor allen Dingen vergiß nicht, ihn zu fragen, ob der General Belloncle tatsächlich nach Oran entsandt worden ist, wie das behauptet wurde. Das wäre von größter Bedeutung.«
Er wurde nervös und ungeduldig.
»Ich weiß doch genau so gut wie du, was ich tun soll. Höre doch mal auf, alles hundertmal zu wiederholen und laß mich damit endlich zufrieden!«
»Mein Lieber,« erwiderte sie ruhig, »du vergißt immer die Hälfte von dem, was du dem Minister ausrichten sollst.« .
»Dein Minister geht mir auf die Nerven,« brummte er, »er ist ein Hanswurst.«
Sie antwortete ohne jede Erregung:
»Er ist genau so dein Minister wie der meine. Er ist dir sogar nützlicher als mir.«
Er drehte sich zu ihr um und lächelte höhnisch:
»Verzeihung;, mir macht er nicht den Hof.«
»Mir auch nicht,« antwortete sie langsam, »aber er läßt uns reich werden.«
Er schwieg und sagte dann nach einer kurzen Pause: »Wenn ich unter deinen Verehrern zu wählen hätte, so wäre mir der alte Narr de Vaudrec doch noch lieber. Was ist eigentlich mit ihm los? Ich habe ihn seit acht Tagen nicht gesehen.«
Sie antwortete, ohne sich aufzuregen:
»Er ist leidend. Er schrieb mir, daß er einen Gichtanfall gehabt hätte und das Bett hüten müßte. Du solltest bei ihm vorbeigehen und dich nach seinem Befinden erkundigen. Du weißt doch, er hat dich sehr gern, und es würde ihm sicher Freude machen.«
»Ja, gewiß,« erwiderte Georges, »sobald ich kann, gehe ich hin.«
Er war mit seiner Toilette zu Ende, setzte seinen Hut auf und suchte herum, ob er nichts vergessen hatte. Er fand nichts, näherte sich seiner Frau und gab ihr einen Kuß auf die Stirn:
»Auf Wiedersehen, mein Liebling, ich werde nicht vor sieben zurück sein.«
Dann ging er fort.
Herr Laroche-Mathieu erwartete ihn bereits, denn an diesem Tage frühstückte er um zehn Uhr. Der Ministerrat sollte um zwölf, noch vor der Parlamentseröffnung, zusammentreten.
Frau Laroche-Mathieu wollte zur gewohnten Zeit frühstücken, und so war außer ihnen beiden nur noch der Privatsekretär des Ministers bei Tisch. Du Roy begann von seinem Artikel zu sprechen, gab dessen Richtlinien an, stellte dem Minister einige Fragen und kritzelte ein paar Notizen auf seine Visitenkarte; als er fertig war, fragte er:
»Wollen Sie noch etwas ändern, verehrter Minister?«
»Sehr wenig, mein lieber Freund. Vielleicht sind Ihre Angaben über die Marokkofrage etwas zu positiv. Behandeln Sie die Sache so, als ob die Expedition stattfinden würde; aber andererseits lassen Sie deutlich durchblicken, das nichts Derartiges geschehen wird, und daß Sie selbstverständlich nicht daran glauben. Geben Sie dem Publikum zu verstehen — wir denken nicht daran, uns in dieses Abenteuer einzulassen.«
»Sehr gut, ich habe es verstanden und werde es den Lesern auch verständlich machen. Meine Frau bat mich noch, Sie zu fragen, ob der General Belloncle nach Oran geschickt würde. Nach dem, was Sie mir eben erklärt haben, nehme ich wohl an, daß es nicht der Fall ist.«
Der Staatsmann erwiderte:
»Nein.«
Dann sprach man über die bevorstehende Eröffnung der Kammer. Laroche-Mathieu begann nun zu reden; er wollte die Wirkung der Phrasen ausprobieren, die er sich vorbereitet hatte, um sie in wenigen Stunden vor seinen Kollegen auszustreuen. Er schwang dabei die rechte Hand, in der er bald die Gabel, bald das Messer, bald ein Stückchen Brot hielt. Er wandte sich dabei an die unsichtbare Versammlung und entlud seine süßlich-fließende Beredsamkeit des hübschen wohlfrisierten Mannes. Sein winziger hochgedrehter Schnurrbart endete mit zwei Spitzen, und sein Haar, das in der Mitte gescheitelt und reichlich mit Brillantine eingefettet war, umgab seine Schläfen so, daß er wie ein Provinzgeck aussah. Trotz seiner Jugend war er etwas zu dick, etwas aufgeschwemmt und die Weste spannte sich über seinem Bäuchlein. Der Privatsekretär aß und trank ruhig weiter, denn er war offenbar an solche Redeergüsse gewöhnt. Du Roy jedoch, dem der Neid auf den errungenen Erfolg am Herzen nagte, dachte dabei: »Du altes Kamel, was für Dummköpfe sind doch diese Politiker!«
Sein eigener Wert kam ihm im Vergleich zu der geschwätzigen Wichtigtuerei des Ministers um so mehr zum Bewußtsein, und er sagte sich: »Wenn ich nur 100000 Francs bar hätte, um mich in meiner schönen Heimat als Deputierten aufstellen zu lassen! O Gott! Wie würde ich meine wackeren, pfiffigen und schwerfälligen Normannen hereinlegen, und was für ein Staatsmann würde ich werden, im Vergleich zu diesen kurzsichtigen Schwätzern!«
Herr Laroche-Mathieu redete bis zum Kaffee. Dann sah er, daß es spät wurde, er klingelte, ließ sein Coupé vorfahren und reichte dem Journalisten die Hand:
»Alles recht verstanden, mein lieber Freund?«
»Vollkommen, verehrter Minister. Sie können sich auf mich verlassen.«
Du Roy ging langsam auf die Redaktion, um seinen Artikel aufzusetzen, denn er hatte sonst bis vier Uhr nichts zu tun. Um vier sollte er sich in der Rue Constantinople mit Madame de Marelle treffen, mit der er regelmäßig, zweimal wöchentlich, Montags und Freitags, zusammen war.
Doch als er auf die Redaktion kam, überreichte man ihm eine geschlossene Depesche. Sie war von Frau Walter und lautete:
»Ich muß dich unbedingt heute sprechen. Es ist etwas sehr Wichtiges. Erwarte mich um zwei Uhr in der Rue Constantinople. Ich kann dir einen großen Dienst erweisen
Deine Freundin bis zum Tode,
Virginie.«
Er schimpfte: »Donnerwetter, dieses klebrige Weib.« Und in einem Anfall schlechter Laune verließ er sofort die Redaktion; denn er war zu aufgeregt, um weiterzuarbeiten.
Seit sechs Wochen versuchte er vergebens, mit ihr zu brechen. Doch sie klammerte sich mit zäher Anhänglichkeit an ihn.
Gleich nach ihrem Fehltritt hatte sie furchtbare Gewissensbisse gehabt und bei den drei aufeinanderfolgenden Zusammenkünften ihn mit Vorwürfen bitterster Art überschüttet. Ihm wurden diese Szenen langweilig, denn er war dieser überreifen und dramatischen Frau sehr schnell überdrüssig geworden; er zog sich einfach zurück und hoffte, daß dieses Abenteuer auf diese Weise so ohne weiteres ein Ende finden würde. Nun aber hing sie sich an ihn und stürzte sich wie wahnsinnig in diese Liebe, wie man sich in einen Fluß stürzt, mit einem Stein am Halse. Aus Schwäche, Gutmütigkeit und Rücksicht hatte er sich wieder mit ihr eingelassen. Und nun umgab sie ihn mit einer zügellosen ermüdenden Leidenschaft und verfolgte ihn mit ihren Zärtlichkeiten. Sie wollte ihn jeden Tag sehen, bestellte ihn alle Augenblicke durch Telegramme zu flüchtigen Begegnungen an Straßenecken, Warenhäusern, öffentlichen Anlagen. Immer wieder sagte sie ihm dieselben Phrasen, daß sie ihn anbete und vergöttere und verließ ihn alsdann mit dem Schwur, daß sie selig sei, ihn gesehen zu haben.
Sie erwies sich ganz anders, als er je geträumt hätte, und versuchte ihn mit kindlichen Zärtlichkeiten und Liebkosungen zu verführen, die in ihrem Alter lächerlich wirkten. Da sie bis dahin vollständig anständig geblieben war, innerlich keusch, jedem Gefühl verschlossen, und eigentlich nichts von Leidenschaft und sinnlicher Liebe kannte, so schien bei dieser vernünftigen Frau bei ihren vierzig Jahren ein blasser Herbst einem kühlen Sommer zu folgen. Nun entstand bei ihr durch dieses Abenteuer eine Art von zweitem welkem Frühling mit kleinen, verkümmerten Knospen, eine seltsame Nachblüte von Mädchenliebe, eine verspätete glühende und doch naive Leidenschaft mit unerwarteten Gefühlsausbrüchen eines sechzehnjährigen Mädchens, geschwätzigen Liebkosungen und alternden Zärtlichkeiten, die nie jung gewesen waren. Sie schrieb zehn Briefe am Tage, alberne und verrückte Briefe in einem verworrenen, poetischen, lächerlichen Stil mit drastischen Ausdrücken voller Tier- und Vogelnamen.
Sobald sie allein waren, umarmte sie ihn mit schwerfälliger Zärtlichkeit, wie ein großes Kind, verzog die Lippen in komischer Weise und sprang um ihn herum, wobei ihr schwerer und voller Busen unter dem Stoff ihres Kleides hin und her wogte.
Er war geradezu verzweifelt, wenn sie ihn »Mein Mäuschen«, »Mein Hündchen«, »Mein Kätzchen«, »Mein Schätzchen«, »Mein Vögelchen«, »Mein Herzchen« nannte und, wenn sie sich hingab, immer wieder eine kindisch-schamhafte Komödie spielte, mit ängstlichen Bewegungen, die sie für graziös und verführerisch hielt, mit allerlei Kindereien einer verzogenen Pensionsschülerin.
Sie fragte: »Wem gehört dieses Mündchen?«, und wenn er nicht sofort mit »Mir« antwortete, dann quälte sie ihn, bis er ganz nervös und blaß wurde. Sie mußte doch fühlen, so schien es ihm, daß zur Liebe etwas Takt, Gewandtheit, Vorsicht und entsprechendes Benehmen gehört, daß sie, die sie sich ihm als Familienmutter und reife Weltdame hingegeben hatte, es mit Würde und einer gewissen Zurückhaltung tun müßte, vielleicht mit Tränen; aber mit den Tränen einer Dido und nicht einer Julietta.
Sie wiederholte ihm immerfort:
»Wie ich dich liebe, mein Kleiner, liebst du mich auch so sehr, mein Kindchen?«
Er konnte es nicht mehr hören, wie sie ihn »mein Kleiner« oder »mein Kindchen« nannte, ohne daß er Lust verspürte, sie »meine Alte« anzureden.
Sie sagte ihm:
»Es war wahnsinnig von mir, dir nachzugeben; aber jetzt bedauere ich es nicht. Es ist so schön, zu lieben.«
Alle diese Worte, die aus ihrem Munde kamen, erregten und ärgerten Georges auf das höchste. Sie flüsterte: »Wie schön ist es, zu lieben«, wie das eine schlechte Schauspielerin auf der Bühne getan hätte. Und dann brachte ihn die Ungeschicklichkeit ihrer Liebkosungen zur Verzweiflung. Der junge, hübsche Mann ließ durch seine Küsse ihre sinnliche Leidenschaft und ihr heißes Blut aufwallen; sie zeigte aber eine solche Ungeschicklichkeit in ihrer zärtlichen und glühenden Umarmung, daß Du Roy darüber am liebsten gelacht hätte und an alte Leute denken mußte, die lesen und schreiben zu lernen versuchen.
Und wenn sie ihn mit ihren Armen umklammerte und ihn leidenschaftlich anblickte, mit den tiefen und schrecklichen Blicken, die manche alternde überreife Frau bei ihrer letzten Liebe hatte, und wenn sie ihn mit ihrem stummen und zitternden Munde beißen und ihn mit ihrem heißen, schweren, müden und doch unersättlichen Körper erdrücken wollte — so benahm sie sich wie ein Schulmädchen und lallte, um graziös und verführerisch zu sein: »Ich liebe dich so innig und heiß. Ich liebe dich so sehr. Sei recht lieb zu deiner kleinen Frau«, und er spürte dann ein unwiderstehliches Verlangen, zu fluchen, seinen Hut zu nehmen, fortzugehen und die Tür hinter sich zuzuschlagen.
In der ersten Zeit waren sie oft in der Rue Constantinople zusammen, doch Du Roy fürchtete ein Zusammentreffen mit Madame de Marelle und er fand jetzt eine Menge Ausreden, um sich diesen Zusammenkünften zu entziehen.
Und nun mußte er fast täglich zu ihr kommen; bald zum Frühstück, bald zum Mittagessen. Sie drückte ihm unter dem Tisch die Hand und sobald sie hinter einer Tür oder einem Vorhang waren, hielt sie ihm die Lippen zum Kusse hin. Doch er fand viel mehr Vergnügen daran, mit Suzanne zu spielen, über deren witzige Einfälle er oft lachen mußte. In ihrem Puppenkörper lebte ein witziger, spöttischer Geist, der stets unverhofft hervorbrach, wie eine Marionette auf dem Jahrmarkt. Sie machte sich über alle Welt in der schärfsten und geistreichsten Weise lustig. Georges reizte sie an, stachelte ihre Ironie auf und sie verstanden sich vortrefflich.
Alle Augenblicke rief sie ihn:
»Hören Sie mal, Bel-Ami! — Kommen Sie mal her, Bel-Ami!« Er ließ sofort die Mutter im Stich und eilte zu der Tochter. Sie flüsterte ihm irgendeine Bosheit ins Ohr, über die sie dann beide herzlich lachten.
Inzwischen war er der Liebe der Mutter so überdrüssig geworden, daß er bald einen unüberwindlichen Widerwillen gegen sie empfand. Er konnte sie nicht mehr sehen, noch hören, noch an sie denken, ohne wütend zu werden. Er besuchte sie daher nicht mehr und ließ ihre Briefe und ihre Bitten unbeantwortet.
Endlich begriff sie, daß er sie nicht mehr liebte und begann darunter furchtbar zu leiden. Doch sie ließ nicht von ihm ab, spürte ihm nach, verfolgte ihn, lauerte auf ihn in einer Droschke mit heruntergezogenen Vorhängen am Eingang der Redaktion; vor seiner Haustür und in den Straßen, wo sie ihm zu begegnen hoffte.
Er hatte Lust, sie zu mißhandeln, zu beschimpfen, sie zu verprügeln und ihr einfach ins Gesicht zu schleudern: »Ich habe genug, ich bin Ihrer satt!«
Aber im Hinblick auf die Vie Française mußte er auf sie doch einige Rücksichten nehmen und so versuchte er durch Kälte und durch etwas gemilderte Härte und manchmal sogar durch heftige Worte ihr beizubringen, daß man endlich alledem ein Ende bereiten müßte.
Sie erfand alle möglichen Listen und Vorwände, um sich mit ihm in der Rue Constantinople zu treffen, und er lebte unaufhörlich in der Furcht, daß die beiden Frauen eines Tages an der Tür aufeinanderstoßen würden.
Seine Neigung zu Madame de Marelle war aber im Gegenteil im Laufe des Sommers noch stärker geworden. Er nannte sie »Mein Bübchen«, und sie gefiel ihm ganz entschieden. Sie hatten sehr viel Ähnliches in ihrem inneren Wesen und paßten sehr gut zueinander. Sie waren beide im Grunde Abenteurer, sie waren Nomaden des großen städtischen Lebens, die, ohne es zu ahnen, den Zigeunern der Landstraße so sehr ähnelten.
Sie hatten einen herrlichen Liebessommer verlebt, wie ein junges, verliebtes Studentenpaar, das Hochzeit machte. Sie fuhren zum Frühstück nach Argenteuil, nach Bougival, nach Maisons und Poissy heraus und blieben stundenlang im Boot, um an den Ufern entlang Blumen zu pflücken. Sie liebte sehr gebackene Seinefische, Kaninchen und Fischfrikassee, sie schwärmte für die Lauben in den kleinen Kneipen und für das Geschrei der Ruderer. Es machte ihm Spaß, mit ihr an einem heiteren Sommertage auf dem Verdeck eines Vorortzuges hinauszufahren und mit heiterem Lachen und Scherzen die häßlichen Felder um Paris zu durchqueren, auf denen die scheußlichen Villen der Spießbürger wie Pilze aus der Erde schießen.
Und als er wieder zurück mußte, um bei Frau Walter zu essen, da haßte er die alte zähe Geliebte und dachte an die junge, die er eben verlassen hatte und die auf den schönen grünen Flußufern seine Begierde gestillt und seine Leidenschaft befriedigt hatte.
Er fühlte sich nun endlich von der Frau seines Chefs etwas befreit, denn er hatte, als er ihr Telegramm erhielt, in dem sie ihn zu einem Rendezvous um zwei Uhr in die Rue Constantinople bestellte, ihr ziemlich unumwunden und mit brutalen Ausdrücken seinen Entschluß klargelegt, mit ihr zu brechen.
Er las es im Gehen noch einmal durch: »Ich muß Dich unbedingt sprechen. Es ist etwas sehr Wichtiges. Erwarte mich um zwei Uhr in der Rue Constantinople. Ich kann Dir einen großen Dienst erweisen. Deine Freundin bis zum Tode. — Virginie.«
Er dachte: »Was will sie noch von mir, die alte Gans? Ich wette, sie hat mir gar nichts mitzuteilen. Sie wird mir nur noch einmal wiederholen, daß sie mich über alles liebt. Na, wir werden ja sehen. Sie spricht von einer sehr wichtigen Sache, von einem großen Dienst, es kann vielleicht doch wahr sein. Und Clotilde kommt um vier. Ich muß die erste spätestens um drei los werden. O Gott! Daß sie sich nur nicht begegnen! Oh, diese Weiber!«
Und er überlegte sich, daß seine Frau die einzige war, die ihm immer seine Ruhe gönnte. Sie lebte an seiner Seite und schien ihn auch sehr gern zu haben, wenigstens in den Stunden, die zur Liebe bestimmt waren; denn sie duldete nicht, daß die Tagesordnung gestört wurde.
Er ging mit langsamen Schritten seiner Junggesellenwohnung zu und versetzte sich innerlich immer mehr gegen die Frau seines Chefs in Wut: »Ah, ich werde sie schon richtig zu empfangen verstehen, wenn sie mir nichts mitzuteilen hat. Das Wort Cambronnes soll neben dem meinen akademisch klingen. Ich werde ihr erklären, daß ich darauf verzichte, je wieder ihr Haus zu betreten.«
Er trat ein, um auf Frau Walter zu warten. Sie kam fast unmittelbar darauf, und als sie ihn erblickte, rief sie:
»Ach, du hast meine Depesche erhalten. Welch ein Glück!«
Er machte ein böses Gesicht:
»Jawohl, ich fand sie auf der Redaktion in dem Augenblick, als ich zur Kammer gehen wollte. Was willst du noch von mir?«
Sie hatte ihren Schleier aufgesteckt, um ihn zu küssen und näherte sich ihm scheu und unterwürfig, wie eine verprügelte Hündin:
»Warum bist du so grausam gegen mich? Wie hart sprichst du mit mir! Was habe ich dir getan?... Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich darunter leide!«
Er brummte:
»Fängst du schon wieder an?«
Sie stand jetzt ganz dicht bei ihm und wartete auf ein Lächeln von ihm, auf eine Bewegung, um sich ihm an den Hals zu werfen.
»Du solltest mich gar nicht verführen,« murmelte sie, »um mich so zu behandeln. Du solltest mich unbescholten und glücklich lassen, so wie ich früher war. Entsinnst du dich, was du mir in der Kirche sagtest und wie du mich mit Gewalt in dieses Haus geführt hast? Und nun, wie sprichst du zu mir! Wie empfängst du mich! O mein Gott, mein Gott! Wie du mir weh tust!«
Er stampfte wütend mit den Füßen:
»Ah, nun genug! Ich kann dich keine Minute sehen, ohne diese ewige Litanei mit anzuhören. Das klingt ja so, als ob ich dich mit zwölf Jahren verführt hätte und du unschuldig wärest wie ein Engel. Nein, Liebste! Stellen wir mal die Tatsachen fest. Es war keine Verführung von Minderjährigen. Du hast dich mir hingegeben in vollständig verstandesreifem Alter. Ich bin dir dafür sehr dankbar, aber ich fühle mich gar nicht verpflichtet, bis zum Tode an deinen Rock gebunden zu sein. Du hast einen Mann, ich eine Frau. Wir sind beide nicht frei. Wir sind einer Laune gefolgt, ohne uns gegenseitig gut zu kennen und nun ist es aus.«
»Oh, wie du grausam bist,« sagte sie, »wie bist du roh, wie bist du infam! Nein! Ich war kein junges Mädchen mehr, doch ich habe nie geliebt, nie ...«
Er schnitt ihr das Wort ab:
»Du hast es mir schon zwanzigmal wiederholt. Ich weiß es. Doch du hattest zwei Kinder... Ich habe dir also nicht die Unschuld geraubt.«
Mit einem Ruck fuhr sie zurück:
»O Georges, wie unwürdig!«
Sie preßte ihre beiden Hände gegen die Brust und begann zu weinen und zu schluchzen. Als er die Tränen fließen sah, ergriff er seinen Hut, der auf der Ecke des Kamins lag:
»Ach, du willst weinen! Dann guten Abend. Du hast mich also nur für dieses Theater herbestellt?«
Sie tat einen Schritt vorwärts, um ihm den Weg abzuschneiden. Sie zog schnell ein Taschentuch heraus und wischte sich mit heftiger Bewegung die Tränen ab. Sie spannte ihren Willen an und sprach mit festerer Stimme, unterbrochen von kurzem, schmerzlichem Aufschluchzen:
»Nein, ich kam, um dir... um dir eine Neuigkeit mitzuteilen ... eine politische Neuigkeit ... um dir die Möglichkeit zu geben, 50000 Francs schnell zu verdienen ... vielleicht sogar mehr.«
Er fragte plötzlich besänftigt:
»Wieso? Was willst du damit sagen?«
»Ich habe gestern abend zufällig einer Unterredung zwischen Laroche-Mathieu und meinem Mann beigewohnt. Übrigens schienen sie sich vor mir nicht besonders geniert zu haben. Doch Walter empfahl dem Minister, dich nicht einzuweihen, da du womöglich alles veröffentlichen würdest.«
Du Roy legte seinen Hut auf einen Stuhl und wartete jetzt sehr gespannt.
»Also worum handelt es sich?«
»Sie wollen sich Marokkos bemächtigen!«
»Ach was, ich habe mit Laroche gefrühstückt und er hat mir die Pläne der Regierung auseinandergesetzt.«
»Nein, mein Liebling, es ist Schwindel, sie haben dich betrogen, weil sie fürchten, daß man ihre Pläne durchschaut.«
»Setz' dich«, sagte Georges.
Und er setzte sich selbst in einen Lehnstuhl. Sie aber zog ein niedriges Taburett heran und ließ sich zwischen den Beinen des jungen Mannes nieder. Sie fuhr mit schmeichelnder Stimme fort:
»Da ich stets an dich denke, gebe ich auf alles, was man um mich herum flüstert, acht.«
Dann begann sie ihm langsam zu erklären, wie sie gemerkt hatte, daß seit einiger Zeit ohne sein Mitwissen etwas vorbereitet würde und daß man sich seiner bedienen wollte, obwohl man seine Beteiligung am Geschäft fürchtete und ihn nicht verdienen lassen wollte.
Sie sprach:
»Weißt du, wenn man liebt, wird man hinterlistig.« Kurz, gestern hatte sie alles begriffen. Es handelte sich um ein richtiges Geschäft, das im stillen vorbereitet wurde. Sie lächelte und freute sich über ihre Schlauheit und Gewandtheit. Sie wurde aufgeregt, sie sprach als Gattin eines Finanziers, die an Börsencoups gewöhnt war, an das Schwanken der Worte, an den jähen Wechsel zwischen Hausse und Baisse, der binnen zwei Stunden Börsenspekulation Tausende von kleinen Bürgern ruiniert und ihrer letzten, in Fonds angelegten Ersparnisse beraubt, die von geachteten Finanzleuten und Politikern garantiert sind.
Sie wiederholte:
»Oh, es ist etwas Großartiges, was sie da im Schilde führen. Es ist etwas sehr Großes. Übrigens hat Walter das alles eingeleitet; er versteht das. Es ist ein Bombengeschäft.«
Er wurde ungeduldig über die lange Vorrede:
»Los, weiter! Sag' schnell!«
»Also höre zu. Die Tangerexpedition war zwischen ihnen beschlossen, schon seit dem Tage, wo Laroche das Portefeuille des Auswärtigen übernommen hatte; nach und nach haben sie die marokkanischen Anleihen aufgekauft, die auf 65 bis 64 gefallen waren. Sie haben es sehr geschickt aufgekauft, durch Vermittlung unverdächtiger und kleiner Agenten, die auf der Börse nicht weiter aufgefallen waren. Sie haben selbst die Rothschilds getäuscht, die sich über die Nachfrage nach Marokkanern sehr wunderten. Aber man nannte ihnen die Namen der Zwischenhändler, alles unbedeutende, zweitklassige, meist gescheiterte Firmen. Das hat die Großbank beruhigt. Und nun wird man die Expedition unternehmen, und sobald wir da unten Fuß gefaßt haben, garantiert der französische Staat die Schulden. Unsere Freunde nehmen dann einen Gewinn von fünfzig bis sechzig Millionen Francs mit. Du begreifst nun, warum man vor aller Welt die geringste Indiskretion fürchtet.«
Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Weste und legte die Arme auf seine Knie; sie schmiegte sich an ihn, denn sie wußte, jetzt hatte sie sein Interesse geweckt. Für eine Liebkosung, für ein Lächeln, war sie nun bereit, alles zu tun, alles zu begehen.
»Bist du auch ganz sicher?« fragte er.
»Oh, ich weiß es ganz genau«, erwiderte sie zuversichtlich.
Er erklärte darauf:
»Es ist wirklich großartig. Was aber diesen Lump Laroche angeht, den will ich am Kragen nehmen. Oh, dieser Gauner! Er soll sich in acht nehmen ... er soll sich in acht nehmen! ... Er soll mir nur mit seinem Ministergetue zwischen die Finger kommen!«
Dann dachte er nach und murmelte:
»Man müßte davon auch etwas profitieren.«
»Du kannst noch die Anleihe kaufen,« sagte sie, »sie steht nur auf 72.«
»Ich habe aber kein Geld flüssig«, erwiderte er.
Sie sah flehend zu ihm auf:
»Ich habe schon daran gedacht, mein Kätzchen; wenn du zu mir sehr nett wärest, wenn du mich ein bißchen lieb hättest, dann würdest du mir gestatten, es dir zu leihen.«
Er antwortete schroff und heftig:
»Nein, ausgeschlossen!«
»Hör mich an,« bat sie mit flehender Stimme, »es gibt eine Möglichkeit, es zu tun, ohne Geld zu leihen. Ich wollte von dieser Anleihe für 10000 Francs kaufen, um mir eine kleine Reserve anzulegen; nun werde ich für 20000 Francs kaufen. Du beteiligst dich daran zur Hälfte. Du verstehst doch, ich werde es ja nicht an Walter gleich zurückzahlen. Du brauchst zunächst gar nicht zu bezahlen. Sollte es gelingen, so gewinnst du 70000 Francs; gelingt es nicht, so bleibst du mir eben 10000 Francs schuldig, die du mir zurückzahlen wirst, wann es dir paßt.«
Er wiederholte:
»Nein, nein, solche Kombinationen mache ich nicht mit.«
Nun begann sie, ihre Gründe auseinanderzusetzen und versuchte, ihn mit Vernunft zu überreden. Sie bewies ihm, daß er tatsächlich 10000 Francs auf sein Wort riskierte, daß folglich sie ihm gar nichts lieh, daß doch die Bank Walter das Geld vorstreckte.
Außerdem wies sie darauf hin, daß er doch in der Vie Francaise den ganzen politischen Feldzug geführt hatte, der das Geschäft überhaupt erst ermöglichte und daß er doch nicht so naiv wäre, keinen Vorteil daraus zu ziehen.
Er zauderte. Sie fuhr fort:
»Überlege es dir doch. Es ist doch Walter, der dir die 10000 Francs vorstreckt, und du hast ihm Dienste erwiesen, die bedeutend wertvoller sind als das.«
»Also gut, meinetwegen,« sagte er, »wir machen mit dir die Sache halb und halb. Sollten wir verlieren, so zahle ich dir 10000 Francs zurück.«
Sie war so glücklich, daß sie sich erhob, seinen Kopf mit beiden Händen ergriff und ihn gierig zu küssen begann.
Zunächst wehrte er sich nicht. Als sie aber stürmischer wurde, ihn umklammerte und mit ihren Liebkosungen verzehrte, fiel ihm dann ein, daß die andere bald kommen mußte und daß, wenn er nachgeben, er Zeit verlieren würde, und es wäre ihm doch lieber, seine Leidenschaft für die Jüngere aufzusparen, als sie in den Armen der Alten zu lassen.
Er wies sie sanft zurück.
»Sei doch vernünftig«, sagte er.
Sie blickte ihn verzweifelt an:
»O Georges, darf ich dir nicht einmal einen Kuß geben?«
»Heute nicht,« erwiderte er, »ich habe etwas Kopfschmerzen und es bekommt mir nicht.«
Darauf ließ sie sich fügsam zwischen seinen Knien nieder und fragte:
»Willst du morgen zu mir zum Essen kommen? Du würdest mir eine große Freude machen!«
Er zögerte, wagte aber nicht, abzulehnen.
»Ja, sehr gern!«
»Ich danke dir, mein Liebling.«
Mit regelmäßiger sanfter Bewegung rieb sie langsam ihre Wange an seiner Brust und eins ihrer langen schwarzen Haare blieb dabei an seiner Weste hängen. Sie merkte es und ein toller, halbverrückter, abergläubischer Gedanke ging ihr durch den Kopf, ein Gedanke, wie er oft der einzige Grund weiblichen Handelns ist. Sie begann, dieses Haar langsam um einen seiner Knöpfe zu wickeln. Dann wickelte sie ein anderes Haar um den nächsten Knopf und so weiter, bis an jedem Knopf ein Haar hing.
Sollte er nun aufstehen, so würde er sie alle herausreißen. Er würde ihr weh tun. Welches Glück! Er würde, ohne es zu wissen, etwas von ihr herumtragen, eine kleine Locke ihres Haares, um die er niemals gebeten hatte. Es würde ein Band sein, mit dem sie sich an ihm festhalten würde, ein geheimes, unsichtbares Band, ein Talisman, den er bei sich tragen müßte, ohne es zu wollen. Er würde an sie denken, von ihr träumen und vielleicht sie tags darauf etwas mehr lieben.
Plötzlich sagte er:
»Ich muß dich gleich verlassen, weil man mich zum Schluß der Sitzung in der Kammer erwartet. Ich darf in keinem Falle fehlen.«
Sie seufzte:
»Ach, schon!«
Und setzte dann hinzu :
»Geh; aber morgen, mein Liebling, kommst du bestimmt zum Essen.«
Dann riß sie sich rasch von ihm los. Sie fühlte auf ihrem Kopf einen kurzen heftigen Schmerz, als habe man sie mit Nadeln gestochen. Ihr Herz klopfte, sie war glücklich, durch ihn gelitten zu haben.
»Adieu«, sagte sie.
Er nahm sie mit einem mitleidigen Lächeln in die Arme und küßte sie kühl auf ihre Augen. Doch diese Berührung hatte sie erregt und betört und sie flüsterte nochmals: »Schon?« und ihr bettelnder Blick deutete auf das Schlafzimmer, dessen Tür offen stand.
Er rückte von ihr weg und sagte in eiligem Ton:
»Ich muß gleich laufen, sonst komme ich zu spät.«
Sie hielt ihm ihre Lippen zum Kusse hin; er berührte sie kaum, reichte ihr ihren Sonnenschirm, den sie zu. vergessen schien, und sagte:
»Schnell, schnell, wir müssen uns beeilen, es ist schon drei Uhr vorüber!«
Sie ging vor ihm hinaus und wiederholte:
»Morgen um sieben!«
»Morgen um sieben«, antwortete er.
Sie trennten sich; er bog nach rechts ein, sie nach links.
Du Roy ging bis zum äußeren Boulevard, dann ging er langsam den Boulevard Malesherbes entlang. Als er an einer Kuchenbäckerei vorbeikam, sah er in einer Glasschale im Schaufenster kandierte Kastanien. Er dachte: »Ich werde ein Pfund für Clotilde mitnehmen.« Er kaufte sich ein Päckchen voll von diesen Früchten, die sie wahnsinnig liebte.
Um vier war er wieder zurück und wartete auf seine junge Geliebte.
Sie verspätete sich etwas, denn ihr Mann war auf acht Tage nach Paria gekommen. Sie fragte:
»Kannst du morgen zum Diner kommen? Er würde sich sehr freuen, dich wiederzusehen.«
»Nein, ich esse beim Chef. Wir haben eine Menge verschiedener politischer und finanzieller Angelegenheiten zu besprechen.«
Sie nahm ihren Hut ab und begann ihre Bluse auszuziehen, die ihr zu eng war.
Er zeigte ihr das Päckchen auf dem Kamin:
»Ich habe für dich kandierte Kastanien mitgebracht.«
Sie klatschte in die Hände:
»Wie reizend ! Wie lieb bist du!«
Sie nahm sie, kostete eine und erklärte:
»Sie sind wundervoll. Ich fühle, ich werde nicht eine übriglassen.«
Dann blickte sie Georges mit einer sinnlichen Heiterkeit an und setzte hinzu:
»Du verwöhnst mich!«
Sie aß langsam die Kastanien und blickte dabei immer in die Tüte hinein, um zu sehen, ob noch etwas übrig sei.
Sie sagte:
»Komm, setz' dich da in den Lehnstuhl, ich will hier zu deinen Füßen meine Bonbons knabbern. Es wird so bequem sein.«
Er lächelte und setzte sich hin. Sie ließ sich zwischen seinen gespreizten Schenkeln nieder, wie Frau Walter vorhin. Sie hob den Kopf zu ihm empor und sprach mit vollem Munde:
»Du weißt es noch nicht, mein Liebling, ich habe von dir geträumt. Ich träumte, wir machten beide eine lange Reise auf einem Kamel. Es hatte zwei Höcker, wir saßen jeder rittlings auf einem Höcker und wir ritten durch die Wüste. Wir hatten Butterbrote und eine Flasche Wein mit und wir frühstückten auf den beiden Höckern. Mich langweilte das, weil wir etwas anderes nicht tun konnten, wir saßen zu weit voneinander entfernt. Ich wollte runter...«
»Ich will auch runter«, erwiderte er.
Er lachte, amüsierte sich über die Geschichten, ließ sie Unsinn reden, alle möglichen Kindereien und zärtliche Albernheiten schwatzen. Dieses alles fand er entzückend im Munde Madame de Marelles, während dasselbe im Munde Frau Walters ihn zur Verzweiflung gebracht hätte.
Clotilde nannte ihn auch: »Mein Liebling«, »mein Kleiner«, »mein Kätzchen«. Diese Worte schienen ihm süß und liebkosend zu sein. Wenn sie aber die andere vorhin gebrauchte, wurde er nervös und wütend. Denn Liebesworte, die stets dieselben sind, nehmen bekanntlich den Geschmack der Lippen an, die sie aussprechen.
Aber trotzdem ihn diese Tollheiten erheiterten, dachte er immerfort an die 70000 Francs, die er gewinnen sollte, und plötzlich unterbrach er das Geschwätz seiner Freundin, indem er ihr mit dem Finger zwei leichte Klapse auf den Kopf gab.
»Hör' mal zu, mein Schatz, ich will dir einen Auftrag für deinen Mann geben. Sage ihm von mir, er solle sich morgen für 10000 Francs Marokkoanleihen kaufen. Sie steht auf 72; und ich kann ihn versichern, daß er binnen drei Monaten 60- bis 80000 Francs verdienen wird. Er soll darüber aber absolutes Stillschweigen bewahren. Sag' ihm von mir, daß die Tangerexpedition schon beschlossen ist und daß der französische Staat die marokkanische Anleihe garantieren wird. Sag' den anderen aber kein Wort. Es ist nämlich ein Staatsgeheimnis, das ich dir anvertraue.«
Sie hörte ernst zu, dann sagte sie leise:
»Ich danke dir, ich werde es meinem Manne heute abend bestellen. Du kannst dich auf ihn verlassen, er wird nicht darüber schwatzen. Er ist ein sehr zuverlässiger Mensch. Du kannst ruhig sein.«
Inzwischen hatte sie alle Kastanien aufgegessen, zerknüllte die Tüte und warf sie in den Kamin. Dann sagte sie:
»Komm, wir wollen zu Bett.«
Und ohne aufzustehen, begann sie Georges Weste aufzuknöpfen.
Plötzlich hielt sie inne und zog mit zwei Fingern ein langes Haar aus seinem Knopfloch heraus. Sie lachte:
»Halt! Du hast ein Haar von Madeleine mitgebracht, du bist aber ein treuer Ehegatte.«
Dann wurde sie wieder ernst und prüfte lange auf der Hand den kaum sichtbaren Faden, den sie gefunden hatte.
»Es ist nicht von Madeleine, es ist schwarz.«
Er lächelte.
»Dann stammt es sicher von dem Stubenmädchen.«
Doch sie untersuchte die Weste mit dem scharfen Blick eines Polizisten und sie fand ein zweites Haar, das um einen Knopf gewickelt war, dann ein drittes; sie wurde bleich und rief zitternd aus:
»Oh, du hast mit einer Frau geschlafen, die dir ihre Haare um deine Knöpfe befestigt hat.«
Er war erstaunt und stammelte:
»Aber nein, du bist verrückt!«
Auf einmal fiel es ihm ein, er begriff es; nun wurde er verlegen, dann leugnete er lachend, denn er war im Grunde gar nicht böse, daß sie es ahnte, daß er Glück bei anderen Frauen hatte.
Sie suchte immer weiter und fand Haare, die sie mit einer schnellen Bewegung abwickelte und dann auf den Teppich warf.
Mit ihrem feinen, schlauen Fraueninstinkt hatte sie die Wahrheit erraten, und sie stammelte rasend vor Wut und mit Tränen in den Augen:
»Sie liebt dich, die da ..., sie wollte, du solltest etwas von ihr herumtragen... Oh! Du bist treulos!«
Aber dann stieß sie einen Schrei aus, einen gellenden nervösen Freudenschrei:
»Oh! ... Oh! es ist eine Alte ... da ist ein weißes Haar ... Ach, du nimmst dir jetzt alte Weiber? ... Du läßt dich dafür bezahlen? Zahlen sie viel? Ha! Du bist auf alte Weiber scharf! ... Dann brauchst du mich nicht mehr ... Behalte dir die andere!«
Sie stand auf und griff nach ihrer Bluse, die auf einem Stuhl herumlag, und zog sie hastig an.
Er wollte sie zurückhalten; er fühlte sich beschämt und stammelte:
»Aber nein ... Clo ... du bist dumm ... ich weiß nicht, woher es kommt ... höre mal ... bleibe doch hier ... komm ... geh nicht fort!«
Sie wiederholte:
»Behalte dein altes Weib ... behalte sie ... laß dir aus ihren Haaren einen Ring machen ... aus den weißen Haaren ... du hast genug davon da ...«
Mit jähen und schroffen Bewegungen hatte sie sich schnell angezogen, den Hut aufgesetzt und ihren Schleier umgebunden. Er wollte sie festhalten; mit einem heftigen Schwung gab sie ihm eine Ohrfeige, und während er betört dastand, öffnete sie die Tür und eilte davon.
Sobald er allein, ergriff ihn eine rasende Wut gegen die alte Schachtel, die Mama Walter. Oh, jetzt würde er sie fühlen lassen, und zwar gründlich. Er kühlte sich seine rote Wange mit Wasser. Dann ging er auch hinaus und überlegte sich seine Rache. Dieses Mal würde er es ihr nicht verzeihen. Nie im Leben!
Er ging langsam den Boulevard herunter und blieb vor einem Juwelierladen stehen. Er betrachtete im Schaufenster einen Chronometer, den er sich schon lange wünschte. Er kostete 1800 Francs.
Plötzlich begann sein Herz vor Freude zu klopfen und er dachte: »Wenn ich die 70000 Francs verdiene, kann ich es bezahlen.« Und er begann zu träumen, was er alles mit seinen 70000 Francs tun könnte.
Zunächst würde er sich zum Abgeordneten wählen lassen, dann würde er sich den Chronometer kaufen, er würde an der Börse spielen und dann ... und dann noch ... Er wollte nicht auf die Redaktion gehen, er zog es vor, mit Madeleine die Sache zu besprechen, bevor er Walter wieder sah und seinen Artikel schrieb, und so schlug er den Weg nach Hause ein.
Als er die Rue Drouot erreichte, blieb er plötzlich stehen. Er hatte vergessen, sich nach dem Befinden des Grafen de Vaudrec zu erkundigen; er wohnte in der Chaussee d'Autin. Er kehrte langsam um und dachte in glücklicher Träumerei an tausend angenehme und schöne Sachen, an den kommenden Reichtum, an den Trottel Laroche und an die alte Hexe, die Frau Direktor. Übrigens machte ihm Clotildes Zorn weiter keine Sorge, denn er wußte wohl, daß sie ihm bald verzeihen würde.
Im Hause, wo Graf de Vaudrec wohnte, fragte er den Portier:
»Wie geht es dem Grafen? Ich hörte, daß er die letzten Tage krank war?«
»Dem Herrn Grafen geht es sehr schlecht, mein Herr«, bekam er zur Antwort. »Man glaubt, daß er die Nacht nicht überleben wird. Die Gicht ist ihm bis ans Herz gestiegen.«
Du Roy war so betroffen, daß er nicht wußte, was er anfangen sollte! Vaudrec am Sterben! Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf, die er sich selbst nicht zu gestehen wagte.
Er murmelte:
»Danke ... ich werde wiederkommen.«
Aber er verstand gar nicht, was er sagte. Dann nahm er eine Droschke und fuhr nach Hause.
Seine Frau war da. Er stürzte in ihr Zimmer und sagte:
»Weißt du das nicht, Vaudrec liegt im Sterben!«
Sie hob ihre Augen vom Brief, den sie gelesen hatte und stammelte:
»Was sagst du? ... Du sagst? ... Du sagst? ...«
»Ich sage, daß der Vaudrec stirbt. Die Gicht ist ihm bis ans Herz gestiegen.«
Dann fügte er hinzu:
»Was denkst du zu tun?«
Sie stand auf, leichenblaß, vor Erregung; über ihre Wangen lief ein nervöses Zittern. Dann fing sie an zu schluchzen und barg ihr Gesicht in die Hände. Sie stand da, weinend, das Herz zerrissen vor Verzweiflung.
»Ich ... ich gehe«, sagte sie endlich. »Kümmere dich nicht um mich ... ich weiß nicht, wann ich zurück sein werde ... warte nicht auf mich ...«
»Gut,« sagte er, »gehe!«
Sie drückten sich die Hände, und sie ging so schnell, daß sie vergaß, ihre Handschuhe mitzunehmen.
Nach dem Essen setzte sich Georges hin und schrieb einen Artikel. Er schrieb ihn genau so, wie der Minister es haben wollte, und deutete an, daß die Expedition nach Marokko nicht stattfinden würde. Dann brachte er das Manuskript auf die Redaktion, plauderte da mit seinem Chef und mit leichtem, freudigem Herzen ging er fort. Weswegen ihm so zumute war, konnte er nicht ergründen. Seine Frau war noch nicht zurück. Er legte sich zu Bett und schlief ein.
Es war gegen Mitternacht, als Madeleine zurückkam. Georges wachte plötzlich auf und setzte sich im Bett auf.
»Nun?« fragte er.
Er hatte sie noch nie so bleich und so erregt gesehen.
»Er ist tot«, flüsterte sie.
»Ah! Und ... er hat dir nichts gesagt?«
»Nein, nichts. Als ich kam, hatte er das Bewußtsein verloren.«
Georges dachte nach. Tausend Fragen gingen ihm durch den Kopf, die er nicht zu stellen wagte.
»Leg' dich hin«, sagte er.
Sie zog sich aus und legte sich neben ihn.
Er fragte:
»War jemand von den Verwandten da?«
»Nur ein Neffe.«
»So. Hat er ihn oft gesehen?«
»Niemals. Sie haben sich seit zehn Jahren nicht gesehen.«
»Hatte er noch andere Verwandte?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Dann ... dieser Neffe wird wohl alles erben?«
»Ich weiß es nicht!«
»War er reich, der Vaudrec?«
»Ja, sehr reich.«
»Weißt du, was er ungefähr besessen hat?«
»Nein, nicht genau. Vielleicht eine oder zwei Millionen.«
Er sagte nichts mehr. Sie löschte das Licht aus. Sie lagen wach, in Gedanken versunken nebeneinander. Er konnte nicht mehr schlafen. Die versprochenen 70000 Francs von Frau Walter kamen ihm unbedeutend vor. Plötzlich war es ihm, als ob Madeleine weinte. Um sich zu vergewissern, fragte er:
»Schläfst du?«
»Nein«, antwortete sie mit einer weichen, zitternden Stimme.
»Ich hab' vergessen, dir zu sagen,« fuhr er weiter fort, »daß dein Minister uns reingelegt hat.«
»Wieso denn?«
Und er erzählte ihr ausführlich die Geschichte, die zwischen Laroche und Walter vorbereitet worden ist.
Als er zu Ende war, fragte sie:
»Woher weißt du denn das?«
»Du wirst mir wohl gestatten, dir dieses zu verschweigen«, antwortete er. »Du hast deine Quellen, denen ich nicht nachforsche, ich die meinigen, und möchte auch darüber keine Rechenschaft ablegen. Ich verantworte jedenfalls die Richtigkeit meiner Nachricht.«
»Ja,« sagte sie, »es kann schon stimmen. Ich vermutete, daß sie etwas ohne uns vorbereiteten.«
Georges, der nicht einschlafen konnte, näherte sich seiner Frau und küßte ihr leise das Ohr. Sie wies ihn lebhaft ab:
»Bitte, laß mich in Frieden«, sagte sie. »Ja, ich bin heute wirklich nicht zu Kindereien aufgelegt!«
Er antwortete nichts, drehte sich zur Wand, schloß die Augen und schlief allmählich ein.